Leitidee: Normalisierung - Pädagogische Hochschule Ludwigsburg

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 Veränderung des
Behinderung’
Verständnisses
von
‚geistiger
Sie sollten für Ihre Prüfung nachfolgende Fragekomplexe beantworten können. Am
besten ist es, wenn Sie die Fragen gemeinsam mit anderen Studierenden
diskutieren.
Mein Verständnis von geistiger Behinderung ist …
Die ‚bisherige’ Sichtweise (Bezugsrahmen hier: Bildungsplan der
SfG von 1982) war gekennzeichnet durch …
Ich weiß über
Behinderung …
das
derzeitige
Verständnis
von
geistiger
Daher definiere ich ‚schwere geistige Behinderung’ wie folgt:
Informationen
Die bisherige Verständnisweise von ‚geistiger Behinderung’ spiegelt sich
beispielsweise wieder im Bildungsplan für die Schulen für Geistigbehinderte (1982).
Hier finden sich (noch) folgende Annahmen:
-
Geistige Behinderung wird als eine Eigenschaft des einzelnen Menschen
verstanden
= individuumzentrierte Perspektive
-
Die Kategorie ‚geistige Behinderung’ wird absolut gesetzt und auf den ganzen
Menschen ausgedehnt, auf seine gesamte Existenz
= ontifizierende Perspektive
-
Geistige Behinderung erscheint als ‚Besonderheit’ als ‚Abweichung’ von einer
allgemein unterstellten Normalität
= exklusive Perspektive
-
Geistige Behinderung gerät – gemessen an einer allgemein unterstellten
Normalität ausschließlich als ‚minderwertige Normalitätsdublette’ in den Blick
= defizit- und defektorientierte Perspektive
Durch diese Vorannahmen orientiert sich die Pädagogik/Didaktik an einer
(unterstellten) ‚behinderten Realität’. Die Folgen sind
Diskriminierung
Infantilisierung
Geschlechtsneutralität
Dominanz der Fremdbestimmung
…
Wir unterscheiden mit Jantzen (vgl. bereits 1975) generell zwischen:
Schädigung
=
betrifft das biologische System
Beeinträchtigung
=
betreffen Erschwernisse bei der Bewältigung der
Lebenswelt
Behinderung
=
betrifft die soziale und kulturelle Teilhabe
Lindmeier (vgl. 2000) hat das Verständnis von Behinderung versucht zu beschreiben
in Anlehnung an die ICF-Version der WHO und zwar im Sinne eines relativen und
relationalen Behinderungsbegriffs. Das heißt also zweierlei: einerseits ist
Behinderung relativ, weil das, was wir darunter verstehen, abhängig ist von Werten,
Kulturen, Politik, Gesellschaftsstrukturen, Hilfesystemen etc. (= Relativität des
Behinderungsbegriffs) und andererseits drückt diese Sicht auch aus, dass sie
verhältnishaft ist, also von den Verhältnissen von Menschen, Systemen, Normen,
Gesellschaften etc. abhängt (= Relationalität).
Was ist nun die ICF-Version, welche Sichtweisen von Behinderung, Gesundheit und
Funktionsfähigkeit spiegelt sich in ihr?
Die Weltgesundheitsorganisation hat in den letzten zwei Jahren ein Verständnis von
geistiger Behinderung und Gesundheit herausgearbeitet, das sich ICF nennt:
International Classification of Functioning, Disability and Health).
a. Diese bringt im Wesentlichen
-
Kontextfaktoren (Umwelt und personale Faktoren)
Aktivitäten eines Menschen
Körperfunktionen und –strukturen
Partizipationsmöglichkeiten
In einen wechselseitigen Zusammenhang, um Behinderung, Gesundheit, Krankheit
zu beschreiben. Stinkes ist der Meinung, dass das Erleben der Beeinträchtigung
noch hinzuzunehmen ist, da dieses nicht in den personalen Faktoren aufgehoben ist.
Wie kann man Behinderung begreifen?
b. Behinderung tritt auf als Ergebnis einer negativen Wechselwirkung zwischen
einem Menschen mit einem Gesundheitsproblem und seiner Lebenswelt.
Menschen mit geistiger Behinderung sind Personen, deren Zustand gekennzeichnet
ist durch
-
Eine primäre Schädigung der kognitiven/intellektuellen Struktur
-
Durch ein bestimmtes Leistungs- oder Aktivitätspotential, das auch von
entsprechenden Hilfe- und Unterstützungsangeboten abhängt
-
Durch die Art der Teilhabe am Leben der Gesellschaft, welche davon abhängt,
wie eine Person in die für sie relevanten Lebensbereiche mit einbezogen wird
-
Durch
milieubedingte,
personelle
Bedingungen,
Lebensumstände,
Lebenshintergründe und Umwelten, mit denen der Mensch kommuniziert und
die seine Teilhabe stützen, einschränken oder aufheben können.
-
So dass sie ohne Unterstützung nicht an den wesentlichen Lebensbereichen
teilhaben können und daher behindert werden
-
Die Schädigung steht also in einem Verhältnis zu den Aktivitätsmöglichkeiten
eines Menschen und diese hängen zutiefst von den Kontextfaktoren, den
Partizipationshilfen und dem körperlichen Gesamtbefinden des Menschen ab.
Man kann dieses wechselseitige Verhältnis in Form eines Würfelmodells beschreiben
oder aber so, wie dies Schuntermann (2004) tut:
Schädigung
Körperstatus
Aktivitäten
Umweltfaktoren
Partizipation
personale Faktoren
Welche Schlussfolgerungen ließen sich aus dieser Sicht für
PädagogInnen ziehen?
 Leitidee: Normalisierung
Der Grundgedanke der Normalisierung ist, dass Menschen mit geistiger Behinderung
ein Leben so normal als möglich gestattet werden soll. Das heißt nicht, dass sie
selbst ‚normalisiert’ werden, sondern die Verhältnisse, in denen sie leben. Es soll für
sie möglich sein, ein Leben zu führen, das sich von seinen Möglichkeiten und
Verhältnissen her nicht wesentlich vom durchschnittlichen leben anderer Bürger
unterscheidet. Dieser Gedanke geht auf den Juristen N.E. Bank-Mikkelsen zurück
und wurde am 5. Juni 1959 in das dänische „Gesetzt über die Fürsorge für geistig
Behinderte“ aufgenommen. Die erste Folge war die, dass so wichtige
Lebensbereiche wie Wohnen, Schule, Arbeit, Freizeit, medizinisch-therapeutische
Versorgung etc. voneinander getrennt sein müssten wie üblicherweise bei der
übrigen Bevölkerung und so normal wie möglich zu gestalten seien (vgl. Thimm
1984).
Bengt Nirje, Direktor der schwedischen Elternvereinigung geistig Behinderter, der
sehr eng mit Mikkelsen kooperierte und gemeinsame Vortragsreisen zu diesem
Thema durch Europa und den USA unternahm, konkretisierte 1969 acht Kriterien
dieses Prinzips:
„Normaler Tagesrhythmus
Schlafen, Aufstehen, Anziehen, Mahlzeiten, Wechsel von Arbeit und Freizeit – der gesamte
Tagesrhythmus ist dem altersgleicher Nichtbehinderter anzupassen.
Trennung von Arbeit-Freizeit-Wohnen
Klare Trennung dieser Bereiche, wie das bei den meisten Menschen der Fall ist. Das bedeutet
auch: Ortswechsel und Wechsel der Kontaktpersonen. Es bedeutet ferner, täglich Phasen von
Arbeit zu haben und nicht nur einmal wöchentlich eine Stunde Beschäftigungstherapie. Bei
Heimaufenthalt: Verlagerung der Aktivitäten nach draußen.
Normaler Jahresrhythmus
Ferien, Verreisen, besuche, Familienfeiern; auch bei Behinderten haben solche im
Jahresverlauf wiederkehrenden Ereignisse stattzufinden.
Normaler Lebensablauf
Angebot und Behandlung sollen klar auf das jeweilige Lebensalter bezogen sein (auch der
Mensch mit geistiger Behinderung ist Kind, Jugendlicher, junger Erwachsener usw.)
Respektieren von Bedürfnissen
Behinderte Menschen sollen soweit wie möglich in die Bedürfnisermittlung einbezogen
werden. Wünsche, Entscheidungen und Willensäußerungen von Menschen mit Behinderung
sind nicht nur zur Kenntnis zu nehmen, sondern auch zu berücksichtigen.
Angemessene Kontakte zwischen den Geschlechtern
Menschen mit geistiger Behinderung sind Jungen und Mädchen, Männer und Frauen mit
Bedürfnissen nach (anders)geschlechtlichen Kontakten. Diese sind ihnen zu ermöglichen.
Normaler wirtschaftlicher Standard
Dieser ist im Rahmen der sozialen Gesetzgebung sicherzustellen
Standards von Einrichtungen
Im Hinblick auf Größe, Lage, Ausstattung usw. sind in Einrichtungen für Menschen mit
geistiger Behinderung solche Maßstäbe anzuwenden, wie man sie so genannte ‚normale’
Menschen für angemessen hält.“
(Thimm 1984, 20)
Diese Kriterien sind nicht aus der wissenschaftlichen Diskussion, sondern aus der
Praxis hervorgegangen. Es sind normative Aussagen, die ein bestimmtes
Menschenbild beinhalten und in ihrer Anwendung in der Praxis zu großen
Änderungen führen.
Ich stelle mir folgende Veränderungen/Auswirkungen in der
Behindertenhilfe aufgrund des Normalisierungsprinzips vor …
Wolf Wolfensberger von der Universität Nebraska (USA) hat dieses Gedanken
aufgenommen und as Prinzip erweitert und systematisiert, es theoretisch fundiert. Er
entwickelte ein Verfahren (PASS = Program Analysis of Service System), wonach
soziale Dienste untersucht und innovativ verändert wurden (vgl. Wolfensberger
1986). Durch dieses Programm wurde das Normalisierungsprinzip interkulturell
anwendbar und über die skandinavische Grenze hinaus bekannt. Wolfensberger
konnte zeigen, dass Normalisierung nicht eine einseitige Anpassung des Menschen
mit Behinderung an die Welt oder Gesellschaft ist, sondern in der Spannung von
gesellschaftlichen Erwartungen und dem Menschenbild steht. Veränderungen
können am Verständnis von Behinderung, an den Kompetenzen des Menschen mit
Behinderung, an gesellschaftlichen Zuschreibungsprozessen etc. ansetzen.
Wolfensberger wollte eine Aufwertung der sozialen Rolle, so nennt er sein Konzept
auch nicht mehr ‚Normalisierung’, sondern: „Aufwertung der sozialen Rolle“, wobei es
ihm einen Einsatz kulturell positiv bewerteter Mittel geht mit dem Ziel, Menschen eine
positiv bewertete Rolle zu ermöglichen, diese zu entwickeln, verbessern und zu
erhalten.
Wir können also zusammenfassend sagen:
-
Normalisierung bezieht sich auf alle Hilfen und Institutionen, die dem Ziel der
gesellschaftlichen Integration behinderter Menschen dienen sollen. Ihre
Lebensverhältnisse sind so zu gestalten, dass sie dem, was man als ‚Normal
ansieht’ und das auch selbstverständlich für sich in Anspruch nimmt,
weitestgehend angeglichen werden.
-
Normalisierung meint nicht ‚Normalmachen’, also die Anpassung behinderter
Menschen an Verhältnisse. Es ist die Normalisierung der Hilfen gemeint.
-
Normalisierung ist ein Prozess, der sich auf unterschiedlichen Ebenen
vollziehen muss: auf gesellschaftlicher Ebene der Sozialpolitik und
Rechtspolitik, auf der Ebene der Einrichtungen, Institutionen, des gesamten
Dienstleistungsangebotes für Menschen mit Behinderung und auf der Ebene
des sozialen Umgangs zwischen Nichtbehinderten und Behinderten im
beruflichen und privaten Feld der der Beziehungen.
-
Mit Wolfensberger können wir auch sagen, dass sich Normalisierung auch auf
die Interpretationsdimension beziehen muss: auf Sprache. Sprache liefert
nach Thimm (1994) Interpretationen darüber, wie die nichtbehinderte
Gesellschaft Menschen mit Behinderung bewertet, welche gesellschaftliche
Platzierung als angemessen angenommen wird. Thimm schreibt (1994), dass
es nur ein kleiner Schritt sei von der distanzierenden Rede zur Vermeidung
von Begegnungen zur Diskriminierung, zum tätlichen Angriff und dann zur
Vernichtung.
-
Schließlich wirkt sich das Normalisierungsprinzip auch auf unsere Identität
aus: Wir ringen alle darum, unsere Selbst sicht, die zutiefst als ‚Ich’
empfundenen Anteile unserer Existenz in Einklang zu bringen mit der
Sichtweise, die andere Menschen von ‚Mir’ haben. Immer wieder stellt sich in
unserem leben die Aufgabe, zwischen ‚Einmaligsein’ und ‚Sosein wie andere’
auszubalancieren. Beide Teile des Ichs werden um Laufe unserer Geschichte
untrennbar miteinander verbunden. Die Balance zwischen Einmaligsein
(persönlicher und biografischer Identität) und Sosein wie andere (sozialer
Identität) gelingt nach Goffman nur schwer oder gar nicht angesichts von
Stigmatisierungen. Das Ergebnis ist eine gefährdete oder beschädigte IchIdentität.
Schaubild nach Thimm (1994,62):
Innenaspekt des Selbst
Persönliche Identität
Einmaligsein
-Ausstoßung
-Rückzug
-Euthanasie
Ich-Identität
Außenaspekt des Selbst
Soziale Identität
Sosein wie andere
-Anpassung um jeden Preis
-Ökonomische ‚Verwertung’
Welche Konsequenzen ergeben sich aus dem
Normalisierungsprinzip für Hilfen für Menschen mit Behinderung?
Diskutieren Sie die Konsequenzen anhand der Problemfelder
‚Wohnen’, oder ‚Freizeit’ oder Beruf’ oder ‚Sexualität’…
Alle Hilfen für Menschen mit Behinderung haben sich den alltäglichen
Lebensbedingungen, an den Lebensweltproblemen, den Kontexten, die sich aus
einer Beeinträchtigung ergeben, zu orientieren. Das Verständnis von Behinderung im
Sinne der International Classification of Functioning, Disability and Health (= ICF) der
Weltgesundheitsorgansiation (= WHO) weist eine solche Lebensweltorientierung
auf.
Aus der Lebensweltorientierung ergeben sich Konsequenzen, die auch
international als Entinstitutionalisierung und Dezentralisierung diskutiert werden. Dies
heißt: Behinderte Menschen sollen nicht in großen, zentralen Einrichtungen leben,
sondern die Hilfen sollen so nah wie möglich an sie herangetragen werden. Damit
rückt auch ein neuer Hilfetyp ins Zentrum: die mobilen, ambulanten und kundenbzw. klientenorientierten Hilfen. Die konsequente Lebensweltorientierung der
Behindertenhilfe hat zur Voraussetzung, dass die Betroffenen die Probleme ihres
Alltags formulieren lernen und über Art und Umfang der Hilfen in größtmöglicher
Autonomie bestimmten können.
Man kann also sagen, dass das gesamte Hilfe- und Unterstützungssystem für
Menschen
mit
Behinderung
sich
weiterentwickelt,
nämlich
vom
institutionsbezogenem Denken und Handeln zum funktionsbezogenen auf Integration
ausgerichtetem Planen und Handeln, dass an die Lebenswelt der Betroffenen
anknüpft.
 Leitidee: Empowerment
Empowerment lässt sich sinngemäß übersetzen als Selbst-Bemächtigung, als
Gewinnung oder Wiedergewinnung von Stärke, Energie und Fantasie zur Gestaltung
eigener Lebensverhältnisse. Keupp (1987, 256) beschreibt Empowerment als
Prozess, innerhalb dessen Menschen sich ermutigt fühlen, ihre eigenen
Angelegenheiten in die Hand zu nehmen, ihre eigenen Kräfte und Kompetenzen zu
entdecken und ernst zu nehmen und den Wert selbst erarbeiteter Lösungen
schätzen zu lernen. „Empowerment bezieht sich auf einen Prozess, in dem die
Kooperation von gleichen oder ähnlichen Problemen betroffene Personen durch ihre
Zusammenarbeit zu synergetischen Effekten führt.“
Die Geschichte dieses Ansatzes ist eng verbunden mit der Bürgerrechtsbewegung
der 60er Jahre in den USA, den sozialen Bewegungen, der Emanzipationsbewegung
der Frauen, der Selbstbestimmt-Leben-Bewegung (= independent living) von
behinderten Menschen und nicht zuletzt der Selbsthilfebewegung mit ihrer Kritik an
den
qualitativ
und
quantitativ
unzureichenden
psychosozialen
und
gesundheitsbezogenen Dienstleistungen. Julian Rappaport (1985) hat dazu
beigetragen, dass die Empowerment-Perspektive in die Gemeindepsychologie
eingeführt und ein professionelles Handlungsmodell wurde. Herriger (1997,7)
schreibt: „Empowerment steht für eine veränderte helfende Praxis, deren Ziel es ist,
die Menschen zur Entwicklung ihrer eigenen (vielfach verschütteten) Stärken zu
ermutigen, ihre Fähigkeiten zu Selbstbestimmung und Selbstveränderung zu stärken
und sie bei der Suche nach Lebensräumen und Lebenszukünften zu unterstützen,
die ihnen einen Zugewinn an Autonomie, sozialer Teilhabe und eigenbestimmter
Lebensregie versprechen“.
Empowerment lässt sich durch folgende Bausteine (vgl. Chamberlin 1993) inhaltlich
bestimmen:













Die Fähigkeit, eigene Entscheidungen zu treffen
über einen Zugang zu Informationen und Ressourcen zu verfügen
über verschiedene Handlungsalternativen und Wahlmöglichkeiten verfügen
das Gefühl zu haben, als Individuum etwas bewegen zu können
kritisch denken zu lernen und Konditionierungen zu durchschauen
Wut erkennen und äußern lernen
sich nicht allein zu fühlen, sondern als Teil einer Gruppe oder eines sozialen
Netzwerkes
zu der Einsicht zu gelangen, dass jeder Mensch Rechte hat
Veränderungen im eigenen Leben und im sozialen Umfeld zu bewirken
neue Fähigkeiten zu erlernen, die man selbst für wichtig hält
die Wahrnehmung anderer bezüglich der eigenen Handlungskompetenz und –
fähigkeit zu korrigieren
das innere Wachstum und die innere Entwicklung als einen niemals
abgeschlossenen, selbst beeinflussbaren und steuerbaren Prozess zu
begreifen
sich ein positives Selbstbild zu erarbeiten und Stigmatisierungen zu
überwinden.
Die Wiedergewinnung der eigenen Stärke und der Ressourcen, das eigene
Leben zu bestimmen, sich aktiv an der Gestaltung der Lebenswelt beteiligen zu
können, ist bedeutsam für das körperliche und psychische Wohlbefinden. So
betrachtet
beispielsweise
Antonovsky
das
Kohärenzgefühl
(das
Salutogenesekonzept sollten Sie kennen!) als zentrale Kraft, die alle Ressourcen
einer Person integriert und den Weg zu einer guten Bewältigung von Belastungen
und Stressoren bahnen kann. Die Empowerment-Perspektive beinhaltet aber
auch eine radikale Abkehr vom traditionellen Verhältnis zwischen den Beteiligten.
Im Empowerment-Ansatz werden primär fürsorgenden Strukturen der
professionellen Hilfen kritisiert und die Dominanz der ExpertInnen, ihre mehr oder
weniger versteckte Definitions-, Ausführungs- und Kontrollmacht in der
Hilfebeziehung grundsätzlich in frage gestellt. Er richtet sich gegen erlernte
Hilflosigkeit und setzt auf die Rückgewinnung eines subjektiven Gefühls von
Kontrolle über das eigene Leben durch den Einsatz partizipativer Strategien.
Dies bedeutet für die HelferInnen: Abkehr von der Fiktion einer wertneutralen
Expertin/eines Experten, die im Besitz der alleinigen Lösungskompetenz ist, hin
zu einem Verständnis, dass von Kooperation und Begleitung geprägt ist.
HelferInnen haben die Aufgabe, Bedingungen zu schaffen, damit Menschen
Ressourcen erhalten, die sie besser zur Gestaltung ihrer Lebenswelt, ihrer
wünsche und Ziele befähigen.
Was müssen Menschen mit Behinderung entdecken, damit sie zum
‚Subjekt ihres eigenen Handelns’ (Theunissen) werden?
Empowerment hat keine ‚Rezepte’ in der Behindertenarbeit, sondern setzt bei den
Ressourcen einer Person an, d.h. an ihren Stärken und Fähigkeiten. Dies beinhaltet
zunächst die Akzeptanz der Person. Aber gelungene Empowerment-Prozesse
spielen sich auf verschiedenen Ebenen ab: der individuellen, der Gruppen- und
Organisationsebene, der sozialstrukturellen und gesellschaftspolitischen Ebene. Dies
bedeutet auch, dass die bloße Übersetzung von Empowerment als
„Selbstermächtigung“ nicht ausreicht, um die wirkliche Veränderung in der
Behindertenhilfe zu beschreiben. Wenn man von Empowerment in der
Behindertenhilfe spricht, dann wird darunter ein Konzept verstanden, dass sich mit
Blick auf den Dreiklang der Wertebasis „Selbstbestimmung, Verteilungsgerechtigkeit,
kollaborative und demokratische Partizipation“ meint (vgl. Prillentensky 1994). Also
ein gesellschaftskritisches Korrektiv, das die Tradition des Emanzipationsgedankens
zielgruppenbezogen (behinderte Menschen) aufgreift.
Also: wir haben es einerseits mit Empowerment als Prozess der Selbstaneignung
von Lebensstärke und Gestaltungskraft von Menschen mit Behinderung und ihren
Angehörigen (vgl. Stark 1996, Herriger 1997) zu tun, d.h. wir haben es mit
Empowerment-Geschichten zu tun, die von einzelnen Personen erzählen, die ihre
Ressourcen und Stärken zur Kontrolle und aktiven Bewältigung sowie Gestaltung
ihres Lebens einsetzen (vgl. Trost, Boehringer 2004 im Druck).
Andererseits haben wir es mit Empowerment als Fokus professioneller Bemühungen
zu tun, um Menschen in gesellschaftlich marginalen Positionen zur Aneignung von
Verhaltensweisen zu verhelfen, die sie interagieren und Entscheidungen treffen
lassen, um Probleme zu lösen.
 Leitidee: Assistenz
(Der Text zu diesem Unterpunkt ist noch nicht vollständig – bitte die Endversion
abwarten)
Das Selbstverständnis der Behindertenhilfe befindet sich in einem Wandel, den man
als einen Prozess von der umfassenden Betreuung zur Begleitung und Assistenz
kennzeichnen kann. Aus der Sicht der Assistenten geschieht ein Prozess der
Änderung des Verständnisses vom behinderten Menschen als abhängiges, hilfloses,
unkundiges Wesen, zu einem Experten in eigener Sache: Bewohner- oder
Kundenorientierung. Der Mensch mit einer Behinderung war nicht mehr nur der
Empfänger von mildtätiger Fürsorge und Hilfe, sondern verstand sich als Arbeitgeber,
der den Helfer einstellt und die Art und Form der Hilfe bestimmt (= Assistenz):
Vom Fürsorgeempfänger
Vom Klienten, Hilfebedürftigen
zum
zum
Arbeitgeber
Kunden
Viele Einrichtungen der Behindertenhilfe änderten auch aus diesem Grund in den
letzten Jahren ihr Leitbild und Selbstverständnis. Sie wollen nicht mehr nur
Wohlfahrtsinstitution sein, sondern verstehen sich als Dienstleistungsbetrieb, der das
Dienstleistungsangebot am Kunden orientieren muss.
(die nachfolgenden Ausführungen entstammen dem lesenswerten Ratgeber „Selbstbestimmte Assistenz“. Er ist
zu empfehlen und zu beziehen bei: Elke Bartz, Nelkenweg 5, 74673 Mulfingen)
Die effektivste Möglichkeit für ein freies Leben in Eigenverantwortung und
Selbstbestimmung bleibt das sogenannte ArbeitgerInnenmodell (auch:
Assistenzmodell). Bei diesem Modell beschäftigen assistenznehmende Menschen
die von ihnen benötigte Hilfe in einem eigenen, angemeldeten Betrieb. Jeder kann
Assistenznehmerin werden, der nicht mehr Kompromisse eingehen will, als nötig.
Eigenverantwortung, Selbstbestimmung und Freiheit wie Verantwortung gehört dazu.
AssistenznehmerInnen benötigen nachfolgende Kompetenzen
-
Personalkompetenz
Anleitungskompetenz
Finanzkompetenz
Organisationskompetenz
Raumkompetenz
Die Finanzierung stellt nach Bartz (2003) das größte Problem dar. Leistungen des
BSHG sind nachrangig, d.h. zunächst müssen andere Möglichkeiten der
Kostendeckung ausgeschöpft werden. Das können sein:
-
Leistungen der Pflegeversicherung
Krankenversicherung
Berufsgenossenschaften
Ansprüche gegenüber Unfallverursachern
Schadenersatzansprüche bei Impfschäden
Bei Kunstfehlern
Eigenes Vermögen und Einkommen
Etc.
Assistenzwerbung kommt durch unterschiedliche Dinge zustande: Aushänge,
Annoncen etc. Die Assistenznehmerin muss sich im Klaren sein, welche Ansprüche
sie an die Assistenz stellt.
 Gesetzesunterstützung: Sozialgesetzbuch IX
Behinderte Menschen können die gleichen Sozialleistungen in Anspruch nehmen wie
andere Menschen auch. Dieser Grundsatz wird durch Artikel 3 Abs. 3 Satz 2 des
Grundgesetzes bekräftigt, wonach niemand wegen seiner Behinderung benachteiligt
werden darf.
Die folgenden Ausführungen befassen sich mit den darüber hinaus gehenden,
besonderen Regelungen des Sozialrechtes, die zugunsten behinderter Menschen
gezielt auf deren Selbstbestimmung und gleichberechtigte Teilhabe am Leben in der
Gesellschaft ausgerichtet sind. Diese besonderen sozialrechtlichen Regelungen
zugunsten behinderte Menschen sind mit Wirkung Juli 2001 durch das Neunte Buch
des Sozialgesetzbuchs (= SGB IX) – Rehabilitation und Teilhabe behinderter
Menschen – kodifiziert und fortentwickelt worden. Danach erhalten (vgl. §1)
behinderte Menschen Leistungen, um ihre Selbstbestimmung und gleichberechtigte
Teilhabe am Leben in der Gesellschaft zu fördern sowie Benachteiligungen zu
vermeiden oder ihnen entgegenzuwirken. Dabei wird den besonderen Bedürfnissen
behinderter Frauen und Kinder Rechnung getragen.
Nicht zum Sozialrecht im engeren Sinn gehören die Regelungen des
Behindertengleichstellungsgesetzes, die im Mai 2002 in Kraft traten. Sie sollen das
Benachteiligungsverbot auch über das Sozialrecht hinaus umsetzen und dienen
dazu, die Gleichberechtigung behinderter Menschen in vielen Bereichen des
öffentlichen Lebens zu sicher und im Alltag zu praktizieren. Dazu zählen
Bestimmungen zu:
-
Benachteiligungsverbot für Träger öffentlicher Gewalt
Berücksichtigung besonderer Belange behinderter Frauen / Gender
Mainstreaming
Definition von Behinderung und Barrierefreiheit
Zielvereinbarungen zur Herstellung von Barrierefreiheit
Verpflichtung des Bundes zum barrierefreien Bauen
Gebärdesprache und behinderungsgerechte Gestaltung von Bescheiden im
Verwaltungsverfahren
Barrierefreie Informationstechnik
Verbandsklagerecht
Barrierefreiheit in den Bereichen: Bundes- und Europawahlen;
Personenbeförderung im öffentlichen Nahverkehr mit der Eisenbahn und im
Luftverkehr; Zugänglichkeit und Nutzbarkeit von Gaststätten, gleiche Chancen
beim
Hochschulstudium
und
diskriminierungsfreie
Formulierung
berufsrechtlicher Vorschriften
Das SGB IX definiert schwere Behinderung wie folgt:
Menschen, deren Grad der Behinderung mindesten 50 beträgt und die in der BRD
wohnen. Ende 2001 waren 6,7 Mio Menschen schwerbehindert; das wäre ein
Bevölkerungsanteil von ca. 8%. Wichtig ist, dass behinderte Menschen Zugang zu
den Hilfen erhalten, die sie zur Teilhabe am leben in der Gesellschaft benötigen. Sie
sollen ein Leben so normal als möglich führen können. Dazu stellt das Gesetz
Leistungen zur Teilhabe zur Verfügung. Sie sind unabhängig von der Ursache der
Behinderung:
1. die Behinderung abzuwenden, zu beseitigen, zu
Verschlimmerung zu verhüten oder ihre Folgen zu mildern
mindern,
ihre
2. Einschränkungen der Erwerbsfähigkeit oder Pflegebedürftigkeit zu vermeiden,
zu überwinden, zu mindern oder eine Verschlimmerung zu verhüten sowie den
vorzeitigen Bezug anderer Sozialleistungen zu vermeiden oder laufende
Sozialleistungen zu mindern
3. die Teilhabe am Arbeitsleben entsprechend den Neigungen und Fähigkeiten
dauerhaft zu sichern oder
4. die persönliche Entwicklung ganzheitlich zu fördern und die Teilhabe am leben
in der Gesellschaft sowie eine möglichst selbständige und selbstbestimmte
Lebensführung zu ermöglichen oder zu erleichtern
Diese Vorgaben dienen nicht nur der Auslegung und Anwendung des Sozialrechts,
sondern sind Leitlinien der Politik für behinderte Menschen in der BRD. Unter den
Grundsätzen sind hervorzuheben
-
das Ziel der selbstbestimmten und eigenverantwortlichen Teilhabe behinderter
Menschen am Leben in der Gesellschaft
-
der Grundsatz der Finalität, nach dem die notwendigen Hilfen jedem
behinderten Menschen unabhängig von der Ursache der Behinderung
geleistet werden muss, auch wenn für diese Hilfen unterschiedliche Träger
und Institutionen mit unterschiedlichen Leistungsvoraussetzungen zuständig
sind
-
der Grundsatz einer möglichst frühzeitigen Intervention, nach dem
entsprechend
den
im
Einzelfall
gegebenen
Möglichkeiten
und
Notwendigkeiten Ausmaß und Auswirkungen der Behinderung möglichst
gering zu halten und nicht vermeidbare Auswirkungen so gut wie möglich
auszugleichen sind
-
der Grundsatz der individuellen Hilfe, die auf die konkrete Bedarfssituation
jedes einzelnen behinderten Menschen zugeschnitten und dieser
Bedarfsituation mit geeigneten Mitteln gerecht werden muss
neben dem Abbau vorhandener und dem Vermeiden neuer Benachteiligungen bilden
die Listungen zur Teilhaben den Kern der Bemühungen. Eine wirkungsvolle Teilhabe
am Leben in Gemeinschaft, erfordert, dass die Leistungen ergänzt werden durch
-
Fokussierung auf die individuellen Fähigkeiten eines Menschen und auf seine
Entwicklungspotenziale
-
Behinderungsgerechte Gestaltung der Lebensumstände, denen behinderte
Menschen ausgesetzt sind
-
Bereitschaft der behinderten Menschen und der Gesellschaft, das ihnen
Mögliche zu voller Teilhabe zu tun
-
Teilhabefreundliches Klima in der Gesellschaft schaffen
Zur Ausfüllung dieser Rechtsgrundlagen und praktischen Umsetzung gibt es ein
differenziertes System an Einrichtungen und Diensten entsprechend der individuellen
Bedarfssituation. Dies heißt auch, dass die Förderung durch ambulante Hilfen vor
stationären Hilfen ermöglicht werden muß. Denn es haben Fördermaßnahmen/Hilfen
Vorrang, die eine Gemeinsamkeit mit nichtbehinderten Menschen ermöglichen. Die
Leistungen zur Teilhabe bedarf der Zustimmung der behinderten Menschen (§ 9 Abs.
4 SGB IX); sie haben an der Durchführung mitzuwirken.
Dazu zählen auch Hilfen bei der Beschaffung, Ausstattung und Erhaltung einer
Wohnung, die den Bedürfnissen der behinderten Menschen entspricht. Sowie Hilfen
zu selbstbestimmtem Leben in betreuten Wohnmöglichkeiten. Wesentliche
Voraussetzung für die Teilhabe behinderter Menschen insgesamt ist eine
behindertenfreundliche Gestaltung der Umwelt. Dazu zählt die Schaffung von
behinderungsgerechten Wohnungen, die nicht nur eine möglichst weitgehende
eigenständige Lebensführung ermöglichen, sondern auch den Kontakt mit
nichtbehinderten Menschen erleichtern und in denen bei Bedarf die nötige Betreuung
sichergestellt werden kann. Nach dem zweiten Wohnungsbaugesetz werden
Wohnungen für schwerbehinderte Menschen besonders gefördert. Für behinderte
Menschen, die in Heimen leben, sichern das Heimgesetz die rechtlichen Grundlagen.
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