В 2009 г

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Menschenrechtszentrum «MEMORIAL»
Komitee «BÜRGERBETEILIGUNG»
Herausgeberin
Swetlana Gannuschkina
Entführungen, spurloses Verschwinden,
Tschetschenen im Strafvollzug,
sabotierte Verbrechensaufklärung,
die Wohnsituation der Bewohner Tschetscheniens in
der Russischen Föderation,
Moskau
2010
Aus dem Russischen:
Bernhard Clasen
Im Internet unter:
http://www.refugee.ru/publ/sagannushkina/bericht_2010/8-1-0-59
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Inhalt:
I Einführung…………………………………………………….. 2
II Entführungen, spurloses Verschwinden…..………………… 4
III Tschetschenen im Strafvollzug ……………………………...37
IV Die Wohnsituation der Bewohner Tschetscheniens in
der Russischen Föderation ..........…………………….………….52
V. Anhang: intern Vertriebene aus Tschetschenien in der
Republik Inguschetien …………………………………………..67
Einführung. Dieser Bericht, der wie die letzten sieben Berichte unter der Überschrift
“Bewohner Tschetscheniens in der Russischen Föderation“ steht, will dem Leser die
Situation der Bewohner Tschetscheniens und der ethnischen Tschetschenen in der Russischen
Föderation deutlich machen.
Der letzte Bericht war im Mai 2009 in Russland, Deutschland, Norwegen und den USA
vorgestellt worden. (siehe auch www. memo.ru , refugee.memo.ru und www.refugee.ru )
Seitdem ist vieles passiert, die Lage in Tschetschenien hat sich radikal geändert. Und auch
die Möglichkeiten, die NGOs vor Ort haben, sind andere geworden.
Am 15. Juli 2009 haben die Menschenrechtler einen großen Verlust erlitten: an diesem Tag
war unsere Kollegin, die Journalistin und Aktivistin Natalja Estemirowa entführt und ermordet
worden. In einer Erklärung gab „Memorial“ dem Präsidenten der Tschetschenischen Republik,
Ramsan Kadyrow, die Verantwortung für diesen Mord und die Situation der Rechtswillkür, die
in Tschetschenien unter dessen Führung entstanden ist. Die Machthaber der Tschetschenischen
Republik haben mit einer Welle von Beschimpungen an die Adresse von „Memorial“ und deren
Mitarbeiter reagiert, die bis heute anhält. Der Präsident der Tschetschenischen Republik hat in
einem Interview mit Radio Liberty am 8. August 2009 mehrere Beleidigungen gegenüber der
Ermordeten geäußert. Niemand in der russischen Führung hat diesen Beleidigungen Einhalt
geboten. Im Gegenteil, der zunächst etwas verwirrte Ramsan Kadyrow hatte sich erst beruhigt,
nachdem Präsident Medwedew erklärt hatte, dass die Version über eine Verwicklung der
Führung Tschetscheniens in den Mord an Natascha Estemirowa „primitiv und für die Macht
nicht akzepabel“ sei.
Die offene Arbeit der Beratungsstellen von „Memorial“ mustes vorübergehend eingestellt
werden.
Weniger als einen Monat nach dem Mord an Natalja Estemirowa, am 10. August, wurden die
Vorsitzende der humanitären Organisation „Retten wir die Zukunft“, Zarema Sadulajewa und ihr
Mann Alik Dschabrailow von Sicherheitskräften entführt und in der Nacht erschossen. Am
Morgen fanden sich ihre Leichen mit Spuren der Folter am Stadtrand von Grosnij.
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Anfang November 2009 verschwand die Mitarbeiterin des Dänischen Flüchtlingsrates,
Zarema Gajsanow, spurlos bei einer Sonderoperation, die von Ramsan Kadyrow persönlich
geleitet worden war.
Diese Morde und das spurlose Verschwinden anderer wird sehr ineffektiv nur aufgeklärt.
Am 16. Dezember hatten Sergej Kowaljow, als Vertreter von „Memorial“, Ljudmilla
Alexejewa und Oleg Orlow den Preis des Europaparlamentes „Für die Freiheit des Denkens“,
der den Namen von Sacharow trägt, erhalten. Am gleichen Tag veröffentlichte „Memorial“ eine
Erklärung, in der es die Wiederaufnahme seiner Arbeit in der Tschetschenischen Republik
ankündigte.
Als Reaktion auf diese Erklärung veröffentlichte der Menschenrechtsbeauftragte
Tschetscheniens, Nurdi Nuchaschiew, eine Erklärung, in der er „Memorial“ scharf kritisierte und
beleidigte.
Dieses
Schreiben
war
angeblich
von
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tschetschenischen
Nichtregierungsorganisationen unterschrieben worden. Die Gruppen, die unterschrieben hatten,
waren, als wir sie darauf angesprochen hatten, übereinstimmend erstaunt über diese Nachricht.
Ihnen sei von ihrer eigenen Unterschrift nichts bekannt, so berichteten sie. Trotzdem hatte
niemand von ihnen den Mut, diese Fälschung offen anzuprangern. Sie berichteten, dass sie aus
dem Apparat des Menschenrechtsbeauftragten Tschetscheniens direkte Drohungen erhalten
hätten. Die Liste, so wurde ihnen gesagt, habe Kadyrow persönlich zusammengestellt. Am 12.
Januar erschien auf der Homepage von Nuchaschiew eine neue Erklärung ähnlichen Inhalts.
Diese Erklärung „unterschrieben“ nicht weniger Leiter von tschetschenischen NGOs. Und
wieder gibt es keine öffentlichen Distanzierungen, lediglich am Telefon bestätigten die
Betroffenen, dass sie nicht unterschrieben hätten. Dass sich sogar gesellschaftlich aktive
Menschen so verhalten zeigt, dass man dort Angst hat, weiß, dass bei Ungehorsam eine tödliche
Gefahr drohen kann.
Über seinen Vertreter klagte Ramsan Kadyrow gegen das Menschenrechtszentrum
„Memorial“ und dessen Vorsitzenden, Oleg Orlow. Diese hätten seine Ehre verletzt. Er forderte
gleichzeitig einen Schadensersatz von 5 Millionen Rubel von Orlow und Memorial. Das Gericht
gab der Forderung von Kadyrow weitgehend statt, senkte aber die Höhe der
Schadensersatzzahlung auf 70 Tausend Rubel (ca. 2000 Euro).1
Doch das war noch nicht alles. Derzeit will man Orlow für die Worte, die er am Tag des
Mordes an Natalja Estemirowa ausgesprochen hat, wegen Verleumdung im Rahmen von Artikel
129 StGB der RF klagen. Bei einer Verurteilung drohen ihm 3 Jahre Haft.
All diese Ereignisse haben unsere Arbeit in Tschetschenien weiter erschwert. Einige unserer
dortigen Mitarbeiter, unter ihnen auch der Leiter des Büros in Grosnij, mussten Russland
verlassen wegen der Verfolgungen durch die Rechtsschutzorgane.
Die aktuelle Situation in der Tschetschenischen Republik. Die sogenannte
„Tschetschenisierung“ des Konfliktes hat die menschenrechtliche Lage nicht verbessert,
bedeutete doch diese nicht nur die Stärkung der lokalen Machtorgane, sondern auch die
Übertragung des Rechtes auf ungesetzliche Gewalt an der Zivilbevölkerung auf diese.
Dieses Recht wird von den Leuten Ramsan Kadyrows unkontrolliert wahrgenommen.
In den letzten Jahren hat sich in Tschetschenien ein totalitäres Regime herausgebildet,
das auf Gewalt, Spitzelwesen und Angst beruht. 2007 gab es weniger Entführungen
durch die Sicherheitskräfte und auch weniger Folter. Allein dieser Umstand zeigt, dass
die ungesetzliche Gewalt ungeschrieben von oben geregelt wird. Gleichzeitig sind
Entführungen, Folter und andere Menschenrechtsverletzungen in der Republik weiterhin
1
Weitere Informationen über das Verfahren von Kadyrow gegen Orlow finden sich auf unserer Internetseite in russischer Sprache auf: http://www.memo.ru/2009/09/10/sud.htm.
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an der Tagesordnung. Seit Mitte 2008 steigt die Zahl der Entführungen wieder. 2009
wurden doppelt so viele Entführungen verzeichnet wie im Vorjahr. Gleichzeitig ist es im
Vergleich zu den Vorjahren für die Menschenrechtler viel schwerer geworden, über
derartige Menschenrechtsverletzungen Informationen einzuholen. Unter den
Angehörigen der Opfer geht die Angst vor der Verfolgung durch die Behörden um.
Die Tabelle gibt Aufschluß über die Ergebnisse der Beobachtungen von Memorial
über Entführungen und das spurlose Verschwinden. Hierbei gilt zu berücksichtigen, dass
wir nur 30% von Tschetschenien beobachten können.
II. Entführungen, spurloses Verschwinden
Jahr
EntFreigelassen
führungen
oder frei(Gesamtzah
gekauft
l)
Tot aufgefunden
Spurlos verschwunden
2006
187
94
11
63
Fälle, in
denen
Ermittlungen
laufen
19
2007
2008
2009
35
42
93
23
20
60
1
4
10
9
13
19
2
5
4
Für 2010 können wir keine Statistik anführen.
Am 3. August 2008 verschwand Machmadsalich Macajew spurlos. Dieser hatte offen
berichtet, dass er vier Monate in einem geheimen Gefängnis von Ramsan Kadyrow
festgehalten worden ist. In einem Interview mit der „Nowaja Gaseta“
(http://www.novayagazeta.ru/data/2008/49/10.html) berichtet er, was für ein Schicksal
auf jemanden wartet, der den Mut hat, die Wahrheit zu sagen. Am 24. September 2008
wurde im Zentrum von Moskau Ruslan Jamadajew ermordet. Jamadajew war der Chef
des einzigen Clans, der mit Kadyrow hätte konkurrieren können. Am 29. März 2009
wurde auf dessen Bruder, Sulim Jamadajew, in Dubaj ein Mordanschlag verübt. So ist
Kadyrow nun der einzige Herrscher in Tschetschenien. Die Macht muß er mit
niemandem teilen, er wird von niemandem kontrolliert. Isa Jamadajew, ein weiterer
Bruder von Ruslan Jamadajew, erklärte im August 2010, dass seine Bruder Sulim tot sei
und – für viele unerwartet – er sich mit Kadyrow versöhne.
Mitte 2007 begann eine Welle der Verfolgung der Verwandten mutmaßlicher Aufständischer. Einige Familien waren so aus ihren Häusern vertrieben worden. Die anderen
wurden mit Drohungen gezwungen, vor laufenden Fernsehkameras Reue zu üben. Sie
mussten nicht nur ihre Verwandten zur Rückkehr auffordern, sie mussten diese auch noch
bei Beerdigungen verfluchen. Familien, in denen Mitglieder bei den Aufständischen sind,
fällt es schwer, Wohnraum zu finden, von der Gesellschaft werden sie gemieden.
Am 7. April 2010 berichtete das Tschetschenische Fernsehen im Kanal „Weinach“
über ein Treffen von Repräsentanten der Republik mit Personen, deren Verwandte
mutmaßliche Aufständische sind. Der Bürgermeister von Grosnij, Muslim Chutschiew,
versprach bei dieser Gelegenheit öffentlich, mit den Eltern mutmaßlicher Aufständischer
so zu verfahren, wie diese es mit der Zivilbevölkerung täten. Der Präfekt des Rayon
Staropromyslow (Grosnij), Zelimchan Istamulow, sagte bei diesem Treffen: „Wenn ihr
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gedacht habt, ihr könntet anschließend einfach so nach Hause gehen und dort ruhig
sitzen, habt ihr euch schwer geirrt….“. An der Zusammenkunft hatte auch der
Menschenrechtsbeauftragte der Tschetschenischen Republik, Nurdi Nuchaschiew,
teilgenommen. Schweigend gab er dem Gesagten seine Zustimmung.
Uns liegen mehrere Erklärungen von Familien vor, die ständig verfolgt werden. Sie werden
von ihrer Arbeitsstelle entlassen und erhalten Drohugen, weil ihre Verwandten angeblich als
Aufständische kämpfen würden oder in das Ausland gereist seien. Doch die Betreffenden
wenden sich nicht an uns mit diesen Informationen, um unsere Hilfe bei der Verteidigung ihrer
Rechte zu erbitten, wie dies in den vergangenen Jahren der Fall war. Sie tun dies mit der Bitte,
dass wir ihnen helfen, das Land zu verlassen, Asyl zu erhalten.
Im März 2010 hat das Komitee Bürgerbeteiligung entschieden, Familien zu helfen, deren
Häuser in Brand gesteckt worden waren. Sie alle brauchen unsere Hilfe. Zwei von zehn
betroffenen Familien haben sich aus Angst vor Repressionen nicht mit uns getroffen.
Doch Gefahr droht nicht nur Aktivisten der Zivilgesellschaft. Tschetschenen, die aus dem
Ausland zurückkehren, werden verdächtigt, sie werden Opfer von Erpressung und gefälschten
Beweisen bei Gerichtsprozessen.
In unserem letzten Bericht über die Lage der Tschetschenen in Russland haben wir
ausführlich über Zubajr Zubajrajew geschrieben. Dieser war auf Österreich aus persönlichen
Gründen wieder nach Russland zurückgekehrt. Er hatte an die Propaganda geglaubt, die
Tschetschenen glauben macht, sie könnten ohne Befürchtungen in die Heimat zurück. Derzeit ist
Zubajr Zubajrajew in Haft. Dort wird er gequält, in seiner menschlichen Würde erniedrigt,
bestraft, wenn er sich beschwert hat. Man will ihn physisch und psychisch brechen.
Die Situation der Tschetschenen in den Gefängnissen ist eines der Themen dieses Berichtes.
Einer der beschriebenen Fälle hat in der zweiten Hälfte von 2009 eine dramatische Entwicklung
erfahren. Im Oktober sollte Schamil Chatajew, der eine Haftstrafe aufgrund gefälschter
Beweismittel abgesessen hatte, freikommen. Doch am Ende der Haftzeit war Chatajew brutal
von den Wärtern mißhandelt worden. Der Anwalt, der von uns für die Sache einbestellt worden
ist, konnte sich mehrere Monate nicht mit seinem Mandanten treffen. Auch mit seiner Mutter
und seiner Frau durfte sich Chatajew nicht treffen. Er kam nicht in Freiheit, es wurde ein neues
Verfahren gegen ihn eingeleitet. Dieses Mal lautete der Vorwurf „Störung der Einrichtung, die
Menschen von der Gesellschaft isoliert“ (Artikel 321 des StGB der Russischen Föderation). Der
mißhandelte Schamil wurde so von der Strafkolonie direkt in die Isolationshaft überstellt.
Derartige Fälle gibt es sehr viele. Regelmäßig erhalten wir Klagen über die Fälschung von
Beweismitteln gegen Tschetschenen und von Mißhandlungen an ihnen in Gefängnissen. Bei
allen Grausamkeiten des russischen Strafvollzuges ist das Risiko von inhaftierten Tschetschenen
besonders hoch.
Seit Beginn der kriegerischen Auseinandersetzungen in der Tschetschenischen Republik
haben die ersten Personen des Staates den Sicherheitsstrukturen mehrfach das Signal gegeben,
dass sie sich bei einer Nichtachtung der Gesetze keine Sorgen zu machen brauchten. Wichtig
wäre, Bericht über die getöteten angeblichen Mitglieder von illegalen bewaffneten
Formierungen. Eine derartige Anordnung gab auch der Präsident am 8. Januar 2010 bei einem
Treffen mit dem Direktor des FSB. Dabei hatte Medwedew folgendes gesagt: „Was die Banditen
angeht, ist unsere Politik so wie bisher. Man muss sie einfach vernichten. Das muss man
grausam tun und es muss systematisch gemacht werden, d.h. regelmäßig. Schließlich existiert
der bewaffnete Untergrund immer noch. Man muss methodisch vorgehen, und wenn man eine
Spur findet, muss man ihr nachgehen und zerstören.“
Diese Vorgehensweise provoziert geradezu Entführungen von Menschen aus der
Zivilbevölkerung. Die Opfer werden anschließend in Kampfkleidung gesteckt. Und sie weisen
Spuren von Folter auf. Man sagt dann, dies seien die Leichen von Angehörigen illegaler
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bewaffneter Formierungen. Einen dieser Fälle konnten wir nachverfolgen. Dies ist uns dank
einer vertraulichen Information gelungen, die wir von einer uns unbekannten Person erhalten
hatten. Möglicherweise ist diese Person tschetschenischer Milizionär. Der Anrufer sagte, ein
derartiges Schicksal warte auch auf Alichan Markujew, geb. 1988. Dieser war 2008 amnestiert
worden. Zuvor war er ein Jahr bei den Aufständischen. Am 28. Juli 2009 verschleppten
Milizionäre aus Argun Alichan aus seinem Haus. Am 19. Oktober 2009 erreichte uns die
Nachricht von dem geplanten Mord an Alichan. Wir informierten sofort die Staatsanwaltschaft
und das Innenministerium Tschetscheniens. Trotzdem gelang es nicht, das Verbrechen zu
verhindern. Am 27. November wurde die Leichte von Alichan Markujew am Rand des Dorfes
Swerschen-Jurt gefunden. Diese wies Schußwunden auf, neben ihr lag ein Maschinengewehr.
Den Verwandten sagte man, Alichan sei bei einer Sonderoperation um das Leben gekommen.
Die Situation in der Tschetschenischen Republik beeinflusst auch die Methoden, mit
denen die Menschenrechtler arbeiten. Zum ersten Mal in vielen Jahren können wir nicht
mehr alles offen sagen, was wir über die Vorfälle in Tschetschenien wissen. Das ist auch ein
Hauptunterschied zu Inguschetien oder Dagestan, wo die Lage zwar kritisch ist, wo aber
die Behörden eine kritische Sichtweise zulassen, ja häufig sogar selbst vieles kritisieren. Die
Verschwörung des Schweigens führt dazu, dass in der Welt die Legende von der
Stabilisierung der Situation in der Tschetschenischen Republik die Runde macht. Mangels
echter Information ist man in Migrationsbehörden und Machtstrukturen in Europa immer
mehr davon überzeugt, dass es nun an der Zeit sei, alle (oder fast alle), die aus
Tschetschenien gekommen sind, und Asyl beantragt hatten, in ihre Heimat abzuschieben.
Zur inländischen Fluchtalternative. In unseren Jahresberichten nennen wir jedes Jahr
Beweis, warum es für Menschen aus Tschetschenien keine gefahrlose inländische Fluchtalternative gibt, unternehmen doch die Behörden in Russland alles, um alle Tschetschenen in die
Tschetschenische Republik zurückzuführen. Wer Tschetschenien verlassen will und sich in
einer anderen Region Russlands niederlassen will, hat kaum Aussichten auf Erfolg. Das Ziel von
Ramsan Kadyrow, alle Tschetschenen in Tschetschenien zu versammeln, wird von den
regionalen und Bundesbehörden unterstützt. Immer wieder verweigert man Tschetschenen
Mietwohnungen, die Registrierung, eine Arbeitsstelle. Dies geschieht in sehr erniedrigender
Weise. So werden die nationalen und menschlichen Gefühle von Würde verletzt.
Wie gefährlich es ist, plötzlich inhaftiert zu werden, wurde oben bereits beschrieben. Das gilt
auch für die Tschetschenen, die dauerhaft in anderen Regionen leben. Die Angehörigen der
Machtstrukturen schieben ihnen als gefälschte Beweismittel Rauschgibt unter, Waffen oder
Sprengstoff, gegen sie werden Terrorismusanklagen fabriziert. Im Gericht können sie nicht auf
eine humane und gerechte Behandlung hoffen. Im Strafvollzug werden Tschetschenen erniedrigt,
geschlagen, ihr Leben ist lebensgefährlich.
Bewohner Tschetscheniens, die Tschetschenien verlassen haben, fehlen die materiellen
Möglichkeiten für einen sicheren Wohnraum. Die Kompensationszahlungen für in der Tschetschenischen Republik verlorenen Wohnraum betragen 120 Tausend Rubel, das sind
umgerechnet vier Tausend US-$. Für dieses Geld lässt sich weder ein Haus noch eine Wohnung
kaufen. Es reicht gerade einmal für die Miete von drei bis sechs Monaten (je nach Region).
Außerdem wurden in den letzten drei Jahren praktisch keine Mittel mehr aus dem Haushalt für
diese Kompensationszahlungen bereitgestellt. 2009 erhielten gerade einmal 87 Familien Kompensationszahlungen. Und auch in den nächsten zwei Jahren ist keine größere Eile ilm Auszahlen dieser Summen abzusehen. Positive Bescheide wurden nur bei Familien erteilt, die
Tschetschenien in Zeiten verlassen haben, die von den Machthabern als kriegerisch bezeichnet
werden. Man kann davon ausgehen, dass tausende von Familien noch mindestens sechs Jahre
warten müssen, bis ihnen Kompensationsleistungen gezahlt werden.
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In den folgenden Abschnitten werden wir genauer auf die hier angesprochenen Fragestellungen eingehen.
II Entführungen und spurloses Verschwinden
Der Kampf gegen den Terrorismus ist zweifellos eine wichtige Aufgabe der Machthaber im
Nordkaukasus. Tausende haben in Russland nach Terroranschlägen ihr Leben verloren, wurden
verletzt, ihrer Angehörigen beraubt. Unter ihnen sind auch Menschen, die uns nahestehen. Die
Gewährleistung der Sicherheit der Bevölkerung ist eine der wichtigsten Aufgaben eines Staates,
an der jeder von uns auch persönlich interessiert ist.
Im Kampf gegen den Terrorismus kann und muss der Staat hart sein, im Rahmen der
Gesetze kann er sehr harte Methoden von Gewalt anwenden. Doch der Kampf gegen den
Terrorismus ist auch ein Kampf von Ideologien und dieser Kampf ist nicht weniger wichtig. Die
Ideologie des Terrorismus ist einfach: kollektive Schuld, kollektive Verantwortung, kollektive
Bestrafung.
Dem kann man nur das persönliche Recht, das Einhalten der Gesetzlichkeit und die Achtung der Menschenrechte entgegensetzen. Andernfalls stellt sich der Staat auf die gleiche ideologische Stufe wie der Terrorismus, antwortet auf Terror mit Terror.
Leider passiert genau das häufig. „Memorial“ unterhält eine Datenbank zu Personen, die
seit Herbst 1999 spurlos verschwunden sind. Derzeit finden sich über drei Tausend Menschen in
dieser Datenbank. Die Begleitumstände der absoluten Mehrheit der Entführungen sprechen für
eine Mitwirkung von Vertretern des Staates oder bewaffneten Formierungen, die mit diesen
zusammenarbeiten. Mehr als 95% der Ermittlungsverfahren, die nach einer Entführung
eingeleitet worden sind, blieben edrgebnislos
Hier einige konkrete Fälle von 2009 und 2010.
Das Verschwinden von Apti Ramsanowitsch Zajnalow, sein geheimes Festhalten im
Krankenhaus und die Entführung aus dem Krankenhaus.
Dieses Beispiel zeigt sehr deutlich die ganze Hilflosigkeit der Staatsanwaltschaft
angesichts der gesetzwidrigen Handlungen der Bediensteten des Innenministeriums der
Tschetschenischen Republik. Hier geschah es sogar, dass die Milizionäre mit Waffengewalt
einen Staatsanwalt des Raumes verwiesen haben. Und Staatsanwaltschaft und Ermittlungskomitee bei der Staatsanwaltschaft machen sich nicht einmal die Mühe, die Gesetzlichkeit
wieder herzustellen. Die Aufklärung von Verbrechen, die Milizionäre in Tschetschenien begangen haben, wird sabotiert, die Mitarbeiter der Staatsanwaltschaft geben gar ein falsches
Zeugnis, um ein Verbrechen der Milizionäre zu decken.
Am 26. Juni 2009 verschwand unter unklaren Umständen Apti Ramsanowitsch Zajnalow.
Die Mutter von Apti Zajnalow, Ajma Makajewa, lebt in dem Dorf Makkety, Rayon Wedeno,
Tschetschenische Republik.
Apti Zajnalow war im Oktober 2005 wegen Beteiligung an einer illegalen, bewaffneten Saratow
verurteilt worden. Im Juli 2006 wurde er freigelassen. Seitdem lebte er in der Stadt Saratow.
Dort arbeitete er auch. Regelmäßig fuhr er zu seiner Mutter nach Tschetschenien.
Seit dem 26. Juni 2009 antwortet das Mobiltelefon von Apti nicht mehr.
Am 2. Juli wandte sich ein Unbekannter an die Vertretung von Memorial. Im Krankenhaus des
Dorfes Atschcha-Martan, so die Information, sei ein junger Mann. Er werde bewacht. Sein Name
sei Apti. Er habe ernste Verletzungen, die von der Folter rührten. Die Mitarbeiter der MemorialVertretung beschlossen, dieser Information nachzugehen, war doch kurz vorher vom
7
Verschwinden von Apti Schamsajew aus dem Dorf Gecha, Rayon Urus-Martan,
Tschetschenien, bekannt geworden. Deswegen vermutete man bei „Memorial“ zunächst, dass
des sich hier um Apti Schamsajew handele.
Am 3. Juli 2009 besuchten der Memorial-Mitarbeiter Achmed Gisajew und ein Verwandter von
Apti Schamsajew das Krankenhaus in Atschcha-Martan. In der chirurgischen Abteilung konnten
sie über die offene Tür einen Blick in das Zimmer № 1 werfen. Dort waren zwei bewaffnete
Wächter in Kampfanzügen, die offensichtlich zu den Truppen des Innenministeriums gehörten.
Auf ihren schwarzen Schirmmützen waren die Initialen „K. R. A.“. In dem Bett in unmittelbarer
Nähe zur Tür lag ein junger Mann. Er muß so 28-30 Jahre alt gewesen sein, in seinem Gesicht
waren blaue Flecken, auf dem Körper purpurrote Flecken. Der Verwandte von Apti Schamsajew
sagte, dass dies nicht Apti Schamsajew sei.
Wenige Minuten später antwortete ein Mitarbeiter des Krankenhauses auf Fragen von Gisajew.
Er berichtete, dass man diesen Patienten aus Grosnij gebracht habe, er Apti Zajnalow heiße. Er
sei aus dem Dorf Machketi und 29 Jahre alt. Die Krankenhausmitarbeiter dürften nicht mit ihm
sprechen, auf der Krankenkarte sei sein Name nicht eingetragen. Man nenne ihn deswegen „den
Unbekannten“. Mehrfach habe man ihn schon aus dem Krankenhaus geholt, offensichtlich für
die Folter.
Am gleichen Tag teilten die Verwandten von Apti Zajnalow aus dem Dorf Machkety mit, dass
sich dieser in dem Krankenhaus von Atschcha-Martanow befinde, er in einem schlechten
Zustand sei.
Am 4. Juli fuhren die Mutter von Apti Zajnalow, Ajma Makajewa, und der Bruder Ruslan in das
Büro von Memorial in Grosnij. Dort zeigten sie Photos von Apti. Der Memorial-Mitarbeiter
erkannte ihn sofort als die Person, die er im Krankenhaus gesehen hatte.
Am darauffolgenden Tag besuchten Ruslan Zajnalow und ein Mitarbeiter von Memorial das
Krankenhaus in Atschcha-Martan. Dort konnten sie jedoch nichts mehr herausfinden. Die
Wächter ließen sie nicht bis zu dem fraglichen Zimmer und beantworteten dieses Mal auch keine
Fragen.
Am 7. Juli fuhr Ajma Makajewa mit einem Mitarbeiter von Memorial nach Atschcha-Martan,
um die Staatsanwaltschaft aufzusuchen. Gemeinsam mit der Memorial-Mitarbeiterin Natalja
Estemirowa wurden sie vom kommissarisch eingesetzten Staatsanwalt im Rayon AtschchaMartanow, Jurij Wiktorowitsch Potanin, empfangen. Natalja Estemirowa berichtete über das
Ziel des Besuches. Ajma Zajnalowa übergab dem Staatsanwalt ein Schreiben, in dem sie angab,
dass sich ihr Sohn Apti im Krankenhaus von Atscha-Martan befinde und in einem sehr schweren
Zustand sei. Sie bat den Staatsanwalt, etwas zu tun in dieser Sache.
Der kommissarisch eingesetzte Staatsanwalt sandte sofort seinen Mitarbeiter Ch. Atajew und
seinen Stellvertreter Magomed Dombajew in das Krankenhaus, damit sie dort die Situation in
Augenschein nehmen. Potanin selbst fuhr zu einer Besprechung.
A. Makajewa und N. Estemirowa blieben im Gang der Staatsanwaltschaft. Dessen Stellvertreter
und der Mitarbeiter des Staatsanwaltes gingen in das Zimmer von Dombajew, schlossen sich
dort ein und verharrten dort anderthalb Stunden. Auf die Frage, worauf sie warteten, antworteten
sie, auf den Chef der Miliz von Atschcha-Martan. Erst nach inständigem Bitten waren sie bereit,
selbst zur Miliz zu fahren. Dort angekommen, gingen beide in das Gebäude, und ließen
Makaewa und Estemirwa auf der Straße zurück.
Da die Zeit verstrich und die Mitarbeiter der Staatsanwaltschaft offensichtlich nicht willens
waren, irgendetwas zu tun, sahen sich Ajma Makajewa und Natalja Estemirowa gezwungen,
zurück zur Staatsanwaltschaft von Atschcha-Martan zu fahren. Man gewährte ihnen keinen
Eintritt, deswegen entschieden sie, direkt in das Krankenhaus von Atschcha-Martan zu fahren.
Dorthin waren die Mitarbeiter der Staatsanwaltschaft nicht gefahren.
N. Estemirowa machte sich erneut auf den Weg zur Staatsanwaltschaft, Ajma Makajewa blieb
im Krankenhaus. Wenig später sah sie, wie ein Auto vom Typ „Wolga“ an den Hintereingang
der chirurgischen Abteilung heranfuhr. Zwei oder drei Minuten später führten zwei Bewaffnete
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in Uniform Apti aus dem Krankenhaus. Er hatte große Mühen mit dem Gehen. Die Mutter
erkannte eindeutig ihren Sohn Apti Zajnalow. Die Bewacher legten ihn auf den Rücksitz, dann
fuhren sie los.
Bis zum Ende des Arbeitstages hatten Dombajew und Atajew das Milizgebäude nicht verlassen.
Besser hätten die Mitarbeiter der Staatsanwaltschaft von Atschcha-Martan ihr Desinteresse nicht
dokumentieren können.
Am 8. Juli wandte sich Ajma Makajewa an den Staatsanwalt Tschetscheniens, M.M. Sawtschin,
mit der Bitte, kurzfristig Maßnahmen gegen die rechtswidrigen Handlungen gegenüber ihrem
Sohn zu unternehmen.
Am 9. Juli forderte Ajma Makajewa in einem Schreiben an den Leiter des Regionalen Untersuchungskomitees von Atscha-Martan diesen wegen der Entführung ihres Sohnes zu
strafrechtlichen Schritten auf, verlangte, er solle den Aufenthaltsort von Apti herausfinden. Und
sie wandte sich am gleichen Tag auch an das Ermittlungskomitee der Staatsanwaltschaft der
Russischen Föderation in der Tschetschenischen Republik.
Am darauffolgenden Tag bemerkten die Mitarbeiter des Menschenrechtszentrums „Memorial“,
Natalja Estemirowa und Achmed Gisajew, dass sie verfolgt wurden. Am 10. Juli wurde Gisajew
beim Verlassen des Memorial-Büros in Grosnij von einem Auto vom Typ GAZ-31029 mit den
Nummernschildern В 391му 95 rus (die 95. Region ist die Tschetschenische Republik) verfolgt.
Die Fenster des Wagens hatten getönte Scheiben. Dieses Auto blieb vor dem Haus von Gisajew
stehen. An dem Fenster der Vordertür hing ein Funkgerät, ein eindeutiger Hinweis darauf, dass
sich im Wagen Angehörige der Sicherheitsstrukturen befanden.
Am Morgen des 15. Juli 2009 wurde Natalja Estemirowa entführt, als sie in Grosnij auf dem
Weg zur Arbeit war. Und am gleichen Tag wurde ihr Körper mit Schussverletzungen auf dem
Gebiet der Republik Inguschetien gefunden.
An diesem Tag entschied die Ermittlungsabteilung der Miliz von Atschcha-Martanow, kein
Verfahren einzuleiten. Es ließe sich kein Verbrechen feststellen, so die Begründung.
In den Tagen nach dem Mord an Natalja Estemirowa bemerkte Achmed Gisajew, der einzige
verbliebene Zeuge in der Angelegenheit Zajnalow, zwei mal den Wagen GAZ-31029 mit den
Nummernschildern В 391му 95 rus. Der Wagen hatte lange auf der Straße gestanden, unweit des
Hauses von Gisajew.
Am 17. Juli wandte sich das Menschenrechtszentrum Memorial an den Europäischen Menschengerichtshof mit einer Klage von Ajma Makajewa, der Mutter von Apti Zajnalow. Sie klagte über
die Verletzung von Artikel 3 (Folterverbot), 5 (Recht auf Freiheit und körperliche Unversehrtheit) und 13 (Recht auf effektiven Rechtsschutz) der Europäischen Konvention. Sie bat in
ihrem Schreiben gleichzeitig, hier die kurzfristige Prozedur anzuwenden. Von entscheidender
Bedeutung in dieser Klage waren die Aussagen von Natalja Estemirowa und Achmed Gisajew.
Am 20. Juli ersuchte der Menschengerichtshof, noch bevor er eine Entscheidung getroffen hatte,
ob der Fall kurzfristig zu behandeln sei, die russische Regierung um weitere Informationen.
Diese möge Auskunft darüber erteilen, ob die Angaben einer Beteiligung von staatlichen
Bediensteten an der Entführung von Apti Zajnalow zutreffend seien. Erst dann, am 28. Juli,
leitete das Ermittlungskomitee der Staatsanwaltschaft der Russischen Föderation in der Tschetschenischen Republik unter der № 74032 wegen des spurlosen Verschwindens von A.R.
Zajnalow ein Ermittlungsverfahren auf der Grundlage von Artikel 105 (Mord) des StGB der RF.
Am 12. August antwortete der Beauftragte der Russischen Föderation beim Menschengerichtshof auf dessen Fragen2:
- “… die Behörden der Russischen Föderation teilen mit, dass Angaben, denen zufolge sich nach
dem 1.7.2009 ein A.R. Zajnalow oder eine andere Person, die unter Bewachung stand, zur
Behandlung im Krankenhaus von Atschcha-Martanow aufgehalten habe, nicht bestätigt werden
können.“
2
http://www.memo.ru/2010/06/18/1806103.htm#_ftnref50 (russisch)
9
- “die Behörden der Russischen Föderation erklären, dass sich weder in den Erklärungen und
Äußerungen der Antragstellerin und der Zeugen, noch in den Unterlagen der Strafsache №
74032 Angaben finden, die eine Festnahme von R.A, Zajnalow durch Bedienstete des Staates
bestätigen würden“;
- “…die Behörden der Russischen Föderation unternehmen alle möglichen Maßnahmen, um den
Aufenthaltsort des Sohnes der Antragstellerin ausfindig zu machen“;
- „trotz der im Rahmen der Vorermittlungen unternommenen Bemühungen, die oben beschrieben
sind, ist es zum derzeitigen Zeitpunkt nicht möglich, etwas zum Aufenthaltsort von R.A. Zajnalow
herauszufinden“.
Auf welcher Grundlage kommen die Behörden der Russischen Föderation zu ihren Schlussfolgerungen?
Die Antwort liefern die Materialien der strafrechtlichen Ermittlungen, die dem Europäischen
Menschengerichtshof zu einem späteren Zeitpunkt übermittelt wurden.
Was haben eigentlich die Ermittlungsorgane während der Vorermittlungen gemacht?
Viel Raum nehmen in den Materialien des Verfahrens sinnlose Anfragen, die an verschiedene
Milizstationen und Ermittlungskomitees gerichtet worden sind, in Anspruch. Da wird z.B.
gefragt, ob man nicht Beschwerden von A.R. Zajnalow erhalten habe und ob gegen ihn ein
Strafverfahren eingeleitet worden sei. Die meisten dieser Anfragen, so wird aus den Unterlagen
ersichtlich, sind offensichtlich nicht beantwortet worden.
Die Ärzte und Krankenschwestern des Krankenhauses von Atschcha-Martanow wurden befragt.
Und sie alle geben an, dass kein R.A. Zajnalow im Krankenhaus behandelt worden sei, aber auch
keine andere Person, die bewacht worden sein soll. Sollte ein Patient mit Schußwunden in die
Klinik eingeliefert werden, müsse das medizinische Personal dies auch an die Miliz des Rayons
melden. Das gleiche gelte für alle rechtswidrigen Handlungen, die sich auf dem Klinikgelände
abspielen könnten, insbesondere natürlich für Entführungen oder das gewaltsame Abholen eines
Patienten. Doch im angefragten Zeitraum habe sich derartiges nicht ereignet.
Ebenfalls befragt worden sind der stellvertretende Staatsanwalt der Region, M.Ch. Dombajew
und sein Mitarbeiter, Ch.A. Atajew. Beide behaupten, dass sie sich sofort nach Eingang der
Erklärung von Ajma Makajewa mit dem Chef der Miliz des Rayons, Ch. K. Ajdamirow, auf den
Weg in das Krankenhaus gemacht hätten. Dort hätten sie das medizinische Personal befragt, man
habe auch das Dienstbuch kontrolliert. Im Ergebnis sei festgestellt worden, dass „die Angaben
der Antragstellerin, ihr Sohn habe sich zum Zeitpunkt des Besuches des Staatsanwaltes mit
Verletzungen auf der chirurgischen Abteilung des Krankenhauses befunden, nicht bestätigt
werden konnten.“
Man habe auch Ajma Makajewa und A. Gisajew, den Mitarbeiter des Menschenrechtszentrums
Memorial befragt. Deren Angaben, so die russischen Behörden an den Europäischen
Menschengerichtshof, „ließen sich bei den Ermittlungen nicht bestätigen“.
Die Ermittler schenken den Angaben des medizinischen Personals und der Staatsanwaltschaft
volles Vertrauen.
Eine der Zeugen in dieser Angelegenheit, Natascha Estemirowa, wurde ermordet. Der zweite
Zeuge Achmed Gisajewa wurde von Sicherheitskräften bedroht. Das Menschenrechtszentrum
Memorial hatte sich entschlossen, ihn aus Tschetschenien wegzubringen.3
Auf diesem „toten Punkt“ hatte man wohl das Strafverfahren für Jahre belassen wollen. Doch
am 23. September 2009 geschah etwas für die Machthaber unerwartete:
An diesem Tag erhielten das Ermittlungskomitee bei der Staatsanwaltschaft der Russischen
Föderation und das Ermittlungskomitee bei der Staatsanwaltschaft der Russischen Föderation in
der Tschetschenischen Republik ein vom Vorsitzenden des Menschenrechtszentrums
3
Siehe auch http://www.memo.ru/hr/hotpoints/caucas1/msg/2009/08/m172821.htm (russisch)
10
„Memorial“, Oleg Orlow, unterzeichnetes Schreiben. Dem Schreiben war eine Aussage von A.
Gisajew beigefügt, eine CD mit einer Videoaufzeichnung und dem Text des Videos.
Achmed Gisajew teilte hierin mit, dass er am 8. August 2009 einen Anruf vom Ermittlungsrichter der Ermittlungskommission bei der Staatsanwaltschaft der Russischen Föderation in der
Tschetschenischen Republik erhalten habe. Dieser ist für das Strafverfahren № 74032 verantwortlich. Dieser hatte ihn gebeten, zum Ermittlungskomitee zu kommen. Von dort könne man
dann gemeinsam in das Krankenhaus des Rayon Atschcha-Martan fahren, wo man dann vor Ort
die Aussagen von Gisajew überprüfen könne. Er fuhr dann mit dem Untersuchungsrichter nach
Atschcha-Martan. Dort angekommen, bemerkte A. Gisajewa, dass in dem ersten Raum der
chirurgischen Abteilung, in dem er bei seinem früheren Besuch Apti gesehen habe, Änderungen
vorgenommen worden seien. Im Zimmer waren nun sechs Betten (davor waren es drei gewesen).
Die Betten, die Nachttischchen und andere Gegenstände waren umgestellt worden. Dies berichtete A. Gisajew dem Untersuchungsrichter. Dann müsse man, so der Untersuchungsrichter,
den Raum entsprechend umstellen. Um dies umzusetzen, gingen sie zum stellvertretenden
Chefarzt.
Nun entspann sich ein sehr wichtiges Gespräch mit dem stellvertretenden Chefarzt.
Der Ermittlungsrichter stellte eine Frage, die schon mehrfach, und protokollarisch festgehalten,
negativ beantwortet worden war: war Apti Zajnalow im Krankenhaus festgehalten worden?
Doch dieses Mal sagte der stellvertretende Chefarzt die Wahrheit. Der Arzt wurde sehr unruhig
und zeigte sich empört darüber, dass die Behörden nichts unternommen hatten, um den jungen
Mann, der tatsächlich in ihrem Krankenhaus festgehalten worden war, zu befreien. Gisajew hatte
eine Kamera bei sich. Als er die Wichtigkeit des Gespräches begriff, ergriff er die Kamera.
Hier Auszüge aus dem Gespräch zwischen dem Untersuchungsrichter und dem Arzt:
Der stellvertretende Chefarzt:
„Nun, ich weiß nicht seinen Vornamen oder seinen Nachnamen. Doch der junge Mann hat
tatsächlich hier auf der chirurgischen Abteilung gelegen..<…> Wir haben ihn hier behandelt,
operiert. Zwei Wochen später haben sie ihn wieder mitgenommen. Als sie ihn abholten, war ich
nicht hier gewesen. Doch hier waren Staatsanwaltschaft und Ermittlungsbehörde gewesen.
Haben viele Fragen gestellt. Aber was soll ich dabei! Wir haben ihm geholfen. Was wäre nur
gewesen, wenn wir ihm nicht geholfen hätten. Wie ich schon sagte, Staatsanwaltschaft und
Ermittlungsbehörden waren hier. Warum sind wir Ärzte jetzt dran: Wenn man so sehr an ihm
interessiert war, warum hat ihn dann die Staatsanwaltschaft nicht einfach mitgenommen?!
Sie sind hergekommen, und da war der junge Mann noch da. Ja ja, die Staatsanwaltschaft war
hier und auch die Miliz“.
Daraufhin der Ermittlungsrichter: “Habe ich richtig verstanden, hier war auch die Staatsanwaltschaft?“
Der stellvertretende Chefarzt: “Ja, die war hier. Warum nur haben sie ihn nicht freigelassen!
Wir haben für diesen jungen Mann wirklich alles gemacht, was wir nur tun konnten. Wir haben
ihn behandelt, ihm jegliche medizinische Hilfe zukommen lassen.
<…>Warum nur müssen hier gerade ich und die anderen Ärzte unseren Kopf hinhalten. Ich bin
ungehalten darüber, dass die Staatsanwaltschaft und die Miliz ihn nicht freigelassen haben. Die
waren ja immer wegen ihm hier.“
Der stellvertretende Chefarzt berichtete, dass eines Tages, als der junge Gefangene im
Krankenhaus war, der Staatsanwalt des Rayons, Potanin, in Begleitung von FSB-Beamten
11
angereist sei.4 Im Verlauf des Gespräches mit den Sicherheitskräften, die den jungen Mann
bewacht hatten, sei zwischen dem Staatsanwalt und FSB-Beamten, die sich zu diesem Zeitpunkt
im Krankenhaus aufgehalten hatten, ein Streit entstanden, weil die Sicherheitskräfte den jungen
Mann nicht freilassen wollten. Nach Angaben des stellvertretenden Chefredakteurs hatten die
Sicherheitskräfte ihre Waffen auf den Staatsanwalt und dessen Begleitpersonal gerichtet, worauf
diese sich gezwungen sahen, abzureisen. Der stellvertretende Chefarzt sagte ebenfalls, dass sich
die Bewacher von A. Zajnalow sehr sicher gefühlt hätten und sich auch so verhalten hätten. Sie
trugen auch alle die bei staatlichen Sicherheitskräften üblichen Merkmale und Abzeichen.
Diese Daten sind ebenfalls der Akte hinzugefügt worden.
Nun ließ sich nicht mehr verheimlichen, dass sich A. Zajnalow unter Bewachung im Krankenhaus aufgehalten habe und anschließend an einen unbekannten Ort gebracht worden war. Offensichtlich geworden ist auch, dass das medizinische Personal und auch die Mitarbeiter der Staatsanwaltschaft gelogen hatten. Memorial informierte hierüber das Europäische Gericht für
Menschenrechte.
Am 7. Oktober 2009 entschied der Europäische Menschengerichtshof nach Abwägung aller
Argumente und Beweise, den Fall nicht als Eilfall (Regeln 39 und 40 der Geschäftsordnung),
sondern als vorrangig (Regel 41 der Geschäftsordnung) zu behandeln. Derzeit wartet der Fall auf
seine Behandlung.
Im November 2009 übernahmen die Juristen der Mobilen Gruppe von Menschenrechtsorganisationen das Mandat für Ajma Makajewa.5 Es ist dieser Gruppe zuzuschreiben, dass hier
Bewegung in den Fall gekommen ist.
So ist inzwischen in den Dokumenten des Ermittlungskomitees der Staatsanwaltschaft der
Russischen Föderation in Tschetschenien zu lesen, “dass bei den Ermittlungen festgestellt
wurde, dass A.R. Zajnalow am 28.6.2009 von Unbekannten an einem unbekannten Ort entführt
worden ist und er mit Schußverletzungen in das Krankenhaus des Rayons Atschcha-Martanow
gebracht worden ist. Dort war er 10 Tage behandelt worden. Anschließend hatten ihn Unbekannte in Kampfuniform abgeholt. <…> Das medizinische Personal des Krankenhauses hatte
unter Verletzung der Vorschrift (es folgt die Bezeichnung der Vorschrift) der Miliz von
Martanow nichts über den Eingang von A.R. Zajnalow in das Krankenhaus berichtet. <…>
Während sich A.R. Zajnalow im Krankenhaus von Atschcha-Martanow befand, hatte sich der
ehemalige kommissarische Staatsanwalt Ju.V. Potanin nach Eingang der Erklärung von A.A.
Makajewa zur Überprüfung dieser Angaben dorthin begeben, und dort mit dem Chefarzt der
Klinik, R.L. Chatajew gesprochen. Dabei hatte er den Sachverhalt bestätigt, dass tatsächlich
4
Wann nur genau hat der Staatsanwalt das Krankenhaus besucht? Es ist anzunehmen, dass das am 7. Juli
geschehen ist. Direkt, nachdem Frau Makajewa diesem persönlich ihre Erklärung ausgehändigt hatte. Denn
sofort im Anschluss daran ist Potanin an einen unbekannten Ort aufgebrochen, seine Mitarbeiter Dombajew
und Atajew haben mehrere Stunden versucht, „die Zeit in die Länge zu ziehen“. Und am gleichen Tag hatten
die Entführer, die offensichtlich beunruhigt waren, Zajnalow aus dem Krankenhaus geholt.
5
Seit Ende 2009 wenden die Menschenrechtler in Tschetschenien eine Arbeitsform an, die sich auch in anderen
Regionen schon bewährt hat: die sog. „“mobile Gruppe“. Hier arbeiten Juristen mit, die in die eine oder andere
Region beordert werden. Es handelt sich um Juristen, die in der Lage sind, schnell Materialien zu sammeln und zu
erstellen und im weiteren in der Lage sind, das Vorgehen aujf der Seite der Opfer juristisch zu begleiten. Seit 2000
ist diese Arbeitsform insbesondere in den Regionen Russlands beliebt, wo sich die lokalen
Menschenrechtsorganisationen nicht in der Lage sehen, den erforderlichen juristischen Beistand zu leisten. In der in
Tschetschenien tätigen mobilen Gruppe arbeiten Juristen verschiedener Regionen Russlands: vom „Komitee gegen
Folter“ (zentrales Büro in Nischnij Nowgorod), „Mensch und Recht“ (Gebiet Krasnodar), Stiftung „Öffentliches
Urteil“ (Moskau) und mehr als zehn weitere Organisationen. Führende Organisation der „Mobilen Gruppe“ ist das
„Komitee gegen Folter“. Dessen Koordinator ist Igor Kaljapin. Weitere Informationen (in russisch) unter:
http://www.memo.ru/2010/04/01/0104101.htm#_Сводные_мобильные_группы
12
A.R. Zajnalow, von Bewaffneten bewacht, im Krankenhaus war. Doch weitere Maßnahmen einer
erforderlichen Aufklärung des Vorfalles waren nicht unternommen worden.
Auch dienstintern wurde eine entsprechende Beschreibung des Falles angefertigt.6
So ist letztendlich die Tatsache, dass der Entführte unter Bewachung im Krankenhaus lag, nicht
mehr strittig. Trotzdem heißt es weiter offiziell, Zajnalow wurde „von unbekannten Personen an
einem unbekannten Ort entführt und dann von Unbekannten in Kampfuniform verschleppt“.
Nur mit Mühe ist es den Mitgliedern der Mobilen Gruppe gelungen, auch die dienstinterne
Überprüfung in die Akten aufnehmen zu lassen. Diese war zu dem Schluss gekommen, dass der
kommissarische Staatsanwalt auf eine offene und himmelschreiende Gesetzesverletzung nicht
reagiert hatte.
Bisher ist es den Angehörigen von Menschenrechtsorganisationen nicht gelungen, sich mit dem
Inhalt dieser Ergebnisse vertraut zu machen.
Zu der Angabe, der Ort der Entführung sei unbekannt: der Ort ist bekannt. Es ist die Autoreparaturwerkstatt „Schaneta“ bei der Schukow-Brücke in Grosnij. Dort waren am 28. Juni 2009
Apti Zajnalow und Zelimchan Chadschiew verhaftet worden.
Bereits am 8. Juli 2009 hatte das Menschenrechtszentrum „Memorial“ von der Verhaftung der
beiden berichtet.7 Zajnalow, der aus uns unbekannten Gründen nach Tschetschenien gefahren
war, hatte in einem Wagen gesessen, der von Chadschiew gesteuert war.
Diese Informationen hatten natürlich auch die Ermittlungsbehörden. So findet sich in den
Unterlagen ein Verhör eines Mitarbeiters der Autoreparaturwerkstätte „Schaneta“, in der dieser
und ein Kunde, der sich ein Rad seines PKW reparieren ließ, über die näheren Umstände der
Entführung am 28. Juni 2009 berichten. So hätten unbekannte Bewaffnete die beiden Männer
vor den Augen der Anwesenden auf die Straße geführt. Auf einen der beiden hätten sie dabei
geschossen. Dabei scheint Zajnalow gemeint zu sein. Im August 2009 hätten dann die ersten
Verhöre der Zeugen von der Autowerkstätte stattgefunden. Doch erst acht Monate nach der
Entführung hatten die ermittelnden Beamten den Tatort in Augenschein genommen. Dass dies
überhaupt gemacht wurde – im Februar 2010 – ist der Hartnäckigkeit der mobilen Gruppe zu
verdanken. Der ermittelnde Beamte hatte sogar noch aus einer Wand eine Kugel entnehmen
können. Angesichts des Rosts, der sich im Laufe der Monate an der Kugel gebildet hatte, war an
ein ballistisches Gutachten nicht mehr zu denken.
Was den Begriff der „unbekannten Personen“ angeht, so ist es offensichtlich: wer ohne
Schwierigkeiten auf den Straßen von Grosnij von der Waffe Gebrauch machen kann, und dies in
unmittelbarer Nähe der Einheiten des sog. „Ölregimentes“ und vor den Augen der Miliz tut,
kann nur selbst ein Staatsbediensteter sein. Und noch einmal: schon im Juli 2009 bestand die
Möglichkeit, diese „unbekannten Personen“ ausfindig zu machen. So hatte damals das
Menschenrechtszentrum „Memorial“ berichtet, der Chef der Miliz des Rayons Zawodsk
(Grosnij), Aslanbek Sakazow und seine Stellvertreter Zelimchan Abuchadschiew und Abu
Didiew wüßten etwas über die Entführer. So habe A. Sakazow in einem Gespräch mit der Mitarbeiterin des Menschenrechtszentrums „Memorial“, Natalja Estemirowa, einen Zusammenhang
mit den Milizionären des Rayons Schatoj, Tschetschenische Republik, hergestellt. Außerdem ist
es schwer vorstellbar, dass sich Bewaffnete zehn Tage im zentralen Krankenhaus des Rayons
aufgehalten hatten, und die Miliz vor Ort nicht wusste, wer das war.
Die Mitglieder der mobilen Gruppe haben als Vertreter der Geschädigten den Antrag gestellt, die
Materialien, bei denen es um die Zusammenarbeit des medizinischen Personals mit den Entführern geht, eigens zu behandeln. Dieser Antrag war vom Ermittlungskomitee der
Staatsanwaltschaft der Russischen Föderation in der Tschetschenischen Republik abgelehnt
worden. Die Mobile Gruppe klagt gegenwärtig gegen diese Entscheidung.
6
7
Mehr dazu hier (in russisch): http://www.memo.ru/2010/06/18/1806103.htm#_ftnref54
http://www.memo.ru/hr/hotpoints/caucas1/msg/2009/07/m167052.htm (in russisch)
13
Und so bleiben also die Entführer für die Ermittler „unbekannte Personen in Kampfuniformen“.
Und dies, obwohl die Tatsache gar nicht mehr strittig ist, dass A. Zajnalow im zentralen
Krankenhaus von Atschcha-Martanow war und dort von Angehörigen der Rechtsschutzorgane
bewacht worden ist. Effektiv sind die Ermittlungen offensichtlich nicht.
Nach wie vor ist auch anderthalb Jahre nach der Entführung von Apti Zajnalow im November
2010 von dessen Aufenthaltsort nichts bekannt.
Die Entführung und das spurlose Verschwinden von Aschabow Abdul-Ezit
Danilbekowitsch
Am 5. August wurde Abdul-Ezit Aschabow in der Stadt Schali entführt.
Die Familie Aschabowy lebt in Schali in dem Hausbesitz № 64 in der Iwanowskaja-Straße. Der
Besitzer sind Danilbek Aschabow und seine Frau Tamara Aschabowa. Sie haben vier Kinder.
Eines von ihnen ist der 1980 geborene Jusup. Dieser hatte sich 1999-2000 am bewaffneten
Widerstand gegen die russischen Truppen beteiligt. Offiziellen Angaben zufolge gehörte er auch
danach zu bewaffneten Untergrundeinheiten, war sogar ein „Emir einer Gruppe von Banditen“.
Seine Verwandten sagen, dass er nach dem Ende der Kampfhandlungen mit den Aufständischen
nichts mehr zu tun gehabt habe. Er habe sich jedoch gefürchtet, offen zu leben. Denn wer in
Tschetschenien einmal bei den Aufständischen war, dem bleiben nur zwei Möglichkeiten: zu
Kadyrows Leuten zu gehen oder früher oder später spurlos zu verschwinden.
Am 28. Mai 2009 wurde Jusup im Zentrum von Schali von Milizionären des Rayon Schali getötet. Dies wird vom Pressedienst des Präsidenten und der Regierung Tschetscheniens so
beschrieben:
„Heute wurden in Schali Mitglieder illegaler bewaffneter Banden von Milizionären blockiert
und festgehalten. Doch als sie aufgefordert wurden, ihre Waffen niederzulegen und sich zu
ergeben, eröffneten die Aufständischen das Feuer. Die Milizionäre erwiderten das Feuer. Dabei
kamen zwei Aufständische ums Leben.
Nach Angaben des Chefs der Miliz des Rayon Schali, Timur Daudow, sei die Identität der Aufständischen inzwischen geklärt.
„Einer von ihnen ist ein Bewohner von Schali, Jusup Aschabow, bei dem zweiten handelt es sich
um AnsorMusajew, der zuletzt in Grosnij lebte.“. Im Wagen der Aufständischen konnten Schusswaffen, Sprengstoff, Munition und Kommunikationsgeräte sichergestellt werden. Timur
Musajew, Chef der Strafverfolgung der Miliz des Rayons Schali, erlag seinen Verletzungen.“
Daneben sei noch ein weiterer Milizionär, so T. Daudow, verletzt worden. Dieser befinde sich im
Krankenhaus.
Ramsan Kadyrow, der Präsident der Tschetschenischen Republik, besuchte den Ort des
Vorfalles und lobte den heldenhaften Mut der beteiligten Milizionäre. Gleichzeitig teilte er auch
mit, dass er Timur Musajew und den verletzten Milizionär mit dem Kadyrow-Orden auszeichne
und das die Familien der Hinterbliebenen Hilfe erhalten werden.“ (kurz darauf ist der
Milizionär seinen Verletzungen erlegen, berichtet das Menschenrechtszentrum „Memorial“).
Anschließend wurde der Vater des getöteten Aufständischen, Danilbek Aschabow, zur
Identifizierung des Toten herbeigerufen. Dieser beschreibt die Situation folgendermaßen:
„Ich wurde in das Zentrum von Schali geholt. Dort lagen zwei Leichname, einer von ihnen war
mein Sohn. Als ich meinen toten Sohn sah, sagte ich in tschetschenischer Sprache: „Möge Allah
ihn aufnehmen“. Der Milizionär „Lord“ schlug mir darauf ins Gesicht. Auch andere Milizionäre
stürzten sich nun auf mich, traten auf mich, schlugen mich mit Gewehrkolben halbtot. Ich habe
dann das Bewußtsein verloren. Passanten halfen mir auf, brachten mich in das Krankenhaus. In
der Folge erlitt ich zwei Infarkte.
14
Nach meinem Krankenhausaufenthalt brachte man mich nach Hause. Anschließend wurde ich im
republikanischen Krankenhaus der Stadt behandelt, es folgte eine Operation am Herzen in
Moskau.
Am 28. Mai brachte man den Leichnam von Jusup zu uns in den Hof, sie zerrten ihn durch den
Hof, verhöhnten ihn. Mit ihren Gewehrkolben schlugen sie auf meine Töchter Ajschat und
Nurschat ein. Ich wollte hinaus, doch sie schlugen mit einem Gewehrkolben auf mich ein. Dann
legten sie den Leichnam von Jusup in einen Wagen und brachten ihn weg.“
Drei oder vier Tage nach dem Tod von Jusup kamen der Chef der Strafverfolgung und ein Milizionär des Rayons Schali und übermittelten eine Vorladung der Brüder von Jusup zur Miliz.
Sollten diese der Aufforderung nicht nachkommen, würde man sie wie Männer behandeln, die in
die Berge zu den Aufständischen gegangen seien.
Am 30. Juni 2009 brachten die Eltern ihre drei verbliebenen Söhne, Abdul-Ezit, Dschabrail
und Abdul-Chamid zur Miliz des Rayons Schali. Nachdem sie von den Milizionären registriert
und befragt worden waren, konnten sie wieder nach Hause. Gleichzeitig wurden sie verpflichtet,
jeden Monat einmal bei der Miliz zu erscheinen.
Einen Monat später, am 30. Juli, waren sie erneut bei der Miliz des Rayon Schali, wo man
ihnen die Fingerabdrücke abnahm.
Am 4. August suchte der abschnittsbevollmächtigte Milizionär die Familie Aschabow auf, um
sich zu vergewissern, ob auch alle drei Brüder zu Hause seien. Alle drei waren zu Hause und mit
häuslichen Arbeiten beschäftigt. Das Anwesen der Familie besteht aus mehreren Gebäuden. Der
Milizionär stellte Fragen über Abdul-Ezit, wollte wissen, wo dieser lebe, wo er schlafe und was
er so tue.
In der Nacht vom 4. auf den 5. August 2009 brachen ungefähr um 3 Uhr morgens drei Bewaffnete in das Haus ein, sie waren maskiert und trugen Kampfuniformen. Gefragt, wer sie seien,
sagten sie nur „FSB“.
Die Bewaffneten drohten mit ihren Waffen und zogen Abdul-Ezit auf die Straße. Ohne irgendwelche Erklärungen brachten sie ihn weg, an einen unbekannten Ort. Tamara Aschabowa, die
ihnen hinterherrannte, sah einen Lada-Priora ohne Autonummernschilder. Nachbarn berichteten
später, dass noch weitere zwei Wagen vom Typ „Lada-Priora“ dabei gewesen seien, diese hätten
nur ausser Sichtweite geparkt.
Wenig später fuhren die Bewaffneten davon. Die Familie Aschabow rief bei der Miliz und dem
Verwaltungschef des Kreises an. Doch kein Beamter wollte zum Ort des Vorfalles herausfahren,
es gab keine Bemühungen, den Verschleppten zu finden. Praktisch gab es überhaupt keine
Reaktion der Sicherheitskräfte auf die Erklärung der Familie über die Entführung ihres Sohnes.
Am Morgen des 5. August 2009 richteten die Angehörigen des Verschleppten eine schriftliche
Erklärung an die Miliz, die Staatsanwaltschaft und den FSB des Rayons Schali.
Die nächsten Tage waren die Familienangehörigen permanent vor dem Gebäude der Miliz von
Schali, in der Hoffnung, so etwas über den Aufenthaltsort von Abdul-Ezit in Erfahrung bringen
zu können.
Am 7. August fuhr Tamara Aschabowa mit einigen Verwandten nach Grosnij zum Menschenrechtsbeauftragten der Tschetschenischen Republik, Nurdi Nuchaschiew. Empfangen wurden
sie dort von dessen Mitarbeiter Umarpascha Chakimow. Die Besucherinnen bericheten über
die Entführung von Abdul-Ezit. Umarpascha, so die Besucherinnen, habe direkt in ihrer Gegenwart zum Hörer gegriffen und die Miliz des Rayons Schali angerufen. Sie hörten, wie dieser
dabei zu jemandem sagte, dass er darauf bestehe, dass der Festgenommene freizulassen sei.
Dabei soll er folgendes am Telefon gesagt haben: “Selbst wenn er der Bruder eines Emirs ist,
habt ihr trotzdem nicht das Recht, ihn länger als vom Gesetz erlaubt, festzuhalten.“. Nach dem
Telefonat sagte Umarpascha, er werde nun alles in seinen Möglichkeiten stehende tun, um hier
15
zu helfen. Aus dem Gespräch entnahm Tamara Aschabowa, dass sich Abdul-Ezit gerade bei der
Miliz des Rayons Schali befinde.
In der Nacht vom 16. auf den 17. August 2009 drangen um 23 Uhr erneut Bewaffnete in
Kampfuniformen, aber ohne Masken, in das Haus ein. 3 oder 4 Personen drangen direkt in das
Haus ein, die anderen blieben im Hof oder auf der Straße. Gekommen waren sie in „Mercedessen“. Sie waren alle Tschetschenen. Frau Aschabow und ihre Verwandten erinnern sich an
einige Nummernschilder, sie hatten die Buchstabenkombination „a 511“. Die Männer, die in das
Anwesen eingedrungen waren, gehörten zu den Truppen des tschetschenischen Innenministeriums. Einer von ihnen gehörte dem 8. Zug des Kadyrow - PPSM Nr. 2 (Patrouillen- und
Wachdienst der Miliz) an. Ihn hat die Frau eines der Aschabow-Brüder erkannt. Die Milizionäre
wollten wissen, wo das Bad sei. Frau Aschabowa wollte ihnen eine Waschgelegenheit im Hof
zeigen, doch sie gingen sofort in das im Haus befindliche Bad. Dort befand sich ein geheimes
Versteck, wo sich früher Jusup versteckt hatte. Von diesem Versteck können die Milizionäre
eigentlich nur von Jusup selbst erfahren haben. Nachdem sie in diesem Bad nichts gefunden
hatten, gingen sie wieder.
Die darauffolgenden Tage wandten sich die Angehörigen weiterhin an mehrere staatliche Einrichtungen, doch keine der staatlichen Stellen wollte die Verhaftung von Abdul-Esit bestätigen.
Er war einfach verschwunden.
Am 19. August 2009 erhob der Untersuchungsrichter des russischen Ermittlerkomitees bei der
Staatsanwaltschaft in Tschetschenien, А-Ch. V. Bajtajew , Anklage wegen der Entführung von
Abdul-Ezit Aschabow (Akte № 72028), da hier ein Verbrechen vorliegt, bei dem die Punkte 2, b
und c, Absatz 2, Artikel 126 des Strafgesetzbuches der Russischen Föderation zutreffen (Entführung durch eine Gruppe von Personen nach vorheriger Planung und unter Anwendung von
Gewalt). Am 1. September erkannte Untersuchungsrichter A.Ch. V. Bajtajew Tamara Aschabowa als geschädigte Seite an.
Ende September wandte sich Tamara Aschabowa mit einem Schreiben an das Menschenrechtszentrum Memorial. Sie bat um Unterstützung bei der Suche ihres entführten Sohnes. Abdul-Ezit
habe, so Tamara Aschabowa, niemals eine Waffe in der Hand gehalten. Er ist Invalide der zweiten Gruppe, weil er seit seiner Kindheit eine Seeschwäche hat und deswegen nie mit einem
Gewehr zielen kann.
Am 14. Oktober 2009 richtete das Menschenrechtszentrum „Memorial“ ein Schreiben an den
Europäischen Menschengerichtshof, um für Tamara Aschabowa zu klagen. Man habe ihr gegenüber Artikel 5 (Recht auf Freiheit und persönliche Unversehrtheit) und 13 (Recht auf effektiven
Rechtsschutz) der Europäischen Konvention verwehrt. In der Klage enthalten war die Anfrage,
hier eine Eilprozedur zu starten.
Des Weiteren bat das Gericht die russische Seite, Kopien der Strafrechtsakte zur Verfügung zu
stellen. Dem Menschenrechtszentrum Memorial ist diese Akte bekannt.
Aus diesen Materialien der Strafrechtssache geht eindeutig hervor, dass die Ermittlungen nur
formal geführt werden. Der Untersuchungsrichter I.М.Serbiew legt offensichtlich keine Eile an
den Tag. Handlungen, die ganz eindeutig hätten durchgeführt werden müssen, und die mehr
Licht in das Verbrechen gebracht hätten, waren unterlassen worden.
Ebenfalls findet sich nichts in den Akten über eine Verfolgung von heißen Spuren unmittelbar
nach dem Verbrechen. So gibt es allen Grund zu der Annahme, dass von Seiten der Behörden
des Innenministeriums nichts unternommen worden ist, um die Entführer zu fassen.
Im Rahmen von Ermittlungen war das Anwesen der Aschabows untersucht worden. Auch das
aufgebrochene Schloss war von Spezialisten untersucht worden, die die Schäden am Schloß auf
Gewalteinwirkung zurückführen. Doch die Ermittlungen hat dieser Fund nicht weitergebracht.
Dann sandte der ermittelnde Beamte ein Anfragen an den FSB, die Bataillone „Süden“ und
„Norden“ der Truppen des Innenministeriums, an alle Milizstationen, die Züge des Patrouillen16
und Wachdienstes und die sogenannte „Öl-Truppe“ Anfragen, man möge ihm doch mitteilen, ob
Mitarbeiter der Miliz Maßnahmen unternommen hätten, um Abdul-Ezit Aschabow
festzunehmen. Eine Reihe der Angeschriebenen hat auch geantwortet, wie aus den beim Menschengerichtshof vorliegenden Akten hervorgeht. Es sei, so die Antworten, aber von einer Verhaftung von A.E. Aschabow nichts bekannt. Von der Milizstation des Rayon Schali, die gerade
einmal einige Minuten vom Büro der Untersuchungsrichter entfernt liegt, war keine Antwort
eingegangen.
Anschließend versandte der zuständige Untersuchungsrichter einen Fragebogen an alle Ermittlungsbüros bei der Staatsanwaltschaft in Tschetschenien, worin er wissen wollte, ob ein
Strafverfahren gegen A.E. Aschabow eingeleitet worden sei. Und den ganzen September und
Oktober über erhält er nur negative Antworten.
Im September und Oktober wird die geschädigte Seite, werden die Zeugen, Nachbarn und Milizionäre, die kurz zuvor auf dem Anwesen waren, befragt.
Doch der zuständige ermittelnde Beamte hatte den Milizionären von Schali kein Schreiben übermittelt, in dem er diese aufgefordert hätte, Maßnahmen zu treffen, um die Identität der Entführer
und den Aufenthaltsort des Entführten herauszufinden. Erst, nachdem der Fall einem neuen
Untersuchungsrichter Ch. Bakajew, übergeben wurde, der dann wiederum im Oktober 2009
(zwei Monate nach der Entführung) dem Chef der Miliz von Schali, M. Daudow (auch „Lord“
genannt) eine „Aufforderung zur Einleitung von operativen Maßnahmen zur Vermißtensuche“
zukommen läßt, wo er diesen bittet, weitere Zeugen des Verbrechens ausfindig zu machen und
hierzu das Anwesen, die Iwanowskaja – Straße und die anliegenden Straßen aufzusuchen,
Material zu sammeln, das Hinweise über den Charakter des Vermißten liefert, weiterhin herauszufinden, ob der Vermißte nicht vielleicht zufällig Zeuge eines Verbrechens geworden war, etc.,
kommt etwas Bewegung in die Sache. Anschließend übermittelt der Untersuchungsrichter dem
gleichen Adressaten die Aufforderung, eine Sonderkommission aus besonders erfahrenen, qualifizierten Milizionären des Rayon Schali zusammenzustellen, um mit diesen das Verbrechen aufzuklären.
Doch Antworten auf diese Befehle sucht man in den dem Europäischen Menschenterichtshof
übermittelten Unterlagen vergeblich. Vor diesem Hintergrund läßt sich der Schluss ziehen, dass
die Miliz von Schali gar keine Sonderkommission eingerichtet hat.
In dem ebenfalls in den Akten enthaltenen Dokument „Ergriffene Maßnahmen zur Beseitigung
von Umständen, die zu Verbrechen führen“, das an das Ermittlungskomitee bei der russischen
Staatsanwaltschaft in Tschetschenien gesandt worden war, heißt es: „die Anweisungen des zuständigen Untersuchungsrichters hinsichtlich einer Aktivisierung der Vermißtensuche werden
nicht befolgt. In der Folge erscheint es nicht möglich, Ermittlungen in dieser Strafrechtssache
durchzuführen.“.
Offensichtlich sind es die professionellen Fähigkeiten des Milizchefs von Schali Magomed
Daudow, denen er seine Ernennung zum stellvertretenden Vorsitzenden der Regierung
Tschetscheniens durch den Präsidenten der Tschetschenischen Republik, Ramsan Kadyrow, wo
er für die Sicherheitskräfte verantwortlich ist, im März 2010, zu verdanken hat.
Seit November 2009 werden die Interessen der Betroffenen der Entführung von Juristen der
Mobilen Gruppen von Menschenrechtsorganisationen vertreten.
Nachdem sich Tamara Aschabowa mit den Unterlagen vertraut gemacht hatte, kam sie zu dem
Schluß, dass die Behörden nichts unternehmen, um dieses Verbrechen aufzuklären. Insbesondere
haben die Untersuchungsrichter die Angaben der Angehörigen und einiger Zeugen nicht in die
Akte aufgenommen. Deswegen wandte sie sich am 16. November 2009 an die Ermittlungsbehörden mit dem Antrag, folgende prozessuale Maßnahmen einzuleiten:
- sie und Zeugen erneut über ihren Besuch, bei dem sie von Mairbeck Aschabow begleitet
worden war, im Apparat des Menschenrechtsbeauftragten in der Tschetschenischen Republik zu
17
befragen. Ebenfalls sollten sie erneut zu den Vorfällen des 16. und 17. August 2009 befragt
werden, als Milizionäre in ihrem Anwesen waren;
- es sei der Mitarbeiter des Apparates des Menschenrechtsbeauftragten zu befragen, der bei der
Miliz von Schali wegen der Entführung von Abdul-Ezit Aschabow angerufen hatte;
- es ist nachzuprüfen, von welchen Telefonen im Apparat des Menschenrechtsbeauftragten
wohin telefoniert worden ist; eine Liste der Anrufe in der fraglichen Zeit ist auszudrucken;
- alle Telefonnummern der Miliz von Schali sind zu dokumentieren, ebenfalls ist eine
Gesprächsverbindungsliste dieser Telefone für den fraglichen Zeitraum auszudrucken;
- es ist herauszufinden, mit wem und mit welcher Telefonnummer bei der Miliz von Schali der
Mitarbeiter des Menschenrechtsbeauftragten telefoniert hat;
- die Identität der Milizionäre, die am 16./17. zum Haus der Aschabows in „Mercedessen“
gefahren sind und deren Autonummernschilder die Buchstabenkombination „a 511…“ ist
festzustellen;
- sollten die Aussagen der oben genannten Personen widersprüchlich sein, müssen die entsprechenden Personen mit dieser Widersprüchlichkeit konfrontiert werden.
Nach dem Erkenntnisstand des Menschenrechtszentrums Memorial haben die Ermittlungsbehörden diese geforderten Maßnahmen bis auf den heutigen Tag nicht in die Wege geleitet.
Im Februar 2010 haben Vertreter der mobilen Einsatzgruppen der Menschenrechtler von der
Familie Aschabow schriftlich bestätigt bekommen, dass tatsächlich keine Untersuchungsrichtergruppe den Tatort besucht hat. Davon sind die Ermittlungsbehörden in Kenntnis gesetzt worden.
Deswegen müssen die Ermittlungsbehörden die Frage klären, warum die Rechtsschutzorgane
nicht befriedigend auf die Entführung reagiert haben.
Im März 2010 berichteten Vertreter der Angehörigen, Juristen der mobilen Einsatzgruppe, dass
sie Photos von allen Angehörigen des 8. Zuges der Patrouillen- und Wachdienstes № 2 angefordert hatten, um so die Milizionäre zu identifizieren, die in der fraglichen Nacht gesetzwidrig
bei der Familie Aschabow eine Hausdurchsuchung durchgeführt hatten. Dabei zeigte sich, dass
der ermittelnde Beamte selbst schon derartige Anfragen an die Miliz gerichtet hatte. Doch diese
Anfragen waren nicht beantwortet worden. Bis zum heutigen Zeitpunkt wurde diese Anfrage
nicht beantwortet.
Zum Zeitpunkt der Herausgabe dieses Berichtes sind die Ermittlungen in diesem Fall eingestellt,
„da die Personen, die anzuklagen sind, nicht identifiziert werden können“.
Der Europäische Menschengerichtshof hat entschieden, diese Angelegenheiten zwar nicht als
Eilangelegenheit (Regel 39 und 40 der Geschäftsordnung des Gerichtes), wohl aber als vorrangig
(Regel 41) zu behandeln.
Entführung und spurloses Verschwinden von Zarema Ismailowna Gajsanowa
Dieser Fall zeigt sehr deutlich, wie das Innenministerium und die Ermittlungsbehörde der
Staatsanwaltschaft in der Tschetschenischen Republik eine Aufklärung von Verbrechen sabotieren, an denen Angehörige der staatlichen Strukturen beteiligt waren, wie sie Beweise fälschen
und die für diese Fälschungen Verantwortlichen schützen.
Am 31. Oktober 2009 verschwand Zarema Gajsanowa, eine Mitarbeiterin der humanitären
Organisation „Dänische Flüchtlingsrat“, nach einer Sonderoperation in dem Rayon Leninsk. Die
Sonderoperation war von dem Präsidenten der Tschetschenischen Republik, Ramsan Kadyrow,
persönlich geleitet worden.
Die Mutter von Zarema, Lida Gajsanowa, lebte mit ihrer Tochter in Inguschetien. Ihr Haus in
Grosnij (2.per. Darwina, 7) war bei den Kampfhandlungen zerstört worden. Im Herbst 2009
fanden im Haus Renovierungsarbeiten statt. Im Hof befand sich noch ein weiteres kleines
Häuschen, und in diesem wohnten die Familienmitglieder, wenn sie nach Tschetschenien nach
18
Hause kamen. Beruflich bedingt musste Zarema in Grosnij übernachten. Auch am 31. Oktober
war sie zu Hause.
Am Abend des gleichen Tages erhielt Lida Gasanowa einen Anruf ihres Nachbarn aus Grosnij.
Dieser teilte ihr mit, dass Bewaffnete ihr Haus umzingelt hätten. Anschließend hätten sie es
beschossen. In der Folge sei das Haus vollständig abgebrannt. Zarema Gajsanowa, die sich zu
der Zeit im Hof des Hauses aufgehalten hatte, wurde auf die Straße hinausgeführt, man steckte
sie in einen Wagen vom Typ „AUS“ und brachte sie an einen unbekannten Ort. Nachdem die
Feuerwehr das Feuer gelöscht hatte, zogen die Sicherheitskräfte aus den Ruinen die Leiche eines
Mannes heraus.
An diesem Abend ging die Meldung über die Sonderoperation über das lokale Fernsehen. Lida
Gajsanowa erkannte dabei ihr zerstörtes Haus.
Gleichzeitig fand sich auf dem Internetportal des Innenministeriums der Tschetschenischen
Republik eine Mitteilung, dass in „einem Privathaus Angehörige des tschetschenischen Innenministeriums ein Mitglied einer bewaffneten illegalen Formation entdeckt hatten. Auf ihre
Forderung, die Waffen niederzulegen und sich zu ergeben, habe sich der Verbrecher bewaffnet
zur Wehr gesetzt. Anschließend wurde der Verbrecher getötet“ heißt es weiter auf der Internetseite.8 (Weiter wurde mitgeteilt, dass es sich bei dem Toten um Ali Chasanov, Einwohner des
Dorfes Goyty, handle. Dieser sei „Emir von Argun und der Tiefebene“ gewesen. Als solcher sei
er dem Umfeld von Dokku Umarow zuzurechnen. Geleitet worden war diese Operation, so die
Meldung, von Ramsan Kadyrow.
Nirgends wurde über eine Verhaftung von Zarema Gajsanowa berichtet.
Am Abend des 31. Oktober machte sich Lida Gajsanowa auf den Weg nach Grosnij und wandte
sich dort an die für sie zuständige Miliz von Leninskij. Doch dort konnte ihr niemand etwas über
das Schicksal ihrer Tochter sagen. In den weiteren Tagen wandte sich Lidsa Gajsanowa schriftlich an die Rechtsschutzorgane und die Staatsanwaltschaft. Sie bat darum, man möge Maßnahmen treffen, um herauszufinden, wo ihre Tochter verhaftet worden sei und etwas über ihr
Schicksal zu erfahren. Doch nirgends konnte sie etwas in Erfahrung bringen. Zarema blieb spurlos verschwunden.
Erst am 16. November 2009 wurde wegen Entführung ein Strafverfahren eingeleitet. Doch in der
Sache kam man nicht weiter.
Die verzweifelte Mutter wandte sich an das Büro der Menschenrechtsorganisation Memorial in
Nasran und bat, man möge ihr helfen, ihre Tochter zu finden.
Ob Zarema Gajsanowa irgendetwas mit dem bewaffneten Untergrund zu tun hatte oder nicht,
wissen wir nicht. Wir wissen nicht, wie und warum sich im Haus der Gajsanows ein Aufständischer aufgehalten hatte. Es ist nicht auszuschließen, dass er sich dort mit Zaremas Wissen
aufhielt. Es ist aber genauso möglich, dass er sich dort, für die Frau völlig unerwartet, vor einer
Verfolgung versteckt hat. Es kann sein, dass er sich als Arbeiter ausgab, der das Haus zu
renovieren schien. Alle diese Mutmaßungen sind im Rahmen einer gesetzmäßigen Ermittlung zu
überprüfen. Doch es ist festzuhalten, dass gegen Zarema Gajsanowa kein Verfahren wegen
Unterstützung von Aufständischen oder irgendein anderes Verfahren eingeleitet worden war. Sie
war nicht verhaftet worden, sie verschwand einfach.
Die Juristen von Memorial aus Moskau haben sich unter Mitwirkung von Juristen des Europäischen Zentrums für Menschenrechte im Namen von Lida Gajsanowa an den Europäischen
Menschengerichtshof gewandt und diesen gebeten, eiligst Maßnahmen, wie von der Geschäftsordnung des Gerichtes vorgesehen, zu ergreifen.
Der Europäische Menschengerichtshof unterrichtete dann die russische Regierung über die
Klage, und bat diese, Kopien aller Dokumente zur Verfügung zu stellen, die mit Maßnahmen zur
Feststellung des Aufenthaltsortes von Zarema Gajsanowa zu tun haben.
8
http://www.mvdchr.ru/page.php?r=10&id=1372).
19
So erhielt das Menschenrechtszentrum Memorial Kenntnis von Materialien der Strafrechtsangelegenheit des Verschwindens von Zarema Gajsanowa. Und es zeigte sich, dass die
staatlichen Organe Fakten gefälscht, die Ermittlungen sabotiert hatten.
Aus den Materialien dieser Strafrechtssache wurde ersichtlich, dass Rechtsschutzorgane der
Tschetschenischen Republik am 31. Oktober 2009 ungefähr um 15:00 eine Sonderoperation in
dem Haus durchgeführt hatten, das der Familie Gajsanow gehört. Wie es weiter in den Dokumenten heißt, wurde „am 31. Oktober im Haus Nr. 7, per. Darwina, ein Angehöriger einer illegalen bewaffneten Formierung entdeckt, Ali Timur Chasanow“. Dieser habe Widerstand geleistet
und sei in der Folge getötet worden. Wer diesen Aufständischen entdeckt hat und wie das geschah, hatte er sich schon vor der Sonderoperation dort befunden oder ist er nur eher zufällig
dorthin gerannt, wird nicht mitgeteilt.
Um 16:00 begann der Ermittlungsbeamte der Ermittlungsbehörde der Staatsanwaltschaft, A.M.
Abajew, unter Mitwirkung von zwei Zeugen und einem Experten, den Tatort in Augenschein zu
nehmen. Um 18:45 hatte er seine Arbeit beendet. In dieser Zeit hatte er den Raum genau
beschrieben, ihn photographiert. Und Personen, die an der Sonderoperation beteiligt waren,
händigten ihm die Leiche des getöteten Chasanow aus. Er brachte die Leiche in das gerichtsmedizinische Büro. Anschließend wurde ein Protokoll über die Arbeit angefertigt. In diesem
waren Beginn und Ende der Untersuchung festgehalten. Deswegen ist festzuhalten, dass sich das
Haus der Familie Gajsanow mindestens zwischen 15:00 und 18:45 vollständig unter der
Kontrolle der Sicherheitskräfte befand.
Lidsa Gajsanow ist sich sicher, und sie bezieht sich dabei auf ihre Nachbarn, dass Angehörige
der Rechtsschutzorgane Zarema Gajsanowa ungefähr um 17:30 aus dem Haus geführt und in
einen Wagen „UAS“ gesetzt hatten. Wenn also zu diesem Zeitpunkt der Untersuchungsrichter
Abajew noch im Haus war, hätte er sehen müssen, wie man Zarema Gajsanowa verhaftete und
fortführte.
Am 1. November wandte sich Frau Gajsanowa schriftlich an den Milizchef des Rayon Leninsk
der Stadt Grosnij:
20
Der Diensthabende der Kriminalpolizei, Hauptmann А. Dakajew, nahm von Lida Gajsanowa
folgende Erklärung entgegen (im Folgenden ist die erste Seite des Dokumentes abgebildet).
Bei den Behörden des Inneren im Rayon Leninskij der Stadt Grosnij legte man jedoch keine Eile
an den Tag, um die Erklärung von Lida Gajsanowa über die Verhaftung und das Verschwinden
ihrer Tochter zu überprüfen. Ja, man hat die Erklärung vom 1. November nicht einmal registriert,
bis zum 9. November überhaupt nichts gemacht. Anschließend hat man das Datum der Erstellung des Dokumentes gefälscht. Das ist mit bloßem Auge erkennbar. Man hat die Zahl rechts
oben von einer „1“ in eine „9“ geändert. Und erst am 9. November hat man dann endlich die
Dokumente registriert. Am 10. November übermittelten Milizionäre die Papiere mit der
Erklärung von Lida Gajsanowa an das regionale Ermittlungskomitee der russischen Staatsanwaltschaft in der Tschetschenischen Republik.
So zeigen die Materialien deutlich, dass die Mitarbeiter der Milizstation Leninsk neun Tage lang
nach dem Verbrechen untätig waren. Und um diese Untätigkeit zu verschleiern, haben sie das
Datum der Registrierung des Falles und der Befragung der Betroffenen gefälscht. Und auch im
weiteren Verlauf haben sie die Aufdeckung sabotiert.
Unterdessen hatte sich Lida Gajsanowa bereits am 1. November mit einer Erklärung über das
Verschwinden der Tochter bei einer Sonderoperation nicht nur an die Miliz, sondern auch an die
Staatsanwaltschaft des Rayon Leninsk gewandt. Am 2. November wurde dort die Vermißtenmeldung registriert und sofort an das regionale Ermittlungskomitee der russischen Staatsanwaltschaft in der Tschetschenischen Republik übermittelt. Deren Untersuchungsrichter Abajew hatte
das Haus der Gajsanows unmittelbar nach der Sonderoperation am 31. Oktober aufgesucht.
21
Mit der Überprüfung der Vermißtenmeldung wurde der Untersuchungsrichter des Regionalen
Ermittlungskomitees der russischen Staatsanwaltschaft in der Tschetschenischen Republik,
М.F. Tamajew betraut. Nun war aber Unklarheit bezüglich des Datums der Vorermittlungen
aufgekommen. Dies kann bewußt so gemacht worden sein, man kann es aber auch einfach der
allgemeinen Unordnung zuschreiben. Jedenfalls wurde das Datum bei einem Dokument, dem
Protokoll der Erklärung von Lida Gajsanowa, das der Untersuchungsrichter aufgenommen hatte,
nachträglich geändert.
Und der Untersuchungsrichter legte keine Eile an den Tag. Trotzdem fügte er die Dokumente,
die belegten, dass die Rechtsschutzorgane im Haus der Familie Gajsanow eine Sonderoperation
durchgeführt hatten, der Akte bei. Seltsamerweise hat Untersuchungsrichter Tomajew nicht einmal versucht, bei seinem Kollegen Abajew in Erfahrung zu bringen, mit welchen Milizionären,
die an der Sonderoperation teilgenommen hatten, er am 31. Oktober gesprochen hatte, und wer
diesem seinem Kollegen den Leichnam des getöteten Aufständischen für die gerichtsmedizinische Untersuchung gegeben hatte.
Erst am 16. November leitete Tamajew unter der № 66094 strafrechtliche Ermittlungen im Fall
der Entführung von Zarema Gajsanowa ein. In den Monaten November/Dezember versandte
der Untersuchungsrichter Anfragen und Aufträge an die Milizstationen der Rayons, an regionale
Ermittlungsstellen, an medizinische und andere Einrichtungen auf dem Territorium der Tschetschenischen Republik, um verschiedene Informationen über Zarema Gajsanowa einzuholen.
Da Gajsanowa auf dem Gebiet des Rayons Leninsk der Stadt Grosnij entführt worden war,
richtete der Untersuchungsrichter am 18. , 20., 27. November und 6. Dezember Arbeitsaufträge
an die Miliz in diesem Rayon. Doch nicht ein einziger dieser Aufträge wurde dort umgesetzt, obwohl die Normen des Strafgesetzbuches der Russischen Föderation vorschreiben, dass Anweisungen eines Untersuchungsrichters innerhalb von 10 Tagen nach deren Eingang auszuführen
sind. Wir nennen hier die letzte dieser Anweisungen vom 6. Dezember 2009:
Aus diesem Dokument geht hervor, dass die Umsetzung der entscheidenden Handlungen der
Untersuchungsrichter in dem Fall der Entführung von Zarema Gajsanowa entscheidend davon
abhing, wie gewissenhaft die Miliz des Rayon Leninsk von Grosnij ihre Arbeit machte. Die
Sabotage der Ausführung dieser Arbeitsaufträge durch Milizionäre hat der Aufklärung des Verbrechens sehr geschadet. Seinen letzten Arbeitsauftrag an die Miliz von Leninsk titelte der
Untersuchungsrichter „Maßnahmen zur Beseitigung der Umstände, die zu dem Verbrechen geführt hatten“. Es war an den Chef der Milliz gerichtet. Hier einige Auszüge:
„Die Arbeitsaufträge sind bis auf den heutigen Tag nicht ausgeführt. <…>
Bei einer derarten Arbeitseinstellung der Milizionäre können die Ermittlungsbehörden ihre
Maßnahmen, die zur Aufklärung von Verbrechen, und der Überführung der schuldigen Verbrecher führen, nicht ausreichend leisten. <…>
Deswegen mache ich folgende Vorschläge:
1. Dieses Schreiben ist bei der Versammlung der Abteilungsleiter der Miliz von Leninsk
(Grosnij) zu besprechen,
2. die entsprechenden organisatorischen Schlüsse sind zu ziehen, Maßnahmen zu ergreifen, die
eine Verhinderung von Verbrechen und bei begangenen Verbrechen deren Aufklärung ermöglichen;
3. vor dem Hintergrund der genannten Fakten der Verletzung der Strafprozessordnung und der
unkorrekten Wahrnehmung der dienstlichen Pflichten sind die entsprechenden Personen disziplinarrechtlich zur Verantwortung zu ziehen.
Dieses Schreiben ist zu berücksichtigen. Über die Ausführung und die ergriffenen Maßnahmen
ist zwingend innerhalb eines Monats Bericht zu erstatten.“.
22
Offensichtlich war der Untersuchungsrichter Tamajew selbst nicht von der Wirkung seines
drohenden Briefes an den Leiter der Miliz von Leninsk überzeugt. Jedenfalls erstattete er noch
am gleichen Tag seinem Vorgesetzten Bericht:
An den kommissarischen Leiter des Regionalen Ermittlungskomitees Leninsk (Grosnij) bei den
Ermittlungsbehörden der Staatsanwaltschaft der Russischen Föderation in der Tschetschenischen
Republik,
den Juristen 1. Klasse, Z.M. Chasbulatow
Absender:
M.F. Tamajew, Untersuchungsrichter des Regionalen Ermittlungskomitees Leninsk (Grosnij) bei
den Ermittlungsbehörden der Staatsanwaltschaft der Russischen Föderation in der Tschetschenischen Republik, Jurist der 3. Klasse.
RAPORT
Ich berichte Ihnen hiermit, dass ich mit der Akte № 66094 betraut bin. Es geht um ein am
16.11.2009 eingeleitetes Ermittlungsverfahren. Es liegen Hinweise auf ein Verbrechen vor, das
unter „a“ des Absatzes 2 von Artikel 126 der Strafprozessordnung der Russischen Föderation
fällt. Konkret geht es um eine Entführung von Zarema Gajsanowa durch Unbekannte am
23
31.10.2009 aus dem Haus № 7, welches sich in der zweiten Darwingasse, Rayon Leninsk
(Grosnij), befindet.
Im Rahmen von Vorermittlungen durch mich hatte ich mehrfach Arbeitsaufträge an die Miliz
von Leninsk (Grosnij) übermittelt. Ich hatte diese damit beauftragt, Zeugen des Verbrechens
ausfindig zu machen. Doch diese Arbeitsaufträge wurden von der Leitung der Miliz von Leninsk
(Grosnij) ignoriert und nicht ausgeführt. Deswegen habe ich an diese Stelle ein Schreiben
gerichtet, in dem ich gefordert habe, Maßnahmen zu ergreifen, die eine Verhinderung von
Verbrechen und bei begangenen Verbrechen deren Aufklärung ermöglichen.
5.12.2009
M.F. Tamajew
Inzwischen ist eine geraume Zeit verstrichen. „Memorial“ ist nichts davon bekannt, dass die
Miliz von Leninsk die Aufträge des Untersuchungsrichters umgesetzt hätte.
Aus den Materialien ist ferner ersichtlich, dass sich schwerlich die gesamte Schuld für den
Mißerfolg der Ermittlungen allein den Milizionären von Leninsk zuweisen läßt. Es entsteht
vielmehr der Eindruck, dass sich der Untersuchungsrichter Tamajew nicht um die Aufklärung
des Verbrechens sorgt, sondern nur dokumentieren will, warum es ihm nicht gelingt, dieses aufzuklären und er bestrebt ist, hierfür anderen die Schuld zu geben.
Aus den Unterlagen wird auch deutlich, dass sich der Untersuchungsrichter nicht die Mühe
gemacht hat, Zeugen zu finden und zu befragen. Und der Untersuchungsrichter Abajew, ein
Kollege von Tamajew, muss die Entführung von Zarema Gajsanowa gesehen haben, hatte er sich
doch am 31. Oktober um 17:30 im Haus der Gajsanows aufgehalten. Doch weder er noch die zu
diesem Zeitpunkt im Haus anwesenden Durchsuchungszeugen wurden befragt.
Da die Milizionäre von Leninsk die Identifizierung der an der Sonderoperation Beteiligten sabotieren, musste der Untersuchungsrichter selbstständig in dieser Richtung etwas tun. Er hätte eine
Anfrage an die Führung des tschetschenischen Innenministeriums richten sollen. Auf der Internetseite des Innenministeriums Tschetscheniens wird mitgeteilt, dass die Sonderoperation vom
31. Oktober 2009 in Grosnij, bei der Chasanow getötet worden war, unter dem Kommando von
Tschetscheniens Präsidentem Ramsan Kadyrow durchgeführt worden war.
Bis April 2010 war keine derartige Anfrage unternommen worden. Ob dies danach geschehen
ist, wissen wir nicht.
Der Untersuchungsrichter befragte mehrere Zeugen. Doch nur zwei von ihnen lebten im Oktober
2009 in der Straße, wo das Verbrechen begangen worden ist. Beide Zeugen berichten, dass sie
von den Nachbarn über die Entführung von Zarema Gajsanowa erfahren hatten. D.h. sie bestätigen, dass es Augenzeugen des Verbrechens gibt. Und offensichtlich hat der Untersuchungsrichter diese Augenzeugen auch ausfindig machen können. Sie leben in sechs Häusern in der
Straße von Grosnij, in der am 31. Oktober die Sonderoperation stattfand.
Doch der Untersuchungsrichter wusste, was er zu tun hatte, um diese nicht befragen zu müssen.
Nach den Normen der Prozessordnung hat ein Zeuge nicht das Recht, die Aussage zu verweigern
(Punkt 2, Absatz 6 von Artikel 56 der Strafprozessordnung der Russischen Föderation). Dabei
legt das Strafgesetzbuch der Russischen Föderation eine Verantwortung eines Zeugen fest, der
sich weigert, eine Aussage zu machen (Artikel 308 der Strafprozessordnung der Russischen
Föderation). Der Untersuchungsrichter war verpflichtet, den Zeugen ihre Rechte zu erklären. Er
hätte sie auch auf mögliche strafrechtliche Folgen hinweisen müssen. Doch in gesetzwidriger
Weise übte der Untersuchungsrichter des Regionalen Ermittlungskomitees der Staatsanwaltschaft der Russischen Föderation in der Tschetschenischen Republik (Leninsk/Grosnij) seine
Pflichten nicht aus. Unter Verletzung der russischen Gesetzgebung lud er die Durchsuchungszeugen vor, die ihm bestätigten, dass die Nachbarn Gajsanows weder bereit waren zu
einer Zeugenaussage noch zu einer Angabe ihrer Personalien. Der Untersuchungsrichter war
offensichtlich nicht an Zeugenaussagen interessiert, die eine Beteiligung von Milizionären an der
Entführung von Gajsanowa aufgezeigt hätten. Doch gleichzeitig hatte er keine Mühen gescheut,
um seinen Vorgesetzten zu zeigen, dass er nicht untätig sei. Dazu hatte er sogar an den Chef der
24
Ermittlungsabteilung
folgendes
wundersame
Dokument
geschickt:
25
An den kommissarischen Leiter des Regionalen Ermittlungskomitees Leninsk (Grosnij) bei den
Ermittlungsbehörden der Staatsanwaltschaft der Russischen Föderation in der Tschetschenischen
Republik,
den Juristen 1. Klasse, Z.M. Chasbulatow
Absender:
M.F. Tamajew, Untersuchungsrichter des Regionalen Ermittlungskomitees Leninsk (Grosnij) bei
den Ermittlungsbehörden der Staatsanwaltschaft der Russischen Föderation in der
Tschetschenischen Republik, Jurist der 3. Klasse.
RAPORT
Ich berichte Ihnen hiermit, dass ich mit der Akte № 66094 betraut bin. Es geht um ein am
16.11.2009 eingeleitetes Ermittlungsverfahren. Es liegen Hinweise auf ein Verbrechen vor, das
unter „a“ des Absatzes 2 von Artikel 126 der Strafprozessordnung der Russischen Föderation
fällt. Konkret geht es um die Entführung von Zarema Gajsanowa durch Unbekannte am
31.10.2009 aus dem Haus № 7, welches sich in der zweiten Darwingasse, Rayon Leninsk
(Grosnij), befindet.
Im Rahmen von Vorermittlungen bin ich in der zweiten Darwingasse des Rayon Leninsk
(Grosnij) vor Ort gewesen, wo ich die Nachbarn als Zeugen befragen wollte. In den Häusern mit
den Hausnummern 25, 26, 24, 23, 22, 21, 19, 16, 15, 14, 13, 12, 11, 10 und 8 lebt niemand. Der
überwiegende Teil dieser Häuser ist weitgehend zerstört oder im Aufbau. Deswegen habe ich
den Arbeitsauftrag erteilt, die Eigentümer dieser Häuser ausfindig zu machen und sie zur
Regionalen Ermittlungsbehörde der Russischen Föderation in der Tschetschenischen Republik
(Stadt Grosnij) vorzuladen. Doch die Miliz von Leninsk (Grosnij), die mit dieser Aufgabe
betraut wurde, hat diese nicht wahrgenommen. Die Nachbarn von Z.I. Gasanowa, die in den
Häusern 4, 8, 9, 3, 4, und 1 leben, haben sich geweigert, sich zu äußern und sich geweigert,
Angaben zur Person zu machen. Dies war in Anwesenheit der Durchsuchungszeugen Madina
Usmanowna Tunschuchanowa und Muslim Adamowitsch Zajpulajew geschehen.
Es war im Weiteren nicht möglich, den Ort des Geschehens erneut in Augenschein zu nehmen.
Auch eine Befragung von L.Ch. Gajsanowa war nicht möglich, da sie und die restlichen
Familienmitglieder sich außerhalb von Tschetschenien aufhalten.
Telefonisch hatte L.Ch. erklärt, dass sie derzeit ihre Tochter suche, sich an das Europäische
Gericht gewandt habe. Deswegen könne sie erst Anfang Dezember im Büro des Ermittlungs26
komitees der Staatsanwaltschaft der Russischen Föderation in der Tschetschenischen Republik
erscheinen. Ein genaues Datum konnte sie nicht nennen.
Am 23.11.2009 war ich vor Ort, um nahe Verwandte des vernichteten Mitglieds illegaler
bewaffneter Formierungen, Alika Chasanow, unter der Adresse: Tschetschenische Republik,
Rayon Urus-Martan, Dorf Gojty, ul. Kagermanow, Haus Nr. 6 zu sprechen. Doch unter angegebener Adresse lebt niemand.
26.11.2009
M.F. Tamajew
In den folgenden Monaten wurden andere Untersuchungsrichter mit den Ermittlungen beauftragt.
Sie legen eine ähnliche „Effektivität“ an den Tag.
Seit Ende November 2009 werden die Interessen von Lida Gajsanowa, die inzwischen als
Geschädigte in dem Verfahren anerkannt ist, von den Juristen der Mobilen Gruppe von Menschenrechtsorganisationen vertreten.
Am 17. Februar 2010 trafen sich auf Initiative des Präsidenten der Tschetschenischen Republik
Ramsan Kadyrow, dieser mit dem Leiter der Mobilen Gruppe der Menschenrechtsorganisationen, Igor Kaljapin. Bei diesem Treffen fragte Kaljapin unter anderem auch über das
spurlose Verschwinden von Z. Gajsanowa nach. Die Operation sei ja offiziellen Quellen zufolge
von Ramsan Kadyrow geleitet worden. Dies wurde von Kadyrow bestätigt. Zu Zarema
Gajsanowa sagte Kadyrow, dass diese bei der Sonderoperation festgenommen, jedoch sofort
wieder freigelassen wurde.
Am 24. Februar 2010 wurde dem Untersuchungsrichter ein Antrag auf Befragung der Person
gestellt, die die Sonderoperation in diesem Haus geleitet habe. Diesem Antrag wurde teilweise
stattgegeben. – “dieses Verhör ist wichtig, momentan läßt sich diese Person jedoch nicht
ermitteln“, hieß es lapidar. Noch am selben Tag beantragten die Vertreter von L. Gajsanowa,
die Äußerungen von I. Kaljapin in die Akte aufzunehmen und Ramsan Kadyrow als Leiter der
Operation zu verhören. Innerhalb von zwei Tagen erfüllte der Untersuchungsrichter М.Israpilow diesen Antrag. Er befragte Kaljapin und dieser sagte, Kadyrow habe ihm
gesagt, dass er der Leiter der Sonderoperation gewesen sei.
Doch Ramsan Kadyrow wurde nicht befragt.
Schließlich erklärte ein neu mit dem Fall betrauter Untersuchungsrichter, er werde Kadyrow
nicht verhören. Er würde derartigen Anträgen nicht stattgeben und außerdem sei ihm nicht
bekannt, wer nun die Sonderoperation geleitet habe.
Am 22. April 2010 klagte der Vertreter der geschädigten Seite, ein Jurist der mobilen Gruppe,
beim Ermittlungskomitee der Staatsanwaltschaft gegen die Untätigkeit der Untersuchungsrichter
M. Isropilow und T. Tasuchanow, die im Lauf von 55 Tagen nicht getan hatten, was ihre Pflicht
gewesen wäre zu tun.
Am 26. April ging dann die „Ablehnung der Beschwerde“ ein. Darin schreibt die kommissarische Leiterin zur Aufklärung von besonders wichtigen Fällen im Ermittlungskomitee der
Staatsanwaltschaft, E.S. Anikejewa:
„Es war nicht möglich, R.A. Kadyrow zu befragen, da dieser mit seiner Arbeit sehr beschäftigt
ist. <…> Im Rahmen der Ermittlungen sind die Zeugen (Auflistung der Namen ohne Angabe
von Ort, Arbeit und Tätigkeit) der Sonderoperation zur Vernichtung eines Mitgliedes illegaler
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bewaffneter Formationen, A. Chasanow, aufgeführt. Aus diesen Dokumenten wird deutlich, dass
R. Kadyrow bei der Sonderoperation im Haus von Z.I. Gajsanow nicht anwesend war. Deswegen
gibt es auch keinen Grund, R.A. Kadyrow als Zeugen zu befragen. <….>“.
Das ist eine Unterstellung. Niemand hatte behauptet, dass Kadyrow persönlich im Haus von
Gajsanowa war. Möglicherweise war er nicht dort. Offiziellen Angaben zufolge war er am Ort
des Geschehens in unmittelbarer Nähe des Hauses. Doch die Sache ist eine andere: er hatte die
Operation geleitet. Doch davon ist in diesem Dokument keine Rede.
Und auch im Mai 2010, also sieben Monate nach der Sonderoperation, ist es den ermittelnden
Behörden nicht gelungen, die Person ausfindig zu machen, die die Sonderoperation geleitet hat.
In den ganzen Monaten hatten die Untersuchungsrichter das unterlassen, was bei der Aufdeckung derartiger Verbrechen notwendig ist. Die Menschenrechtler und die Interessenvertreter
von Lida Gajsanowa mussten die Untersuchungsrichter immer wieder auffordern, aktiv zu
werden.
So z.B. hatten Vertreter der mobilen Gruppe der Menschenrechtler am 30. März 2010 verlangt,
ein Video zur Verfügung zu stellen, das eine gewisse Zeit auf dem Server des tschetschenischen
Innenministeriums war. Auf diesem sind einige Angehörige der an der Sonderoperation Beteiligten sowie der Innenminister Tschetscheniens, R. Alchanow, der zum Ort des Geschehens
gekommen war, zu sehen.
Und so forderten sie am 22. April, R. Alchanow und die Feuerwehrleute, die den Brand in dem
Haus gelöscht hatten, müssen verhört werden. Es müsse die Identität der Fahrer festgestellt
werden, die die Einsatzgruppe zu dem Haus der Familie Gajsanow hatten, die mit einem UAS
gekommen war. Gajsanowa war mit einem UAS verschleppt worden. Außerdem seien die
Personen zu verhören, die die Sonderaktion mit Video gefilmt hatten. All deren Angaben seien
in die Akte aufzunehmen.
Diesen Anträgen wurde entsprochen. Wie jedoch mit ihnen umgegangen wird, ist für uns bisher
nicht erkennbar. Es ist nicht erkennbar, ob hier etwas getan wird, oder ob mit diesem Antrag
genauso umgegangen wird wie mit dem Antrag, Kadyrow zu befragen.
Es ist offensichtlich: die ermittelnden Behörden wollen nichts tun, was real zu einer Aufklärung
des Falles führen würde.
Die Ermittlungsorgane haben auch nicht vor, angesichts der offenkundigen Fälschungen durch
Staatsbedienstete, die von den Menschenrechtlern in den Unterlagen entdeckt worden sind,
irgendein Verfahren einzuleiten. Ein Vertreter der Geschädigten, V. Schulajew, hatte dies bei
dem Ermittlungskomitee der Staatsanwaltschaft der Russischen Föderation in der Tschetschenischen Republik gefordert.
Am 8. Juni 2010 wurde bekannt, dass der Antrag abgelehnt worden war. Warum er abgelehnt
worden ist, konnten wir nicht erfahren, da die mobile Gruppe der Menschenrechtler keine
Begründung erhalten hat. Der Aufenthaltsort von Zarema Gasanowa ist nach wie vor unbekannt.
Die Entführung und das spurlose Verschwinden von Riswan Letschiewitsch Asiew
Am 31. Oktober 2009 wurde in Grosnij der Einwohner Riswan Letschiewitsch Asiew, geb.
1979, und gemeldet unter der Adresse: Leninskij Rayon, Ortschaft Staraj Säunscha, ul. Gagarina
23. entführt.
Ungefähr um 19:00 Uhr tauchten vor dem Haus von Asiew mehrere PKWs auf (Lada-Priora,
Niva u.a.). Einige von ihnen waren ohne Nummernschilder. Die Bewaffneten trugen Kampfuniformen, blockierten das Haus und drangen dann in den Hof ein. Niemand von ihnen stellte
sich vor. Zeugen des Vorfalls waren die Nachbarn in der Gagarin-Straße.
28
Zu diesem Zeitpunkt hielten sich folgende Personen in dem Haus auf: der Vater von Riswan,
Letscha Dschamaschewitsch Asiew, geb. 1944, und die Schwester, Chava Letschiewna
Asiewa, geb. 1983, sowie drei minderjährige Kinder. Riswan Asiew selbst war nicht zugegen.
Einer der Bewaffneten befragte Chawa. Sie sollte ihm sagen, ob sich noch weitere, fremde
Personen, im Haus aufhielten, wer häufig zu Gast sei und ob alle Familienmitglieder einen Paß
besäßen. Chava gab zur Antwort, dass alle einen Paß besäßen, von Fremden würden sie jedoch
nicht Besuch erhalten. Danach führten die Sicherheitskräfte ohne richterlichen Beschluss eine
Hausdurchsuchung durch. Doch sie fanden nichts, was für sie von Interesse war. Anschließend
forderten die Sicherheitskräfte, man solle ihnen den Aufenthaltsort von Riswan Asiew mitteilen.
Man erwiderte ihnen, Riswan halte sich gerade bei einem Freund im dritten Mikrorayon des
Leninsk-Rayons auf. Darauf zwangen sie Chawa, diesen auf dem Mobiltelefon anzurufen und
ihn nach Hause zu bitten. Sie durfte ihm aber nicht sagen, dass sich gerade Fremde im Haus
aufhielten. Sofort nach dem Anruf nahm man ihr das Telefon ab. Dann brachte man sie und
andere Mitglieder der Familie Asiew in das Haus, wo sie bewacht wurden. Kaum war Riswan
eingetroffen, wurde er ergriffen, in einen Wagen gesetzt und weggebracht.
Es ist ganz offensichtlich, dass sich nur Angehörige der Sicherheitskräfte am frühen Abend bewaffnet so frei bewegen, ein Haus umzingeln und dann ohne Eile eine Person wegbringen
können.
Kaum hatten die Bewaffneten das Haus mit Riswan Asiew verlassen, wandten sich dessen Verwandte an die Miliz und die Staatsanwaltschaft des Rayons. Doch von dieser Seite wurde nichts
unternommen, um den Entführten zu befreien. Kein Wagen der Miliz tauchte in dem Haus des
Entführten auf, wo man sich vor Ort ein Bild hätte machen können.
Am 11. November leiteten die Untersuchungsrichter des Regionalen Büros des Ermittlungskomitees der Staatsanwaltschaft der Russischen Föderation in der Tschetschenischen Republik
(Leninsk/Grosnij) ein Ermittlungsverfahren unter der № 66093 ein (Grundlage: Punkt «а»,
Absatz 2, Artikel 126 (geplante Entführung durch eine Gruppe).
Derzeit (November 2010) ist nichts über das Schicksal von Riswan Asiew bekannt.
Warum Riswan Asiew entführt wurde, darüber lässt sich nur spekulieren. Er ist der Bruder eines
verurteilten Aufständischen, hat selbst eine Haftstrafe wegen Mitwirkung in einer illegalen bewaffneten Formierung abgesessen. Es ist nicht auszuschließen, dass man ihn verdächtigt, weiter
im Kontakt mit dem illegalen Untergrund zu stehen, selbst über gewisse Informationen zu
verfügen. Es ist aber auch möglich, dass die Sicherheitskräfte so nur die Republik vor potentiell
nicht loyalen Personen „säubern“ wollen.
2002 wurden zwei ältere Brüder von Riswan, Imran, geb. 1973 und Charon, geb. 1975, wegen
Beteiligung am bewaffneten Kampf gegen die Machthaber der Russischen Föderation zu 19 bzw.
21 Jahren verurteilt. Unter anderem wurden sie aufgrund von Artikel 205 StGB RF (Terrorismus) verurteilt. Nach der Verhaftung der Brüder schickten die verängstigten Eltern Riswan
nach Irkutsk, wo er als Zahnarzt arbeitete. 2005 wurde er auf Ersuchen der Rechtsschutzorgane
der Tschetschenischen Republik in seine Heimat verschubt. Gegen ihn wurde die gleiche Anklage wie gegen seine Brüder erhoben.
Die Agenturen schildern die Verhaftung von Riswan Asiew folgendermaßen:
„In Irkutsk wurde ein besonders gefährlicher Verbrecher, Riswan Asiew verhaftet. Er war aktives Mitglied bewaffneter Formierungen der Tschetschenischen Republik Itschkeria, die im Nordkaukasus aktiv sind. Er wurde nach Artikel 205 des StGB der RF (Terrorismus) mit Haftbefehl
gesucht. Der Verhaftete war ein sog. „Emir“ und Feldkommandeur. Zuvor war Riswan Asiew in
einem der Zentren des bekannten Feldkommandeurs arabischer Herkunft, Chatab, ausgebildet
worden. Nach den vorliegenden Informationen war er an Überfällen auf die föderalen Streitkräfte beteiligt, er hatte Gebäude gesprengt, war an Morden von Angehörigen der Sicherheitskräfte beteiligt. <…> Riswan Asiew versteckte sich in Irkutsk mit einem Paß, der auf eine
29
andere Person ausgestellt war. Er lebte bei nahen Verwandten. Die Verhaftung ist auf die Zusammenarbeit des FSB in Irkutsk und in der Tschetschenischen Republik zur Aufdeckung und
Verhinderung terroristischer Aktivitäten zurückzuführen“.9
R. Asiew wurde dann auf der Grundlage von Artikel 208 (Mitwirkung in einer illegalen,
bewaffneten Formierung) StGB der RF zu 2,5 Jahren Freiheitsentzug verurteilt. Er verbüßte
seine Strafe im Isolationszentrum der Ortschaft Tschernokosovo.
Es ist absolut offensichtlich: wäre Riswan Asiew wirklich ein Feldkommandeur gewesen, wäre
er wirklich an Überfällen auf Militärs und Morden an Milizionären beteiligt gewesen, wäre er zu
einer langen Haftstrafe verurteilt worden. Derartige Urteile werden gegen Personen verhängt, bei
denen man keine realen Beweise einer Schuld finden konnte.
Nach seiner Freilassung heiratete Riswan, arbeitete auf dem Bau. Eine feste Arbeit hatte er nicht.
Verwandte und Nachbarn berichten, Riswan tue alles, um normal zu leben, friedlich und ohne
einen Kontakt zu illegalen, bewaffneten Formierungen.
Die Verhaftung und das spurlose Verschwinden von Ibragim Sajd-Salech
Abdulganiewitsch
Die Behörden üben auf die Zeugen und die Angehörigen Druck aus. Der ermittelnde Beamte
empfahl der Mutter des Entführten dringend, nicht wahrheitsgemäß auszusagen.
Einige Begleitumstände des Falles erinnern an den Fall von Zarema Gajsanowa.
Am 21. Oktober 2009 wurde Sajd-Salech Abdulganiewitsch Ibragimow, geb. 1990, von Angehörigen der tschetschenischen Sicherheitskräfte im Zentrum von Grosnij festgenommen. Die
Sicherheitskräfte gehörten zum sog. „Ölregiment“ des Innenministeriums. Dessen Aufgabe ist
es, Öl zu bewachen. An diesem Abend sah ein Onkel von Sajd-Salech diesen im „Ölregiment“ in
der Stadt Grosnij im Büro des Kommandeurs Scharip Delimchanow. Mehrere Tage befand sich
Sajd-Salech in den Händen des Regiments. Von seinem weiteren Schicksal ist nichts bekannt.
Sajd-Salech Ibragimow ist Student des zweiten Kurses des Ölinstitutes von Grosnij. Er lebt mit
seiner Familie in der Ortschaft Gojty in der Gontschajew-Str. Nr. 117. Im Hof stehen drei
Gebäude. In einem dieser Gebäude lebt er mit seiner Mutter, Raisa Turlajewa. Die beiden
anderen Gebäude gehören seinen Onkeln, den Brüdern des Vaters. In dem Haus, das Adnan
Ibragimow gehört, lebt seine alte Mutter und seine Großmutter. Adnan selbst lebt mit seiner
Familie in seiner Wohnung in Grosnij. Sein Sohn, Magomed, diente vor diesen Ereignissen in
der Einheit für außerbehördlichen Schutz des Innenministeriums, dem sog. „Ölregiment“. Ein
weiteres Gebäude stand ständig leer, da die Familie des zweiten Onkels Tschetschenien verlassen hat.
Am 21. Oktober 2009 führten die Sicherheitskräfte in dem Dorf Gojty eine Sonderoperation
durch. An dieser beteiligten sich auch Angehörige der Sondermiliz OMON und des Bataillons
„Nord“, Milizionäre des Rayons Urus-Martan und Angehörige des Regiments für außerbehördlichen Schutz der Tschetschenischen Republik. Bei der Sonderoperation wurden die
Angehörigen der illegalen bewaffneten Einheiten, А.А.Dazajewa und А.V. Dschumajew,
getötet. Ein dritter Aufständischer konnte entkommen. Ebenfalls getötet wurde der Milizionär
I.V.Bukajew (Angehöriger des 4. Tegiments für außerbehördlichen Schutz des Innenministeriums der Tschetschenischen Republik. Zwei Milizionäre wurden verletzt. Hiervon wurde
auf der Internetseite des tschetschenischen Innenministeriums berichtet.
Quelle: ITAR-TASS (20.7.2005), Kavkaz.Strana.ru und „Bajkalskaja slushba novostej“ (20.7.2005)(
http://bsn.irk.ru/).
9
30
An besagtem Tag hielt sich Sajd-Salech im Institut auf. Seine Mutter hatte in Grosnij zu tun.
Dort erreichte sie ihre Schwiegertochter auf dem Handy. Sie teilte der Frau mit, dass sich
Sicherheitskräfte in ihrem Haus aufhielten, wo sie eine Sonderoperation durchführten. Raisa
Turluewa rief Adnan Ibragimow an, der in Grosnij arbeitete, und bat ihn, gemeinsam mit ihr
sofort nach Gojty zu fahren.
Kaum waren sie an ihrem Haus angekommen, berichten Raisa und Adnan, seien sie von
Uniformierten umzingelt worden. Adnan wurde zu den Kommandeuren gezerrt, zeigte ihm die
auf dem Boden liegende Leiche eines jungen Mannes. Dieser, so sagte man, sei ein Aufständischer und habe sich seit dem 20. Oktober in ihrem Haus versteckt.
Anschließend brachte man A. Ibragimow und R. Turlujewa zur Miliz des Rayons Urus-Martan.
Dort verhörte man sie bis 21 Uhr, anschließend wurden sie wieder auf freien Fuß gesetzt. Auf
die Frage, wie es denn sein könne, dass sich Aufständische auf ihrem Speicher aufgehalten
hatten, antworteten sie, dass sie davon nichts gewusst hätten und dass sie außerdem am Wahrheitsgehalt dieser Aussage zweifeln.
Einer der Milizionäre berichtete Raisa, dass man ihr Haus in Brand gesteckt habe.
Nach Gojty zurückgekommen, bemerkten A. Ibragimow und R.Turlajewa, dass zwei der drei
Häuser in Brand gesteckt worden waren. Das dritte Haus war schwer beschädigt. Als man sie zur
Miliz gebracht hatte, hatte nur das Dach des leeren Gebäudes im Hof gebrannt. Zeugen
berichten, dass die eingetroffene Feuerwehr den Brand nicht zu löschen versucht hatte.
Die ganze Zeit über blieben alle Versuche, Sajd-Salech auf seinem Mobiltelefon zu erreichen,
erfolglos. Später stellte sich heraus, dass er, nachdem er von seinem Vetter über die Sonderoperation informiert worden ist, zu seinen Verwandten nach Grosnij fuhr. Seiner Schwester
erklärte er folgendermaßen, warum er die Aufständischen in das Haus gelassen habe: «Was
hättest du denn an meiner Stelle gemacht, wenn man dich mit einer Waffe bedroht und dir gesagt
hätte, dass man alle Frauen im Haus töte, wenn ich sie nicht im Haus übernachten ließe?“
Anschließend bestellte er ein Taxi und fuhr weg.
Ungefähr um 23 Uhr meldete sich ein Untersuchungsrichter aus Urus-Martan telefonisch bei
Adnan Ibragimow und bat diesen, erneut kurzfristig zu kommen. Adnan machte sich auf den
Weg zu Miliz, von wo man ihn nach Grosnij und dann zum „Ölregiment“ brachte. Hier erfuhr er,
dass man auch seinen Sohn, Magomed, hergebracht habe.
Adnan Ibragimow brachte man in das Zimmer des Regimentskommandeurs, Scharip Delimchanow, wo sich bereits 10-12 bewaffnete Männer in Kampfuniform befanden. Adnan war
gleich klar, dass dies die Offiziere des Regiments waren, die an der Sonderoperation in Gojty
beteiligt waren. Sie haben ihn in sehr rauem Ton Vorwürfe gemacht, dass die Aufständischen,
die sich bei ihm versteckt hätten, einen ihrer Kameraden getötet und zwei weitere Kameraden
verletzt hätten. Sie fragten ihn über seinen Vetter, Sajd-Salech aus, wollten wissen, ob er für
dessen Handlungen zur Verantwortung gezogen werden oder ob er sich von seinem Vetter
lossagen wolle.
Adnan Ibragimow berichtet, er habe Scharip Delimchanow und dessen Offizieren mitgeteilt, dass
er von den Aufständischen, die sich angeblich auf dem Speicher des leerstehenden Hauses seines
älteren Bruders versteckt hatten, nichts wisse. Er sagte, dass er nicht an die Schuld seines Vetters
glaube und nicht glaube, dass sich dort Aufständische versteckt hätten. Deswegen könne er sich
nicht von Sajd-Salech lossagen, der für ihn wie ein eigener Sohn sei.
Dann führte man Sajd-Salech in den Raum, der sehr verängstigt war. Auf seinem Gesicht war
Blut, fanden sich blaue Flecken. Offensichtlich ist er irgendwo in Grosnij festgenommen
worden.
Da einer der ihren im Hof der Familie Ibragimow getötet worden war, erklärten die Offiziere,
müsse man sich entsprechend der Sitten auch an den Ibragimows rächen. Sie versprachen, SajdSalech zu töten. Doch dann entschieden sie sich um, garantierten ihm sein Leben, wenn er ihnen
helfen würde, den geflohenen Aufständischen zu ergreifen.
31
Der Onkel bat, mit Sajd-Salech unter vier Augen sprechen zu können. Dabei versuchte er SajdSalew von einer Zusammenarbeit mit den Sicherheitskräften zu überzeugen. Nur so könne er
sein Leben und das seiner Angehörigen schützen. Sajd-Salech sagte, er kenne einige Aufständische von der Ferne – über Gespräche mit dem Mobiltelefon. Dann führten sie Sajd-Salech
aus dem Raum.
Adnan Ibragimow und seinen Sohn Mogamed entließen sie spät in der Nacht aus dem Regiment,
drohten ihnen aber, man könne sie jederzeit wieder in das „Ölregiment“ holen lassen.
In den darauffolgenden Tagen hielten sich die Mitglieder der Familie Ibragimow in der Ortschaft
Gojty auf, wo sie bei Verwandten lebten. Sie beschwerten sich nirgends, warteten nur auf ein
Zeichen von Sajd-Salech. Da dieser sich zu einer Zusammenarbeit mit den Sicherheitskräften
bereit erklärt hatte, brauche man sich ja um sein Leben nicht zu sorgen, dachten sie.
Am 1. November 2009 wurden Adnan Ibragimow und Raisa Turlujewa zu einem Ermittlungsbeamten der Regionalen Ermittlungskommission der Staatsanwaltschaft der Russischen Föderation in der Tschetschenischen Republik vorgeladen. Später berichtete Adnan, dass er dem
Ermittlungsbeamten alles gesagt hatte, was er wusste und gesehen hatte. Trotzdem hat der Ermittlungsbeamte in seinem Protokoll nichts festgehalten, was dieser über den Aufenthalt der
Ibragimows im „Ölregiment“ gesagt hatte“. Adnan zitierte er mit den Worten: “Mir ist der
Aufenthaltsort meines Vetters Sajd-Salech Ibragimow nicht bekannt.“ Dies erzürnte Adnan und
er wollte dagegen protestieren. Der Ermittlungsbeamte antwortete ihm jedoch, er werde es sehr
bereuen, wenn er darauf bestehe, dass im Protokoll die Vorführung von Adnan, seinem Vetter
und Sohn zum Verhör im „Ölregiment“ fixiert werde. Sollte dies so im Protokoll festgehalten
werden, so der Untersuchungsrichter, wäre er verpflichtet, eine Anfrage an das „Ölregiment“ zu
richten und auf der Herausgabe von Sajd-Salech zu bestehen. Und dann können die Angehörigen
des Regiments Adnan und Sajd-Salech zu Geständnissen zwingen, die sie brauchen. Dadurch
werde sich die Lage der Ibragimows nur verschlechtern.
Noch offener war der Untersuchungsrichter in seinem Gespräch mit Raisa Turlajewa, die eine
Erklärung über die Entführung ihres Sohnes hatte einreichen wollen. Der Untersuchungsrichter,
so Raisa Turlajewa, habe sie gewarnt: “Wenn Sie diese Erklärung schreiben, wird man Sie töten,
und die anderen Verwandten wird man bei lebendigem Leibe verbrennen.“.
In der Folge bestanden weder Adnan, noch Raisa darauf, dass sich ihr Bericht über die
Verschleppung von Sajd-Salech in das „Ölregiment“ im Verhörprotokoll wiederfände.
Doch nachdem Sajd-Salech spurlos verschwunden war, entschied sich seine Mutter Raisa
Turlujewa doch am 2. Dezember 2009 eine Erklärung über die Entführung bei der Ermittlungskommission der Staatsanwaltschaft der Russischen Föderation in der Tschetschenischen
Republik einzureichen. Am 9. Dezember nahm der Ermittlungsbeamte eine Erklärung von
Adnan Ibragimow entgegen, in der er offiziell seine Kenntnisse über die Vorfälle des 21.
Oktober mit seinem Neffen darlegte. Genauestens beschreibt er das Innere der Räumlichkeiten
von Delimchanow, beschreibt, was sich in diesem Raum befindet. Er könne auch zu diesem
Raum führen. Nun begann man mit den Vorermittlungen.
Seit dem 10. Dezember 2009 vertritt der Jurist der Mobilen Gruppen der Menschenrechtsorganisationen, Michail Schulajew, die Interessen der Verwandten. An diesem Tag befragte der
ermittelnde Beamte des Ermittlungskomitees bei der Staatsanwaltschaft der Russischen
Föderation in der Tschetschenischen Republik, A. Abdulchadschiew, Raisa Turlujewa in
Anwesenheit von Schulajew. Während des Verhörs übte der Untersuchungsrichter trotz Anwesenheit von Michail Schulajew auf Raisa Turlujewa Druck aus. Er schüchterte sie ein, sagte,
mit derartigen Angaben bringe sie sich in Gefahr, könnte Zielscheibe von Rache hoch gestellter
Mitarbeiter der Sicherheitskräfte der Tschetschenischen Republik werden.
Am 14. Dezember tauchte ein Angehöriger des „Ölregiments“ bei der Familie Ibragimow auf
und teilte mit, dass der Kommandeur Adnan Ibragimow vorlade. Ibragimow unterrichtete M.
Schulajew von der Mobilen Gruppe der Menschenrechtsgruppen von dieser Vorladung.
Schulajew fuhr daraufhin mit ihm zu Scharip Delimchanow. Dieser empfing sie in seinem in
32
unmittelbarer Nähe zum „Ölregiment“ gelegenen Haus. Vor Beginn des Gespräches schaltete
Schulajew ein Aufnahmegerät ein, nahm so das gesamte Gespräch auf. Später sollte diese
Aufnahme einer der Beweise werden, die dem Europäischen Menschengerichtshof übermittelt
wurden. Zunächst sprachen beide in tschetschenischer Sprache. Nachdem Delimchanow fragte,
wer denn die dritte Person sei, stellte sich Schulajew kurz vor. Im weiteren verlief das Gespräch
in Russisch.
Scherip Dalimchanow sagte, Sajd-Salech habe Banditen geholfen. Adnan, der Älteste in der
Familie, müsse ihn doch kontrollieren. Dies habe er aber nicht gemacht. Tschetschenischen
Traditionen zufolge wird das Blut des getöteten Milizionärs mit dem Blut der Familie Ibragimow
gerächt. Die Verwandten des Getöteten müssen sich rächen. Doch bisher sei es ihm, Scherip
Delimchanow, gelungen, diese in ihren Rachebedürfnissen zu zügeln. Jetzt aber, nachdem Adnan
erklärt habe, er habe Sajd-Salech zum letzten Mal im Raum von Delimchanow gesehen, könne er
die Verwandten der Getöteten nicht mehr zügeln.
Weiter sagte Sch. Delimchanow: “Du hast gesagt, ich hätte ihn gefoltert. Wie willst du das
beweisen? Beweis es mir. Du hast es gesagt, jetzt beweise es, wenn sich diese Person bei mir
befinden soll. Und wenn du es aber nicht beweisen kannst, dann werde ich etwas beweisen,
etwas gegen deinen Sohn, gegen dich und gegen deine Schwiergertochter…..“. Dann gab Delimchanow Adnan zwei Tage, um zu beweisen, dass er bei dem Verschwinden von Sajd-Salech eine
Rolle spiele. Die Staatsanwaltschaft sei ihm völlig egal, sagte er dabei. Das gleiche gelte für die
Gerichte. Er regle alle seine Fragen in Moskau.
Zum Schicksal von S.-S. Ibragimow sagte der Kommandeur des „Ölregiments“: “Er ist nicht
mehr bei mir. Das können 100 Personen bestätigen. Er hat sich in einen Wagen gesetzt und ist
weggefahren. Aber wohin er fuhr, weiß ich nicht. Vielleicht ist er zu den Wahabitten, um mit
ihnen zu kämpfen. Aber du kannst nicht beweisen, dass er bei mir war. Wer wird das bestätigen?
Du wirst sagen, dass du ihn hier gesehen hast und ich werde sagen, dass ich ihn habe gehen
lassen. Ist doch nicht das erste mal, dass man derartiges über uns spricht. Man sagt, wir hätten
diesen oder jenen getötet. Nur: wo sind die Beweise? Es gibt keine Beweise und es wird keine
Beweise geben. Es gibt Aufzeichnungen, dass ich Banditen töte. Aber das ist im Rahmen des
Gesetzes.“. Mehrmals sagte er: “Ich bin Militär, ich achte das Gesetz, und es gibt aber auch
noch unsere Bräuche.“
So hat der Kommandeur der Einheit für Außerbehördlichen Schutz im Innenministerium der
Tschetschenischen Republik Scherip Delimchanow Druck auf einen Schlüsselzeugen in der
Sache des Verschwindens von Sajd-Salech Ibragimow ausgeübt.
Mit der Unterstützung des Moskauer Büros des Menschenrechtszentrums „Memorial“ und des
Europäischen Zentrums für Menschenrechte wandten sich die Verwandten des Entführten im
Dezember 2009 an den Europäischen Menschengerichtshof. Und noch im gleichen Monat
ersuchte das Gericht die Russische Föderation um Informationen zu diesem Fall. Insbesondere
bat man um Kopien von Dokumenten, die die Maßnahmen beschreiben, welche der Staat
unternimmt, um den Aufenthaltsort von S.S. Ibragimow ausfindig zu machen.
Unterdessen gingen die Vorermittlungen weiter. Im Rahmen dieser Ermittlung spielte Untersuchungsrichter Abdulchadschiew einen aktiven Einsatz vor, versandte viele sinnlose Anfragen
an die unterschiedlichsten Instanzen, in denen er Fragen stellte wie: hält sich nicht S.S.
Ibragimow bei euch auf, wurde er verhaftet etc. Und dies, obwohl aus den Aufzeichnungen der
Verwandten von Sajd-Salech hervorgeht, in wessen Händen sich der Entführte befindet.
Ein Untersuchungsrichter sandte einen Arbeitsauftrag zur “operativen Vermißtensuche mit dem
Ziel, Personen dingfest zu machen, die an diesem Verbrechen beteiligt gewesen sein können.“ an
die Miliz von Urus-Martan. Und dabei versteht der Untersuchungsrichter nicht, dass er Personen
mit diesen Arbeitsaufträgen betraut, die, gelinde gesagt, an einer Suche von S.S. Ibragimow kein
Interesse haben.
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Am 12. Dezember übersendet der Untersuchungsrichter dem Chef des “Ölregiments“ den Auftrag, Angehörige seiner Einheit, die in der Nacht vom 21. uf den 22. Oktober Dienst hatten, zur
Ermittlungsabteilung der Miliz vorzuladen. Außerdem solle er Kopien der Eintragungen über
Verhaftungen, die vom Regiment vorgenommen worden waren, einreichen. Anschließend führte
er am 15. Dezember mit Adnan Ibragimow eine Begehung des Tatortes und der Dislozierungsorte des „Ölregiments“ durch. Ibragimow konnte den Ort identifizieren, an den man ihn in der
Nacht vom 21. auf den 22. Oktober gebracht hatte. Im Gebäude des Regiments zeigte er, wo sich
das Zimmer der Regimentschefes befindet, nannte das Zimmer, wo er zum letzten Mal seinen
Neffen gesehen hatte.
Eigentlich wären genügend Gründe für die Einleitung eines Strafverfahrens gegeben gewesen.
Allein schon der Umstand, dass man S.S. Ibragimow auf das Gebiet des „Ölregiments“ gebracht
hatte, ist schon rechtswidrig. Diese Einheit kann und darf sich nicht mit operativen Fahndungsmaßnahmen beschäftigen, ihre Mitarbeiter sind hierzu gar nicht befugt, sie dürfen keine Verhöre
durchführen oder gar jemanden auf ihrem Gebiet festhalten. Das ist zumindest eine eindeutige
Kompetenzüberschreitung.
Trotzdem entschied sich der Untersuchungsrichter Abdulchadschiew am 17. Dezember 2009
gesetzwidrig, kein Strafverfahren wegen der ungesetzlichen Handlungen gegen S.S. Ibragimow
einzuleiten.
Und er hat seine Entscheidung getroffen, ohne dass er irgendjemanden des „Ölregimentes“ befragt hätte. Auch seine Übermittlung eines Arbeitsauftrages an den Kommandeur dieses Regimentes blieb unbeantwortet.
Warum macht der Untersuchungsrichter dies? Noch eine Woche zuvor hatte er Raisa Turlujewa
vor der Rache von hochgestellten Mitarbeitern des Innenministeriums der Tschetschenischen
Republik gewarnt.
11 Tage später, am 28. Dezember, leitet ein anderer Untersuchungsrichter, der Untersuchungsrichter des Regionalen Ermittlungskomitees der Staatsanwaltschaft der Russischen Föderation in
der Tschetschenischen Republik, ein Strafverfahren wegen des Verdachtes eines Verbrechens
ein. Das Verfahren lief unter der № 66102.
Einen Tag nach Einleitung des Verfahrens drangen zehn maskierte Bewaffnete in das Haus von
Adnan Ibragimow in Grosnij ein. Sie legten keinen Durchsuchungsbefehl vor, gaben keine Erklärung. Nach der Hausdurchsuchung verließen sie dieses wieder mit den Worten: „Das war
eine ganz gewöhnliche Prozedur.“. Das Menschenrechtszentrum „Memorial“ ist der Auffassung,
dass dies ein Einschüchterungsversuch war.
Hier stellt sich die Frage, wie es sein kann, dass ein Untersuchungsrichter ein Verfahren einleiten
kann, und ein anderer es nicht tut. Sie hatten doch beide die gleichen Unterlagen.
Wahrscheinlich haben sie auf Anweisung von oben so gehandelt. Man scheint in den Antworten
gegenüber dem Europäischen Menschengerichtshof den Kurs zu fahren, dass man nicht leugne,
was offensichtlich ist.
Der russische Beauftragte beim Europäischen Menschengerichtshof hatte im Namen der russischen Regierung bestätigt, dass Sajd-Salech Ibragimow am 21. Oktober von Unbekannten festgenommen und dann im Regiment für Außerbehördlichen Schutz im Innenministerium der
Tschetschenischen Republik über ein Gefecht im Dorf Gojty verhört worden ist.10
Klar ist jedoch nicht, wie die russischen Behörden dazu kommen können zu sagen, S.S.
Ibragimow sei anschließend wieder freigelassen worden? Die Materialien der Voruntersuchungen lassen einen derartigen Schluss nicht zu.
Am 10. März 2010 hat der Europäische Menschengerichtshof nach Abwägung aller Argumente
und Beweise entschieden, nicht die Regeln für eine sofortige Behandlung des Falles anzuwenden
10
(http://www.memo.ru/2010/06/18/1806103.htm#_ftnref67) (russisch)
34
(Regeln 39 und 40 der Geschäftsordnung des Gerichtes), sondern entsprechend Regel 41 den
Fall vorrangig zu behandeln. Seitdem wartet man auf die Behandlung des Falls.
Seit der Einleitung eines Strafverfahrens ist geraume Zeit verstrichen. Und derzeit gibt es allen
Grund zu der Annahme, dass an einer Aufklärung nicht effektiv gearbeitet wird.
Bis heute sind Scherip Delimchanow und andere Amtspersonen nicht befragt worden, in deren
Kontrolle sich S.S. Ibragimow am 21. Oktober 2009 befand, als er das letzte Mal von einem
Zeugen gesehen worden ist. Und dass deren Befragung notwendig ist, geht eindeutig aus den
Unterlagen hervor.
Scherip Delimchanow hatte eindeutig seine Kompetenzen überschritten und dem verschwundenen S.S. Ibragimow gegenüber rechtswidrig gehandelt. Doch er wurde nicht für die Dauer der
Ermittlungen von seinen dienstlichen Pflichten entbunden. Nach wie vor hat er die Möglichkeit,
Druck auf Opfer, Zeugen, Untersuchungsrichter, operative Mitarbeiter auszuüben.
Im März 2010 sandte der Vorsitzende des Menschenrechtszentrums Memorial, Oleg Orlow, ein
Schreiben an den Generalstaatsanwalt der Russischen Föderation, in dem er diesen bat, Angaben
nachzugehen, dass auf einen Zeugen und ein Opfer von Amtspersonen Druck ausgeübt worden
wäre. Ferner forderte Orlow, den Kommandeur des Regimentes für außerbehördlichen Schutz im
Innenministerium der Tschetschenischen Republik (sog. „Ölregiment) Sch. Delimchanow für die
Dauer der Ermittlungen um das Verschwinden von S.S. Ibragimow diesen von seinen Pflichten
zu entbinden11. Bis auf den heutigen Tag hat Oleg Orlow keine Antwort erhalten.
Am 3. April 2010 wurden die Ermittlungen im Fall № 66102 eingestellt, da „es nicht möglich ist,
der Personen, die anzuklagen sind, habhaft zu werden“.
Es ist ausschließlich der Arbeit der mobilen Gruppen der Menschenrechtsorganisationen zu
verdanken, dass Ermittlungen zur Rechtmäßigkeit der Hausdurchsuchung im Anwesen von
Adnan Ibragimow am 29. Dezember 2009 aufgenommen wurden.
D.M.Murtasow, Untersuchungsrichter des Regionalen Ermittlungskomitees bei der Staatsanwaltschaft der Russischen Föderation in der Tschetschenischen Republik, hatte sich zwei mal
(01.02.2010., 13.04.2010) mit einem Schreiben an die Miliz des Stadtteiles Staropromyslow von
Grosnij gewandt und diese aufgefordert, zu ermitteln, wer an der Hausdurchsuchung bei der
Familie Ibragimow beteiligt war. Doch die Miliz ignoriert diese Aufforderungen, reagierte überhaupt nicht auf die Schreiben.
Der Leiter des Ermittlungskomitees bei der Staatsanwaltschaft der Russischen Föderation in der
Tschetschenischen Republik, A.A. Stepanow, forderte den Innenminister der Tschetschenischen
Republik, R.Sch. Alchanow, drei Mal (08.02.2010., 13.04.2010., 01.06.2010 г.) auf, auf dem
Dienstweg zu überprüfen, ob sich gewisse Personen gegenüber A. Ibragimow gesetzwidrig
verhalten hätten.
Unter Verletzung der Gesetzgebung zieht der Innenminister es vor, dieser Aufforderung nicht
nachzukommen.
Den Juristen der mobilen Menschenrechtsgruppe, die die Interessen von R. Turlujewa in der
Strafrechtsangelegenheit über das Verschwinden ihres Sohnes vertreten, liegt ein interessantes
Dokument vor.12
Die Abteilung Eigene Sicherheit im Innenministerium der Tschetschenischen Republik hatte auf
dem Dienstweg geprüft, ob gesetzwidrige Handlungen gegen Sajd-Salech vorgenommen worden
sind. Am 6. Mai 2010 ging eine Beantwortung dieser Frage beim Ermittlungskomitee Leninsk
(Grosnij) ein. Diese Antwort war schon am 1. März 2010 erstellt und am 15. März 2010 von
Tschetscheniens Innenminister Alchanow bestätigt worden.
11
12
http://www.memo.ru/2010/06/18/1806103.htm#_ftn68
http://www.memo.ru/2010/06/18/1806103.htm#_ftn69
35
Darin heißt es, dass «am 6. April 2010 in der Abteilung Eigene Sicherheit des Innenministeriums
der Tschetschenischen Republik die Antwort auf eine Anfrage an den Kommandeur des
Regiments für Außerbehördlichen Schutz im Innenministerium der Tschetschenischen Republik
eingetroffen war. Darin heißt es, Sajd-Salech und Adnan Abdulajewitsch Ibragimow seien nicht
festgenommen worden und auch nicht in das Regiment gebracht worden.».
Das bedeutet, die Antwort ist von Sch. Delimchanow eingegangen, nachdem bereits das Antwortschreiben an die Abteilung für Eigene Sicherheit fertiggestellt war. Und dann bezieht man
sich in dem Schreiben sogar noch auf diese Antwort.
Diejenigen, die derartige Dokumente erstellen, geben sich nicht einmal die Mühe, eine Plausibilität herzustellen. Sie sind sich so sicher, dass alles durchgeht, dass sie sich für ihre Fälschungen vor niemandem verantworten müssen und kein Vorgesetzter sie auffordern wird, die
Wahrheit zu sagen.
Scharip Delimchanow leugnet derzeit selbst, trotz der dokumentierten Tatsachen und seiner
eigenen Worte, die von Menschenrechtlern bezeugt werden können, dass S.S. Ibragimow in das
Regiment gebracht worden war.
Der Aufenthaltsort von Sajd-Salech Ibragimow ist bis heute unbekannt.
Entführung und Befreiung von Islam Irisbajewitsch Umarpaschajew
Der Fall von Islam Umarpaschajew ist für das heutige Tschetschenien wirklich einzigartig. Der Entführte hatte nach seiner Freilassung die Verwandten gebeten, ihre Klage im Europäischen Menschengerichtshof zurückzuziehen. Gleichzeitig machte er den russischen Untersuchungsrichtern Angaben über die Entführung und die Entführer.
Doch dies kann er nur tun, weil er sich derzeit außerhalb der Tschetschenischen Republik
befindet.
Am 11. Dezember 2009 wurde Islam Irisbajewitsch Umarpaschajew (geb. 1986) um
8:20 aus seinem Haus in Grosnij (Siedlung Mitschurina, ul. Michajlika 75) entführt.
I.Umarpaschajew hatte schon eine Vorstrafe aus dem Jahre 2008. Man hatte ihn auf der
Grundlage von Absatz 2 von Artikel 208 des StGB der Russischen Föderation (Mitwirkung in
illegalen bewaffneten Formierungen) zu einem Jahr Haft verurteilt worden. Er war festgenommen worden, weil er mit seinem Freund ein Mitglied einer illegalen bewaffneten Formierung im Wagen mitgenommen hatte. Im Juli 2009 hatte man ihn vorzeitig und auf Bewährung entlassen. Er kehrte dann nach Hause, nach Grosnij, zurück.
Während der Ermittlungen 2008 war Islam Umarpaschajew gefoltert worden. Seinem
Anwalt liegen die medizinischen Dokumente vor, die dies bestätigen.
Am 11. Dezember 2009 drangen ungefähr sieben Bewaffnete der Sicherheitskräfte in sein
Haus ein. Sie sprachen alle nur tschetschenisch. Man führe eine Passkontrolle durch, erklärten
sie. Doch sie hatten sich weder vorgestellt noch erklärt, für welche Struktur sie arbeiten. Das
Familienoberhaupt Irisbaj Umarpaschajew und seine Söhne Islam, Bersan und Gelani waren
zu Hause, hatten soeben ihr Morgengebet beendet. Sie alle wurden durchsucht, man nahm ihnen
ihre Pässe und Mobiltelefone ab. Dann fragten die Sicherheitskräfte, wer von ihnen Islam Umarpaschajew war. Diesen nahmen sie dann mit.
Irisbaj Umarpaschajew sagte den Sicherheitskräften, als Vater wolle er mitfahren. Er
wollte wissen, wer der Verantwortliche sei und wohin man seinen Sohn bringe. Erst jetzt stellte
sich ein Mann der Sicherheitskräfte als Ibrahim vor, sagte, er sei von der Miliz des Rayon
Oktjabrskij. Als die Sicherheitskräfte das Anwesen verließen, sah der Vater, dass viele Wagen
mit Bewaffneten vor dem Haus gestanden hatten. Sie fuhren sofort los, in verschiedene
Richtungen. „Wenn du uns hinterherfahren willst, werden wir schießen“ riefen sie dem Vater
zu. Der Vater konnte noch bis zur Kurve laufen, dann waren die Wagen verschwunden. Da er
keinen eigenen Wagen hat, konnte er auch nicht hinterherfahren.
36
Sofort nach der Entführung wandte sich Irisbaj Umarpaschajew an die Miliz des Rayons
Oktjabrskij. Doch dort sagte man, man habe Islam nicht in Haft genommen. Eine Anzeige wegen
Entführung wollte man nicht aufnehmen. Ebenfalls am gleichen Tag wandten sich die Verwandten an die Staatsanwaltschaft des Rayon Oktjabrskij von Grosnij. Dort wurde sofort ein Ermittlungsverfahren unter der № 68042 eingeleitet (Punkt „a“ Absatz 2, Artikel 126 StGB der RF
– geplante Entführung).
Juristen der Mobilen Gruppen der Menschenrechtsorganisationen übernahmen das
Mandat für den Vater und den Bruder des Entführten.
Die Ermittlungen wurden sehr ineffektiv und unter Verletzung der Gesetzgebung geführt.
Deswegen wandten sich die Juristen vom „Komitee gegen Folter“ am 3. Februar 2010 an den
Europäischen Menschengerichtshof und beantragten, dem Fall Priorität einzuräumen und ihn
eilig zu behandeln.
Am 2. April 2010 wurde Islam Umarpaschajew von seinen Entführern freigelassen. Er
fuhr darauf sofort mit seiner Mutter nach Nischnij Nowgorod, wo er sich medizinisch untersuchen und behandeln lassen wollte. Umarpaschajew berichtete den Juristen des Komitees gegen
Folter, dass er in einer Einheit des tschetschenischen Innenministeriums in einem kellerartigen
Raum an die Heizung angekettet worden wäre.
Die Entführer von Umarpaschajew wollten von ihm nichts, sie schlugen ihn nicht (außer
am ersten Tag), sie folterten ihn nicht, gaben ihm genug zu essen. Nur kämmen und rasieren
durfte er sich nicht.
I.I. Umarpaschajew berichtet, man habe ihn unter der Bedingung freigelassen, nach
seiner Freilassung eine Falschaussage zu machen. Er solle sagen, er habe in Dagestan Urlaub gemacht. Außerdem solle er seine Verwandten überreden, ihre Klage im Europäischen Menschengerichtshof zurückzunehmen.
Die Entführer übergaben I. Umarpaschajew nun den Mitarbeitern der Miliz von
Oktjabrskij. Diese wiederum brachten Islam in das Milizgebäude. Dorthin luden sie dessen Verwandte vor. Auch der Ermittlungsrichter des Ermittlungskomitees bei der Staatsanwaltschaft der
Russischen Föderation in der Tschetschenischen Republik war erschienen. Gemeinsam mit den
Milizionären überlegte er, wie man das Ermittlungsverfahren am besten wieder einstellen könne.
Anschließend übergab man Islam Umarpaschajew den Verwandten mit der Bedingung, dass er
am darauffolgenden Tag komme und die geforderten Erklärungen abgebe.
Im Gebiet Nischegorodskij angekommen, gab Islam Umarpaschajew eine Erklärung im
Ermittlungskomitee der Staatsanwaltschaft der Russischen Föderation im Gebiet Nischegorodskij ab. Hierin berichtete er über seine Verschleppung, die Haft in einer Struktur des Innenministeriums der Tschetschenischen Republik und die Umstände seiner Freilassung.
Unterdessen übten Angehörige der Miliz des Rayons Oktjabrskij in Grosnij Druck auf die
Verwandten von Islam Umarpaschajew aus. Man wollte dadurch dessen Rückkehr nach Grosnij
bewirken.
Doch es gibt genügend Gründe zu der Annahme, dass man auf Islam Umarpaschajew bei
einer Rückkehr in die Tschetschenische Republik Druck ausüben wird, um ihn zu zwingen, von
einer weiteren Mitwirkung in der Strafrechtssache Abstand zu nehmen. Eine Rückkehr wäre
zweifellos mit großen Gefahren für ihn und seine Angehörigen verbunden.
Trotzdem besteht das Ermittlungskomitee der Staatsanwaltschaft der Russischen
Föderation in der Tschetschenischen Republik darauf, dass Islam Umarpaschajew nach Grosnij
komme, um sich zu erklären.
III. Tschetschenen im Strafvollzug
Gefangene aus Tschetschenien im russischen Strafvollzug
Im Bericht von 2009 hatten wir geschrieben, dass die Lage von Tschetschenen in
russischen Gefängnissen besonders schwer ist. Hauptgrund ist, dass in den Rechtsschutzorganen
37
sehr viele Menschen tätig sind, die den Krieg in der Tschetschenischen Republik selbst
mitgemacht haben. Die meisten von ihnen bringen dann das, was sie dort anzuwenden gelernt
haben, mit. Sie sind selbst traumatisiert, voller Hass. Gefährlich sind sie vor allem für die, die sie
noch vor kurzem als Feinde vor Ort bekämpft hatten.
Hinzu kommt, dass die weitere Zunahme von Xenophoie und Tschetschenenfeindlichkeit
auch vor den in Haft sitzenden Tschetschenen nicht Halt macht.
Tschetschenen sind in besonderer Weise gefährdet, Opfer von fabrizierten Anklagen zu
werden.
Derartige Fälle sind sehr häufig. Hatte es während des Beginns der zweiten Welle der
kriegerischen Handlungen 1999-2000 eine offensichtliche Anordnung von oben gegeben,
Tschetschenen zu isolieren, so hat derzeit die weitere Aufspaltung des Rechts- und Ermittlungssystem ein derartiges Niveau erreicht, dass sich die Ermittlungsbehörden nur die schwächsten
Personengruppen aussuchen, denen sie dann Verbrechen unterschieben können. Und wenn es
Zeiten gibt, in denen es gilt, höhere Verbrechensaufklärung anzugeben, werden einfach die Beweismittel gefälscht.
Opfer dieser fabrizierten Anklagen sind häufig Migranten aus Zentralasien oder Bewohner
des Kaukasus. Unter diesen sind die Tschetschenen dem höchsten Risiko ausgesetzt.
So wandte sich im September 2010 Tamara Magmadowa an uns. Sie lebt mit ihrer Familie
in der Ortschaft Kratovo, Rayon Ramenski, Gebiet Moskau. Sie erzählte, dass sie zu Beginn des
Krieges ihre Kinder aus Tschetschenien weggebracht habe, um sie vor dem Krieg zu schützen.
Ihre erwachsenen Söhne und ihre Tochter hatten in Peru und Spanien gelebt. Als aber einer der
Söhne erkrankte, glaubte sie der Agitation von Kadyrow, dass man wieder zurückkehren könne,
brachte ihre Familie nach Russland und ging dann mit ihr nach Tschetschenien zurück. Am 19.
Januar kamen morgen bewaffnete Männer mit Hunden und durchsuchten das Haus. Erst im Lauf
der Hausdurchsuchung sagten sie, dass sie vom FSB seien. Doch einen Hausdurchsuchungsbefehl hatte ihnen niemand gezeigt. Den Vater hielten sie auf dem Boden fest. Die Bewohner
forderten sie auf, ihnen ihre Drogen und Waffen zu zeigen. Doch sie hatten weder Drogen noch
Waffen. Dann begannen die FSB-Männer, den Sohn von Tamara, Apti zu verhören. Dies fand
auf der zweiten Etage statt. Niemanden durfte während des Verhörs auf die Etage, wollten sie
doch keine Zeugen der Folter haben. Bei der Folter zogen sie ihm einen Plastiksack über den
Kopf, zogen ihn aus, und hießen ihn, auf dem kalten Boden auszuharren. Dann befragten sie
auch die Schwester von Apti, Ajschat. Nach der Hausdurchsuchung und den Verhören nahmen
sie Apti mit, verhafteten auch Ajschat. Sie nahmen den Computer, alle Dokumente der Kinder,
die Mobiltelefone und andere persönliche Sachen, sowie 4000 Euro mit. Apti hatte diesen Tag
auf die Geburtsstation fahren wollen, wo seine Frau Zwillinge auf die Welt gebracht hatte.
Bedingt durch den Stress stieg bei Sultan Magmadow der Zuckergehalt im Blut, er fiel in
Ohnmacht. Die Frau von Apti konnte stressbedingt die Kinder nicht stillen und die älteren
Kinder sind nervlich durcheinander.
Am darauffolgenden Tag teilte der FSB-Ermittler Tamara mit, dass Apti seine Teilnahme
an einer illegalen bewaffneten Formierung zugegeben habe. Tamara und der Anwalt sind sich
sicher, dass er dies nur unter Druck gemacht haben kann.
Ajschat und Apti wird vorgeworfen, im Ausland Terroristen zur Vorbereitung eines Terroranschlages angeworben zu haben. Ebenfalls mitangeklagt ist die zum Islam übergetretene
Litauerin Egle Kusajte. Ajschat und Apti hatten mit ihr über das Internet kommuniziert. Diese
hatten sie nach Russland eingeladen.
Der Anwalt von Magmadows, Mussa Chadisow, mit dem wir regelmäßig zusammenarbeiten,
kam zu dem Schluß, dass es keine Beweise eines geplanten Verbrechens gäbe, das Ajschat, Apti
und Egle angeblich vorbereiten wollten.
38
Der Fall ging an das Gericht. Heute verzeiht sich Tamara ihre Gutgläubigkeit, die sie zu einer
Rückholung der Kinder nach Russland hatte verleiten lassen.
Wir haben oft mit Fällen zu tun, in denen Bürger von Tschetschenien Verbrechen
beschuldigt werden, für die sie schon einmal verurteilt und anschließend amnestiert
worden waren. Es gibt sogar Fälle, in denen jemand für etwas zur Verantwortung gezogen wird,
was sich vor mehreren Jahren ereignet hatte. So wurden beispielsweise 2009 die 19-jährigen
Sajd-Chasan Magamadaow und Arbi Magamadow zur Verantwortung gezogen, weil sie in einer
illegalen bewaffneten Vereinigung gewesen sein sollen (Artikel 33.5 und 208 des StGB der RF).
2004 habe Arbi „zwei mal illegalen Formierungen“ geholfen. Einmal hatten diese ihn gezwungen, Snickers zu kaufen, ein Roulett und noch etwas anderes im Wert von insgesamt 300
Rubel (10 Dollar). Ein anderes Mal sollen sie ihn zum Fluss geschickt haben, wo er Wasser habe
holen sollen. Wie hätte er sich aber auch als Junge weigern können, den Befehl der bewaffneten
Aufständischen auszuführen, die in sein Haus eingedrungen waren. Doch das interessierte
niemanden. Insgesamt machte man ihnen 9 derartige Episoden zum Vorwurf.
Zwei Beschuldigte waren am 1. Februar 2010 verhaftet worden. Man hatte ihnen verboten,
ihren Verwandten von der Festnahme zu berichten. Erst am 10. Februar fand unser Anwalt
heraus, dass die Magamadows bei den Ermittlungsbehörden des Inneren festgehalten werden.
Bevor der Anwalt sein Mandat angetreten hatte, hatte Sajd-Chasan alle ihm vorgeworfenen 9
Episoden gestanden, ja sogar mitgeteilt, dass auch Arbi dabei gewesen sei.
Der Ermittlungsrichter versprach dem Anwalt, 7 Episoden wieder zu streichen, wenn Arbi im
Gegenzug die anderen beiden gestehe. Arbi tat dies, trotzdem tauchten wieder alle 9 Episoden in
der Anklageschrift auf. Sajd-Chasan und Arbi drohte eine Gefängnisstrafe. Glücklicherweise
konnten sie vor Gericht nachweisen, dass sie zu dem fraglichen Zeitpunkt noch keine 14 Jahre
alt gewesen sind. Deswegen gilt für sie die Verjährungsfrist von fünf Jahren – und die seien
schon vorbei. Noch im Gerichtssaal wurden sie auf freien Fuß gesetzt.
Während der Verbüßung ihrer Haftzeit droht Tschetschenen ständig Verfolgung, sowohl durch die Angestellten des Strafvollzuges als auch durch die anderen Gefangenen.
Beiden Gruppen sind xenophobe Emotionen nicht fremd. Schläge, grundlose Bestrafungen,
eine Unterbringung in einem Gebäude für Tuberkulosekranke, all das droht Tschetschenen in der
Haft. Immer wieder hören wir derartige Beschwerden.
Gleichzeitig reagieren wir auf derartige Beschwerden mit größter Vorsicht, kann doch unser
Handeln die Lage der betroffenen Gefangenen verschlimmern. So wagen wir vorsichtige
Telefonate in die Kolonie, wissen, dass mitunter ein Besuch einer sog. „unabhängigen gesellschaftlichen Kommission“ helfen kann. Mitunter kommt es vor, dass die Verwaltung im
Gegenzug für bessere Haftbedingungen vom Gefangenen ein Papier unterzeichnen läßt, in dem
dieser erklärt, dass er mit allem zufrieden sei. Dies versetzt die Menschenrechtler in eine
schwierige Situation. Ein derartiges unterzeichnetes Papier nimmt ihnen die Möglichkeit, sich in
Zukunft für den Betreffenden einzusetzen. So riefen im Frühjahr 2010 Gefangene der Kolonie
Kemerowo von einem Mobiltelefon bei Swetlana Gannuschkina an und teilten ihr mit, dass alle
Tschetschenen wegen eines geplanten Umzuges vorübergehend in geschlossenen Zellen
untergebracht würden. Normalerweise ist die Unterbringung in geschlossenen Zellen in
Strafkolonien eine Strafe. Noch in der gleichen Nacht fand Gannuschkina die Telefon- und
Faxnummern der Strafkolonie und sandte per Fax eine entsprechende Anfrage an die Strafkolonie. So gelang es, diese Kollektivstrafe abzuwenden. Doch gleichzeitig hatten die Gefangenen eine Erklärung unterschreiben müssen, dass sie sich bei niemandem beschweren
werden. Deswegen konnten wir den Gefangenen auch nicht mehr helfen, als sie sich ein zweites
Mal in einer ähnlichen Angelegenheit an uns wandten.
39
Doch häufig kommt man auch unter Aufwendung aller Kräfte nicht zum Ziel. Ein Beispiel
hierzu ist die Situation im Gefängnis von Zubajr Zubajrajew. Über ihn hatten wir schon 2009 in
unserem letzten Bericht geschrieben. Einer unserer Kolleginnen, mit denen die Verwandten von
Zubajrajew regelmäßig korrespondieren, teilt folgendes mit:
„Zur Zeit hält sich Zubajr im Gefängnis UP-288-Т der Stadt Minusinsk, Gebiet Krasnojarsk,
auf. Er kann sich nicht selbstständig fortbewegen, sein Rückgrat ist gebrochen, im Winter hatte
er einen Suizid-Versuch hinter sich, weil er die Misshandlungen nicht mehr länger ertragen
wollte. Sein Gesundheitszustand ist sehr schlecht. Er hat häufig Kopfschmerzen, auf beiden
Augen sieht er schlecht, nach Angaben von Zubajrajew fehlen ihm, bedingt durch die Folter in
Wolgograd, zwei Zähne. Er hat linksseitig im Gesicht eine Taubheit. Dies bedingt Artikulationsprobleme. Auf der linken Hand lassen sich zwei Finger nicht bewegen, die Finger sind
insgesamt nicht mehr voll funktionsfähig. In der Hand hat er Schmerzen; in der rechten Ohrmuschel ist eine Blutung zu beobachten; die Schmerzen im Rücken sind vor allem im Halsbereich und im Rückgrat. Unter der Haut hat sich an der linken Rippenseite eine Geschwulst
gebildet. Berührungen des Nackens können so schmerzhaft sein, dass er hierbei mitunter das
Bewußtsein verliert. Er hat weiter Schmerzen in den Kniegelenken. Das linke Bein spürt nicht
die physische Belastung zwischen Knie und Ferse. Er hat ein Magengeschwür am 12-FingerDarm. Bewegen kann er sich nur mit Krücken oder einem Stock. Nach einem Infarkt hat er
Schmerzen in der Herzgegend. Er leidet an Nierenschmerzen, in sitzender Position kann sich Z.I.
Zubajrajew nur halten, wenn er die linke Hand aufstützen kann. Hierfür nutzt er eine Krücke.
Fehlt ihm die Stütze, hat er starke Schmerzen im Rücken und verliert das Bewußtsein.
Am 4. Juni 2010 brachte man ihn in eine Heilanstalt. Dies war nach einer schweren Mißhandlung durch das Personal der Isolationsanstalt Taschtyp notwendig geworden.
Anschließend häuften sich Kopfschmerzen und Epilepsie. Solange sich keine Kommission
von der Lage von vor Ort ein Bild gemacht habe, werde er auch keine Erklärung schreiben, wo
er um Einleitung eines Strafverfahrens bitte. Zubajrajew zeigt die negative, unmenschliche
Haltung der Angestellten der Isolationseinrichtung. Dort mache man sich nicht einmal die Mühe
zu verbergen, dass man sich ihm gegenüber so verhalte, weil er Tschetschene sei.
Man versuchte auch, ihn zu zwingen, die Klage beim Europäischen Menschengerichtshof
zurückzuziehen. Doch Zubajr blieb beharrlich.
Eine weitere typische Misshandlung läßt sich auf den Juni 2010 datieren. So berichtete uns
eine Bewohnerin von Grosnij, Madina Sultanowna Garsiewa, dass sie sehr über den Gesundheitszustand ihres Mannes, Adam Magomedowitsch Garsiew, geb. 1979, beunruhigt sei. Dieser
sitze eine Strafe in der Anstalt IK-9 in der Ortschaft Parfino, Gebiet Nowgorod, ab. Wie sie
erfahren habe, sei das Personal der Kolonie darüber erbost, dass A.M Garsiew so viel Wert auf
seine menschliche Würde lege. Dafür werde er systematisch verfolgt. Oft dienen kleine oder
auch nur erdachte Anlässe zu einer Strafe in der Strafzelle oder der Baracke mit verschärftem
Regime.
Aus Verzweiflung über die Situation hatte sich A.M. Garsiew eines Tages in die Venen
geschnitten.
Unsere Organisation wandte sich an den Direktor des Strafvollzuges und bat ihn, sich
zeitnah in die Sache einzumischen und dem Gefangenen adäquate Hilfe zukommen zu lassen.
Außerdem müssten die Verfolgungen durch das Pesonal eingestellt werden. Kurzfristig hatten
wir mit unserer Intervention Erfolg, doch schon wenig später wurde Garsiew erneut vom
Personal erniedrigt.
In Tschetschenien ist man gegenüber kranken Häftlingen nicht weniger grausam als in
anderen Regionen Russlands. In unserem Bericht 2009 beschreiben wir das tragische Schicksal
von Letschi Dschanaraliew, der bei seiner Verhaftung schwer mit Schüssen verletzt worden ist.
Er kann sich nicht mehr alleine fortbewegen, ist Invalide geworden. Doch trotz eines Gutachtens
einer ärztlichen Kommission und den zahlreichen Bittstellungen von Menschenrechtlern wird
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Dschanaraliew weiterhin in der Strafkolonie festgehalten. Die Zustände dort sind ihm bei seinem
Gesundheitszustand nicht zumutbar. Und dies ist nicht der einzige derartige Fall.
Imali Visarchadschiewitsch Ajubow, geb. 1978, Bewohner des Dorfes Ojschar, ist mit Entscheid des Obersten Gerichtes der Tschetschenischen Republik vom 10. Juli 2006 zu 16 Jahren
Freiheitsentzug verurteilt worden. Er wurde in die Tuberkulose-Zone überstellt (OIO-92/4 UIN
MJu RF in Dagestan). Dort war er seit 2007. Ajubow war in einem sehr schweren Zustand und
im September 2008 hatte eine Ärztekommission entschieden, dass Ajubow und noch weitere
fünf Verurteilte in einem gesundheitlich bedenklichen Zustand seien und deswegen, so wolle es
das Gesetz, freizulassen seien. Daraufhin wandte sich die Leitung der Strafkolonie am 28.
September 2007 an das Gericht des Rayons von Machatschkala und bat um eine Freilassung von
Ajubow.
Doch am 31. Oktober 2007 verweigerte das Gericht die Freilassung von Ajubow. Als Grund
gab man an, dass die Verwandten nicht die vom Gericht geforderte Summe von 100 Tausend
Dollar gebracht hätten.
Am 11. April 2009 rief ein Unbekannter bei „Memorial“ an und sagte, Imali Ajubow sei in
der Kolonie gestorben. Ein Mitarbeiter des Menschenrechtszentrums fuhr zu den Verwandten in
die Ortschaft Ojschar zur Beerdigung. Dort erfuhr er, dass Ajubow an einer schweren Krankheit
gestorben sei. Man hatte versucht, ihn vorher freizubekommen, und er so in Ruhe sterben könne,
zu Hause. Die zuletzt geforderte Summe betrug 750 Tausend Rubel. Die Verwandten hatten
jedoch nur die Hälfte aufbringen können.
Eine Form der Schikanen ist das Verbot auf die Ausübung der religiösen Pflichten der
Moslems. Am 15. Juni 2010 erhielten wir einen Anruf von einem Verurteilten aus dem Gebiet
Archangelsk. Dieser hatte im Namen aller inhaftierten Moslems angerufen. Bis vor kurzem noch
hatten die Gefangenen problemlos ihre Gebete sprechen und andere, von ihrem Glauben
erforderte Rituale durchführen können. Einen Monat vor diesem Anruf war Anatolij
Dmitriewitsch Kilanow zum neuen Chef der Kolonie ernannt worden. Nach Angaben der
Verurteilten war Kilanow an seinem bisherigen Einsatzort in Orenburg als stellvertretender Chef
des Strafvollzuges als Gegner des Islam bekannt. In Orenburg habe er von den Gefangenen den
Koran eingesammelt.
Und an seinem neuen Arbeitsplatz schien er nicht weniger rigoros vorzugehen. So habe er,
berichten Verurteilte, allen befohlen, Schweinefleisch zu essen, das Beten verboten,
Gebetsteppiche konfisziert.
Hier gilt anzumerken, dass bei der Strafvollzugsbehörde im Gebiet Archangelsk eine
Konferenz am 1. Juni 2010 abgehalten wurde zu Fragen der Glaubensausübung an Haftorten.
Was auf dieser Konferenz gesprochen wurde, steht in klarem Widerspruch zu dem Handeln des
Leiters der Strafkolonie. Verurteilte baten, man möge ihnen in dieser Frage helfen. Und unser
Schreiben zeigte Wirkung. Die Gefangenen durften beten. So ein Ergebnis unseres Handelns
erleben wir leider nur selten, und Klagen über Schikane an Moslems erhalten wir oft.
Wenn die Haftzeit ihrem Ende zugeht, geben sich die Mitarbeiter von Kolonien und Gefängnissen jede erdenkliche Mühe, um die Freilassung von Tschetschenen zu verhindern.
Dafür erfinden sie die seltsamsten Beschuldigungen oder provozieren diese mit erniedrigendem Verhalten zum Übertreten der Vorschriften. So wurde im Gebiet Tambow
Schamil Chatajew, von dem wir schon mehrfach berichtet hatten, bereits zum dritten Mal
verurteilt. Seine letzte Verurteilung war im Sommer 2010. Er soll einen Wächter geschlagen
haben. Nach Angaben des Anwaltes ist Schamil vollständig ausgezehrt. Er ist schwer krank. Und
so ist auch offensichtlich, dass die Beschuldigung jeglicher Grundlage entbehrt. Auch andere
Gefangene können bezeugen, dass Schamil vom Wachpersonal wiederholt misshandelt worden
ist. Die Generalstaatsanwaltschaft hat unsere Schreiben nicht beantwortet, in denen wir uns
darüber beschwert hatten, dass Schamil lange der Kontakt mit seinem Anwalt verwehrt wurde.
Auch das Gericht hat den Fall nicht objektiv behandelt, ließ nur Mitarbeiter der Strafkolonie als
41
Zeugen befragen, nicht Gefangene oder ehemalige Gefangene, die ein Zeugnis für Chatajew
abgegeben hätten. Deswegen klagten wir beim Europäischen Menschengerichtshof. Ob Chatajew
bis zur Aufnahme dieses Verfahrens leben wird, ist fraglich.
Tschetschenien, die aus dem zurückgekehrt sind, werden nicht nur verfolgt, weil die
Umgebung von Kadyrow Geld, das sich abnehmen läßt, vermutet. Es gibt noch einen
weiteren Grund für deren Verfolgung: die tschetschenischen Machthaber fordern die Rückkehr
aller, die Tschetschenien verlassen haben, nach Tschetschenien. Ein Instrument in dieser
Bemühung ist die Verfolgung von Angehörigen von nicht Rückkehrwilligen. So war kürzlich ein
junger Mann in dem Glauben, eine Rückkehr nach Tschetschenien sei ungefährlich, nach
Tschetschenien zurückgekehrt, wo er heiraten wollte. Nur wenige Tage nach seiner Rückkehr
hatte man ihn festgenommen, mißhandelt und mit Strom gefoltert. Diese Mißhandlungen fanden
auch auf dem Gebiet des Bataillons „Jug“ (Süden) statt, das Kadyrow unterstellt ist. Man fragte
ihn über tschetschenische Flüchtlinge in Europa aus, wollte wissen, was wer von ihnen tue,
wessen Verwandtschaft Pakete erhalte, was man mitbringe, wenn man aus Europa komme. Die
Verhöre fanden in unterschiedlichen Strukturen der Sicherheitskräfte statt. Man ließ ihn erst frei,
als seine Verwandten ein Lösegeld gebracht hatten. Niemand war bereit, den Vorfall bei den
offiziellen Strukturen zu melden. Man bat, in dem Bericht den Namen des Betreffenden nicht zu
erwähnen.
In der Tschetschenischen Republik gibt es illegale Hafatorte. Hiervon gibt es mehrere
Zeugnisse. Unter anderem hatte Umar Ismailow davon berichtet. Derzeit läuft in Wien der
Prozess wegen des Mordes an ihm.
Vier Monate war Salich Masajew in einem derartigen Haftort festgehalten worden. Nach
seiner Freilassung hatte er der Staatsanwaltschaft über die ungesetzliche Haft berichtet. Im
August 2008 wurde er erneut entführt. Seitdem ist er spurlos verschwunden. Die Behörden
Tschetscheniens leugnen jedoch die Existenz derartiger Geheimgefängnisse, und die Bundesstrukturen sehen einfach weg.
Über Alichan Markujew, der in einem derartigen Gefängnis inhaftiert war und den Mord an
ihm, war bereits in der Einführung die Rede.
Hier ein weiteres ähnliches Beispiel: Am 19. Juli 2010 wurden im tschetschenischen
Fernsehen die Leichen von zwei „Aufständischen“ gezeigt, die angeblich am 13. Juli 2010 im
Wald des Rayon Wedeno der Tschetschenischen Republik getötet worden sein sollen. Einige
Medien berichteten an diesem Tag über die Liquidierung von zwei Aufständischen in den
Bergen Tschetscheniens 13. Die Verwandten konnten die Getöteten identifizieren. Und es stellte
sich heraus, dass beide bereits ein Jahr zuvor entführt worden waren. Einer von ihnen, Chusejn
Isajewitsch Eskiew, geb. 1981, stammt aus dem Dorf Gechi, Rayon Urus-Martan und lebte in
Tschetschenien. Er war am 2. November 2009 entführt worden14.
Im September 2009 hatten Mitarbeiter der Miliz des Rayons Zawodskij (Grosnij) Chusein
aus seinem Haus in die Ortschaft Zentoroj entführt, die Heimatortschaft von Ramsan Kadyrow,
wo sich mehreren Zeugenaussagen zufolge eines der illegalen Gefängnisse befindet. Am zweiten
Tag hatte man Chusej freigelassen. Er berichtet, dass er beim Verhör mit Strom gefoltert worden
sei.
Am 2. November 2009 riefen Chusejn Personen an, die ihn im September entführt hatten.
Der Gesprächspartner wollte sich mit ihm treffen und gab als Treffpunkt den Markt „Sabita“ von
Grosnij an. Sein Wagen sei ein silbern-gelber VAZ-2110. Er sagte, er wolle ihm einige Fragen
stellen, dann könne er wieder gehen.
13
14
http://www.interfax-russia.ru/South/main.asp?id=158812&p=4
http://www.memo.ru/hr/hotpoints/caucas1/msg/2009/11/m187301.htm
42
Chusejn berichtete seinen Freunden und Verwandten von dem geplanten Treffen und
machte sich auf den Weg. Am Markt ging er auf diesen Wagen zu. Dort bat man ihn, sich in den
Wagen zu setzen und fuhr los. Seitdem fehlt von ihm jede Spur.
Nach der Entführung erhielten die Angehörigen einen anonymen Anruf. Der Anrufer sagte,
Chusejn befinde sich in dem Dorf Kurtschala, sei in der Gewalt von Sicherheitskräften. Über die
Einheit der Sicherheitskräfte machte er keine Angaben. Die Mutter von Eskiew wandte sich an
die Miliz des Rayon Leninsk und das Ermittlungskomitee bei der Staatsanwaltschaft. Es wurde
ein Verfahren wegen Entführung eingeleitet. Zwar konnten die Ermittler mehrere Materialien
sammeln, vom Entführten fehlt jedoch weiter jede Spur.
Zum Zeitpunkt der Entführung hatte Chusejn weder Schrammen noch Kratzer auf seinem
Körper. Er trug zivile Kleidung, keinen Bart. Bei der im Juli 2010 Fernsehen gezeigten Leiche
fehlten der kleine und der vierte Finger an der rechten Hand und der kleine Finger auf der linken
Hand. Die Wunden waren an der Stelle bereits vernarbt. Möglicherweise hatte man Eskiew bei
der Folter die Finger abgetrennt. Seine Haare und sein Bart waren lang. All diese Umstände
sprechen dafür, dass man Chusejn nach der Entführung lange und grausam gefoltert hatte.
Früher hatte Chusejn den Nachnamen Amtajew. Eskiew ist der Name seiner Mutter.
Chusejn hatte sich für diesen Namen entschieden, weil er einen Schnitt mit der Vergangenheit
machen wollte. Er war bei einer illegalen, bewaffneten Formierung gewesen, die gegen die
Bundestruppen gekämpft hatte. 2001 hatten ihn zentrale Sicherheitskräfte festgenommen. Von
einem Gericht in Astrachan wurde er zu 4,5 Jahren Freiheitsentzug verurteilt. Nach 3,5 Jahren
war er vorzeitig entlassen worden. Seitdem wurde er mehrfach verhaftet. So war er einmal für
einen Monat bei der Miliz des Rayons Zawodskij inhaftiert. Gegen ein Lösegeld von 1000 Dollar
und einen goldenen Ring war er freigelassen worden. Danach hatten die Sicherheitskräfte ihn
noch mehrfach aufgesucht. Er mietete einen Wagen, verdiente sich durch Taxifahrten Geld. Ein
Haus hatte Chusejn nicht, er wohnte zur Miete.
Den Namen des zweiten Getöteten kennen wir nicht. Soviel wir wissen, stammt er aus dem
Dorf Schalaschi, Rayon Urus-Martan, hatte in dem Dorf Atschcha-Martan gelebt. Vor ungefähr
acht Monaten war er entführt worden. Näheres über die Entführung müssten die Untersuchungsrichter der Staatsanwswaltschaft wissen.
Am 21. Juli wurden die Leichen an die Verwandten übergeben. Man verbot ihnen eine
traditionelle Beerdigung.
Typisch war, was uns Tamara Adamowna Dzejtova am 26. Juli 2010 mitteilte. Am 7. Juli
2009 war ihr Sohn, Chamsat Achmetowitsch Dzejtow (geb. 1990), entführt worden. Die
Begleitumstände der Entführung, wie sie in der anliegenden Erklärung beschrieben sind, zeigen
deutlich, dass Sicherheitskräfte an der Entführung mitgewirkt haben. Dafür spricht auch der
Unwille der Milizionäre des Rayons Sernowodsk, dievon der Mutter gemachte
Entführungsanzeige entgegenzunehmen und die Drohungen, der Familie die Sozialzahlungen zu
entziehen, wenn sie die Anzeige aufrecht erhalte und weitere Details öffentlich mache.
Besonders bemerkenswert ist die Erklärung des Leiters der Fahndung der Miliz des Rayons
Atschcha Martanow, T. Mamakajew. Dieser hatte offen gesagt, dass sich Chasat im Dorf von
Kadyrow, Chosi-Jurt (Zentoroj) aufhalte und entlassen werde, sobald die Eltern die Schwester
von Chamsat, Zulichan, „herausrückten“. Die Schwester war 2008 für eine Eheschließung mit
dem Aufständischen Asamat Machauri entführt worden. Dieser war wenig später getötet worden
(Die Verwandten von Machauri berichten, Zulichan habe man kurz nach der Entführung in das
Ausland gebracht). Die Äußerung von T. Mamkajew ist zwar zynisch, ihr ist aber Glauben zu
schenken. Ähnliches war bereits 2008 gesagt worden, als man Chamsat das erste Mal verhaftet
hatte.
Die Verwandten drängten auf die Einleitung eines Strafverfahrens wegen der Entführung von
Ch.A. Dzejtow. Doch sie warteten vergeblich. Auch der Aufenthaltsort des Entführten konnte
43
nicht benannt werden. Der Angabe von T. Makajew, dieser befinde sich in Zentoroj, war man
aus nachvollziehbaren Gründen nichte nachgegangen. Es ist ganz offensichtlich, dass die
Staatsanwaltschaft von Tschetschenien nicht in der Lage ist, selbstständig Fälle aufzudecken,
wenn die Sicherheitskräfte in diese verwickelt sind.
44
Hier das Schreiben der Mutter von Chamsat Dzejtov (im russischen Original und deutscher
Übersetzung):
Seite 2
45
Tamara Adamowna Dzejtowa
Region Atschcha-Martanow
Dorf Bamut, ul. Mira 8
(faktische Adresse:
St. Assinowskaja
Ul. Kadyrowa 85)
An das Menschenrechtszentrum „Memorial“
46
Erklärung
Am 7. Juli 2009 wurde mein Sohn, Chamsat Achmetowitsch, geb. 1990, kurz nach
14:00 Uhr entführt. An diesem Tag hatte ich Chamsat geben, für mich zur Arbeit in das
Kornlager (st. Assinowskaja) zu gehen, da ich meine Rente abholen wollte. Genau um 14:00
Uhr rief mich mein Sohn an und sagte, dass er zum Essen nach Hause käme, er fühle sich
nicht wohl. Ich bat ihn, zur Arbeit zurückzukehren. Chamsat kaufte sich eine Flasche Pepsi,
Samen und ging wieder in das Körnerlager. Doch dort ist er nicht angekommen. Um 15:00
Uhr war ich beim Körnerlager, konnte dort meinen Sohn jedoch nicht antreffen. Ich rief ihn
auf seinem Handy an. Aber dieses war ausgeschaltet. Wir schlugen Alarm, war doch mein
Sohn auf Bewährung frei (Artikel 208, Absatz 2). All das war geschehen wegen meiner
Tochter Zulichan (geb. 1987). Diese war mit Machauri Asamat verheiratet. Als sie ihn
heiratete, war Asamat zu Hause. Davon, dass ihr Mann in den Wald gegangen sei (zu den
Aufständischen, d.Übers.) hatte sie erst von der Miliz von Sernowodsk erfahren. Diese hatten
sie einbestellt. Nachdem sie erfahren hatte, dass sich Machauri Asamat den Aufständischen
angeschlossen hatte, nahm sie ihre Tochter und ging nach Hause. Meine Tochter lebte genau
ein Jahr und drei Monate mit uns. Sie hatte den 5. Kurs der historischen Fakultät der
staatlichen Universität Tschetscheniens besucht. Am 22. September 2008, als sie sich in die
Stadt zum Unterricht aufgemacht hatte, entführte Asamat meine Tochter. Zwei Wochen später
kam ein Verwandter von Asamat zu uns und sagte, dass Zulichan zu den Verwandten des
Mannes ins Ausland gescchickt worden sei. Einen Monat später tauchten Sicherheitskräfte bei
uns auf, wollten Chamsat befragen. Als mein Mann fragte, was sie denn von diesem wollten,
sagten sie, sie müssten ihm eine Frage stellen. Darauf fuhr mein Mann mit ihnen in die Stadt,
wo Chamsat die juristische Fakultät der Filiale der Moskauer Universität besuchte. Man nahm
beide zur Milizstation ORB-2. Dort verbrachten Vater und Sohn eine Nacht zusammen. Am
Abend des zweiten Tages ungefähr um 21:00 Uhr brachte man meinen Mann an den Rand der
Ortschaft St. Assinowskaja und ließ ihn frei. Chamsat, so sagte man ihm, werde zur Miliz des
Rayons Zawodskij gebracht. Am dritten Tag gab man meinem Sohn einen Anwalt, Naim
Kasiew. Als wir zu unserem Sohn fuhren, sagte der Anwalt folgendes zu uns: „Wir wollten
den Jungen heute entlassen, da er nichts weiss und unschuldig ist, aber sein Schwiegersohn
und seine Schwester sind in Freiheit, deswegen wird er bei uns bleiben müssen“. Darauf
erwiderte ich, mein Sohn trage laut Gesetz keine Verantwortung für die Handlung des
Schwiegersohnes. Doch das interessierte ihn nicht. So verbrachte Chamsat noch zehn weiter
Tage bei der Miliz von Zawodsk. Anschließend schickte man ihn in die Isolierzellen von
Grosnij. Dort verbrachte er einen Monat und 10 Tage. Am 20. Januar 2009 wurde Chamsat
vom Gericht Staropromyslow auf der Grundlage von Artikel 208, Absatz 2 zu einem Jahr
verurteilt.
Am 7. des Monats war mein Sohn also erneut entführt worden.
Am 7. Juli war er entführt worden und drei Tage nach der Entführung von Chamsat, am
10. Juli, wurde Machauri Asamat getötet.
Die Personen, die meinen Sohn das zweite Mal entführt hatten, waren mit zwei Wagen
gekommen. Einer davon war ein „Schiguli“ VAZ 2107 mit den staatlichen Kennzeichen
„A734MS 95. Region“. Der Fahrer des zweiten Wagens war ein Mitarbeiter der Miliz von
Sernowodsk und nannte sich Kasbek. Doch er leugnet seine Beteiligung an der Entführung.
Mir hatte er es so gesagt: „Ich war bei der Entführung deines Sohnes nicht zugegen. Nur mein
Auto war dort“. Der Leiter der Fahnung von Atschcha-Martanow, Taus Mamakajew, hatte
uns mehrfach gesagt, dass man Chamsat wegen des Schwiegersohnes entführt habe. Leute aus
Chosi-Jurt hätten ihn entführt. Er wisse, dass mein Sohn unschuldig sei, dass man ihn nicht
foltere, dass er satt sei, Essen und Schuhe habe. Zwei oder drei Mal am Tag frage er nach, wer
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den Jungen entführt und hergebracht habe und sage, man solle ihn doch freilassen. Doch man
wird ihn erst freilassen, wenn wir ihnen unsere Tochter ausgeliefert haben. So hatte es auch
der Ermittler der Staatsanwaltschaft von Atschcha-Martanow, Alsbek Machauri, gesagt:
„Achmad, wir können herausfinden, wo dein Sohn ist, wer ihn entführt hat. Doch die geben
ihn nicht heraus, wenn du ihnen nicht deine Tochter gibst“. Und er war für die Ermittlungen
in dem Strafverfahren verantwortlich, das wegen der Entführung meines Sohnes eingeleitet
worden ist. Doch wie ich schon gesagt hatte: meine Tochter wurde außer Landes gebracht und
soviel ich weiß, müssen weder meine Tochter noch mein Sohn Verantwortung für das tragen,
was ein Mensch gemacht hat, der sich nicht mehr unter den Lebenden befindet.
Als wir mit der Entführungsanzeige bei der Miliz des Rayon Sernowodsk aufgetaucht
waren, hatten die Milizionäre Muslim, Aslan und Kasbek drei Tage lang versucht, uns davon
abzuhalten. Sie sagten, mein Sohn sei in den Wald (den Aufständischen, Anm.d.Ü.) gegangen
und wenn ich eine Erklärung schreiben werde, würde man mir und meiner Familie die Rente
und die Sozialzahlungen entziehen. Dann wandte ich mich an die Staatsanwaltschaft und den
FSB des Rayons Atschcha-Martanow.
Mein Sohn führte am Tag der Entführung ein Telefon „Nokia 6300“ bei sich. Ich bat
den FSB-Beamten Sergej herauszufinden, wo sich das Telefon meines Sohnes befinde. Die
Leute, die ihn entführt haben, behaupten ja, er sei in den Wald gegangen. Am 7. Juli 2009
hatte man meinen Sohn entführt, am 24. Juli rief mich Sergej an und sagte, das Telefon von
Chasamt sei am 12., 13. und 14. Juli angeschaltet gewesen. Es habe sich im Rayon AtschchaMartanow befunden. Derzeit sei es im Rayon Sunscha. Als ich dem Chef der Fahndung
hierüber berichtete, bat mich dieser, niemandem davon zu erzählen.
Derzeit ist der Aufenthaltsort meines Sohnes unbekannt. Aber ich habe große Angst um
sein Leben. Sollte er sich etwas zuschulden kommen lassen haben, soll man ihm das
nachweisen und ihn auf gesetzlicher Grundlage verurteilen.
In der Staatsanwaltschaft von Atschcha-Martanow ist ein Strafverfahren unter Nr. 85012
auf der Grundlage von Absatz 1 des Artikels 105 StGB der Russischen Föderation eingeleitet
worden. Doch alles ohne Ergebnisse. Der Aufenthaltsort meines Sohnes bleibt unbekannt.
17.6.2009
(Unterschrift)
Tamara Dzejtowa
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Die tschetschenischen Machtstrukturen können auch in anderen Regionen Russlands
agieren. Ein klares Beispiel hierfür ist die Verhaftung von Arbi Chatschukajew am 5.
November 2009. Ungefähr um 17:00 Uhr diesen Tages riefen mich tschetschenische Kollegen
an und teilten mir mit, in Moskau sei der Leiter der Nichtregierungsorganisation „Recht“,
Arbi Salambekowitsch Chatschukajew, verhaftet worden. Dies bestätigte dieser wenig später
selbst telefonisch. Unbekannte Angehörige der tschetschenischen Machtstrukturen hätten ihn
unweit des Hauses, wo er eine Wohnung miete, festgenommen. Während des Telefonats hatte
man ihn schon zum Flughafen „Vnukovo“ gebracht, um ihn nach Grosnij zu schicken.
Ich stellte sofort einen Kontakt zur Flughafenmilizu her und teilte ihm mit, dass A.S.
Chatschukajew derzeit gegen seinen Willen von Moskau in die Tschetschenische Republik
gebracht werde.
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Er befinde sich gerade mit seinem Wachpersonal auf dem Flughafen „Vnukovo“, wo
man auf den Flug nach Grosnij warte. Erst nachdem das Fax mit dem Briefkopf unserer
Organisation und meiner Unterschrift eingegangen war, wurde dort gehandelt.
Ich hatte gebeten, die Begleitung von Chatschukajew aufzufordern, die Dokumente zu
zeigen, die sie zu dieser Handlung berechtigten. Sollten die erforderlichen Dokumente nicht
vorliegen, seien diese ungesetzlichen Handlungen zu unterbinden.
Sollten die Verhaftung und die Verbringung nach Grosnij im Rahmen der Gesetze sein,
so möge man diese gesetzlichen Grundlagen mitteilen. Der Festgenommene müsse mit diesen
bekanntgemacht werdsen. Er habe außerdem das Recht, mit den Verwandten in Kontakt zu
treten, um diesen die notwendigen Informationen zukommen zu lassen.
Als die Milizionäre Arbi und seine Entführer entdeckt hatten, sassen diese bereits im
Flugzeug. Die Überprüfung der Dokumente ergab, dass sich Chatschukajew in den Händen von
Mitarbeitern der Miliz des Rayons Nadterechnij (Tschetschenische Republik) befindet. Dort
wollte man ihn auch hinbringen.
Die Mitarbeiter der Flughafenmiliz von „Vnukovo“ notierten sich Namen und Paßnummern ihrer Kollegen, äußerten ihr Mißfallen über deren eigenmächtiges Handeln: die tschetschenischen Angehörigen der Organe des Inneren hätten ihre Kollegen auf jeden Fall informieren müssen, dass sie auf deren Territorium tätig sind. Trotzdem ließ sich die Verbringung
von Arbi nach Grosnij nicht verhindern. Und dies, obwohl die tschetschenischen Milizionäre
keinen Haftbefehl und keine Unterlagen über die Rechtmäßigkeit des Transportes von
Chatschukajew nach Grosnij vorlegen konnten und dieser erklärt hatte, er werde gegen seinen
Willen geflogen. Sofort nach dem Abflug schickte ich ein Fax an die Staatsanwaltschaft der
Tschetschenischen Republik und die Generalstaatsansaltschaft der Russischen Föderation und
forderte, beim weiteren Vorgehen rechtsstaatliche Prinzipien walten zu lassen.
In Grosnij angekommen wurde er zur Miliz von Nadteretschnij gebracht. Der Milizchef
Schamil Kusajew nahm ihn in Empfang und bat auch einen FSB-Beamten, am Verhör teilzunehmen. Dieser hatte Arbi mit den Worten begrüßt: „Das ganze Internet ist schon voll von
diesem Herrn hier“. Arbi stellte man eine Reihe von Fragen über seinen Bruder, der im Alter von
14 Jahren nach Litauen ausgereist war und den er seitdem nicht mehr gesehen hatte. Dann fragte
man ihn, ob er in Moskau oder im Ausland (Arbi selbst war vor kurzem in Jalta) „Schajtane“
gesehen habe. So nennen die Kadyrow-Leute die Mitglieder von illegalen bewaffneten Einheiten. Doch Arbi sagte, er habe niemanden von diesen gesehen.
Zwei Tage später reiste Arbi Chatschukajew mit dem Wagen nach Dagestan und kehrte
dann wieder nach Moskau zurück. Arbi und seine Mutter Koka Chatschukajewa, die wir als
gesellschaftlich aktive Frau aus den Flüchtlingslagern Inguschetiens kennen, sind davon überzeugt, dass nur dank eines zügigen und energischen Einsatzes in der Gesellschaft ein tragischer
Ausgang vermieden werden konnte.
Am Ende des Kapitels berichten wir über die Entführungen von Maschud
Abdullajew, die Suche nach ihm und seine Rückkehr
Genau einen Monat bemühten sich Menschenrechtler herauszufinden, was mit dem aus
Ägypten am 20. Juni deportierten Studenten Maschut Abdullajew geschehen ist. Am Tag der
Abschiebung wartete unsere Mitarbeiterin Elena Sannikowa am Flughafen Domodedowo in
Moskau auf ihn. Mit diesem Flug sollten die beiden nach Russland abgeschobenen Studenten
Achmed Asimow und Maschud Abdullajew eintreffen. Schließlich kam Asimow aus dem
Terminal. Doch von Abdullajew keine Spur.
Man wartete noch bis auf den nächsten Morgen.
Beim Büro des FSB im Flughafen erhielt man widersprüchliche Informationen. So wurde
fünf Stunden nach der Landung gesagt, Abdullajew werde zur Überprüfung der Passpapiere
festgehalten und sei derzeit beim FSB. Zur gleichen Zeit hatte man aber Elena Burtina,
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Mitarbeiterin von Swetlana Gannuschkina, die Mitglied des beim Präsidenten der Russischen
Föderation angesiedelten Rates für Menschenrechte ist, telefonisch im FSB-Büro des Flughafens
mitgeteilt, dieser habe bereits die Grenze überschritten, sei vor drei Stunden auf freien Fuß
gesetzt worden. Wieder eine Stunde später sagte man ihr, dass Abdullajew offensichtlich das
Gepäck holen gegangen sei und fügte hinzu. „oder er ist gerade in irgendwelchen anderen
Strukturen“.
Um herauszufinden, wo sich Maschud Abdullajew derzeit wirklich befindet, schickten wir
mehrere Anfragen an die Rechtsschutzorgane. Ruslan Alchanov, der Innenminister der
Tschetschenischen Republik, der immer zu einer Zusammearbeit bereit ist, sagte Gannuschkina
telefonisch, er dürfe ihre Anfragen nicht beantworten, da sie kein Mitglied der Familie Maschud
sei. Dessen Mutter oder Schwestern könnten nach Grosnij reisen und ihn abholen. Ein
persönliches Treffen mit Gannuschkina lehnte er jedoch ab. Da sich Alchanow vor diesem
Vorfall (und danach) immer gern mit uns getroffen hatte, war klar geworden, dass man
entschieden vorgehen müsse.
Die Mutter von Maschud, Sazita Abdullajewa, war über das Schicksal des Sohnes sehr
beunruhigt, dieser habe sie nicht ein einziges Mal angerufen. Das wäre für diesen völlig
untypisch. Sie sandte Swetlana Gannuschkina eine Vollmacht, dass diese in ihrem Auftrag an der
Suche des Sohnes arbeiten könne.
Völlig unerwartet tauchte dann Maschud Abdullajew am 29. Juni um 20:35 Uhr in der
Live-Sendung „Standpunkt“ der Fernsehstation GTRK Grosnij auf. Im Interview berichtete er,
dass er bei seiner Ankunft im Moskauewr Flughafen „Domodedowo“ eine Nacht dort verbracht
habe. Danach sei er nach Grosnij. In Tschetschenien, so sagte er im Interview, sei alles besser,
als er es sich vorgestellt habe. Und es hörte sich wie eine Verwünschung an, als er sagte: „hier
darf man auch beten“. Er berichtete, dass er aus seinem Fenster (warum eigentlich nur aus dem
Fenster?) abends beobachte, wie die Menschen frei durch die Stadt spazierten.
Im Folgenden erreichten uns Schreiben der Rechtsschutzorgane, die sich auf diese
Fernsehsendung und einen danach erschienenen Artikel in der „MK“ bezogen und besagten, dass
Maschud frei sei.
Wenige Tage später war Maschud Abdullajew erneut im tschetschenischen Fernsehen zu
sehen, dieses Mal zusammen mit Nurdi Nuchaschiew, dem Menschenrechtsbeauftragten der
Tschetschenischen Republik.
Doch die Tatsache, dass Machud lebt und gesund ist, bedeutet noch nicht, dass man sich
um ihn keine Sorgen zu machen braucht und er in Sicherheit ist. Er hat nach wie vor keinen
Kontakt mit der Familie aufgenommen, niemand konnte bestätigen, dass er sich freiwillig in der
Tschetschenischen Republik aufhielt.
Vor diesem Hintergrund besuchten Swetlana Gannuschkina und Natalja Estemirowa am
14. Juli (am nächsten Tag wurde Natalja Estemirowa umgebracht) die Staatsanwaltschaft, das
Innenministerium und das Ermittlungskomitee der Tschetschenischen Republik. Dort reichten
sie ein Schreiben ein, in dem sie die Behörden aufforderten, zu überprüfen, ob Maschud
Abdullajew entführt worden sei und man ihn seiner Freiheit beraube.
Am 20. Juli erreichte Swetlana Gannuschkina um 6 Uhr ein Anruf eines jungen Mannes,
der sich als Ermittlungsrichter des Ermittlungskomitees der Tschetschenischen Republik
vorstellte. Sein Name war Beslan Labasanow. Er sagte, dass er mit der Prüfung ihres Schreibens
über ein Verschwinden von Maschud Abdullajew beauftragt sei. Er habe Maschud zu sich
gebeten, dieser werde bald bei ihm eintreffen. Gerne könne sie ihn dort telefonisch erreichen.
Auf die Frage, wie es ihm denn gelungen sei, Maschud zu sich zu bitten, antwortete
Labasanow, dies habe er über Bekannte bewerkstelligen können.
Swetlana Gannuschkina bat den Ermittlungsrichter, dieses Telefonat zu ermöglichen und
gleichzeitig Maschud die Möglichkeit zu geben, sich mit einem ihrer Kollegen zu treffen.
Per Mobiltelefon wandte sie sich an den Leiter des Büros des Menschenrechtszentrums
„Memorial“, Schachman Akbulatow und bat diesen, zum Ermittlungsbüro zu gehen.
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Wenig später rief der Untersuchungsrichter zurück und überreichte Maschud Abdullajew
den Hörer. Es entspann sich folgendes Gespräch zwischen diesem und Gannuschkina:
- Wo waren Sie die ganze Zeit?
- Hier, in Grosnij?
- Wo leben Sie?
- Bei Freunden.
- Warum haben Sie Ihre Mutter in Baku nicht angerufen? Sie macht sich Sorgen.
- Heute habe ich angerufen.
- Warum haben Sie früher nicht angerufen?
- Nun… ich habe es nicht geschafft.
- Warum haben Sie sich nicht mit den Verwandten getroffen?
- Ich weiß es nicht.
- Welche Pläne haben Sie für die nächste Zeit?
- Am Donnerstag bekomme ich meinen Paß und am Freitag fliege ich nach Baku.
In jedem Laut der Stimme von Maschud war die Anspannung zu hören.
20 Minuten später rief Swetlana Gannuschkina bei Schachman Akbulatow an. Dieser befand
sich schon beim Ermittlungsrichter direkt bei Maschud. Schachman sagte, man habe Maschud
befragt und ihn gebeten, er solle sich bezüglich der Vermißtenmeldungen und der vermuteten
Entführung äußern. In seinen Erklärungen schrieb Maschud, Angehörige der tschetschenischen
Rechtsschutzorgane hätten ihn nach der Abschiebung aus Ägypten auf dem Flughafen erwartet.
Sie hätten ihn anschließend nach Tschetschenien gebracht. Dagegen hätte er keine Einwände
gehabt. Er habe auch vorgehabt, nach Grosnij zu reisen. Diese Version paßt nicht mit dem
zusammen, was er in der Fernsehsendung gesgt hatte.
Schachman fragte Maschud auf Bitten von Gannuschkina, wo er denn in Grosnij wohne.
Aus Sicherheitsgründen, so die Antwort, wolle er die Adresse seiner Freunde nicht verraten, war
die Antwort. Außerdem, so sagte er, habe er kein Mobiltelefon und die Mobiltelefonnummern
seiner Freunde kenne er nicht. Noch einmal wiederholte er seine Absicht, am Freitag nach Baku
zu reisen.
An der Türe warteten bereits die „Freunde“ von Maschud. In deren Begleitung stieg er in
den Wagen.
Nach dem Gespräch rief Swetlana Gannuschkina bei der Mutter von Maschud an und bestätigte ihr, dass sie mit dem Sohn telefoniert habe. Diese bestätigte ihr, dass sie an diesem Tag
von ihrem Sohn angerufen worden sei. Sie sagte, ihren Informationen zufolge wolle ihr Sohn mit
dem Wagen nach Baku reisen. Sie bat darum, dass ihn jemand an der Grenze abhole.
So hatten die Menschenrechtler es wieder nicht geschafft, einen direkten Kontakt mit
Maschud Abdullajew herzustellen. Blieb nur zu hoffen, dass die Familienzusammenführung
wirklich am 24. Juli stattfinden werde.
Doch am 21. Juli erhielt Swetlana Gannuschkina einen Anruf aus der Staatsanwaltschaft
Tschetscheniens. Man fragte sie, welche Antwort auf ihre Anfrage sie denn zu erhalten gedenke.
Gannuschkina antwortete, am meisten würde sie sich darüber freuen, wenn Mutter und Sohn sie
gemeinsam anriefen, von aserbaidschanischem Territorium aus. Und dass sie dann nicht mehr in
Begleitung dieser „Freunde“ seien, die angeblich weder Mobiltelefone noch Adressen besitzen.
Eine Stunde später erhielt Gannuschkina einen Anruf von Sazita Abdullajewa. Man habe
sie aus Tschetschenien angerufen, teilte sie mit. Maschudow werde am nächsten Tag um 12 Uhr
an der Grenze sein. Sazita bat, man möge organisieren, dass Maschud abgeholt werde.
Am nächsten Tag, den 22. Juli, erhielt Swetlana Gannuschkina um 14:30 Uhr einen
Anruf von Sazita und Maschud. Das Treffen, so teilte man ihr mit, habe stattgefunden.
Jetzt seien sie auf dem Weg nach Hause. Die Stimme von Maschud klang ganz anders als
sie noch vor zwei Tagen geklungen hatte, als er vom Büro des Ermittlungsrichters aus
gesprochen hatte.
51
So endete die Geschichte erfolgreich. Gemeinsam mit der Familie Abdullajew bedanken
wir uns bei allen, die hierzu ihren Beitrag geleistet haben.
Das gestiegene Interesse der tschetschenischen Rechtsschutzorgane an Maschud
Abdullajew läßt sich leicht erklären: er ist der Sohn des Feldkommandeurs Supjan Abdullajew.
Dieser lebt schon lange nicht mehr bei seiner Familie. Die Machthaber haben offenbar gehofft,
dass sie mit Maschud, und dann vielleicht auch noch seiner Mutter und Schwester, Supjan
Abdullajew selbst aus dem Wald heranlocken können. Sazita ist der Auffassung, dass dieser Plan
nie hätte umgesetzt werden können. Supjan habe sich schon lange, auch innerlich, von der
Familiew getrennt, sei ganz von seinen Ideen gefangen.
Am Schluss ist für den Leser angefügt, dass derartige glückliche Happy Ends, wie wir sie
mit Maschud Abdullajew und Arbi Chatschukajew erlebt haben, leider die seltene Ausnahme
sind. Wenn man überhaupt Aussicht auf Erfolg haben will, dann muss man sofort, wenn man
eine Information erhalten hat, handeln. Und es ist auch sehr hilfreich, wenn man es auf
staatlicher Seite mit Personen zu tun hat, die zu einer Zusammenarbeit bereit sind. Und es ist
wichtig, viele Personen in diesen Kampf einzubeziehen. Doch sogar dann, wenn alle diese Voraussetzungen gegeben sind, ist der Erfolg selten. Deswegen können wir so selten nicht nur denen
nicht helfen, die sich an uns gewandt haben. Auch unseren nahen Freunden und Kollegen zu
helfen ist nicht weniger schwer.
DIE WOHNSITUATION DER BEWOHNER DER TSCHETSCHENISCHEN
REPUBLIK IN DER RUSSISCHEN FÖDERATION
2009 wandten sich Menschen an die juristischen Beratungsstellen von Memorial zu
Wohnraumsfragen:
- man wollte Unterstützung im Bemühen um einen sozialen Wohnraum;
- man wollte auf die Warteliste der Wohnraumbedürftigen;
- man wollte Hilfe beim Wiederaufbau von zerstörtem Wohnraum in Tschetschenien;
- man wollte Kompensationsleistungen entsprechend des Erlasses № 404 der
tschetschenischen Regierung.
In den vergangenen neun Jahren haben sich die staatlichen Organe der Tschetschenischen
Republik, die für die Wohnungspolitik zuständig sind, Mühe gegeben, wenig vermögende
Menschen mit Wohnraum zu versorgen. Doch das Ergebnis läßt zu wünschen übrig. Effektive
Maßnahmen zur Lösung dieses Problems, die die aktuelle Situation in der Republik mit
berücksichtigen, sind nicht erarbeitet.
In den vergangenen Jahren wurden nicht wenige Wohnkomplexe gebaut, im Fernsehen
sieht man häufig, wie ganze Häuserkomplexe gebaut werden. Und die Führung der Republik
berichtet, dass der Wohnraum ständig weiter ausgebaut werde. Doch die Verwaltung der Stadt
gibt offen zu, dass dies kommerzieller Wohnraum ist. Die Wohnungen in den neuen Häusern
sind bereits verkauft oder werden zum Kauf angeboten, bevor sie gebaut wurden. Die
überwiegende Mehrheit der intern Vertriebenen, die dringend eine Wohnung brauchen, haben für
Wohnungen in diesen Gebäuden kein Geld.
In den Rayons Atscha-Martanows und Sunscha wird derzeit das nationale Bundeswohnraumprojekt „Die junge Familie“ umgesetzt. Im Rahmen dieses Programmes erhalten die
Familien, die in den Genuss dieses Programmes kommen, Zahlungen für Wohnraum. Die Höhe
dieser Zahlungen hängt von der Größe der Familie ab. Man geht davon aus, dass einer Person
Wohnraum von 18 qm zusteht. Als Preis setzt man 12.500 Rubel (ca. 300 Euro) für einen qm an.
Ein weiteres, für drei Jahre angelegtes Projekt, ist das beim Landwirtschaftsministerium
angesiedelte Projekt „soziale Entwicklung des Dorfes“. Hier werden bis zu 70% des
Wohnraumes finanziert. Anspruch auf dieses Geld haben Familien, in denen ein Ehepartner
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unter 35 Jahre alt ist und in der Landwirtschaft arbeitet oder der Landwirtschaft nahe Tätigkeit
ausübt. Leider kommen nur zwischen 10 und 12 Familien im Jahr in den Genuss dieser Gelder.
Ebenfalls gibt es ein Bundesprogramm zum Wiederaufbau der Wirtschaft und der
sozialen Sphäre mit der Bezeichnung „nicht fertige Objekte“. Die Organisation „Direkzia“ baute
in dem Dorf Sernowodsk nach dem zweiten Krieg zerstörte Häuser wieder auf.
Doch all diese Maßnahmen reichen bei weitem nicht aus.
Auf der Grundlage von Artikel 49 des Wohnkodex der Russischen Föderation erhalten
arme Bürger, wenn sie als solche entsprechend dem Gesetz eines Subjektes der Russischen
Föderation anerkannt sind, Wohnraum. Dazu werden eigene Verträge zu sozialem Wohnraum
geschlossen. Die Betroffenen können die Wohnungen kostenfrei nutzen. In der Regel gewähren
die Behörden der Tschetschenischen Republik die Anerkennung des Armseins nicht, setzen die
Betreffenden auf die Warteliste für sozialen Wohnraum, wenn diese nachgewiesen haben, dass
sie praktisch nichts besitzen. Wer bedingt durch die bewaffneten Auseinandersetzungen sein
Haus verloren hat, kann nicht Jahre warten, bis man sein Haus wiederaufgebaut hat oder man
eine Wohnung erhalten hat. Wer eine Sozialwohnung beantragt, erhält keine individuelle
Antwort, sondern ein vorgefertigtes Schreiben. Darin wird dem Antragsteller mitgeteilt, dass er
in die Warteliste aufgenommen und die Wohnprobleme mit fortschreitendem Wohnungsbau
gelöst würden. Auf eine Anfrage des „Komitees Bürgerbeteiligung“ vom 24.12.2009 zur Zahl
der internen Vertriebenen, die Wohnraum erhalten haben, hieß es im Antwortschreiben der
Sozialabteilung des Bürgermeisteramtes von Grosnij, 2009 seien 17 Familien von intern
Vertriebenen in den Genuss von städtischem Wohnraum gekommen. Zwischen 2007 und 2010
haben insgesamt 352 Familien von intern Vertriebenen Wohnraum erhalten.
Hier gilt anzumerken, dass es in den staatlichen Behörden keine gut strukturierten
Informationen über diejenigen gibt, die ihren Wohnraum bedingt durch die Kampfhandlungen
verloren haben und dringend untergebracht oder beim Wiederaufbau unterstützt werden müssen.
Und die weitgehende Schließung der vorübergehenden Unterkünfte für Flüchtlinge im Lauf der
letzten Jahre, bei der den von der Schließung Betroffenen keine adäquate Lösung ihres Problems
angeboten wurde, hat die Lage weiter verschlimmert. Vor diesem Hintergrund ist erkennbar,
dass die Wohnungsnot in Tschetschenien ein nach wie vor aktuelles Problem ist. Dies wird von
den Statistiken bestätigt, von den offiziellen und den Statistiken internationaler Organisationen,
die im Nordkaukasus tätig sind, wie dem UNHCR oder dem Dänischen Flüchtlingsrat.
Deren Angaben zufolge sind zwischen Januar 2003 und Januar 2010 insgesamt 45114
intern Vertriebene (IDPs) aus der Republik Inguschetien nach Tschetschenien zurückgekehrt.
Von Dagestan sind 552 Personen zurückgekommen. Nach Informationen des Dänischen
Flüchtlingsrates waren am 31. Dezember 2009 insgesamt 8 938 intern Vertriebene registriert.
2009 haben 2 566 Personen Inguschetien verlassen.
Insgesamt, so der UNHCR, leben im Nordkaukasus 30.000 Personen (6.000 Familien),
die als intern Vertriebene einzustufen sind. Sie leben auf dem privaten Wohnungsmarkt, bei
Verwandten oder Bekannten. In Wohnheimen oder Unterbringungszentren leben 5841 Personen
(1318 Familien).
Auf eine Anfrage des „Komitees Bürgerbeteiligung“ teilte das Bürgermeisteramt von
Grosnij mit, dass sich allein in Grosnij 6193 Personen auf der Warteliste für Wohnraum
befinden. Diese haben überhaupt kein Dach über dem Kopf. Daneben müssen bei 51 Familien
die Wohnverhältnisse verbessert werden.
Es ist nicht möglich, Tschetschenien zu verlassen und sich in Russland anzusiedeln, wenn
man dort keinen Wohnraum hat, nur auf das eigene Gehalt (wenn man denn dort Arbeit finden
kann) und staatliche Hilfe zu setzen, ist ausgeschlossen. Der Erlaß № 510 vom 30. April 1997,
der Personen, die Wohnraum verloren und Tschetschenien verlassen haben, Schadensersatz
garantiert, hält klar fest, dass maximal 120.000 Rubel (heute ca. 3500 Euro) ausgezahlt werden
können, 1997, als dieser Erlaß in Kraft getreten ist, waren die Preise noch andere. Die Kaufkraft
dieser 120.000 Rubel ist um 80% gesunken. Heute kann man sich für diese Summe nicht einmal
53
ein halbes Zimmer in einem Wohnheim in der Provinz kaufen. Obwohl dieses Problem immer
wieder diskutiert wird, wurde nichts unternommen, um die Entschädigungszahlen den realen
Preissteigerungen anzupassen.
Bei einem Treffen mit dem Präsidenten der Russischen Föderation, Dmitrij Medwedew,
am 19. Mai 2010 berichtete Swetlana Gannuschkina in einem Bericht über die Probleme der
intern Vertriebenen. Der Präsident versprach, sich um eine Lösung dieser Frage zu kümmern und
erteilte seiner Administration konkrete Aufgaben. Ihre Umsetzung wird in der Tat eine reale
Hilfe für die Wohnungslosen sein.
"Bereits vor vier Jahren hatten auch Putin und das Ministerium für die Entwicklung der
Regionen eine derartige Anweisung erteilt. Doch passiert ist nichts. Bei einem Treffen im
zuständigen Ministerium beobachtete ich, dass es mit der Umsetzung des Erlasses anders
verläuft. Der Unterschied ist spürbar. Offensichtlich wurden hier konkrete Umsetzungsfristen
gesetzt. Und ich habe bei dem Treffen im Ministerium gesehen, dass die Anordnungen von
Präsident Medwedew umgesetzt werden.“ berichtet Gannuschkina in einem Interview mit dem
„Kaukasischen Knoten“.
Tschetschenische Binenflüchtlinge mit eigenem privatem Wohnraum
Ein Teil der Binnenflüchtlinge hat für den in Kampfhandlungen verlorenen Wohnraum
Kompensationszahlungen erhalten. Doch sie konnten mit diesem Geld keinen Wohnraum
kaufen. Die Kompensationsleistungen für in Kampfhandlungen verlorenen Wohnraum nach
Regierungserlass № 404 waren seit 2005 nicht mehr gezahlt worden. Doch inzwischen wurden
diese Zahlungen wieder aufgenommen. Doch die Zahlungen lösen das Wohnproblem der
Familie nicht. Sie reichen weder zum Kauf einer Wohnung noch für die Miete (hier gibt es
regionale Unterschiede).
Viele sagen, sie würden das Geld liebend gerne zurückgeben, wenn sie stattdessen
Wohnraum erhielten. Das ist jedoch nicht möglich, antwortete der Föderale Migrationsdienst in
einem Schreiben an „Memorial“. Die Rücknahme von Kompensationszahlungen sei nicht
vorgesehen. Nach den Wohnrechten von Personen befragt, die Tschetschenien verlassen haben,
antwortete der Beauftragte des Föderalen Migrationsdienstes zu Umsiedlern, I.K. Prijmak, man
möge sich hierzu doch an die Regierung Tschetscheniens wenden. Derartige Fragen, betonte er,
befänden sich nicht im Bereich der Kompetenzen des Föderalen Migrationsdienstes.
Präsident Ramsan Kadyrow hat bisher eine ähnliche Frage von „Migration und Recht“
nicht beantwortet.
In dem bereits zitierten Schreiben der Verwaltung von Grosnij heißt es klar: “Wer in
Grosnij Wohnraum besitzt und dies mit Dokumenten nachweisen kann, hat das Recht, diesen
Wohnraum bei einer Rückkehr zu bewohnen“.
Die Praxis hat jedoch gezeigt, dass es nicht einfach ist, den rechtmäßigen Besitz auf eine
Wohnung nachzuweisen. Viele ziehen hierzu die Unterstützung von Anwälten und Menschenrechtlern heran – und hoffen so auf ihr Glück. Diese Auseinandersetzungen dauern Jahre – und
in dieser Zeit müssen die Betroffenen in Mietwohnungen, Wohnheimen, bei Verwandten oder
Bekannten leben.
Der Fall von Н.N.Martirosowa ist sehr typisch. Sie hatte Tschetschenien wegen der
Kampfhandlungen verlassen. Als sie das in einem Sozialhotel zugewiesene Zimmer verlassen
musste, war sie obdachlos. Sie erhielt überhaupt keine Kompensationszahlungen für verlorenen
Wohnraum. Gleichzeitig kann sie ihr Recht auf diesen Wohnraum bis heute nicht nachweisen.
Ihre Wohnung in Tschetschenien wird inzwischen von anderen fremden Personen
bewohnt. Diese betrachten sich nun als die rechtmäßigen Besitzer der Wohnung.
Lange hat Frau Martirosowa um ihre Wohnung gekämpft.
In einer Antwort auf ein Schreiben des Zentrums für soziale Adaption „Ljublino“
berichtet der in der Tschetschenischen Republik tätige Föderale Migrationsdienst am 14.
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November 2008, dass Frau Martirosowa in Grosnij an ihrem Wohnsitz registriert sei. Dass Frau
Martirosowa diese Wohnung jedoch nicht nutzen kann, dass ihr Name aus dem Wohnregister
gestrichen worden ist, darüber findet sich keine Antwort in dem Schreiben.
Später, am 5. Dezember 2008, teilt der Föderale Migrationsdienst auf eine neue Anfrage
des Zentrums für soziale Adaption „Ljublino“ mit, dass Frau N.N. Martirosowa unter der
angegebenen Adresse nicht lebt und dort auch nicht registriert ist.
Am 11. August 2009 antwortet der Föderale Migrationsdienst in Tschetschenien, derzeitiger Besitzer des strittigen Wohnraumes sei L.D. Gasalojew. Er habe einen 2007 geschlossenen Kaufvertrag vorlegen können. Wer die Wohnung verkauft hatte, darüber findet sich
in dem Dokument keine Angabe. Frau Martiriosowa jedenfalls hatte ihre Wohnung an
niemanden verkauft. Die Staatsanwaltschaft des Rayon Zavodskij teilte mit, mit dem Wohnraum
von N.N. Martirosowa seien mehrere Geschäfte gemacht worden.
Aus einem Tauschvertrag, der angeblich im September 1993 geschlossen worden sein
soll, ist zu entnehmen, dass die Wohnung von Martirosowa einem ihr völlig unbekannten A.V.
Chromow gehörte. Dieser soll sie seinem Sohn, S.A. Chromow, geschenkt haben und der Sohn
wiederum soll sie an L.D. Gasalojew verkauft haben.
Nina Nikolajewna Martirosowa wiederum sagt, dass dieser Tauschvertrag niemals habe
geschlossen werden können. Sie habe von 1967 bis Januar 1995 in dieser ihrer Wohnung gelebt
und habe keinerlei Geschäfte in Zusammenhang mit ihrer Wohnung getätigt. Sie ist der
Auffassung, dass der Vertrag eine Fälschung sei.
Die Tatsache, dass Frau Martirosowa bis zum 12. Januar 1995 in dieser Wohnungt gelebt hatte und dort registriert war, können Zeugen bestätigen, die 1993 und 1994 bei ihr waren,
aber auch Bewohner, die sich während der Bombardierungen im Keller dieses Hauses versteckt
hatten. A. und S. Chromow haben wissen müssen, dass Frau Martirosowa in dieser Wohnung
lebt, in den Auszügen des Hausbuches finden sich Angaben über ihre Registrierung in dieser
Wohnung. All diese Beweismaterialien wurden von niemandem in Augenschein genommen.
Die Miliz des Rayons Zavodskij (Grosnij) bestätigt, dass Frau Martirosowa ein Paß einer
russischen Staatsbürgerin ausgestellt war. Hierin findet sich eine Eintragung zur4 Registrierung
ihres Wohnortes.
Frau Martirosowa hatte weder selbst ihre wohnbehördliche Anmeldung gelöscht noch
hatte dies der Föderale Migrationsdienst gemacht. Andernfalls wäre ein Stempel in ihrem Paß
über ihre Austragung aus dem Melderegister. Kompensationszahlungen für verlorenen
Wohnraum hatte sie nicht erhalten, ihre Wohnung hatte sie nie aufgegeben und auch niemandem
verkauft.
Am 25. 03. 2010 erhielt das „Komitee Bürgerbeteiligung“ die Kopie einer Verfügung von
U.I. Asimow, Oberleutnant der Miliz, worin man die Aufnahme eines Strafverfahrens zur
Erklärung von Frau Martirosowa über die Verletzung ihrer Wohnrechte ablehnt.
In der Verfügung heißt es, dass man an die Adresse des „Komitees Bürgerbeteiligung“ in
einem Schreiben um notariell beglaubigte Kopien der Dokumente von N.N. Martirosowa gebeten
habe, die die Wohnrechte von ihr beweisen. Dieses Schreiben, so die Verfügung, sei aber nicht
beantwortet worden. Das „Komitee Bürgerbeteiligung“ hat außer der Zustellung der Verfügung
vom 25.3.2010 keine weiteren Dokumente in dieser Sache erhalten.
Am 7. April 2010 richtete das „Komitee Bürgerbeteiligung“ eine Anfrage an den Stellvertretenden Leiter der Abteilung №3 bei der Miliz von Grosnij, I.O. Moiseenko und bat diesen,
objektiv den Fall Martirosova zu überprüfen.
Am 9. April 2010 sandte das „Komitee Bürgerbeteiligung“ an A.Ch. Dudarkajew, den
Leiter des Föderalen Migrationsdienstes in der Tschetschenischen Republik, Kopien von
Bescheiden der Staatsanwaltschaft und der oben beschriebenen widersprüchlichen Antworten
des Föderalen Migrationsdienstes. Eine Antwort des Föderalen Migrationsdienstes hätte hier die
Hoffnung gegeben, endgültig die Frage der Registrierung von N. Martirosowa zu klären.
55
Nina Martirosowa selbst klagte nach Eingang des Bescheides beim Staatsanwalt des
Rayons Zawodskij (Grosnij) und bat ihn, eine Rücknahme des Entscheids, kein Verfahren
einzuleiten, zu bewirken und gleichzeitig die Rechtmäßigkeit der Geschäfte, die mit dem
Wohnraum von Frau Martirosowa getätigt wurden, zu überprüfen.
Im Mai 2010 wandten sich Mitarbeiter von „Migration und Recht“ an den Staatsanwalt
der Tschetschenischen Republik, Savtschin und baten diesen die Begleitumstände der Verletzung
der Wohnrechte von Frau Martirosowa zu überprüfen.
Zwar hat die Staatsanwaltschaft in der Zwischenzeit das Recht von Nina Martirosowa
auf eine eigene Wohnung anerkannt. Doch auf die eigene Wohnung wartet sie nach wie vor.
M. Ch. Minzajewa lebte in Grosnij, wo sie mit ständigem Wohnsitz gemeldet war. 1967
wurde ihrer Mutter als Umsiedlerin eine Wohnung zugewiesen, der Zuweisungsbescheid ausgestellt. Nach dem Tod der Mutter 1969 galt sie als Mieterin der Wohnung.
Sie lebte in dieser Wohnung mit ihrem Mann und den Kindern, dort befand sich auch ihr
gesamtes Eigentum. Während der Kampfhandlungen 1990 gingen alle Dokumente auf die
Wohnung verloren. Darauf wandte sich Minzajewa an die Verwaltung von Grosnij, bat dort,
man möge ihr eine Kopie des Zuweisungsbescheides für die Wohnung aushändigen. Doch dort
lehnte man dies ab.
Darauf wandte sie sich an die Filiale des Bundesbüros für technische Bestandsaufnahme
(BTI) in Grosnij mit der Bitte, ihr Papiere für ihre Wohnung auszuhändigen. Am 18.6.2009
antwortete man ihr, es gäbe keine derartigen Dokumente.
Gleichzeitig hatte die Verwaltung von Grosnij am 17.6.2009 geschrieben, es gäbe keine
Angaben über die Wohnung. Es ließe sich auch nicht bestätigen, dass sie die Besitzerin sei, so
das Schreiben.
Doch Frau Minzajewa hat Zeugen, die bestätigen können, dass sie in dieser Wohnung
gelebt hat und dass diese Wohnung ihr gehört.
Unterdessen hat sich Frau Minzajewa unter Mitwirkung des Anwaltes des Beratungsnetzwerkes, N.V. Dorina an das Gericht gewandt und verlangt, gerichtlich festzuhalten, dass sie
die Eigentumsrechts auf die Wohnung habe.
V.A.Bereschnow, geb. 1930, lebte bis zum Februar 1995 in Grosnij in einer Einzimmerwohnung. In diese siedelte er 1979 auf der Grundlage eines Wohnungstauschvertrages um.
Nachdem er wegen der Kampfhandlungen Grosnij verlassen hat, und auch seine Wohnung und
sein Eigentum in Grosnij zurückließ, lebt er nun in der Stadt Tschechov im Gebiet Moskau.
1997 wandte er sich an den Föderalen Migrationsdienst der Russischen Föderation, man
möge ihm für verlorenen Wohnraum und Eigentum Schadensersatz bezahlen. Darauf übermittelte der Föderale Migrationsdienst mehrere Schreiben an die staatlichen Organe der Tschetschenischen Republik, um eine Bestätigung des gemeldeten Wohnsitzes von V.A. Bereschnow
unter der angegebenen Adresse zu erhalten. Die Antworten, die dann beim Migrationsdienst
eingingen, waren widersprüchlich.
So hatte der Föderale Migrationsdienst Russlands in der Tschetschenischen Republik am
29.3.2006 mitgeteilt, der Antrag auf Kompensationszahlungen für den Wohnraum, der V.A.
Bereschnow gehört, sei von einem gewissen M. Amajew gestellt worden. Dieser habe als Beweis
eine Wohnungszuweisung vorgelegt, die 1999 datiert war.
V. Bereschnow sandte eine Beschwerde an den Föderalen Migrationsdienst. Dieser teilte
in seiner Antwort mit, dass keine Daten über seine Wohnung unter der angegebenen Adresse
vorhanden seien. Auch das Bundesbüro der Agentur für technische Bestandsaufnahme (BTI)
teilte mit, dass man keine Informationen über diese Wohnung habe.
Die Verwaltung des Rayons, in dem sich das Haus von Bereschnow befindet, berichtete,
dass dieses Haus abgerissen und das dazugehörige Archiv zerstört sei.
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Nachdem Bereschnow die Staatsanwaltschaft der Tschetschenischen Republik
angeschrieben hatte, wurde eine erneute Überprüfung des Sachverhaltes angesetzt. Dabei stellte
sich heraus, dass Amajew niemals Besitzer dieser Wohnung gewesen ist und auch keinen Antrag
auf Kompensationszahlungen gestellt hatte. Als Bereschnow dann beim Föderalen
Migrationsdienst in Moskau erneut einen Antrag auf Kompensationszahlungen stellte, erhielt er
am 1.10.2009 von der Kommissarischen Kommission bei der Regierung des Gebietes Moskau
einen ablehnenden Bescheid. Als Begründung führte man an, der Antragsteller habe keine
Bestätigung der Registrierung in seiner Wohnung in Grosnij beigefügt.
Das Haus in Grosnij, in dem Bereschnow gelebt hatte, ist vollständig zerstört. Er konnte
die Dokumente der Registrierung und einen Auszug aus dem Hausbuch nicht übermitteln, da er
Grosnij im Februar 1995, auf dem Höhepunkt der Kämpfe, verlassen hatte. Dabei heißt es in
einem Urteil des Verfassungsgerichtes der Russischen Föderation eindeutig: auch wenn der
Antragsteller auf Kompensationszahlungen die Originaldokumente von Wohnung und Besitz
nicht vorlegen lassen, läßt sich damit noch keine Ablehnung dieser Zahlungen rechtfertigen.
Bereschnow hat noch einen Wehrausweis. In diesem ist ein Stempel, der bestätigt, dass er
1980 in dem Rayon von Grosnij in die Liste der Wehrpflichtigen aufgenommen wurde, wo sich
auch das Haus des Antragsstellers befindet.
Außerdem verfügt er über den Wohnraumzuweisungsschein, der bestätigt, dass er
berechtigt ist, durch einen Tausch diese Einzimmerwohnung in dem angegebenen Haus zu
beziehen. Diese Bescheinigung war 1980 vom Leiter des Stadtrates der Volksdeputierten von
Grosnij ausgestellt worden.
Der Antragsteller ist inzwischen 80 Jahre alt, er ist Rentner und Invalide der ersten
Gruppe. Vier Jahre nun schon kämpft er um die Wiederherstellung der verletzten Rechte und er
will eine Kompensation für den verlorenen Wohnraum, wie vom Gesetz vorgesehen.
Anfang 2010 wandte sich V. Bereschnow an das Stadtgericht von Tschechow, wo er sich
die juristische Tatsache der ständigen Wohnsitznahme in Grosnij bestätigen lassen wollte.
Doch erst im Oktober 2010 wurde sein Recht auf Kompensationszahlungen anerkannt
und Anfang November wurde die Kompensationszahlung ausgezahlt.
Larissa Sergejewna Spiwak, geb. 1949 ist intern Vertriebene und stammt aus
Tschetschenien. Fast 30 Jahre hatte war sie Lehrerin für Russisch, Deutsch, Literatur und Musik
in der Mittelschule von der Ortschaft Dolinskoe in der Nähe von Grosnij. Sie hatte noch eine,
1988 geborene Tochter. Im Oktober 1997 wurde sie von Banditen überfallen, diese entrissen ihr
und ihrer Tochter die Ohrringe, zogen ihre goldenen Zähne. Diese nahmen ihr alle Dokumente,
darunter auch ihren Pass, die Geburtsurkunde der Tochter und die Wohndokumente ab.
Derzeit lebt sie mit ihrer Tochter im Rayon Tschechow, Gebiet Moskau (st. Stolbowaja,
Zawodskaja 44a). Der Besitzer des Hauses, in dem sie wohnt, ist gestorben. Der Erbe ist bereit,
ihnen das Haus zu einem niedrigen Preis zu verkaufen. Er will dafür zwei Millionen Rubel
haben. Doch dafür müsste sie ihre Wohnung in Tschetschenien verkaufen können. Dort hat sie
zwei Wohnungen. Das Problem ist, dass sie hierfür die Wohnberechtigungen dort neu bestätigen
lassen muss, doch dies kann Larissa organisatorisch nicht leisten.
Eine ihrer Wohnungen war im Rayon Grosnij. Diese hatte die Lehrerin von der
gasverarbeitenden Fabrik GGPS in der Ortschaft Dolinskoe erhalten. Die zweite Wohnung war
ihr privatisiert worden. Sie befindet sich im Rayon Staropromyslow , in Majakowskij. Diese war
ihr direkt nach dem Erdbeben im August 1989 gegeben worden. Wenn später war ihre zerstörte
erste Wohnung in Dolinskoe wieder aufgebaut und unter dem Namen Spiwak eingetragen
worden. Derzeit sind beide Wohnungen in zufriedenstellendem Zustand und bewohnt. Larissa
Dolinskoe hatte ihren Wohnraum nicht verkauft und auch keine Kompensationszahlungen
beantragt.
2007 reichte sie ihre Papiere bei der zuständigen Stelle ein, um sich ihr Recht auf die
beiden Wohnungen bestätigen zu lassen. Als der Milizchef den Bewohner einbestellte, sagte
57
dieser, dass er die Wohnung gekauft habe. Als er dann gebeten wurde, er solle die Person
beschreiben, die ihm die Wohnung verkauft habe, beschrieb er eine Frau, die keine
Ähnlichkeiten mit Larissa Spiwak hatte.
Daraufhin machte sich Larissa Spiwak mit den Papieren auf den Weg in das Gericht
Staropromyslow. Doch auf dem Weg dorthin wurde sie überfallen und beschossen. Daraufhin
machte sie sich auf den Weg zum FSB, um über diesen Überfall zu berichten. Kaum hatte sie den
FSB verlassen, wurde sie auf dem Bürgersteig von einem Auto angefahren. Sie entschied sich,
sofort aus Grosnij zu fliehen (ihre Bekannte brachten sie mit einem Wagen nach Wladikawkas).
Im Frühjahr 2009 bat sie „Migration und Recht“ um Hilfe. Auf Anraten von Menschenrechtlern wandte sie sich erneut an ein Gericht. Und wenig später kam die Ladung aus Grosnij
zu einer Anhörung. Man versprach ihr, dass man sie abholen werde. Die Anhörung sei, so sagte
man ihr, am 10. Juni. Larissa Spiwak schöpfte Verdacht und reiste bereits am 7. Juni nach
Grosnij. Am angesetzten Tag erschien sie im Gericht. Am Eingang ergriff einer der Wachmänner
ihre Tasche, angeblich zur Überprüfung. Dann erklärte er ihr, dass sie vorübergehend festgenommen sei. Inzwischen gab ihr ein anderer Mann vom Wachpersonal, den sie kannte, weil er
ihr Schüler war, mit Augenkontakt zu verstehen, dass es besser sei, zu verschwinden. Darauf floh
sie zur Miliz von Staropromyslow, deren Chef sie kannte. Diesen konnte sie zwar nicht antreffen,
aber ein anderer Milizionär sagte ihr, dass man sie nicht mehr schützen könne und es deswegen
besser sei, wenn sie Grosnij verlasse. Darauf verließ sie Grosnij.
Ihre Wohnungen sind immer noch von denen, die sie sich gesetzwidrig angeeignet haben,
in Beschlag genommen.
Fast drei Jahre zog sich der Rechtsstreit im Fall von N.B. Gutarina hin.
Die Wohnung der Klägerin war einer anderen Person von der Stadtverwaltung Grosnij
als Sozialwohnung zugewiesen worden. Anlass der Klage war der Umstand, dass in Tatarstan
eine Person, die sich als Ehegatte von Gutarina ausgegeben hatte, Kompensationsleistungen für
diese Wohnung entsprechend des Erlasses der russischen Regierung № 510 erhalten hatte. In
dem Verfahren ging es um Betrug (Artikel 159 StGB der Russischen Föderation).
2006 reichte N. Gutarina im Rayon-Gericht von Zawodsk eine Klage ein, mit der sie
forderte, die Wohnungszuweisung für ungültig zu erklären und den derzeitigen Bewohner der
Wohnung zu verweisen. Ihrer Klage wurde stattgegeben. Das Gerichtskollegium für Zivilrecht
des Obersten Gerichtes der Tschetschenischen Republik kassierte jedoch diese Entscheidung und
gab die Sache wieder an das Gericht zur neuen Verhandlung zurück. Bei der Gerichtsverhandlung wurde auch ein graphologisches Gutachten angefordert. Außerdem forderte man,
den Wohnraum von N. Gutarina aus der Datenbank der Wohnungen zu nehmen, für die Kompensationszahlungen fällig sind. Ferner müssten die Dokumente, mit denen man in der Republik
Tatarstan Kompensationsgelder für diesen Wohnraum beantragt hatte, für ungültig erklärt
werden. Im August 2008 wurde der Klage von N.B. Gutarina erneut stattgegeben. Und dann
wurde die Entscheidung des Gerichts Zawodskij ein zweites Mal vom Gerichtskollegium zu
Zivilrecht des Obersten Gerichts der Tschetschenischen Republik kassiert und zur erneuten
Verhandlung zurücküberwiesen. Am 9. Juli 2009 wurden dann die Forderungen von N. Gutarina
in einem dritten Prozess übernommen. Diese Entscheidung des Gerichtskollegiums des Obersten
Gerichts ist in Kraft geblieben. Doch das reale umsetzbare Recht auf eigenen Wohnraum, in den
sie einziehen kann, hatte Natalja Gutarina erst ein Jahr später erreicht.
A.V. Boschanowa, die derzeit im Gebiet Rostow als intern Vertrieben lebt, musste
ebenfalls per Gericht das Recht auf ihren Wohnraum beweisen. Ihrer Mutter gehörte eine
Wohnung in Grosnij. 2000 starb die Mutter von Boschanowa, die in Grosnij lebte. 2004 ließ sich
Boschanowa im Bezirksgericht Staropromyslow von Grosnij bestätigen, dass sie die Wohnung
von ihrer Mutter geerbt hatte. Anschließend reiste sie in das Gebiet Rostow. Ein halbes Jahr
später ließ sich eine andere Bewohnerin dieses Rayons den Besitz dieser Wohnung von eben
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diesem Gericht Staropromyslow bestätigen. Anschließend nahm sie die Wohnung in Beschlag.
2008 erfuhr A.V. Boschanowa über diese Ereignisse und wandte sich an das Gericht. Dieses
solle seine Entscheidung zurücknehmen. Doch auch die Beklagte wandte sich an das Gericht und
forderte von diesem, es solle seine Entscheidung, das Erbe von Boschanowa anzuerkennen,
zurücknehmen. 2009 schließlich gab das Gericht A.V. Boschanowa endgültig Recht.
Die Behörden vor Ort weigern sich mit den verschiedensten Ausreden, die Entscheidung
des Gerichtes zum Wohnraum umzusetzen. So hat beispielsweise das Gericht des Rayon
Zawodskij die Verwaltung von Grosnij verpflichtet, Z.A. Kakajewa eine Wohnung zu geben.
Doch dort wird das mit der Begründung, man habe keinen freien Wohnraum mehr, nicht
umgesetzt. Außerdem müsse das Gericht erst eine Entscheidung treffen. Offensichtlich ist man in
der Verwaltung von Grosnij wohl nur bereit, Gerichtsentscheidungen umzusetzen, die zwei Mal
getroffen worden sind. Dabei sind Gerichtsentscheide auf allen Ebenen umzusetzen, sobald sie
Rechtskraft erlangt haben. Gegen diese Untätigkeit der Verwaltung ging die Betroffene eneut vor
Gericht (Artikel 254-257 der Strafprozessordnung der Russischen Föderation).
Die Juristen des Menschenrechtszentrums Memorial verteidigten L.I.Kutschina in einer
zivilrechtlichen Angelegenheit. Frau Kutschina hat mehrere Kinder, muss sich ausserdem um
den tuberkulosekranken Mann kümmern. In ihrem Fall hatte die Verwaltung von Grosnij
entschieden, die Rechtmäßigkeit ihres Wohnungsbesitzes aufzuheben und sie aus ihrer Wohnung
im Rayon Leninsk (Grosnij) zu räumen. Dank der kurzfristigen Einmischung der Juristen des
Menschenrechtszentrums Memorial wurde das Verfahren eingestellt, die Berufungsfrist wieder
eingesetzt. Schließlich wurde diese Entscheidung wieder zurückgenommen. Es kam zu einer
erneuten Verhandlung, zu der die Gegenseite nicht erschienen war. In letzter Instanz erhielt sie
Recht. Und so lebt Frau Kutschina mit ihrer Familie in dieser Wohnung.
Im Haus № 28 der Perwomajskaja Strasse des Rayon Leninsk (Grosnij) befindet sich das
Department für Straßen der Tschetschenischen Republik. Die früheren Besitzer der Wohnungen
in diesem Haus haben keine Entschädigungszahlungen erhalten. Diese klagten dagegen im
Gericht des Rayon Leninsk in Grosnij. Doch dort weigert man sich, diese Klage zu behandeln.
Begründung: es fehlten die entsprechenden Daten der Migrationsbehörde.
Die Anwälte des Beratungsnetzwerkes, die das Mandat der ehemaligen Bewohner der
Häuser № 90 mit den Wohnblocks (Korpus) 6-7-8-9-10-11-12-13-14-15, und der Häuser №5,
№7, № 7 «а» der Chankala-Straße übernommen hatten, bereiten derzeit eine Klage wegen der
Verletzung ihrer Wohnrechte vor. Deren Häuser waren durch Sprengungen zerstört worden.
Eine Antwort erhielten sie von der Administration der Stadt Grosnij:
- in der Nacht vom 3. auf den 4. November 2002 hatten Angehörige der Vereinigten im
Kaukasus stationierten Truppen 17 Wohnhäuser der Chankala-Straße, die Schule №23 und einen
Kindergarten im Rayon Oktjabrskij in Grosnij vermint und gesprengt. Am 4. November wurden
11 Wohnhäuser gesprengt, die Bewohner waren zuvor aus ihren Häusern geräumt worden. In der
Folge waren 328 Familien obdachlos. Die Sprengungen waren vorgenommen worden, weil ein
Hubschrauber wenige Tage zuvor aus einem dieser Häuser beschossen worden sein soll. Durch
die Einmischung der lokalen Machthaber konnte die Sprengung weiterer Häuser verhindert
werden.
In der Verwaltung von Grosnij war eine Liste von 15 Familien erarbeitet worden, die
vorrangig Wohnraum erhalten sollten. Sie haben ihre neuen Wohnungen inzwischen bezogen.
Vier weitere Familien haben ebenfalls eine neue Wohnung erhalten.
Ch.U. Takajewa, einer der ehemaligen Bewohnerinnen dieser Häuser, klagte bei der
Militärstaatsanwaltschaft. Eine Antwort erhielt sie von dort nicht. Die Anfrage von
Menschenrechtlern wurde jedoch beantwortet:
- wegen der Vernichtung von Eigentum der Bewohner der Chankala-Straße in Grosnij
wurde kein Verfahren eingeleitet und keine Ermittlungen aufgenommen.
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- bei einer Überprüfung des Sachverhaltes wurde festgestellt, dass fünfstöckige Häuser
auf der Chankala-Straße teilweise zerstört wurden und sie nicht bewohnbar sind.
R.I.Sulejmanow wandte sich an die Juristen von „Migration und Recht“, nachdem sein
Haus von der Verwaltung des Rayons Zawodskij und der Behörde für besondere
Baumassnahmen (Spezstroj) abgerissen worden war.
Die Verwaltung des Rayons beschuldigte ihn, die „rote Linie“ überschritten zu haben.
Mitte März 2007 erschienen der Chef von „Spezstroj“ in Tschetschenien, S.P.Sidorjakin, der
Leiter der Verwaltung des Rayons Zawodsk, S. Ch. Zentorojew und der stellvertretende
Verwaltungschef des Rayon Zawodsk, Ablan Dakajew im Hof von Sulejmanow. Sie baten ihn, die
Dokumente für das Haus vorzulegen. Sulejmanow zeigte ihnen eine technische Dokumentation
des Anwesens vom 16. Februar 1978. Diese beruhte auf der Bescheinigung № 760 vom
18.07.1969. Er legte ferner die Papiere von 1986 vor, auf deren Grundlage damals das Haus mit
einer Gasleitung bestückt worden war, sowie sämtliche Schreiben und Entscheidungen des
Exekutivkomitees von Zawodsk. Hierin war das Anwesen auf den Zentimeter genau beschrieben,
alle kleineren Gebäude waren ebenfalls vermerkt. Auf diesem Grundstück befand sich noch vor
der Deportation von 1944 ein Haus, das dem Großvater von Sulejmanow gehörte. Laut Plan ist
das Anwesen 20 x 60 Meter groß. Nach den Abrissmaßnahmen war das Anwesen nur noch 20 x
30 Meter groß. Auf seiner Fläche stand nur noch ein Gebäude, in dem ein Wohnen nicht möglich
ist.
An diesem seinem Unglückstag rannte R. Sulejmanow vor den Bulldozern und den
Vertretern der Macht und hielt Dokumente in der Hand, die die Rechtmäßigkeit seines Hauses
bestätigten. Er bat sie, mit dem Abriss zu warten, man solle noch Gutachten von anderen
Fachleuten einholen. Sollten diese doch entscheiden, ob er wirklich die „rote Linie“
überschritten habe.
S.I. Sulejmanow berief in seiner Verzweiflung einem nationalen Brauch entsprechend
geachtete Personen zusammen. Mit diesen suchte er den Bauminister der Tschetschenischen
Republik, A.D. Gechajew auf. Doch als dieser den Grund des Besuchs der Gruppe erfuhr, bat er
sie, sofort den Raum zu verlassen. 15 Menschen haben durch diesen Abriß das Dach über ihrem
Kopf verloren.
Auf Initiative von R.I. Sulejmanow führten ein Fachmann der Verwaltung von Grosnij
und ein Fachmann der Architektur-Abteilung im Städtebau eine Prüfung des Sachverhaltes
durch. Sie kamen zu der Auffassung, dass die „rote Linie“ nicht überschritten worden war und
dass alle Anforderungen des Städtebaus erfüllt worden waren. Das Haus № 54 in der MogilewStraße sei ohne rechtliche Grundlagen abgerissen worden.
Die Staatsanwaltschaft lehnte die Einleitung eines Strafverfahrens ab. Der Betroffene
klagte gegen diese Ablehnung und berief sich dabei auf Artikel 125 der Strafprozessordnung der
Russischen Föderation. Daraufhin musste die Staatsanwaltschaft ihre Ablehnung zurücknehmen,
das Material wurde zur weiteren Bearbeitung an die Staatsanwaltschaft des Rayons Zawodskij
in Grosnij übermittelt. Diese lehnte jedoch ebenfalls zunächst die Einleitung eines Verfahrens
ab. Der Staatsanwalt von Zawodskij selbst und der Leiter des Ermittlungskomitees bei der
Staatsanwaltschaft der Russischen Föderation in der Tschetschenischen Republik haben diese
Entscheidung wieder revidiert. Bei der Prüfung der Unterlagen ließ sich nicht feststellen, wer
die Feststellung getroffen hatte, Suleimanow habe die „rote Linie“, wie sie in den
städtebaulichen Vorschriften beschrieben ist. Es finden sich in den Unterlagen auch keine
schriftlich fixierten Entscheidungen der Beamten. Und S.Ch. Zentorojew, der Leiter der
Administration des Rayons, hatte bei der Befragung erklärt, er habe sich in seinem Vorgehen auf
ein Schreiben der Verwaltung von Grosnij gestützt. Darin habe man ihm erklärt, dass alle
Häuser, die über die „rote Linie“ gebaut seien, eingerissen werden müssten. So werde dies von
Artikel 51 des Städtebaukodex gefordert. Mehrfach, so sagt er, habe er S.I. Sulejmanow über den
geplanten Abriss informiert. Außerdem habe sich Sulejmanow selbst an „Spezstroj“ mit der Bitte
gewandt, man möge ihm beim Umbau des Hauses helfen. Mit diesem solle verhindert werden,
60
dass das Haus weiterhin die rote Linie überschreite. Wie kann es denn sein, dass Sulejmanow um
eine derartige Hilfe gebeten hat. Schließlich war er sich doch sicher, dass sein Haus die rote
Linie nicht überschreite.
Ebenfalls nicht berücksichtigt und in die Akte aufgenommen wurden Photos, die
Sulejmanow der Staatsanwaltschaft auf einer DVD ausgehändigt hatte. Auf dieser DVD fand
sich außerdem ein Video des Abrisses, eine Audioaufzeichnung von Drohungen und
Beleidigungen, die Zentorojew und der stellvertretende Leiter der Stadtverwaltung Sulejmanow
gegenüber ausgesprochen hatten. Sie hatten ihn damit zu einer Rücknahme seiner Erklärung an
die Staatsanwaltschaft bewegen wollen.
In den Materialien finden sich keine Hinweise darauf, dass der Besitzer des Hauses in
der Mogilew-Straße 54 „Spezstroj“ um Bauarbeiter und Bautechnik angefragt hätte.
Die Ermittlungsbehörden führten keine Gegenüberstellungen durch, es wurden auch
nicht alle Zeugen befragt.
Die Staatsanwaltschaft empfahl S.I. Sulejmanow, keine Erklärungen mehr zu schreiben.
Am besten sei, er würde dies alles schnell wieder vergessen. Wohin auch immer er seine
Beschwerden schicke, und seien es noch so hohe Instanzen, sie würden letztendlich doch in
seiner Abteilung landen. Und dort würde man dann eine entsprechende, ähnlich gelagerte,
Entscheidung treffen.
Im Januar 2009 klagte Sulejmanow beim Gericht von Zawodskij gegen die
ungesetzlichen Handlungen der Administration des Rayon Zawodskij und „Spezstroj“. Er klagte
auf Schadensersatz, auf moralischen Schaden. Die Sache wurde von Richter V.P.Daurkin
übernommen. Am 26. Februar wurde eine erste Anhörung angesetzt. Die Beklagten beantragten,
den Prozess auf den 31. März 2009 zu verschieben. Man müsse sich erst mit den Unterlagen
vertraut machen.
Am 12., 16., 22. und 29. April fanden dann die Anhörungen statt. Das Gericht wies
letztendlich die Klage ab. Sulejmanow habe erst am 15. Februar 2008, also neun Monate nach
dem Abriss des Hauses nachweisen können, dass dieses ihm gehört habe (Sulejmanows
Schenkungsvertrag war von einem Angehörigen der Verwaltung von Zawodskij zerrissen
worden, er selber hatte im Gericht gesagt, dass er diesen verloren habe). Es existiert jedoch laut
einer Bescheinigung von „Rostechinventarisazija“ noch eine Kopie des Schenkungsvertrages.
Auf dessen Grundlage hatte „Rostechinventarisazija“ auch das Haus als Sulejmanows Besitz
angegeben. Das Gericht begründete seine Entscheidung u.a. damit, dass die geladenen Zeugen
nicht gesehen hatten, wie der Befehl zum Abriß gegeben worden ist. Ferner bezog sich das
Gericht auf die Aussage des Zeugen A.L. Dokajew (den stellv. Leiter der Verwaltung des Rayons
Zawodskij), wonach die Hausbesitzer vorab über den geplanten Abriß informiert gewesen seien,
schließlich hätten sie über die „rote Linie“ hinaus gebaut. Bei der Gerichtsverhandlung wurde
ebenfalls bekanntgegeben, dass man kein Strafverfahren einleiten werde. In der Begründung
stützte man sich auf Aussagen von Personen, die das Haus hatten zerstören lassen. Auch in der
zweiten Instanz blieb man bei dieser Entscheidung. Inzwischen wurde eine Klage beim
Europäischen Menschengerichtshof eingereicht.
Auch Frau М.А Bulatchadschiewa klagte gegen den Abriß ihres Hauses (ul. Sapernaja,
Grosnij).
Bei Kampfhandlungen war ihr Haus in Mitleidenschaft gezogen worden. Deswegen
musste sie in eine vorübergehende Unterkunft ziehen. Seit 2008 lebt sie in einer Mietwohnung.
Im April 2007 begannen die Verwaltungen von Grosnij, des Rayons Oktjabrksij in den Strassen
Gudermeskaja, Sapernaja, Tschajkina und Schaumjana Häuser einzureisen, weil man hier neues
Baugebiet anlegen wollte. Unter den abgerissenen Häusern war auch jenes von Frau
Bulatchadschiewa. Dabei kaufte die Verwaltung von Grosnij nicht, wie es eigentlich hätte sein
müssen, ihr privatisiertes Stück Land oder den verbliebenen Teil des Hauses. Ihr zahlreichen
Schreiben an die Verwaltung der Stadt blieben unbeantwortet. Im Gericht des Rayon Oktober
reichte sie eine Klage gegen die Stadtverwaltung auf Schadensersatz ein. Mit Entscheid vom
61
15.3.2010 entschied das Gericht des Rayons Oktober, die Klage habe so lange zu ruhen, bis die
Klägerin die Gebühr von 19600 Rubeln bezahlt habe. Dieses Geld hat die Klägerin nicht, ihr
Antrag auf Befreiung der Gerichtsgebühr wurde nicht bearbeitet.
Wenn die Stadt Grosnij Bedürfnisse anmeldet, werden Grundstücke beschlagnahmt,
Häuser abgerissen. Im Zentrum von Grosnij wurde ein kleines, 16 qm großes Haus abgerissen.
Die Bewohner, unter ihnen A.A. Malikow, erhielten nicht eingerichtete Wohnungen am
Stadtrand. Aus Mangel an Alternative und weil er fürchtete, auch diese Wohnmöglichkeit zu
verlieren, fand sich A.A. Malikow mit der neuen Lage ab.
Nach den Neujahrsfeierlichkeiten 2010 begannen in den Regionen Kurtschalojew und
Gudermes Bauarbeiten. Zunächst wurden Häuser niedergerissen. Im Rayon Kurtschalojew
wurden viele staatliche Bauten in Dorfzentren und Wohnhäuser abgerissen. Den ehemaligen
Eigentümern dieser Häuser, deren Vorfahren dort 160-180 Jahre gelebt hatten, sagte man
Mietwohnungen zu. Man versprach ihnen, am Stadtrand neue Häuser zu bauen. Am 25. Februar
wurden die Bewohner der Häuschen in der Schelesnodoroschnaja-Straße in Guermes von
Mitarbeitern der Stadtverwaltung aufgesucht. Diese befahlen ihnen, ihre Häuschen innerhalb von
drei Tagen zu verlassen, da das Viertel abgerissen werden solle. Wer nicht räume, müsse damit
rechnen, vom Bagger geräumt zu werden. Daraufhin räumten die Bewohner des Viertels ihre
Wohnungen. Ersatzwohnungen wurden ihnen nicht angeboten und so suchen sie in der ganzen
Republik nach einer Wohnmöglichkeit.
Das größte Problem ist, dass sich keiner der Bewohner über dieses rechtswidrige
Verhalten empörte und alle sich in ihr Schicksal fügten. Weder die Presse noch der
Menschenrechtsbeauftragte zeigen sich darüber beunruhigt. Wenn man sich hätte von
menschlichen Überlegungen leiten lassen, vom Gesetz ganz zu schweigen, so hätte man den
Bewohnern zuerst Ersatzwohnungen anbieten müssen, bevor man ihre Häuser abreist.
Intern Vertriebene (IDPs) an Orten der kompakten Unterbringung in
Tschetschenien
Wer nicht bei Verwandten unterkommen kann, muss in einer Wohnung in einem
Wohnheim leben. Aber auch dort sind die Plätze begrenzt.
Derzeit finden sich in Tschetschenien 14 Wohnheime und zwei „Kompaktunterbringungen“.
Für die Bewohner dieser Wohnheime besteht wenig Hoffnung auf eine eigene Wohnung
in naher Zukunft. Die Behörden sagen, sie seien ihnen nichts schuldig, wollen diese ehemaligen
Binnenflüchtlinge nicht sehen und nicht hören, gehen ihnen aus dem Weg.
Im gesellschaftlichen Bewußtsein wird von den „typischen Binnenflüchtlingen“ ein
negatives Bild gezeichnet. Diese seien faul, und gewohnt, auf anderer Leute Kosten zu leben.
Tatsächlich stehen sie aber oft monatelang an der Arbeitsbörse, nehmen jede Arbeit auf dem Bau
oder den Märkten an. Bei der gegenwärtigen Arbeitslosigkeit sind viele Arbeitsplätze von
Menschen aus der Türkei, Dagestan, Vietnam, Usbekistan oder Tadschikistan besetzt. Diesen
bezahlt man noch weniger, das meiste geht an die Arbeitsvermittler. Wer kein Geld hat und die
nötigen Bestechungsgelder bezahlen kann, hat keine Aussicht auf eine Stelle beim Staat.
Trotzdem bemühen sich die ehemaligen Binnenflüchtlinge, ihre Familie zu ernähren, zu kleiden,
medizinisch zu versorgen. Nur Wohnraum können sie ihrer Familie ohne staatliche Hilfe nicht
geben.
In den Wohnheimen leben viele Familien mit mehreren Kindern, für sie ist das Fehlen
sämtlicher Bequemlichkeiten noch schwerer. Unter allen Wohnheimen stechen das Wohnheim in
Grosnij, das sich unter der Adresse: Bulwar Dudajewa, 15/4 und das in der Wyborgskaja Nr. 4
hervor.
In dem ersten Wohnheim leben 114 Familien, ungefähr 381 Personen. Die meisten von
ihnen sind im Rayon Leninsk, Grosnij, registriert.
62
Drei Familien aus dem Rayon Wedeno wurden im Rahmen eines Programmes der Regierung der Tschetschenischen Republik Häuser gebaut. In einem dieser Häuser lebt die Familie
von Rajbek und Zina Gajrbekov. Sie haben sieben Kinder im Alter zwischen 8 und 19 Jahren.
Die Familie war gezwungen, im Wohnheim zu bleiben, da sie in dem zugeteilten Haus nicht
wohnen konnten. Es hatte nur zwei Zimmer mit insgesamt 52 qm, die Innenarbeiten sind nicht
gemacht worden, es fehlen Strom und Wasser, und weil keine Straße zu diesem Haus führt, ist es
schwer, dort hinzukommen. Rajbek arbeitet bei der Baufirma „Strojinvest“, bereits acht Monate
hat er keinen Lohn erhalten.
Dokumente, die ihr Recht auf dieses Stück Land garantieren würden, erhalten sie nicht
und die Besitzrechte auf dieses Stück Land, auf das die Regierung Tschetscheniens dieses
Häuschen gebaut hat, werden von einem anderen Bewohner dieses Dorfes beansprucht. Die
Verwaltung des Rayons Wedeno fordert, dass die Familie auf die von dem Regierungserlaß №
404 garantierten Kompensationszahlungen verzichten soll. Zina Garbekowa sagte einmal: „Im
Januar wollten sie uns aus dem Wohnheim räumen. Ich kenne Menschen, die von hier nach
Europa ausgereist sind. Sie sind nicht Bürger dieser Länder, doch aus irgend einem Grund
kümmert man sich dort um sie, man sorgt sich um ihre Kinder, gibt ihnen Bildung, Wohnraum,
medizinische Versorgung und müht sich, dass sie ein Leben in Respekt führen können. Aber hier
in meinem Land, in meiner Heimat, hat man gerade zwei heruntergekommene Zimmer für uns
übrig. Das ist gerade mal soviel, dass wir nicht auf der Straße leben müssen. Niemand
interessiert sich dafür, wie meine Kinder aufwachsen, Kinder von anderen Eltern eben.“
Alisat Machmetowna Basnukajewa hat sechs Kinder, eines dieser Kinder ist Invalide.Der Vater ist 1995 verstorben.
Frau Basnukajewa arbeitet im Hof eines Hauses. Anfang 1990 begann die Familie, in
dem Dorf des Rayon Schatoj ein Haus zu bauen, wo die Familie registriert ist. Doch nach dem
Tod des Vaters ließ sich das Haus nicht mehr zu Ende bauen. Jetzt steht auf dem Gelände gerade
der Rohbau. 2003 brachte man die Familie aus einer Zeltstadt für Flüchtlinge aus Inguschetien
zurück. Dort war sie in einer „Vorübergehenden Unterkunft“ unter der Adresse: ul.
Malgobekskaja 19 untergebracht. 2008 wurde die Familie umgesiedelt. Zuvor hatte man ihnen
eine Wohnung versprochen. Man drückte ihnen 18.000 Rubel in die Hand. Damit sollten sie sich
eine Wohnung für 6 Monate mieten. Einen Garantiebrief für eine Wohnung gab man ihnen
jedoch nicht. Bei einem Treffen mit Kadyrow gelang es der Mutter, diesen zu bitten, sie auf die
Liste der Wohnungssuchenden zu setzen. In der Folge erhielt sie mit ihren Kindern wieder einen
Raum in einem Wohnheim. Doch jetzt will man sie erneut aus dem Wohnheim räumen.
Begründung: sie sei ja in einem Dorf wohnbehördlich gemeldet.
Das Haus der vierköpfigen Familie von М. Abdulmeschidowa, war 1994 zerstört
worden. Seit 2003 lebt die Familie in diesem Wohnheim (davor im Flüchtlingslager“Alina“ in
der Republik Inguschetien). 2007 wurde M. Abdulmeschidowa von der Verwaltung des Rayons
Leninsk auf die Liste der Personen, die dringend Wohnraum gbrauchen, gesetzt. Eine
Kompensationsleistung hat sie nicht erhalten. Die verzweifelte Frau fragt sich, was nur ihre
Schuld gewesen sein kann, dass sie jetzt so leben muss.
12 Personen, darunter ein erwachsener Sohn, gehören zur Familie von Machmudow
Wachi, geb 1952 und seiner Frau. Sie haben keinen Wohnraum. 2008 hat er die Dokumente in
die Verwaltung des Rayon Leninsk eingereicht, 2009 ging ein Bescheid bei ihm ein, dass sein
Fall an das Bürgermeisteramt von Grosnij weitergegeben worden wäre.
Das Haus von S.A. Lorsanowa in Grosnij wurde während des ersten Krieges zerstört.
1999 reiste sie mit ihren Kindern nach Inguschetien, wo sie im Lager „Sputnik“ lebten. 2004
kehrte die Familie nach Grosnij zurück, wo sie bis 2007 in der Vorübergehenden Unterkunft
Majakowski lebte. Seit 2007 lebt sie in besagtem Wohnheim.
Vier weiteren Familien im Wohnheim hilft der UNHCR beim Bau von eigenen Häusern.
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Die Vertreter der Administration des Rayon Oktober hatten während eines Besuches im
Wohnheim erklärt, dass die Binnenflüchtlinge in den nächsten 10 bis 15 Jahren nicht mit einem
eigenen Wohnraum rechnen könnten.
Die Lebensbedingungen sind ungenügend. Die erste Etage wird von Friedensrichtern
gemietet. Die Bewohner des Heimes sagen, dass nach Beginn der Reparaturarbeiten dieser
Mieter in ihren Teilen des Hauses das fließende Wasser und die Kanalisation nicht mehr
funktionierten. Deswegen müssten sie alle Waschgelegenheit und WC im Hof nutzen. Diese
neuen Mieter haben den Bewohnern des Wohnheimes die Haupteingänge gesperrt, deswegen
könnten die Flüchtlinge nur noch über die für die Feuerwehr vorgesehenen Eingänge in das
Haus. Auch das Wasser müssen die Flüchtlinge nun aus dem Hof in das Haus tragen. Dieser
beschwerliche Weg führe über Müll und Pfützen. Mit dem Wagen zum Haus zu kommen ist
wegen der vielen Straßenlöcher, dem Wasser und dem Schmutz nicht einfach. Bitten an die
Verwaltung, hier Abhilfe zu schaffen, wurden nicht beantwortet.
In dem Wohnheim „Tschetschenneftechimprom“ (ul. Wyvborgskaja 4) leben 144
Familien (682 Personen). Von diesen sind 116 Familien auf dem Land und 28 Familien in der
Stadt wohnbehördlich gemeldet (in erster Linie im Rayon Zawodskij). Neben den intern
Vertriebenen leben dort Familien von Arbeitern des Unternehmens Tschetschenneftechimprom,
die für die kommunalen Leistuneg bezahlen. 2009 haben zwei Familien dort eine Wohnung
erhalten. Zwei Familien aus dem Rayon Wedeno bauen dort im Rahmen eines Programmes der
tschetschenischen Regierung Häuser. Sechs Familien aus Urus-Martan erhalten vom UNHCR
Baumaterialien.
Die Lebensbedingungen sind völlig unzureichend: die hygienischen Bedingungen
sind nicht in Ordnung, die Räume sind feucht, lange wurden in ihnen keine
Renovierungsarbeiten getätigt. Nur in der Küche gibt es Gas. In den Gängen ist es dunkel und
kalt. Das Wasser holen die Bewohner aus dem Hof.
In diesem Wohnheim wohnt die Familie von Raisa Musajewna Tulschajewa, drei ihrer
Kinder. Eines dieser Kinder ist 14 Jahre und behindert. Ihr Haus in Urus-Martan wurde 1999
vernichtet. Seit 2007 lebt die Familie in dem Wohnheim Wyborgskaja-Straße 4. Kompensationszahlungen haben sie erhalten, die Hälfte davon hatten sie Vermittlern bezahlen müssen. Sicherlich nicht freiwillig. Der Rest des Geldes wurde für zwei Operationen und die Behandlung des
Mannes ausgegeben. Chawasch Tulschajew ist Invalide der zweiten Gruppe, er hat bereits drei
Operationen hinter sich, hat einen By-Pass, nach einem Infarkt ist er nicht mehr arbeitsfähig.
Raisa Tulschajewa hatte sich wiederholt an die Führung verschiedener Ämter gewandt
und bat, man möge ich helfen, Baumaterial zu besorgen oder ihr eine Wohnung zuteilen. Die
Antworten, die sie erhielt, waren oft grob und mit der Bitte verbunden, doch bitte nicht weiter bei
der Arbeit zu stören. Oder man empfahl ihr, sie solle doch ihren Mann das Haus bauen lassen.
Der UNHCR versprach der Familie, sie mit Baumaterial zu unterstützen, wenn die
Familie das Haus selber bauen werde. Raisa bat die Verwaltung von Urus-Martan um Hilfe, da
sie selber sich nicht in der Lage sah, ein Haus zu bauen. Doch dort wollte man ihr keine
Unterstützung gewähren. Dann versprach der UNHCR, die Familie in ein Pilotprojekt
aufzunehmen. Sollten für dieses Pilotprojekt genügend Gelder kommen, werde die Familie bis
Ende 2010 ein Haus schlüsselfertig erhalten.
Im Wohnheim Jalta Nr. 24 sind nur 13 von insgesamt 49 Familien Binnenflüchtlinge. Die
anderen sind ehemalige Arbeier der Fabrik „Chimprom“, die schon zu Sowjetzeiten auf eine
Wohnung warteten.
In einem der letzten unserer Berichte hatten wir auch über die Familie von Jachita
Selimchanowna Aschabowa, geb. 1955 berichtet. Nach dem Tod des Mannes 1993 zog sie
alleine vier Söhne auf. Ihr Haus, das sich in Grosnij auf der Ponjatkowa-Str. 60 befand, war
1995 vernichtet worden. Kompensationsleistungen hatte die Familie nicht erhalten. Der
Dänische Flüchtlingsrat schenkte der Familie ein kleines Häuschen von 48qm. Dieses Haus war
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innen nicht fertiggestellt. Doch zur Innengestaltung und dem Verlegen von Kabeln fehlte der
Familie das Geld.
Drei Söhne wohnen mit ihren Familien in diesem Wohnheim. Einer von ihnen arbeitete
auf dem Bau als Hilfsarbeiter. Dort hat er einen Lohn von 21 Tausend erhalten. Doch die
Schulden der Familie liegen über 21 000 Rubel. Sie hatte alle Behörden um Hilfe ersucht, doch
ohne Ergebnis.
In den Wohnheimen Jalta 24, Majakowskij 119, Majakowskij 140, Novator 17, Bulvar
Dudajewa 15/4, Sajchanows-Tobolskaja 28 wurde 2009 keiner einzigen Familie sozialer
Wohnraum gegeben.
Am 15. Januar 2010 kam der Chef der Administration des Rayons Oktober, Idris
Gaibow, sein für soziale Fragen zuständiger Stellvertreter Achmed Abastow, und ein weiterer
Vertreter, Aslanbek Berdukajew, sowie Batasch Gortschchanow, ein Mitarbeiter des Verwaltungschefs von Grosnij.
Nachdem er alle Bewohner versammelt hatte, befahl Aslanbek Berdukajew ihnen kurz,
sie sollten das Gebäude verlassen. „Morgen früh darf hier niemand mehr sein“ sagte er. „Seht
euch doch an“ sagte er „ihr seid doch Zigeuner. Wir geben euch Wohnraum im Rayon
Staropromyslow, fahrt dorthin.“.
Die Bewohner versuchten, die Beamten umzustimmen. Man möge ihnen doch zumindest
bis zum Frühjahr Aufschub geweähren. Sie hätten Kinder, die in die Schule müssten, seien in
medizinischer Behandlung. Unter ihnen sind auch behinderte Kinder. Viele der Erwachsenen
arbeiten bei der Reinigung, auf den Höfen der Häuser, auf dem Markt oder in Cafes. Es sei ihnen
nicht möglich, an einem neuen Wohnort wieder eine Arbeit zu finden. Und von dort könnten sie
auch nicht regelmäßig an ihren derzeitigen Wohnort fahren, zu den Arbeitsstellen, zu den
Schulen. Darauf antworteten die Beamten, auch an dem neuen Wohnort gäbe es Schulen und
Arbeitsplätze. Batasch Gortschchanow schrie, man müsse im Wohnheim nur die Fenster
zerschlagen, die Türen zertreten, Gas, Wasser und Strom abstellen, und schon wäre das Problem
gelöst.
Am 24. Januar 2010 hielt ein Wagen der Miliz vom Rayon Oktjabrskij ungefähr um
19:00 Uhr vor dem Wohnheim. Die Milizionäre forderten die Bewohner auf, das Heim sofort zu
verlassen. Sie sollten es nicht darauf ankommen lassen, bis sie geräumt würden. Nach einer
kurzen Diskussion fügten sich die Flüchtlinge in ihr Schicksal und siedelten in das Heim
Majakoswskij 111 um.
Hier gilt anzumerken, dass dies der erste Fall einer Räumung ist, bei der die Menschen
nicht einfach auf die Straße gesetzt wurden, sondern man ihnen noch einen neuen Wohnraum
angeboten hat. Doch was für einen Wohnraum?
Jetzt leben in dem Wohnheim Majakowskij 105 Familien, ehemalige Bewohner des
Wohnheimes Tschajkowskij 28 und des Hauses an der Raskow-Straße Nr. 30, sowie Übersiedler
aus ländlichen Rayonen.
In dem Gebäude gibt es eine Heizung, kaltes Wasser (heißes Wasser war versprochen
worden, doch es funktionierte nicht). Die Stromversorgung wurde häufig unterbrochen.
4-köpfige Familien erhielten ein Zimmer mit einer Fläche von 12 qm, 6-köpfige Familien
erhielten 18 qm. Familien mit mehr als 7 Personen erhielten Zweizimmerwohnungen. In diesen
beiden Zimmern waschen sie ihre Kinder, waschen sie die Kleidung, essen sie und schlafen sie.
Auf jedem Stockwerk gibt es eine gemeinsame Küche mit drei Gasplatten.
Nach Angaben von Bewohnern des Wohnheimes, die zuvor in der Tschajkowskij-Str. 28
gewohnt hatten, hatten sie vom Verwaltungschef von Staropromyslow, Selimchan Istamulow
erhalten. Dieser hatte ihnen gesagt, dass er sie nach dem Schuljahr umsiedeln werde. Bei der
Umsiedlung in das neue Heim waren keine Sozialwohnungsmietverträge abgeschlossen worden.
Die Bewohner erhielten auch keine anderen Papiere, die ihnen auch formal die Wohnung in dem
Wohnheim garantiert hätten.
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Die Verwaltung des Rayons Gudermes versucht immer wieder, Menschen gegen ihren
Willen aus dem Heim in der Depowskaja-Strasse auszusiedeln. Dort leben 76 intern Vertriebene,
die im Rayon Gudermes keine ständige Registrierung vorweisen können. Bis auf den heutigen
Tag ist dieses Vorgehen bei der Lösung von Wohnungsproblemen erfolgreich – aus der Sicht der
Behörden. So wurden in den letzten zwei Jahren mehr als 10 Familien aus dem Heim
ausgesiedelt. Diese Familien bestanden im Durchschnitt aus 5-7 Personen. Und keine einzige
Familie ist mehr zurückgekehrt. Einige haben sich auf Landstücken niedergelassen, die die Stadt
Gudermes für sie gekauft hat, andere mieten kleine Datschenhäuser am Stadtrand, da sie sich
keine Wohnung in der Stadt leisten können. Wieder andere leben vorübergehend in Häusern von
Verwandten, wenn diese für eine gewisse Zeit nicht zu Hause sind. Besonders für die Kinder
sind die häufigen Umzüge sehr belastend, da sie jedes Mal in eine neue Schule müssen. Doch
meistens lassen die Eltern sie nach dem ersten oder zweiten Schulwechsel ganz zu Hause.
Die Verwaltung des Rayons Gudermes hat mit den Verwaltungschefs der Bergdörfer
vereinbart, dass diese die Flüchtlinge wieder zurücknehmen solle, die aus den Dörfern
ursprünglich kamen. Dies war aber nicht als Hilfe für die Flüchtlinge gedacht. Vielmehr wollte
man sich so einiger Flüchtlinge entledigen.
Im Winter erhielten die Bewohner oben genannter provisorischer Unterkunft die
Nachricht, dass man sie bis Ende April 2010 umsiedeln wolle. Nachdem sich ein Jurist des
Menschenrechtszentrums Memorial mit der Administration des Rayon Gudermes getroffen hatte,
hieß es dort, das Gerede von der Umsiedlung entspreche nicht den Tatsachen. Und so erklärte im
Folgenden niemand mehr von den Angestellten der Verwaltung, dass man die Bewohner des
Heimes umsiedeln wolle.
2008 wurden Bewohner, die aus Wedeno stammten, wieder dorthin umgesiedelt. Man
hatte 2008 zum „Jahr des Rayon Wedeno“ erklärt, und im Dorf Tasen-kala im Rayon Wedeno 12
Wohnhäuser gebaut. Auch wenn diese Häuser noch gar nicht fertig gebaut waren, zogen die
Menschen trotzdem ein. Und um sich ihren Lebensunterhalt zu sichern, begannen sie mit
Bienenzucht, Gemüseanbau, spalteten Holz. Doch bald endeten die Versuche, sich sesshaft zu
machen. Der Grund lag in der Zunahme von Sonderoperationen gegen bewaffnete illegale
Formierungen. Weil man nicht wollte, dass sich die Aufständischen in diesen Häusern Geiseln
nehmen konnten oder von dort vielleicht die Bewohner die Aufständischen unterstützten, wurden
die Bewohner erneut umgesiedelt.
Neben dem eben angeführten Ortsteil „5. Abschnitt“ gab es noch vier weitere
Wohnabschnitte in dem Dorf Tasen-Kala: Koschkary, Borse, Nosche, Jukara, Chono. Dort gab
es in den Wohnungen maximal Strom. Doch entweder fehlte ein Transformator oder eine Straße,
die zur Wohnung führte, oder anderes, was die Kommunikation mit diesen Häusern sehr
erschwerte. Derzeit leben aus dem Rayon Wedeno stammende Bewohner, insbesondere, wenn
sie aus dem Dorf Tasen-kala stammen, vorwiegend im Rayon Schtschelkowskij (st. Uslowaja, st.
Staroschtschedinskaja, st.- Novoschtschedrinskaja) und in den Städten Gudermes und Argun.
Nach wie vor drängend ist das Wohnungsproblem auch für die in dem Dorf Sernowodsk,
Rayon Sunscha, Tschetschenische Republik, lebenden Binnenflüchtlinge. Mit der Schließung
des Wohnheimes MKP-SChP am 7.9.2009 waren 29 Familien ausgesiedelt worden. Die meisten
von ihnen konnten anschließend bei Verwandten unterkommen. Diese lebten jedoch auch vorher
schon sehr beengt. Derzeit leben sieben Familien im zweiten Abschnitt des Sanatoriums
„Sernowodsk-Kavkaski“. Die Räumlichkeiten sind alt, haben keine Heizung, auch auf der Straße
fehlen die nötigen sanitären Einrichtungen. In diesen baracken-ähnlichen Häusern leben 22
Familien. Diese Familien lebten vorher in einem Haus des Kurortes „Sernowodsk-Kavkaski“.
Das Haus war bei Gefechten vollständig zerstört worden. Kompensationszahlungen nach Erlaß
№ 404 erhielten nur einige der betroffenen Familien, die anderen warten auf die Zahlung oder
auf Hilfe beim Wiederaufbau des Hauses.
Für 58 Familien von Binnenflüchtlingen aus dem Rayon Atschcha-Martanow war auf
Entscheid von Ramsan Kadyrow Häuser in verschiedenen Ortschaften gebaut worden: in Jandi66
Kotar, Starij Atschchoj, Katyr-Jurt, Samaschki. Achte dieser Häuser in Ziegelbauweise sind
bezugsfertig, es fehlt jedoch Gas- und Stromleitungen. Lediglich zwei Familien aus dem Heim in
Atschcha-Martanow haben sich in diesen Häusern angesiedelt. Weitere 6 Familien von
Binnenflüchtlingen leben auf dem Gebiet einer Konservenfabrik.
Über die Situation in der Ortschaft Bamut hatte „Migration und Recht“ schon mehrfach
berichtet.
In der Ortschaft Bamut, Rayon Atschcha-Martanow, findet sich ein Wohnheim mit 16
Familien. Sie alle sind Bewohner von Bamut. Ihr Wohnraum war bereits 1994 zerstört worden.
Anfang 1999 hatten viele aus eigenen Kräften ihre Häuser wieder aufgebaut. Doch wenig später
wurden diese erneut zerstört. Diese Familien waren, wie alle anderen intern Vertriebenen auch,
aus Flüchtlingslagern zurückgekehrt, die sich in der Republik Inguschetien befanden. Dort hatte
man ihnen versprochen, man werde ihre Wohnungen wiederaufbauen. 2006 kehrten sie dann
zurück. Doch die Behörden hielten ihre Versprechungen nicht ein.
Gas und Strom legten sich die Bewohner selbst, Wasser holten sie aus dem Hof. Familien
mit mehreren Kindern leben in Einzimmerwohnungen, wenn sie Glück haben, in
Zweizimmerwohnungen. Diese Familien haben praktisch alles verloren.
Nach zahlreichen Versprechungen nahm die tschetschenische Regierung im Frühjahr
2009 die Aufgabe wahr, die Häuser aller in dieser Unterkunft Lebenden wieder aufzubauen. Der
Leiter der Administration des Rayons Atschcha-Martanow erstellte eine Liste der Bewohner und
übermittelte diese zur weiteren Bearbeitung an die Verwaltung von Atschcha-Martanowsk. Doch
von 17 Familien erhielten 5 eine Absage. Man erklärte den erstaunten Menschen, dies läge
daran, dass sie Banditen seien, da unter ihren Verwandten auch Aufständische seien. Deswegen
seien sie logischerweise deren Helfershelfer.
Bei einer Familie, der der Wohnraum verweigert war, war ein Neffe bei der Aufständischen gewesen. Er war Anfang 2008 ums Leben gekommen. Um Dorf wissen alle, dass
sich dessen Verwandte von ihm losgesagt hatten. Ähnlich lagen die Dinge bei einer weiteren
Familie.
Bei zwei anderen Familien waren die Söhne ungesetzlich verhaftet worden. Einer von
ihnen ist noch minderjährig, für die Sicherheitskräfte jedoch kein Hindernis für eine Verhaftung
mit anschließender Folter. Einer der betroffenen jungen Männer hatte berichtet, dass er von
Bewaffneten aufgesucht worden sei. Diese hätten ihn aufgefordert, ihn zu essen zu geben. Aus
Angst sei er dem nachgekommen.
Man versprach den Bewohnern Sicherheit und zwang sie dann nach Hause
zurückzukehren. Doch obwohl das Dorf von den Sicherheitskräften eingezingelt ist, gelingt es
den Aufständischen immer wieder, in das Dorf vorzudringen. Die Leidtragenden sind die
Dorfbewohner, die sich zwischen zwei Fronten sehen.
Auf die Frage, warum man diesen Personen keine Wohnungen gebe und was sie denn
nun verbrochen hätten, konnte der Leiter der Verwaltung des Dorfes Bamut auch nichts
konkretes sagen.
Das Dorf Bamut, das unmittelbar am Fuß der Schwarzen Berge liegt, ist ein altes
tschetschenisches Dorf, in dem einige hundert Familien lebten. Wie viele tschetschenische
Dörfer auch, ist Bamut von Ruinen geprägt. Mitten im Dorf wachsen nun Bäume, so dass es
schwer fällt zu sagen, wo welche Straße ist, sich welches Haus befindet.
Intern Vertriebene aus Tschetschenien in der Republik Inguschetien
2009 endete der Vertrag des Föderalen Migrationsdienstes mit 22 Wohnheimen in
Inguschetien. Gemeinsam entschieden die Präsidenten von Tschetschenien und Inguschetien,
dass die intern Vertriebenen aus Inguschetien nach Tschetschenien zurückkehren sollten. In der
Folge befahl man den Behörden vor Ort, die Wohnheim zu schließen.
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In der Station Ordschonikidskaja in der Republik Inguschetien leben in der Unterkunft
„Mechstroj“ 112 Personen (28 Familien). Deren Zahl hat im Vergleich zu den Vorjahren
abgenommen. Noch im April 2009 hatten in der Unterkunft MKP 52 Familien gelebt. Doch es
war die Politik der Behörden, mit allen Mitteln die Flüchtlinge zu einer Rückkehr in die Heimat
zu zwingen. Und so sind in „Mechstroj“ diejenigen zurückgeblieben, die wirklich nicht wissen,
wo sie hin können.
Sie kommen aus verschiedenen Gegenden der Tschetschenischen Republik, wo sie alle
keinen Wohnraum haben. Hier haben sie ihre Familien, bewirtschaften ein Stück Land, können
allerdings kein Haus bauen. Einige wohnen in Hütten oder Rohbauten mit unterschiedlichem
Stadium der Fertigstellung. Die meisten von ihnen haben gar keinen Besitz. Manche leben seit
1999 in dieser Unterkunft. Andere wiederum hatten vorher in anderen Unterbringungsstätten
gelebt.
Die Lebensbedingungen in dieser Unterkunft sind äußerst unbefriedigend: das Haus ist
feucht, alt, und war nie als Wohnhaus konzipiert.
Familien mit mehreren Kindern leben in Ein- oder Zweizimmerwohnungen. Auf dem
Anwesen des Hauses gibt es Wasser, in dem Haus Gas und Strom.
Da die Familien schon 10 Jahre unter diesen Bedingungen leben, ist die nervliche
Belastung groß, die Familienmitglieder durchleben Stress, werden schlecht ernährt und so gibt es
praktisch in jeder Familie eine oder zwei Personen, die Invaliden sind oder an einer chronischen
Erkrankung leiden. Die Binnenflüchtlinge haben schlechte Arbeitsbedingungen, kein
regelmäßiges Einkommen.
Unterdessen haben die in den Unterkünften in Inguschetien lebenden Flüchtlinge für sich
entschieden, wer bleiben will und wer nach Tschetschenien zurückgeht. Den Familien, die in
Inguschetien bleiben, stellt die Regierung Inguschetiens in Zusammenarbeit mit einer Schweizer
humanitären Organisation kleine Häuschen zur Verfügung. Anfang 2009 lebten in Inguschetien
ungefährt 3000 intern Vertriebene, die wieder nach Tschetschenien zurück wollten.
Derzeit sind ungefähr 2300 rückkehrwillig.
Schon seit mehreren Jahren werden die Bewohner der Unterkünfte regelmäßig von
Angehörigen des Migrationsdienstes, der städtischen und ländlichen Behörden aufgesucht. Jedes
Mal fordern die Behördenvertreter die Flüchtlinge auf, nach Tschetschenien zurückzukehren.
Den Bewohnern von ländlichen Rayonen verspricht man, ihnen Land zu geben und ihnen beim
Bau von Wohnraum zu helfen. Den aus der Stadt stammenden Flüchtlingen verspricht man
sozialen Wohnungsraum.
Nicht immer bleibt es bei Überredung. Am Morgen des 28. Juni 2009 stellte man die
Strom-, Wasser- und Gasversorgung des Lagers ab. Man forderte die Bewohner auf, kurzfristig
das Territorium „Mechan-Stroj“ zu verlassen und nach Tschetschenien zurückzukehren.
Grund dieser Aufforderung war die Weigerung des Besitzers des Gebäudes, in dem sich
die Unterkunft befand, den Vertrag mit dem Föderalen Migrationsdienst zu verlängern. Man
würde auf ihn Druck ausüben. Dieser Druck käme auch aus der Migrationsbehörde selbst.
Dabei bezahlen die Bewohner schon lange die Kosten für Strom, Wasser und Gas selbst.
Der Besitzer will sich auch nicht darauf einlassen, dass die Bewohner selbst die Miete
bezahlen. Damit wäre auch das Problem des Drucks noch nicht gelöst.
Die Bewohner von „Mechan-stroj“ konnten so für eine längere Zeit den Kindern keine
Mahlzeiten kochen, an den Abenden saßen sie im Dunkeln, das Wasser mussten sie aus einer
großen Entfernung herantragen.
Im Juli 2009 gelangt es Menschenrechtlern, den Besitzer zu überreden, für einen Monat
wieder Strom und Gas freizuschalten. Danach kam der Ramadan, und da wagte der Besitzer es
nicht, etwas zu tun, was Gott nicht gefallen könnte. Und anschließend schaltete sich der UNHCR
ein. Deswegen ist ihr Leben momentan erträglich. Doch niemand weiß, wie die Zukunft, auch
nicht die nahe Zukunft, für sie aussieht.
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Intern Vertriebene, die Inguschetien in Richtung Tschetschenien verlassen, tun dies in der
Hoffnung, dass die Verwaltungsorgane ihr Wort halten werden. Doch zurückgekehrt, müssen sie
sich häufig von Beamten anhören, dass sie lange genug in Unterkünften auf anderer Menschen
Kosten gelebt hätten und nun wollten sie Land, ein Haus oder eine Wohnung praktisch
geschenkt. Man erklärt ihnen dann, dass das ganze Land praktisch schon verteilt ist, man für sie
also nichts mehr übrig hätte. Einigen gibt man ein Stück Land, aber kein Baumaterial, von Hilfe
beim Bau ganz zu schweigen. Dabei sagt man ihnen, dass sie ihre Wohnungsprobleme selbst zu
lösen hätten.
In der Stadt Karabulak, Republik Inguschetien, leben 33 Familien (265 Personen) in der
Unterkunft “Promschilbasa Sosidanie“. Davon wollen 16 Familien in die Tschetschenische
Republik zurückkehren, 17 Familien von intern Vertriebenen sind inguschischer Nationalität und
wollen in Inguschetien bleiben. Nicht selten kommt auf eine Familie ein Zimmer. Manche
Familien zählen 7-9 Familienmitglieder. Der Föderale Migrationsdienst Russlands in der
Republik Inguschetien leistet dort keine Hilfe. Die Menschen bezahlen die Kosten für Strom,.
Wasser und Gas selber.
Malika Aliewna Merschojewa, ist alleinerziehend, hat vier Kinder.
Vor Einsetzen der kriegerischen Handlungen lebten sie in der Stadt Argun. Ein
Verwandter mit dem sie im Haus gelebt hatten, verkaufte dieses nach dem Tod ihres Mannes.
Malika wollte nicht auf dem Rechtsweg um das Haus kämpfen. Nach mehrfachem Bitten
gewährten ihr die Behörden von Argun ein Landstück in einem sumpfigen Gebiet, das in
unmittelbarer Nähe zu einer Mehlfabrik lag. Sie verzichtete auf dieses Stück Land, und für den
Bau eines Hauses fehlt ihr das Geld. Als sie eines Tages von Beamten aufgesucht wurde,
versprachen diese ihr eine Wohnung, wenn sie zu einer Rückkehr nach Tschetschenien bereit sei.
Und sie kehrte zurück, wandte sich nach der Rückkehr an den stellvertretenden Verwaltungschef
von Argun, Visit Nanajew. Dieser beleidigte sie, lachte über sie. Danach kehrte sie wieder in iher
Flüchtlingsunterkunft zurück. Mit Bedauern spricht sie von ihren Kindern. Diese seien wie
tausend andere Kinder im Kriegszustand aufgewachsen, hätten Enge, Mangel kennengelernt. In
nur 10 Jahren seien sie Erwachsene geworden.
Lejla Salmanowna Kortojewa. Sie ist verheiratet und hat drei Söhne. Tschetschenien
haben sie 1999 verlassen, ihr Haus in Grosnij war 1999 während der Kampfhandlungen
vernichtet worden. Kompensationszahlungen hat sie nicht erhalten. Ihr Mann und zwei Söhne
wollen nach Tschetschenien zurückkehren, doch für eine Wohnung brauchen sie Geld, und das
haben sie nicht. Ein Sohn ist inzwischen verheiratet. Er hat erklärt, er wolle in der Republik
Inguschetien bleiben. Dort hat man ihm inzwischen in der Ortschaft Pliewo ein Häuschen zur
Verfügung gestellt.
Kjuri Adamowitsch Chaladow und Jachita Chaladowa, 8 Kinder.
Sie haben 1999 Tschetschenien verlassen, wo sie in dem Dorf Chattuni, Rayon Wedeno,
gelebt hatten. Ihr Haus zuhause ist zerstört, Kompensationszahlungen haben sie nicht erhalten.
Die Familie ist in einer materiell sehr angespannten Situation. Jachita Chaladowa ist Invalidin.
Drei ihrer Kinder können nicht zur Schule gehen, da ihnen die Eltern keine Kleidung für die
Schule und Unterrichtsmaterialien kaufen können. Die Familie will zurückkehren und bittet, ihr
hierbei zu helfen.
Timur Wachajewitsch Masigow, geb. 1978, verheiratet, drei Kinder.
Mit seiner Mutter hatte er in Grosnij eine Zweizimmerwohnung. 1999 verließ er
Tschetschenien. Seine Wohnung ist vollständig zerstört.
Das älteste Kind ist im schulfähigen Alter, das jüngere ist schwer krank, wird derzeit in
einer anderen Stadt behandelt. Geld für die Behandlung des Kindes haben die Bewohner der
Unterkunft und die städtische Moschee gesammelt.
Timur arbeitet auf dem Bau. Er möchte nach Tschetschenien zurückkehren.
Karasch Machagowa, Dschabrail Machagow (geb. 1937 г.р.). 9 erwachsene Kinder
leben mit den Eltern.
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Bis zu den kriegerischen Handlungen lebten sie in Grosnij. Dorthin waren sie in den 80er
Jahren aus Kasachstan kommend gezogen. Sie wollen nach Tschetschenien zurück.
Immer wenn Vertreter der Verwaltung des Rayons Grosnij und des in der
Tschetschenischen Republik tätigen Föderalen Migrationsdienstes in inguschetische Unterkünfte
kommen, bitten sie diese, ihnen bei der Rückkehr nach Tschetschenien und der Gewährung von
sozialem Wohnraum behilflich zu sein.
Die Station Ordschonikidskaja, die Unterkünfte „Chleboprodukt“ und „Tiger2“
Zajnap Magomedowna Malsagowa, Jakub Magomedowitsch Malsagow, geb. 1953.
9 Personen leben in der Familie. Das Haus ist zerstört, Kompensationszahlungen haben sie nicht
erhalten. Die Verwaltung des Rayons Staropromyslow hat sie als wohnbedürftig anerkannt. Im
März 2009 versprach man ihnen, innerhalb von zwei Monaten einen Wohnraum zu vermitteln.
Zuvor werde man ihnen die Miete bezahlen. So reiste sie mit der Familie nach Grosnij. In der
vorgeschriebenen Frist wandte sich Zajnap Malsagowa an die Verwaltung. Doch dort sagte ihr
der stellvertretende Leiter der Verwaltung, der sie zuvor in der Flüchtlingsunterkunft aufgesucht
hatte, er kenne sie nicht, könne sich an sie auch nicht erinnern. Auch Wohnraum werde man ihr
nicht bezahlen.
So sah sich die Familie gezwungen,, wieder in die Flüchtlingsunterkunft zurückzukehren.
Station Ordschonikidskaja, Republik Inguschetien, Unterkunft „Marketing Service“
Nach der Schließung der Flüchtlingsunterkunft „Marketing Service“ siedelten sich die
Bewohner, die nicht wussten, wo sie hinsollten, in den leeren Flügel des Geschäftes an. Dort
leben nun 4 Familien (20 Personen). Immer wieder erschienen Kommissionen aus
Tschetschenien, doch es tat sich nichts. Jeden Monat bezahlen die Familien 1000 Rubel für die
Wohnung. Der andere Teil des Gebäudes ist von einem Lebensmittelgeschäft belegt. Dieses ist
wiederholt Ziel von Anschlägen gewesen, weil dort alkoholische Getränke verkauft werden.
Durch die Anschläge sind auch die Wohnungen in Mitleidenschaft gezogen worden. Zwar wurde
niemand verletzt, doch die Bewohner leben in ständiger Angst vor weiteren Anschlägen.
Ugajew Chawasch und Ugajewa Tumischa, (Invalidin), fünf Kinder.
Sie lebten im Rayon Schatoj in dem Dorf Guschgort. Ihr Haus befand sich auf einem
Grundstück, das dem Bruder gehörte. Es wurde vollständig zerstört. 1999 haben sie
Tschetschenien verlassen. Immer wieder baten sie um Hilfe bei der Rückkehr nach
Tschetschenien. Als erneut ein Vertreter der Behörden der Tschetschenischen Republik angereist
war, der Präfekt des Rayons Schatoj, versprach dieser ihnen Hilfe, wenn sie zu einer Rückkehr
bereit seien. Gleichzeitig versprachen ihnen die Verwandten ein Stück Land, worauf sie ein Haus
bauen könnten. Zu Hause angekommen, sagte man ihnen, sie sollten das Fundament auf eigene
Kosten bauen. Aber dann würde man helfen. Doch sie hatten kein Geld für das Fundament. So
kehrten sie wieder in die Flüchtlingsunterkunft zurück. Sie baten den Präsidenten der
Tschetschenischen Republik um Hilfe, doch von dort hatte man den Brief an die Verwaltung des
Rayons weitergeleitet.
Station Ordschonikidsewskaja, Republik Inguschetien, Unterkunft MRO „Rassvet“
In dieser Unterkunft leben 30 Familien (190 Personen). Alle dort, mit denen Menschenrechtler hatten sprechen können, wollten nach Tschetschenien zurück.
Die Lebensbedingungen sind schlecht, jeden Monat sind 800 Rubel für Wasser, Strom
und Gas zu bezahlen. Viele Flüchtlinge sind krank, die Arbeitslosigkeit unter ihnen ist sehr hoch.
In diesem Heim leben mehr Familien, die Kompensationszahlungen erwarten als in
anderen Heimen.
Station Ordschonikidsewskaja, Republik Inguschetien, Unterbringung Restaurant
„Selenga“.
Hier leben 17 Familien. 6 dieser Familien, insgesamt 35 Personen, wollen nach Tschetschenien zurück.
Die Lebensbedingungen sind schlecht, die Gebäude sind groß, mit Umzäunungen aus
Sperrholz. Die Bewohner müssen dem Besitzer des Restaurants zwei Tausend Rubel bezahlen.
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