Das Dilemma in der Paartherapie mit Texten von Eugen Drewermann In der Paartherapie ist regelmäßig zu beobachten, dass das, was die Paare einstmals für einander interessiert hat Gegenpole sind. Gegenpol zum Vorbild Vater oder Mutter oder Gegensatz zu den eigenen Muster und Charakterstrukturen. Er ruhig sie quirlig, er Narzisst Besserwisser Selbstgerecht mit Neigung zur Selbstüberschätzung und Größenwahn, sie Opfer masochistisch, depressiv zu Vernichtungsgefühlen neigend. Dies macht die Faszination aus im Sinne der Bindungs- und Beziehungsenergien. Diese hier beschriebenen Pole sind nur zwei Paare. Es lassen sich aber unendlich viele Paare formulieren, die entweder ganz oder als Anteile in der Partnerschaft vorkommen. Das heißt, die Partnerschaft dominieren oder nur ein Teil der Partnerschaft sind. Natürlich regeln sich die Polpaare die nur Teilaspekte der Partnerschaft sind unter der Dominanz des Verstehens oft leichter, wie wenn diese Polarisierung, wie es oft der Fall ist, der wichtigste Aspekt der Partnerschaft ist, oder wird. Dabei können die Herkunftsfamilien mit ihren Dynamiken und Lernschulen und die Loyalität und Verstrickung mit diesen, die Problematik noch verstärken. „Ich habe dir gleich gesagt mein Junge, die passt nicht zu dir und auch nicht in unsere Familie“. Dieser Satz gilt natürlich auch umgekehrt. Das verstärkt und verfestigt natürlich die Polarisierung, wie leicht verständlich ist, aber nicht gewusst wird, weil das systemische Denken in der Paartherapie noch nicht sehr bekannt ist. Die natürliche Aufgabe scheint darin zu bestehen, sich zu spiegeln und damit aus den Polen, die beide nicht lebendig sind, zu erlösen und an diesen Polarisierungen zu reifen. Du kannst ich retten. Du bist anders als meine Mutter oder mein Vater. Gerade deswegen habe ich dich geheiratet. Mein Vater, um beim Beispiel zu bleiben, war ein “Weichei“. Der hat nie was gesagt und hat sich nicht entscheiden können. Aber Du!! Da weiß ich, wo ich dran bin. Du führst mich. Aber es geschieht was anderes. Die Pole verstärken sich. Der Narzisst wird immer Größenwahnsinniger, sie immer mehr Opfer. In diesem Zustand kommen sie zur Therapie, weil die Spannungen unerträglich geworden sind, es droht die Scheidung. Natürlich wird die erste Phase der Therapie darin bestehen in einem Einzelgespräch, den Einen und den Anderen kennen zu lernen. Stand: September 2012 Seite 1 Es kommt manchmal der Mächtige, die/der sich im Recht fühlende, die/der bestätigt bekommen möchte, dass er Recht hat, dass der andere sich zu ändern hat, aber nichts tut. „Ich habe Therapie gemacht, das hat sei/er ja nicht nötig, er/sie hat ja keine Probleme“.“ Es hat gar keinen Sinn mit meinem Mann/Frau zu reden, der /die versteht nicht.“ Aber manchmal auch das Opfer, das Angst hat, dass die Beziehung auseinander gehen könnte und er wieder verlassen wird. Therapeutischer Auftrag, helfe mir das zu verhindern. Leider kommt der Andere oft nicht. Es sind nicht nur die Männer die keine Probleme haben, sagen wir lieber kein Problembewusstsein, die nicht kommen. Nein es kommen auch die Frauen nicht, die um ihre Machtposition fürchten. Das ist allerdings seltener. Wenn beide kommen, wird man ein Paargespräch bewirken um die Dynamik des Wir als Resonanz, als Wechselwirkung beider zu spüren. Dies ist nur möglich, wenn beide kommen. Dazu gibt es auch noch nonverbale Stellungsübungen, die beide erleben lässt, wie sie zueinander stehen. Dann wird man beide zum Familienaufstellen einladen, damit sie erleben können, warum der eine so und der andere so geworden ist. Am besten lässt man den Einen und die Anderen in diese andere Familie hineinstellen, um zu spüren, wie es sich in der Familie der Partner/rin jeweils angefühlt hat. Im Nachgespräch sollte dann das Wichtigste nachgesprochen werden. I. Das Dilemma der stark polarisierten Paare Durch die Kenntnisse der Verhältnisse des anderen und seine Sippengeschichte, wird der Rechthaber behaupten, dass er es ja schon immer gewusst und gesagt hat. Er wird es als narzisstische Zufuhr erleben und sich noch mehr über den Anderen erheben. Der Andere aber wird sich in seiner Kleinheit und seinem Drama noch kleiner machen, weil er nun gesehen hat, das er auch schon in der Ursprungsfamilie diese Position hatte und das es nun doch, wie der Partner es ja auch schon immer behauptet hat, wirklich nichts Wert ist. Als Therapeut musst man aber bei dem bleiben, was man wahrnimmst. In diesem Dilemma muss ein Punkt ein Platz eingebaut werden, der das Lügengebäude und Wahrnehmungsverzerrung beider heilt. Nur in dem sie in ihrem „Entweder - Oder“ ein, „Sowohl als Auch“ erfahren entweder Stand: September 2012 sowohl als auch oder Seite 2 kann ein neues Bewusstsein entstehen, von dem aus beide immer wieder das Eigene erkennen können und sich in den eigenen Rollen sehen und nicht mehr als von den Rollen dominiert. Dabei wird nun von außen, der eigentliche Sinn der Polarisierung, so wie sie von Anfang an gemeint war, sich zu spiegeln und zu erlösen, möglich. Das Dilemma aber ist meist, dass der „Sowohl als Auch“ Therapeut, das heißt derjenige, der den Einen und den Anderen versteht und ihn in seiner Wahrnehmung natürlich bestätigt, zum Spielball beider wird. Jeder der Partner nimmt nun auch beim Therapeuten den Part des anderen wahr, sieht den Therapeuten als Mitläufer und parteiisch im Sinne des Anderen oder benutzt den Therapeuten und seine Aussagen als Waffe gegen den Anderen. Der Therapeut hat auch gesagt…………..ich weiß, der steht auf deiner Seite………… Beide ziehen sich wieder zurück und lassen die Therapie und den Therapeuten scheitern oder verbünden sich wieder und machen den Therapeuten zum gemeinsamen Feind. Solche Systeme brauchen immer ein Feindbild oder in einer Dreiecks Beziehung immer einen, der den Ausgleich schafft, der Geliebte oder die Geliebte, die nur eine Entlassung der Spannung ist, aber nicht die Lösung. Auch diese Partner, und der Paartherapeut ist als Liebender in einer ähnlichen Rolle als Geliebter und Gehasster, kommen in das Opfer ,Helfer Täterdrama. Der mich Besserversteher oder der Gehasste der sich mit dem anderen gegen mich verbündet hat. In dieses Dilemma, dass muss man wissen gerät man als Therapeut oder Therapeutin immer, auch wenn man noch so professionell damit umgeht. Dabei hat sich durch den systemischen Ansatz und das Einbeziehen des Familienstellen die Situation schon etwas entschärft. Jeder der in der Paartherapie tätig ist sollte deswegen auch diese Instrumente zur eigenen Entlastung benutzen und dabei die jeweiligen gleichgeschlechtlichen Mittherapeuten ein laden. Dennoch scheint dieses Dilemma manchmal unauflösbar. II. Das Dilemma der Sehnsuchtsfalle BEGEHREN Es wird Zeit für dich, nicht mehr außen nach dem zu suchen, was dich glücklich machen könnte. Schau nach innen. Es gibt eine berühmte Sufi-Geschichte: Ein König trat zu einem Morgenspaziergang aus seinem Palast und begegnete einem Bettler. Er fragte den Bettler: Stand: September 2012 Seite 3 „Was begehrst du?“ Der Bettler lachte und sagte: „Du fragst so, als könntest du mir meinen Wunsch erfüllen!“ Da fühlte sich der König beleidigt. Er sagte: „Natürlich kann ich deinen Wunsch erfüllen. Welchen Wunsch hast du? Du brauchst ihn nur zu sagen.“ Und der Bettler sagte: „Überleg es dir lieber noch ein mal, bevor du irgend etwas versprichst.“ Der Bettler war kein gewöhnlicher Bettler; er war im vorigen Leben der Meister des Königs gewesen. Und er hatte ihm in jenem Leben versprochen: „Ich werde wiederkommen und versuchen, dich in deinem nächsten Leben aufzuwecken. In diesem Leben hast du es nicht geschafft, aber ich werde wiederkommen.“ Aber der König hatte das völlig vergessen — wer erinnert sich schon an frühere Leben? Also ließ er nicht locker: „Ich werde dir alles erfüllen, worum du mich bittest. Ich bin ein sehr mächtiger Herrscher; was könntest du dir schon wünschen, das ich dir nicht erfüllen könnte?“ Der Bettler sagte: „Mein Wunsch ist sehr einfach. Siehst du diese Bettelschale? Kannst du sie mir mit irgendetwas füllen?“ Der König sagte: „Natürlich!“ Und so rief er einen seiner Wesire herbei und befahl ihm: „Fülle die Bettelschale dieses Mannes mit Geld.“ Der Wesir ging davon, holte etwas Geld und schüttete es in die Schale... und das Geld verschwand darin. Also schüttete der Wesir immer mehr Geld nach, aber sobald es hineinfiel, verschwand es auch schon. Und die Bettelschale blieb ständig leer. Der ganze Hof versammelte sich. Schließlich verbreitete sich das Gerücht in der ganzen Hauptstadt, und eine riesige Menge strömte zusammen. Das Ansehen des Herrschers stand auf dem Spiel. Es sagte zu seinen Wesiren: „Und wenn das ganze Königreich draufgeht, ich bin bereit, es zu verlieren, aber ich lass mich nicht von diesem Bettler schlagen.“ Diamanten und Perlen und Smaragde... seine Schatzkammern leerten sich schon. Diese Bettelschale schien bodenlos. Alles, was man in sie hineinschüttete — alles! — verschwand augenblicklich, hörte auf zu existieren. Schließlich war es Abend geworden, und die Leute standen in völligem Schweigen da. Der König fiel zu Füßen des Bettlers nieder und gestand seine Niederlage ein. Er sagte: „Bitte sage mir nur eines. Du bist der Sieger — aber bevor du gehst, befriedige bitte meine Neugierde. Woraus ist die Bettelschale gemacht?“ Stand: September 2012 Seite 4 Der Bettler lachte und antwortete: „Sie ist aus menschlichem Geist gemacht. Da gibt es kein Geheimnis... sie ist ganz einfach aus menschlichem Begehren gemacht.“ Diese Einsicht verwandelt dein Leben. Untersuche einmal einen deiner Wünsche — was ist sein Mechanismus? Zunächst ist großer Reiz, große Erregung, Abenteuerlust da. Es macht dir großen Spaß. Etwas wird geschehen, du st unmittelbar davor. Und dann hast du das Auto, du hast die Yacht, du hast das Haus, du hast die Frau... und dann ist dies alles plötzlich wieder sinnlos geworden. Was ist passiert? Dein Geist hat es entmaterialisiert. Das Auto steht in der Ausfahrt, aber es hat keinen Reiz mehr. Der Reiz bestand nur darin, es zu bekommen... du hast dich so berauscht an diesem Wunsch, dass du dein inneres Nichtsein vergessen hast. Jetzt — der Wunsch ist erfüllt, das Auto in der Ausfahrt, die Frau im Bett, das Geld auf dem Konto —‚ jetzt ist der Reiz wieder weg. Und wieder ist die Leere da, bereit, dich zu verschlingen. Und wieder musst du einen neuen Wunsch erfinden, um diesem gähnenden Abgrund zu entfliehen. So geht es in einem fort, von einem Wunsch zum nächsten Wunsch. Und so bleibt man ein Bettler. Dein ganzes Leben beweist es immer wieder aufs neue — jeder Wunsch frustriert. Und wenn das Ziel erreicht ist, brauchst du wie der einen neuen Wunsch. An dem Tag, an dem du verstehst, dass alles Wünschen als solches scheitern wird, kommt der Wendepunkt in deinem Leben. Die andere Reise geht nach innen. Geh nach innen. Komm zurück nach Hause. Der Urgrund der Sehsuchtsfalle ist das Begehren des Kindes nach der Mutter oder dem Vater, der entweder nicht da war und oder das nicht hatte, was dem kindlichen Begehren zu einer bestimmten Zeitpunkt, zugestanden wäre. Dieser Mangel führt zu einer Überhöhung dieses Begehren oder zur Vernichtung. Das heißt es wird abgeschaltet um es nicht mehr so quälend zu spüren. Es kommt zur Ersatzbefriedigung oder Ersatzobjekten, ein Teddybär oder Tiere, die aber das wahre Begehren nicht befriedigen konnten. Stand: September 2012 Seite 5 Befriedigung Ersatz Begehren-Trieb So entsteht eine Spannung die als Sehnsucht gefühlt wird und mit Liebe verwechselt wird. Diese Sehnsucht wird dann zunächst durch innere (Traumfiguren und Illusionen) oder äußere Ersatzobjekte ersetzt. Damit wird die Triebspannung gemindert, aber nicht aufgehoben. Das Muster ist, dass Objekte gesucht werden, die nur scheinbar das Begehren befriedigen aber nicht wirklich. So geschieht es dann auch in den Partnerschaften. Im Partner wird der sehnsüchtig (aber unbewusst begehrte Vater oder die nachnährende Mutter) gesehen. Meist aber werden Partner gesucht, die genau das nicht können oder die Selbst innerlich verarmt im anderen ebenfalls den vermissten (Vater oder Mutter) suchen. Das tun sie deswegen, weil sie einen Partner der ihr Begehren erfüllen würde, nicht sehen, denn das Sehnsuchtsprogramm ist ja so orientiert, dass Erfüllung nicht geschehen kann und darf. Bis die Sehnsucht als solche durchschaut wird. Da hilft dem Therapeuten die Aufstellungsarbeit. Er wird regelmäßig als das begehrte Subjekt (Objekt) gesehen und muss das als Übertragungsenergie in sich spüren. Es muss dies erst annehmen und bestätigen. Er darf die Verwechslung nicht ablehnen, sonst hat er gleich verspielt. Es gehört aber anderseits auch, wenn man den Prozess mit einer Aufstellungsarbeit begleitet, sehr viel Fingerspitzengefühl dazu diese Übertragung zurück zu geben und wieder in die Partnerschaft zurück zu integrieren. Das gelingt nur sehr schwer. Eher wird auch der Therapeut/tin als Sehnsuchtssubjekt (Objekt) fallen gelassen und der Klient oder die Klientin zieht sich zurück und kommt nie wieder, wenn sie mit der Stand: September 2012 Seite 6 „Wahrheit“ und dem Schmerz der in dem Abschied von ersehnten Primärsubjekt (oder Objekt) steckt, konfrontiert wird. Sie oder er werden sich wieder ein neues Opfer suchen und dann triumphierend anrufen, dass man falsch lag. Aber es kommt wieder so. Auch beim nächsten Therapeuten. Wenn der Therapeut das alles auch weiß, es tut dennoch weh. III. Das Dilemma des Tragischen und der Kompensation durch Illusionen WIE ERSCHEINT DAS TRAGISCHE UND WORIN BESTEHT ES? Aus Zeiten, die für heidnisch gelten, stammt ein Lebensgefühl bzw. eine Welterfahrung, die zutiefst tragisch ist. Die Menschen innerhalb dieses Weltbildes treten als Figuren eines Spiels auf, das die unsterblichen Götter oder Gewalten, mächtiger als sie, nach unbegreiflichem Ratschluss auf dem Schauplatz der Erde zur Aufführung bringen, und niemand kann ihnen wehren, wenn er auch wollte. Teile des Spieles enthüllen mitunter einen verborgenen Sinn: Vergangener Frevel der Väter findet seine unfehlbare Rache an späteren Geschlechtern oder Fluch lastet auf Sippen und Stämmen wegen dunkler Überhebungen der Vorzeit. Eine Art von Gerechtigkeit scheint hier am Werk: Uralte Schuld zeugt sich fort und vernichtet sich selbst zugleich mit ihren unseligen Erben. Aber nicht nur, dass in spät geborenen Zeiten persönlich Unschuldige wie zur ausgleichenden Sühne in den Bann eines fremden Vergehens eintreten müssen und selber trotz aller Gegenwehr sich neuerlich mit Schuld beladen oft auch zieht sich schon am Anfang des Unheils schicksalhaft der Fallstrick der Schuld um einen einzelnen zusammen, und die Frage nach der Gerechtigkeit im Walten der Überirdischen muss vollends Verstummen vor dem Eindruck der Willkür und der Unberechenbarkeit derartiger Fügung. Drei Merkmale also prägen das Bild des tragischen Lebensgefühls: a. der Charakter der Unabwendbarkeit: es gibt ein Schicksal, dem der einzelne machtlos ausgeliefert ist und das sich bei allem Sträuben nur um so eher und furchtbarer erfüllt; b. der Charakter der Verstrickung: der einzelne ist Glied eines Blutsmäßigen Zusammenhangs mit seinen Sippenangehörigen; er ist nur der Kristallisationskern eines kollektiven Verhängnisses; und c. der Charakter des moralischen Scheiterns: der einzelne muss mit seinem moralischen Vermögen an den Gesetzlichkeiten, die in seinem eigenen Wesen, in der Art seines Stammes sowie in der äußeren Natur in Erscheinung treten, notwendig zerbrechen: gegen das eigene Wollen muss er objektiv Schuld auf sich nehmen und an seiner Schuld zugrunde gehen. Dies ist das Hauptthema des Tragischen. Stand: September 2012 Seite 7 Das Tragische besteht mithin in einem Konflikt zwischen dem individuellen Bewusstsein und den Zwängen des Allgemeinen: Das moralische Wollen des einzelnen scheitert an den Notwendigkeiten des Schicksals, und das Böse, das er schließlich begehen muss, ist die Konsequenz eines Zusammenhanges, den er selbst zwar nicht verursacht hat, dem er aber doch unentrinnbar zugehört und verhaftet bleibt. Man hat daher gemeint, die Entgegensetzung von Individuellem und Allgemeinem sei an sich selbst bereits die Ursache des Tragischen; indem das Individuum aus dem Allgemeinen heraustrete und seiner selbst bewusst werde, indem es seine partikularen Absichten und Interessen gegenüber dem Allgemeinen geltend mache, müsse es notwendig schuldig werden Diese vor allem von der Geistmetaphysik des Deutschen Idealismus verbreitete Vorstellung vereinfacht jedoch den Sachverhalt und beschreibt das Problem nicht adäquat. Wenn das Individuum sich einfach hin vom Allgemeinen im Sinne des SittlichVerbindlichen und für alle Gültigen lossagen und sich auf seine eigenen Zielsetzungen zurückziehen würde, könnte es zwar objektiv schuldig werden, aber seine Schuld besäße nicht den Charakter des Tragischen. Selbst wenn man mit dem Deutschen Idealismus unterstellen wollte, daß der Akt der Reflexion notwendig jene Entgegensetzung des Individuellen und des Allgemeinen nach sich zöge — was nur unter bestimmten Voraussetzungen zutreffen wird —‚ so ist doch dieser Konflikt nicht eigentlich tragisch zu nennen: Das Individuum, als reines Für-sich-Sein vorgestellt, leugnet ja den verbindlichen Bezug zum Allgemeinen; ihm ist der Konflikt der Schuld nicht selber innerlich. Es mag vor der Allgemeinheit als schuldig gelten, aber sein eigenes Bewusstsein, solange es in der Singularität und Partikularität verharrt, spricht es frei. Der Fall des Tragischen hingegen beruht nicht auf einem Konflikt zwischen dem Individuellen und dem Allgemeinen an sich, sondern er basiert auf einer Spaltung des Allgemeinen im Individuum. Tragisch ist nicht, dass das Individuum etwas anderes will oder seiner selbst wegen wollen muss als das Allgemeine, tragisch ist, dass das Individuum den Forderungen des Allgemeinen entsprechen will, aber nicht kann, weil diese Forderungen selbst im Individuellen widersprüchlich werden. Das »Allgemeine« kann dabei in seinem Widerspruch zum Sittlichen verstanden werden als das Allgemeine der Natur, der Psyche, des Unbewussten, und als das Allgemeine der Sittlichkeit selbst, und so sind zwei Formen des Tragischen zu unterscheiden: 1. der Konflikt des Unbewussten mit dem Sittlichen — die Spaltung der Persönlichkeit und 2. der Konflikt der Verantwortung jenseits des Verantwortbaren — die Spaltung der Sittlichkeit selbst. Stand: September 2012 Seite 8 Im ersten Falle wird der einzelne zum Katalysator eines Verhängnisses, das in ihm selber wirksam wird, im zweiten Falle entlädt sich an ihm eine Gegensätzlichkeit, die im Kollektiven bzw. in den Umständen begründet liegt und von außen an ihn herangetragen wird. 1. Das Tragische als neurotischer Prozess — die Spaltung der Persönlichkeit Der ersteren Form des Tragischen kann man sich leicht nähern, wenn man die Art betrachtet, in der das Tragische in den Überlieferungen der Alten bewusst wird, und die einzelnen Momente dieses Prozesses tiefenpsychologisch deutet. In den Mythen der Alten wird das Tragische über den einzelnen von einer Schicksalsmacht verhängt, die sich in den Göttern verkörpert, ihnen aber überlegen ist und letztlich unpersönlich bleibt, — ein Es, kein Ich, ein Geschehen, kein Wille. Gleichwohl muss das Schicksal, so undurchschaubar auch immer, den einzelnen nicht ahnungslos und gänzlich ohne Vorbereitung reffen. Irgendwo gibt es Seher oder Zeichendeuter, die von dem künftigen Schicksal genaue Kenntnis besitzen sind diese Seher blind, und jedenfalls gewinnen sie ihr geheimes Wissen eher durch innere als durch äußere Wahrnehmungen. Denn wohl können bestimmte Tiere, die den Göttern nahe stehen, wohl können die Wege der Sterne, die Formationen der Wolken, das Antlitz des Mondes, ja schon die rauschenden Bäume dem Verständigen wertvolle Hinweise von außen her bieten, aber nur weil der Seher den verborgenen Kräften der Natur innerlich nahe steht, vermag er ihre Botschaften zu vernehmen. Zumeist bedarf er dazu nicht einmal der Vermittlung der äußeren Sinne, sondern in Traum und Trance erspäht er das Wesen und das Werden des Kommenden. All diese Mitteilungen: dass es ein Schicksal gebe, das sich eher den Tieren als dem menschlichen Bewusstsein, eher dem träumenden Gefühl als der wachen Vernunft mitteile, ein Schicksal, das selbst in Göttern (und Geistern) erscheine, aber jenseits derselben keine persönliche Gestalt besitze — diese Nachrichten wird man am leichtesten dahin verstehen müssen, dass die Macht, welche das Geschick des Menschen unfehlbar gestaltet, in der Psyche des Menschen selbst, in seiner eigenen Natur, in seinem Unterbewussten zu Hause ist. Unter dieser Voraussetzung, die in der Tiefenpsychologie bei der Interpretation der Mythen eingegangen wird, verlieren die genannten Merkwürdigkeiten sogleich den Anschein des Absonderlichen und schließen sich zu ein sinnvollen Einheit zusammen. Nur vom Unterbewussten der menschlichen Person ist es eine unpersönliche Macht darstellt, die das Schicksal der menschlichen Person vorherbestimmt und am ehesten im Traum und in den Mächten der Natur auf geheimnisvolle, nämlich symbolische Weise anschaubar wird. Nur Stand: September 2012 Seite 9 vom Unbewussten der Psyche her wird auch die Bindung des »Schicksals« an bestimmte Einflüsse der Vorzeit und insbesondere an gewisse Taten der Vorfahren verständlich; denn das Unbewusste wird nach tiefenpsychologischer Auffassung gerade durch das Verhalten der Eltern in der frühen Kindheit schicksalhaft geprägt, und zweifellos richtet sich das “ der Eltern wiederum vorwiegend nach dem Verhalten ihrer Eltern. Darüber hinaus hat L. Szondi beeindruckende Beispiele vorgelegt, um seine These vom familiären Unbewussten zu untermauern, das — im Unterschied zur sog. Symptomtradition, die rein psychisch bedingt ist — ein biologisches, erbliches Mittelstück zwischen dem persönlichen Unbewussten Freuds und dem kollektiven Unbewussten C. G. Jungs darstellt. Identifiziert man demnach das unpersönliche Wirken des Schicksals in den Mythen der Antike mit dem Es, dem Unbewussten der menschlichen Psyche, so ergibt sich für das Verständnis des Tragischen eine wichtige Konsequenz: Das Tragische bestimmt sich dann in einer seiner Formen als Auslieferung des lchs an das Unbewusste, und zwar so, dass das Ich die Forderungen des moralischen, des allgemein Verbindlichen kennt und mit aller Anspannung des Willens durchzusetzen sucht, aber an der Gewalt seines Unbewussten scheitert. Beides bildet in dieser Form des Tragischen eine unglückselige Einheit: der moralische Kampf des Ich und sein Zusammenbruch angesichts der Übermacht des Es. Das Moment des Kampfes unterscheidet das Tragische noch einmal deutlich von einer bloßen Vereinzelung des Willens; würde das Ich sich von vornherein unter dem Druck des Es, des Naturhaft-Allgemeinen von der moralischen Bindung lösen, so käme es nicht zu der Dramatik, die zum Tragischen gehört. In einem tragischen Konflikt will das Ich gerade in dem Schutz und in der Sicherheit des Sittlich-Allgemeinen verbleiben, es macht seine Individualität gerade in der Ergebenheit zum Sittlichen geltend; es kämpft nicht gegen das Sittliche, sondern gegen sich selbst, gegen den Zwang des eigenen Unbewussten in seiner Psyche, aber es geht in und an diesem Kampf zugrunde. Das Tragische ergibt sich mithin aus einer Spaltung der Persönlichkeit zwischen den Anstrengungen des Ichs und der Macht des Es, und es konstituiert sich in dem Moment, wo das Ich in seinem Leben an entscheidenden Punkte zu schwach ist, sich gegen den Ansturm des Unbewussten zu behaupten. In dieser Sicht versteht man zugleich, wieso das tragische Scheitern der Moralität die prompte Strafe der Götter, meist in Gestalt physischer Vernichtung oder lebenslangen Unglücks, nach sich zieht. Die strafenden Götter sind in tiefenpsychologischer Deutung Mächte des Überichs, und sie gehören dem Ich so wenig an wie die Kräfte des Es, ja im Grunde leiten sie sich aus dem Es her und verbleiben mit ihm in einer Stand: September 2012 Seite 10 widersprüchlichen Einheit. Teils stehen sie daher mit dem Es im Bunde, teils vertreten sie eine sittliche Ordnung, deren schicksalhafte Übertretung sie nach dem Fall alsbald rächen, indem sie das hilflose Ich mit unentrinnbaren Vorwürfen und Strafen überziehen: das Heer der Erinnerungen sucht das schuldig gewordene Opfer heim. In summa: Das Tragische entsteht in tiefenpsychologischer Sicht dort, wo das Ich seinem eigenen Unbewussten ohnmächtig ausgeliefert ist und zwischen den Gesetzen des Es und des Überichs in schicksalhafter Schuld und in notwendiger Strafe zermahlen wird. Das eigentliche Problem der Tragödie ergibt sich demnach aus einer Schwäche des Ichs, und diese lässt sich sowohl geistesgeschichtlich als auch strukturell interpretieren. Geschichtlich gesehen, musste die Kunstform der Tragödie dort entstehen, wo das Ich sich bereits weit genug aus der Kollektivpsyche herausentwickelt hatte, um einen eigenen persönlichen Auftrag des Sittlich-Allgemeinen an sich gerichtet zu empfinden, wo es aber (noch) zu schwach war, demselben nachzukommen. Wenn nicht die Individualität selbst, sondern die Schwäche der Individualität das Tragische ausmacht, so wird in der Tragödie dem Ich das Unbewusste zum Schicksal aufgrund eines Mangels an Persönlichkeit; und umgekehrt ist es das Überich, die Welt der Götter, die, je nachdem, als verkörperte Triebmächte oder ich fremde moralische Instanzen das Ich gleichermaßen aufgrund seiner Ohnmacht in den Abgrund des Verderbens stürzen. Strukturell gesehen, muss das Tragische in der individuellen Erfahrung überall dort zur Aufführung drängen, wo das Ich in seinem Bemühen um das sittlich Gute hilflos den Forderungen des Es und des Überich preisgegeben ist. In gewissem Sinne kann man einen solchen Zustand der Ichschwäche strukturell als Kennzeichen der Neurose betrachten und muss dann sagen, dass jeder Neurose, als Icheinschränkung gedeutet, ein Moment des Tragischen inne wohnt, sowie umgekehrt jeder Tragödie neurotische Züge beigemengt sind. Man muss freilich beachten, dass das Feld des Tragischen weit über den engen Begriff des eigentlich Krankhaften hinausgeht: Welch ein Mensch ist schon den Helden der Mythen gleich, dass er »mit Göttlichem und Menschlichem gekämpft — und übermocht hat« (Gen 32,29)? Wenn man also das Tragische von der Neurosenpsychologie her verstehen will, so muss man doch stets vor Augen haben, dass die zu behandelnden Konflikte im Grunde jedermanns Konflikte, also eher als neurotoid denn als neurotisch zu bezeichnen sind. Um gewissermaßen die Normalität, mindestens aber die Hauptbrennpunkte des Tragischen aufzuzeigen, lässt sich vor allem auf zwei psychische Mechanismen verweisen, die zwar für jede Art von Neurose konstitutiv sind, aber eben nicht nur dort ihre unheimliche, tragische Rolle spielen. Einmal ist da zu nennen doch, ja gerade deshalb Stand: September 2012 Seite 11 wie unter unvermeidlichem Zwang begehen muss, ohne im übrigen die Mächte zu kennen oder zu verstehen, die den Zusammenbruch der moralischen Anstrengungen des Ichs bewirken. Psychologisch lässt sich dieses Geschehen weitgehend in der Dialektik von Hemmung und Haltung beschreiben und dieses Gefüge muss daher als erstes untersucht werden, um der Tragik menschlicher Schuld auf die Spur zu kommen. Mit Hemmung ist in der Neurosenpsychologie gemeint, dass bestimmte Triebimpulse unmittelbar mit Angst verknüpft worden sind und ihnen daher schon im Ansatz, noch ehe sie ins Bewusstsein vordringen und dort in Handlungen übersetzt werden können, die Vorstellung entzogen wird: im Ich, im Bewusstsein gibt es bestimmte Triebstrebungen oder Wünsche fortan scheinbar gar nicht mehr, selbst der Vorgang der Hemmung oder die allgemeine Gehemmtheit an sich bleibt dem Ich verborgen. Stattdessen erlebt das Ich die Verhaltensweisen seiner Umgebung an den Stellen der eigenen Gehemmtheit als maßlos, gefährlich und bösartig, und so trachtet es danach, sich selbst in seinen Blockierungen für moralisch besser zu halten als die anderen. Aus seinen Gehemmtheiten macht es seine Tugenden, und dementsprechend schreibt es sich ein Recht zu, die anderen für ihr Verhalten mindestens im geheimen zu verachten. Schon diese Missverständnisse und Konflikte können tragische Ausmaße gewinnen. Die eigentliche Tragödie beginnt indessen nicht so sehr in den Auseinandersetzungen und Missverständnissen gegenüber der Umwelt, sondern sie ist in der Eigentümlichkeit der Verdrängung selbst enthalten. Denn so wenig man einen Fluss einfach hin durch eine Staumauer absperren kann, so wenig vermag man einen Trieb zu blockieren: Das aufgestaute Wasser wird überfließen oder sich auf Seiten- und Sickerwegen an der Mauer vorbeiarbeiten, und ähnlich wird ein Trieb verborgene Mittel und Wege finden, um an der Hemmschwelle der Angst vorbei sich an sein ursprüngliches Ziel heranzuarbeiten. Diese verborgenen Mittel bestehen psychologisch in der Bildung von Symptomen und Ersatzbefriedigungen; vor allem aber in der Ausbildung von korrespondierenden Haltungen und Illusionen. Genau in diese Dynamik wird der Therapeut verstrickt. Er wird zum Retter (heldenhaften Ritter) Heiler unter anderem stilisiert und in die Sehnsuchtsillusion eingefügt. Es gibt zwar ein paar Standardillusionen, wie sie in den modernen und alten Schlagern vorkommen, aber da sind die Klienten erfinderisch. Da diese märchenhaften Illusionen unbewusst ablaufen, sind sie ja auch Inhalt der Märchen. Man tut gut daran sich mit diesen tiefenpsychologisch zu beschäftigen, sonst hat man keine Chance. Stand: September 2012 Seite 12 Die modernen Märchen die da erfunden werden und die Dynamik der Sehnsucht und Illusionen, z.B. der Magersüchtigen oder Bulimiekerinnen, die sie von innen her steuern, sind immer wieder neu. So ist Michaels Ende „Unendliche Geschichte“ ist ein solches Märchen, dass die Fassetten der inneren Verarmung (das Nichts das Phantasien verschlingt) aber auch die zunehmende Körperlosigkeit der kindlichen Kaiserin, darstellt. Dies sind durchaus Aspekte diese inneren Bilder, die letztendlich das Erscheinungsbild dieser beiden Störungen ausmacht. Man kann aber wissen, dass diese zerstörerischen Affekte und Bilder immer wieder neu erfunden werden und zu neuartigen, bisher unbekannten Symptomen führen werden.. Es gehört viel schamanisches Einfühlungsvermögen dazu, diese Märchen zu durchschauen und ab zu arbeiten. Wenn wie in der „Unendlichen Geschichte“ Atreju den Weg verfehlt, bleibt die Prinzessin verloren. Diese Geschichten werden aber bereits als uralte persische Geschichten in dem Buch „Die sieben Geschichten der sieben Prinzessinnen“ in den Erzählungen von „Tausend und einer Nacht“ und in den Mythen der Früheren erzählt. Sie sind Strukturen des Unbewussten und werden als solche in den Sehnsuchtsillusionen reaktiviert. Weiß das der Therapeut nicht, wird er nicht nur in die Sippengeschichte sondern auch in diese Märchenhaften Illusionen eingebaut, ohne es zu merken. Dann aber wird auch sein Ich zermalmt zwischen ÜberIchSehnsuchtsIllusion und den unerlösten Kräften des Es. Die Desillusionierung ist ein harter Weg. Fühlt sich doch die Sehnsucht und die Illusion so kuschelig wohl an. Sind sie doch auch die Paradiese gewesen, die uns schon damals als Kinder das Leben gerettet haben, in einer Umwelt in der Nichts zu holen war- Hänsel und Gretel- oder sogar Mord und Totschlag herrschten mit echter körperlicher Bedrohung. Wie kann ich das aufgeben. Das geht nur dadurch, dass ich neue erwachsener Illusionen schaffe und das sind oft Hinweise auf die Erlösung durch Christus oder Gott und seine Liebe. III. Das Dilemma der Übertragung und Gegenübertragung Hier lasse ich kommentarlos Eugen Drewermann sprechen Das Böse- als Unbewusstheit Wir erinnern uns, wie viel Bestechendes der Jungsche Gedanke auf den ersten Blick enthält, die Bewusstwerdung selbst sei als der eigentliche „Sündenfall« zu betrachten, als ein Akt, der gleichwohl notwendig sei, um zu sich selbst zu finden. Es ist nicht zu leugnen, dass der Zustand der Unbewusstheit eine Quelle unabsehbarer Übel darstellt. Zahllose Stand: September 2012 Seite 13 Missverständnisse und Krisen im Zusammenleben entstehen dadurch, dass unbemerkt Gefühle und Haltungen auf den jeweiligen Partner übertragen werden, die ganz anderen, zumeist frühkindlichen Situationen entstammen. Wie von einem Unstern geleitet, scheinen Menschen, ohne es zu wissen, dazu verurteilt, immer wieder die gleichen erfolglosen Programme längst vergangener Jahre zu repetieren und sich dabei immer mehr in den Teufelskreis krankhafter Seelenzustände und bald auch physischer Leiden zu verheddern. Endloses Unrecht geschieht, weil Menschen oft und gerade in ihren besten Bemühungen von ihren eigentlichen unbewussten Antrieben und Zielsetzungen keine Kenntnis haben. Und nicht nur im Bereich des persönlichen Unbewussten entfaltet das verdrängte oder nie zum Bewusstsein gelangte psychische Material seine verhängnisvolle Wirkung, — die ganze Menschheit scheint auf die Gefahr einer globalen Katastrophe zuzusteuern, insofern sie inmitten einer hoch industrialisierten Welt sich nach wie vor von Verhaltensmustern leiten lässt, die unter gewissen Voraussetzungen des Tierreichs sowie in den Jahrhunderttausenden der Menschheitsentstehung entwickelt und aus geprägt wurden. Wenn der Neurotiker dadurch erkrankt, dass er unbewusst in seinem Verhalten von bestimmten prägenden Situationen seiner Kindheit nicht loskommt, so scheint die gesamte Menschheit daran zu kranken, dass sie in unangemessener Weise, ohne es zu wissen, sich benimmt, wie wenn sie immer noch in der Steinzeit leben würde. Das Beispiel der ständig drohenden Kriegsgefahr zeigt wohl am deutlichsten die fatale Auswirkung paläoanthropologischer Verhaltensweisen am Beginn der zweiten industriellen Revolution. Nicht dass willentlich Böses verübt würde, macht die Tragödie des menschlichen Fehlverhaltens aus, sondern dass die subjektiv edelsten Absichten unbewusst in den Dienst veralteter, unangemessener Programme treten. Ein tiefsinnigeres und bedenkenswerteres Wort ist denn auch in der Bibel über die menschliche Schuld nicht gesprochen worden, als in dem Augenblick, da Christus angesichts des Äußersten, wozu Menschen imstande sind, zu Gott betet: „Herr, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun.“ (Lc 23, 34) Von daher scheint es mehr als berechtigt zu sein, die Unbewusstheit selbst für das Übel schlechthin zu halten und mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln auf ihre Überwindung hinzuarbeiten, also mit Hilfe der Psa (Psychoanalyse) die Atavismen der Individualpsyche und mit Hilfe aller möglichen anthropologisch relevanten Methoden, wie Verhaltensforschung, Ethnologie, Soziologie etc., die achaischen Reste der Kollektiven Psyche aufzudecken. Vollends wenn man die eigentliche Bestimmung des Menschen in der Herausbildung einer eigenen freien Persönlichkeit erblickt, so wird man über die dumpfe Unbewusstheit und Stand: September 2012 Seite 14 Unfreiheit weitester Bereiche unseres Lebens zutiefst bestürzt sein und um so mehr die Forderung nach einem Mehr an Bewusstheit erheben. Insofern ist die Gleichung verständlich, die in der Hegelschen Philosophie wie in der Jungschen Psychologie aufgestellt wird: die Unbewusstheit sei das Böse, das Zu-Überwindende, das Nicht- sein Sollende; die Bewusstwerdung sei der eigentliche Schritt zur Menschwerdung. IV. Das Dilemma von Moral und Ethik Dies ist die schwerste Hürde. Die Patienten kommen deswegen so spät mit ihren Partnerproblemen, weil sie genau das Wissen. Es sind genau diese Sollbruchstellen in den Partnerschaften, die mit der allgemeinen Entwicklung in den Partnerschaften grundsätzlich zu tun haben. Da ist niemand Schuld. Es gehört zur Entwicklungsdynamik der Paare, dass sie irgendwann an das Ende der bisherigen Muster und Möglichkeiten kommen. Es ist wie beim Schach. Wenn man sehr lange mit den schwarzen und mit den weißen Steinen gespielt hat, versteht man das Spiel. Alle Paare kommen an den Punkt, an dem es nur noch um Schach matt oder zu mindestens zu einer Pattsituation gekommen ist, weil die alten Muster nicht mehr greifen, oder sich erledigt haben. Leider verläuft das oft nicht synchron, der eine Partner ist “weiter“ wie der andere. Meist sind es die Frauen. Gerade hier hat sich das Vorgehen des systemischen Ansatzes mit Einzelgesprächen, Paargesprächen und der Aufstellungsarbeit bewährt. Nur dadurch können bestenfalls für beide Partner, wenn denn nun der andere mitkommt, die Entwicklungspositionen bewusst gemacht werden. Die bisherigen Muster durchschaut werden und ein neues Bewusstsein und damit eine neue Beziehungsform erarbeitet werden. Wenn der andere nun mitkommt. Sonst müssen mit oder ohne Trennung neue Beziehungsformen gefunden werden, vor allem wenn das Paar durch Kinder verbunden ist. Auch Trennungsarbeit ist angesagt. Einmal die Trennung von der bisherigen Form der Partnerschaft aber eben auch die angemessene Trennung voneinander Die Art der inneren Trennungsmuster beleuchten deine Beziehungsfähigkeit Sage mir wie du dich trennst und ich sage dir wie reif du bist. Stufe I Die Kindliche Form: Das Objekt wird getötet. Die erwachsene Form: Wenn du mich verlässt töte ich mich. Stand: September 2012 Seite 15 Gemeint ist. Eine Mutter ist in der Babyzeit eine Weile nicht da, oder das Kind musste ins Krankenhaus, dann gibt es bei der Begegnung mit der Mutter. Die Mutter nicht mehr. Das Objekt Mutter ist in einem aktiven innerlichen Prozess vernichtet worden. Das Baby, das Kind würde den Schmerz nicht ertragen. Es kann das geliebte und lebensnotwendige Objekt nur töten ‚ um zu überleben. Der Erwachsene, der in dieser inneren Situation ist tut das Selbe. Nur weil er auch phantasiert, dass er den Schmerz nicht aushalten wird, tötet er sich. Dann muss er den Schmerz nicht erdulden. Stufe II Das tiefer Empfinden und die Emotionen werden getötet. Schockstarre. Das Selbst wird auf Eis gelegt, das ich entsprechend defekt entwickelt. (Weit verbreitet). Der Zustand der Soldaten, die aus dem Krieg zurückkamen. Die kalten Menschen einschließlich der kalten Mütter. Dabei werden auch die wesentlichen persönlichen Bedürfnisse getötet. Ich habe keinen Zugang zu mir selbst. Stufe III Der Schmerz wird ertragen ohne die oben erwähnten Abtötungen. Er wird aber abgegeben. Im Sinne einer projektiven Inszenierung, lass ich andere Leiden. Die eigene Verletztheit wird zur Verletzung anderer. Ich räche mich, indem ich andere, besonders die natürlich die ich liebe, verletzte, gegen meine eigenen Willen. Meist auch ganz unbewusst. Das Spiel von Opfer-Täter und Helfer, als Ersatz für Beziehung. Stufe IV Ich kann den Schmerz aushalten und nun erkenne ich das der andere nur vorüber gehend meinen Mangel Sehnsucht und Leere und meine Angst erfüllt, beruhigt hat. Die Wunde klafft wieder. Wenn nicht Stufe V eintritt, wird daraus Depression und Verzagtheit. Lebensenergien sind in der Trauer gefesselt. Wir geben die Trauer weiter. Stufe V Wie Stufe IV. Aber ein angemessener Trauerprozess mit all seinen Phasen lässt mich alle Abschiede meines Lebens, die nicht gelöst sind wieder Erleben. Die Trauer und der Schmerz führen zu einer Wandlung im Sinne von Stirb und Werde. Es geschieht Transformation auf eine höhere Bewusstseinsebene. Stufe VI Stand: September 2012 Seite 16 Nach vollendeter Stufe V. Ich bin dankbar für alles was ich im Guten und Schlimmen erleben durfte. Ich nehme jede Beziehung als Erfahrung und nicht als Kompensation von Angst, Schmerz und Mangel. Alles bringt mich weiter zu mir selbst. Stufe VII Es gibt keine Trennung. „ Du bist für immer dafür verantwortlich, was du dir vertraut gemacht hast“. In meinem Herzen hast du einen Platz. Du bist und bleibst ein Teil meines Lebens und meiner Geschichte. Wieder lasse ich Drewermann sprechen DER WIDERSPRUCH ZWISCHEN THERAPEUTISCHER UND MORALISCHER FORDERUNG Manch einem Außenstehenden mag es so vorkommen, als sei die Psychotherapie, mit F. Nietzsche gesprochen, eine »fröhliche Wissenschaft« oder, noch ärger, ein »Buch für freie Geister« nämlich eine Schule der Unmoral und der Einübung rücksichtsloser Triebbefriedigung. In der Tat, wenn der Satz gilt: »An ihren Früchten sollt ihr sie erkennen« (Mt 7,16), dann wird es dem einen / oder anderen nicht schwer fallen, die Psychotherapie mit scheinbar wenig erfreulichen Früchten ihrer Bemühungen zu konfrontieren. Hat nicht schon irgendwo eine Psychotherapie bewirkt, dass eine Ehe aufgelöst werden musste, eine Ordensschwester von hohem Ansehen ihren Konvent verließ, eine unbescholtene Frau plötzlich ein uneheliches Kind bekam, eine bis dahin gesellige Frohnatur sich in einen unerbittlichen Misanthropen wandelte oder ein guter Sohn seiner Eltern mit einemmal aufsässig und rebellisch wurde? Man könnte solche Unerquicklichkeiten hingehen lassen, wenn man Beispiele / dieser Art als unvermeidliche Malheurs, als misslungene chirurgische Eingriffe ärztlicher Kunst betrachten dürfte, denen andere, von der Umwelt positiver zu bewertende Erfolge gegenüberstünden; aber solch eine Erlaubnis wird durch das kecke Bekenntnis der Beteiligten zunichte gemacht, man habe gefälligst in gerade diesen Ergebnissen nicht sowohl ein Scheitern, als vielmehr ein recht eigentliches Gelingen des psychotherapeutischen Eingriffs zu erblicken — so als seien jene bedauerlichen Entgleisungen nicht verzeihliche Fehler, ja nicht einmal bloße Nebenerscheinungen, sondern unumwunden die erklärte Absicht der Behandlung. Also ist doch am Ende die Psychotherapie eine Behandlung »jenseits von Gut und Böse« oder gar etwas in sich Amoralisches, Normenfeindliches, Überindividualistisches, kurz: etwas Stand: September 2012 Seite 17 Antisoziales und Gesellschaftszerstörerisches? Und, schon bei solchen Fragen angelangt: beweist nicht die breite Verwendung psychoanalytischen Vokabulars zum Zweck der Kritik der »bürgerlichen« Gesellschaft und Moral in Verbindung mit marxistischen Entfremdungsanalysen gerade in unseren Tagen die höchst verneinende, umstürzlerische Energie der psychotherapeutischen Sichtweise? Man begreift die Brisanz und Herausforderung dieser Fragestellung erst, wenn man sie nicht in der bloßen Auseinandersetzung um die Psychoanalyse oder andere Sonderformen der Psychotherapie belässt, sondern sie in der prinzipiellen Zuspitzung aufgreift, die S. Freud ihr gegeben hat. Die Psychoanalyse, die Psychotherapie muss ein Stück Amoralität vertreten, meinte Freud, weil und insoweit die Kultur, also die Gesamtheit der geistig bindenden Regeln und Überzeugungen eines Volkes, im Widerspruch zu dem Glück und der seelischen Ganzheit des Individuums steht Wenn es stimmt, dass, wie Freud meinte, das Glück des Einzelnen kein Ziel einer Kultur sein kann, dann muss die Psychoanalyse, indem sie sich e professo auf die Seite dieses individuellen Glücks stellt, gegen die Kultur und gegen die herrschende Moral im Sinne des Ensembles geltender Normen gerichtet sein. Die wesentliche Arbeit der Psychoanalyse muss sich dann gerade darauf konzentrieren, die herrschenden Moralvorstellungen einer Kultur, wie sie, vermittelt durch die Familie, in Form des Überichs in zwanghafter Weise verinnerlicht wurden, zu zersetzen und in ihrer rigorosen Gültigkeit zu beseitigen. Das Ich des Patienten soll gerade in den Stand gesetzt werden, selber zu entscheiden, was gut und böse ist, es soll fähig werden, sein Leben auch zu genießen, und es soll seine Entscheidungen nicht länger durch das übernommene, vorgegebene Reglement gesellschaftlicher Standards treffen lassen; das Individuum soll gerade befähigt werden, die Rolle eines bloßen Agenten oder Funktionärs des Allgemeinen aufzugeben und sich selbst, sein Glück, seinen Genuss, den Erfolg seiner Arbeit für wichtiger zu nehmen als das Wohl des Allgemeinen. Keine Frage also: Die Amoralität, der Widerspruch zu faktisch bestehenden Normen ist auf den ersten Blick kein falscher Anschein der Psychotherapie, sondern es spricht vieles dafür, dass sie einen integralen Bestandteil, ein methodisches Prinzip ihres Vorgehens darstellt; speziell die Psychoanalyse wäre keine Analyse, wenn sie nicht zerstörend und auflösend wirken würde. Dieser Eindruck wird noch verstärkt, wenn man die Spannung betrachtet, in die der Therapeut, der Sozialarbeiter sich persönlich im Verlauf einer Behandlung gestellt sieht. Er begegnet oft und immer wieder Menschen von einer hohen Moralität und bewundernswerten Sittlichkeit; er trifft auf Menschen, die zwar krank sind in dem Sinne, dass sie an sich selber bis zur Unerträglichkeit leiden, die aber von ihrer Umgebung als überaus Stand: September 2012 Seite 18 nützliche Mitglieder der Gesellschaft angesehen und gelobt werden dabei ist klar zu sehen, dass die psychische Erkrankung sich nicht etwa als eine Nebenerscheinung zu der außerordentlich hohen sozialen Nützlichkeit der Patienten hinzugesellt, sondern diese geradezu trägt und bedingt: jene Patienten wären nicht so grenzenlos einsatzbereit, leistungswillig und bis zur Selbstaufopferung aus- nutzbar, wenn sie ein gesünderes Ich, ein stärkeres Selbstbewusstsein besäßen. Solchen Patienten zu helfen ist nur möglich, indem man sie dazu bringt, sich weniger »nützlich« und ein Stück weit »egoistischer« zu geben. Man kann dabei sicher sein, dass jeder, wenn auch noch so winzige Fortschritt der Behandlung nur gegen ein massives Sperrfeuer von Selbstvorwürfen und Schuldgefühlen zu erzielen ist. Es geht etwa darum, weniger freigebig zu sein und nicht jeden fremden Wunsch wie einen Befehl zu erfüllen; heißt es denn aber nicht in der Bibel: »Jedem, der bittet, dem gebt«? (Mt 5,25). Oder: Es wäre dringend nötig, sich selbst einmal für wichtiger zu nehmen als den anderen; steht denn aber nicht geschrieben: »Achtet den anderen höher als euch selbst«? (Phil 2,3). Oder: Jemand steht vor der Aufgabe, einmal den Mut aufzubringen, den Kontakt zu einem Mädchen zu riskieren und sich schon wenigstens von weitem einmal eines zaghaften Blickes zu getrauen; aber schon liegt ihm zentnerschwer der Satz der Bergpredigt auf der Seele, dass du dein Auge, wenn es dich verführt, ausreißen sollst (Mt 5,29), weil jeder, der einer Frau begehrlich nachschaue, schon Ehebruch mit ihr getrieben habe (Mt 5,25). Ein anderer soll lernen, etwas fordernder und sich selbst gegenüber großzügiger zu sein; aber wie passt: das zu der Regel der Besitzlosigkeit und Armut? Kurz: Jedem Schritt in Richtung zu sich selbst steht dem Wort nach irgendeine erhabene Tugendregel im Wege. Man kommt daher nicht daran vorbei: Jede Heilung einer Neurose besteht in der Relativierung bestimmter erhabener Sätze und Prinzipien der Religion und Moral. Die Rolle des Therapeuten, hat C. G. Jung infolgedessen gemeint, sei im Grunde die Rolle eines Versuchers, einer listigen Schlange, die zu einer Art neuen Sündenfalls verlocke — nicht umsonst tragen die Ärzte das Bild der ehernen Schlange im Wappen. Der Therapeut muss in der Tat mit Phantasie und Einsicht Wege ins bis dahin schlechterdings Verbotene eröffnen; entgegen den unmittelbaren Weisungen der Moral, ist für ihn Lust, Antriebsfreude und spontaner Trieb etwas in sich Berechtigtes und Wertvolles; und nicht nur, dass er die unerhörten Bilder des Träumens und unverstellten Wünschens, dass er das von der Moral stets als unsittlich Verworfene ans Tageslicht zieht und verstärkt, er unterhöhlt in schlimmster Weise den gesamten Apparat der Stand: September 2012 Seite 19 Schuldgefühle, indem er diese generell als etwas Ichfremdes, von außen Eingepflanztes betrachtet, das keinesfalls in sich Absolutheit und Wahrheit beanspruchen darf, sondern lediglich aus Zeiten herrührt, in denen dem kleinen, hilflosen Kinder-Ich des Patienten die Stimmen der übermächtigen Eltern wie etwas schlechthin Absolutes, nicht weiter Hinterfragbares erscheinen mussten. Wer diese Einsicht akzeptiert, bekommt nicht nur eine tödliche Waffe gegen das Überich in die Hand, er empfängt zugleich die Pflicht, sie einzusetzen. Fortan ist es nicht mehr gestattet, aufs Geratewohl der Stimme des Gewissens zu folgen; alles kommt vielmehr darauf an, die Gegenwartsbedeutung der aktuellen Schuldgefühle zu leugnen, ihren Anspruch, die jetzige Situation zu interpretieren, mit aller Entschiedenheit zurückzuweisen und ihnen eine nur noch historische, gewissermaßen archivarische Bedeutung zuzuerkennen. Eben darum geht es ja fortan, dass man die immer wieder hereinbrechenden Schuldgefühle wie Tonbänder behandelt, die auf einen bestimmten Auslöser hin eingespielt werden und von im Grunde längst vergangenen, aber beim Zuhören wie unmittelbar präsenten Schrecknissen und Nöten sprechen: Man wird sie nur los, indem man sie auf bestimmte Erlebnisse und Eindrücke zurückführt, die auf diesen Bändern vor 20, 30 Jahren aufgezeichnet wurden und man darf ihnen jetzt nicht mehr zuhören, da sie, je länger man auf sie eingeht, desto größere und verhängnisvollere Macht erlangen. Man kann sie höchstens als historische Dokumente anhören, auf denen festgehalten ist, was Vater und Mutter damals gesagt haben, als man fünf oder zehn Jahre alt war; aber man darf ihnen keinen Glauben mehr bezüglich der Interpretation der Gegenwart schenken. Um der eigenen Person willen, um der eigenen Entscheidungsfähigkeit willen darf man diese Bänder nicht mehr für maßgeblich halten. Man muss damit rechnen, dass sie sich wieder und wieder in Bewegung setzen werden, anfallartig, ungebeten, störend, mit immer dem gleichen, unveränderten Wortlaut, aber man muss lernen, ihnen in der Kraft der eigenen erwachsenen und jetzt erwachenden Persönlichkeit zu widersprechen, sie zu überhören, sie beizeiten abzustellen, ihre Laufzeit zu verkürzen und ihre Lautstärke zu verringern. Jede Psychotherapie macht irgendwo ein Stück gewissenloser, selbstherrlicher und skrupelloser. Jede Psychotherapie ist also eine Art Verführung, eine Lehrstunde der Unmoral. Gewiss, man kann diese Aussage sofort abschwächen und mit kleinlichen Tröstungen ins harmonische Mittelmaß zurückschieben wollen. Man kann sagen — und viele Therapeuten werden darauf hinweisen —‚ dass in der therapeutischen Behandlung ja nicht eigentlich zu etwas »verführt« werde, dass man sich vielmehr strikt aller Ratschläge und persuasiven Methoden enthalte, dass man lediglich die Gehemmtheiten rückgängig zu machen und eben die falschen Stand: September 2012 Seite 20 Schuldgefühle zu revidieren suche. Ja, man kann sogar eine Attacke für die hohe Moralität der Psychotherapie reiten und hervorheben, dass der Neurotiker in gewissem Sinne mit seinen falschen, infantilen, übertriebenen, im Grunde nichtigen Schuldgefühlen sich den wirklichen Auseinandersetzungen des Lebens entziehe da seine scheinbare Übermoral nur einen Notbehelf egozentrischer Selbstbewahrungs- und Schutzmechanismen darstelle, dass darin gerade der Sinn des psychotherapeutischen Bemühens gelegen sei, aus einem verängstigten Kind eine Persönlichkeit heranwachsen zu lassen, die einer eigenen moralischen Entscheidung und Verantwortung fähig sei und eines Tages in gewissem Sinne auch für die Gesellschaft womöglich einen noch größeren Nutzen erbringen werde. Indessen sind das klägliche Rechtfertigungsversuche. Denn es ist nicht nur überdeutlich und längst zugestanden, dass die therapeutische Behandlung im Einzelfall dazu führt, wichtigen moralischen Gesetzen inhaltlich zuwider zu handeln; es ist vor allem die Formalität des geistigen Prinzips der Psychotherapie selbst, die nicht anders denn als amoralisch bezeichnet werden muss. Einige Gedankengänge der Hegelschen Philosophie können das belegen und verdeutlichen. Nachtrag: Das Beispiel der Ehemoral Speziell in der Frage der Ehe, aber insgesamt in der kirchlichen Sexualmoral sind dabei, wohl aufgrund der Verknüpfung der klerikalen Führungsschicht der Kirche mit der Zölibatsforderung, die Konflikte zwischen kirchlicher Moraltheologie und den Einsichten der Tiefenpsychologie besonders krass. Als z. B. vor ein paar Jahren in Würzburg auf der Synode über die Wiederverheiratung von Geschiedenen diskutiert wurde, verteidigten die Eheberater und »Praktiker« den Standpunkt der »Barmherzigkeit«, die Bischöfe aber glaub ten, die »Wahrheit« des Gotteswortes von der Unauflöslichkeit der Ehe durchsetzen zu müssen. Als ob es eine Barmherzigkeit ohne Wahrheit und eine Wahrheit ohne Barmherzigkeit geben könnte! In Wirklichkeit reflektiert eine solche Polarität der Standpunkte in sich selbst nur die Zerrissenheit der Theologie, die die menschliche Psyche nicht mehr zu integrieren vermag und selber viel zu abstrakt ist, um die anstehenden psychischen Probleme theologisch zu durchdringen, und sie spiegelt zugleich eine Praxis wider, der die Begriffe fehlen, um ihre Erfahrungen angemessen zu beschreiben und zu verstehen. Bei den Brüdern Grimm gibt es ein Märchen, das sehr schön darstellt, woran eine Ehe scheitern muss und in welcher Weise sie zusammenkommen kann. Das Märchen unter dem Titel »Das Mädchen Stand: September 2012 Seite 21 ohne Hände« erzählt von einem Mädchen, das von seinem Vater dazu gebracht wird, alles eigene Wünschen und Zugreifen in sich zu unterdrücken.‘ Damit der Vater nicht vom Teufel besessen wird, muss es sich, im Bild des Märchens gesprochen, die Hände abschlagen lassen. Nach Jahren lernt es einen Mann kennen, den es, in symbolischer Deutung, wie einen König sieht und der ihm alles gibt, was es zum Leben braucht. Aber gerade in dem Moment, wo man denken könnte, das Mädchen sei innerlich am Hofe dieses »Königs« völlig glücklich, brechen schwere Schuldgefühle aus, so sehr, dass alles, was König und Königin einander sagen, vom »Teufel« verfälscht wird. In unzähligen Eheberatungen wird man es mit gerade diesem Fall zu tun haben: dass jemand in dem anderen zunächst das Gegenbild, das kompensatorische Kontrastbild seiner negativen Elternimago zu lieben beginnt und innerhalb dieser Übertragungen notwendig auch die alten Ängste und Schuldgefühle auf den anderen projiziert. Jeder, der diese Verstrickungen kennt, weiß, wie schwierig es ist, hier einen Ausweg zu finden. Das Märchen erzählt, das Mädchen ohne Hände habe sieben Jahre lang fernab vom Königsschloss in einem Haus gelebt mit der Aufschrift: Hier lebt jeder frei, — ein Haus der Gnade, in dem ihm seine Hände wieder gewachsen seien, und da erst habe der Königsgemahl es wieder gefunden. Zweifellos ist es für jeden in der Beratung Tätigen etwas Wunderbares, ein solches Wunder der Gnade mitzuerleben oder womöglich daran mitwirken zu können. Aber wer will denn im Ernst zur Pflicht erheben und unter Androhung von Schuld und Strafe verlangen, dass es in einer Ehe stets nur diesen einen Ausgang in ein verlorenes und wieder gefundenes Paradies der Liebe geben könne? Eine theologische Durchdringung der unbewussten Ursprünge von Angst und Liebe, von Schuldgefühl und Reifung würden hier Räume der Gnade und Bilder eines göttlichen Wirkens freisetzen, die dem Moralismus und Rigorismus einer anthropologischen Reduktionstheologie auf ewig verschlossen bleiben müssen. Psychotherapie und Seelsorge, Selbstfindung und Gotteserfahrung könnten eins sein, wenn man gemeinsam sich tief genug auf den Menschen bzw. auf die Tiefenschichten im Menschen einlassen würde. Tut man das nicht, so tut man notgedrungen dem Menschen unrecht, aber auch dem Christus, der verlangte, dass die Gottesbotschaft heilend sei und nicht zerstörerisch. Ein drittes Symptom ist der Umgang mit dem körperlichen Leid. Wer das Unbewusste, die Welt der Träume, nicht zur Kenntnis nimmt, so sagte ich bisher, wird weder den Menschen vor Gott noch Gott im Menschen verstehen. Er wird, statt die Wahrheit Gottes von innen her aus dem Menschen sich entwickeln und reifen zu lassen, ein doktrinäres System von fremden und entfremdenden Vorstellungen und Forderungen auf den Menschen loslassen und, statt Verständnis und Güte, Verurteilung und Zwang um sich verbreiten; er wird damit der Seele des Menschen Stand: September 2012 Seite 22 unrecht tun. Nicht zuletzt aber wird er auch dem Körper des Menschen Leid zufügen. Denn das Unverständnis der Seele hat durch sich selbst, ob man es will oder nicht, den blanken Materialismus im Umgang mit dem Menschen zur Folge. Dementsprechend kann es nicht erstaunen, dass unser größtes Wissen vom Menschen heute dem menschlichen Körper gilt, und zwar ganz so, als wenn wir nach über zwei Jahrhunderten J. 0. de Lamettrie mit seinem Buch recht geben wollten, das schon den Titel trägt: »Der Mensch als Maschine« Wie anders man hingegen auch gerade im Umgang mit dem körperlichen Leid des Menschen denken kann und denken müsste, lässt sich, der Kürze halber und um die Selbstkarikatur der Medizin nicht zu ausführlich zu behandeln, an einem alten Beispiel erörtern.— Die Unsicherheit bezüglich der Frage, was eigentlich die Zerspaltenheit des abendländischen Menschenbildes hervorgebracht hat, liegt darin, dass das Christentum mit seinem Kampf gegen den Mythos in der beschriebenen Weise zwar eine Hauptschuld an den bestehenden Übeln trägt, aber damit selber nur die bereits ausgetretenen Pfade des Griechentums beschritten hat. Schon die Griechen nämlich erinnerten sich über mehr als 600 Jahre rückwärts an die verlorenen Einheitslehren von Völkern, die sie zu ihrer Zeit nur noch als Barbaren sehen konnten, In einem seiner Dialoge z. B. erzählt der griechische Philosoph Platon einmal, wie Sokrates einem Jüngling gegenüber saß, dessen Kopfschmerz er heilen sollte. Statt indessen, wie erwartet, einfach hin nach der üblichen Art griechischer Ärzte ein bestimmtes Medikament zu verordnen oder eine heilsame Maßnahme anzuordnen, erzählt Sokrates, dass er auf einem Feldzug einen thrakischen Arzt kennen gelernt habe, der ihm wohl ein Medikament gegen den Kopfschmerz anvertraut, zugleich aber auch den Eid abgenommen habe, es niemals anzuwenden ohne einen bestimmten Spruch. Die Kraft dieses Spruches, erläutert Sokrates dem kranken Jüngling Charmi des, ist »von der Art, dass sie nicht nur den Kopf gesund machen kann, sondern, wie auch du vielleicht schon von guten Ärzten gehört hast, wenn etwa einer, der an den Augen leidet, zu ihnen kommt, dass sie sagen, es wäre unmöglich, die Heilung der Augen für sich allein zu unternehmen, sondern sie müssten zugleich auch den Kopf behandeln, wenn die Augen sollten hergestellt werden; und wiederum zu glauben, man könnte den Kopf allein für sich behandeln ohne den ganzen Leib, wäre großer Unverstand. Dieser Rede zufolge richten sie nun ihre Verordnung auf den ganzen Leib und versuchen, mit dem Ganzen auch den Teil zu behandeln und es zu heilen. « Ebenso, fährt Sokrates fort, verhalte es sich auch mit jenem Spruch, den er von einem der thrakischen Ärzte gelernt habe, die in dem Ruf stünden, unsterblich zu machen. »Dieser Thrakier nun sagte, in jenem, was ich eben gesagt habe, hätten die hellenischen Ärzte ganz recht; aber Zamolxis, unser König, sprach er, der ein Gott ist, sagt, so Stand: September 2012 Seite 23 wie man nicht unternehmen dürfe, die Augen zu heilen ohne den Kopf, noch den Kopf ohne den ganzen Leib, so auch nicht den Leib ohne die Seele; sondern dieses eben wäre auch die Ursache, weshalb bei den Hellenen die Ärzte den meisten Krankheiten noch nicht gewachsen wären, weil sie nämlich das Ganze verkennten, auf welches man seine Sorgfalt richten müsste, und bei dessen Übelfinden sich unmöglich irgendein Teil wohlbefinden könnte. Denn alles, sagte er, entspränge aus der Seele, das Böse und das Gute dem Leibe und dem ganzen Menschen, und ströme ihm von dorther zu, wie aus dem Kopfe den Augen. Jenes also müsse man zuerst und am sorgfältigsten behandeln, wenn es um den Kopf und auch um den ganzen Leib gut solle stehen. Die Seele aber, mein Guter, sagte er, werde behandelt durch gewisse Besprechungen, und diese Besprechungen wären die schönen Reden. Denn durch solche Reden entstehe in der Seele Besonnenheit, und wenn diese entstanden und da wäre, würde es leicht, Gesundheit auch dem Kopf und dem übrigen Körper zu verschaffen. Als er mich daher das Mittel und die Besprechungen lehrte, sprach er: dass dich ja nicht jemand überrede, mit dieser Arznei seinen Kopf zu behandeln, der dir nicht zuvor auch seine Seele darbietet, um sie mit den Besprechungen von dir behandeln zu lassen. Denn auch jetzt, sagte er, ist eben dieses der Fehler bei den Menschen, dass welche es unternehmen, abgesondert für eins von beiden Ärzte zu sein. Und gar sehr befahl er mir an, daß ich mich ja von niemand, wäre er auch noch so reich und vornehm und schön, sollte überreden lassen, anders zu tun. Ich nun habe ihm geschworen und muss notwendig gehorchen, werde es also auch. Und du, wenn du nach des Fremdlings Vorschrift zuerst die Seele hergeben willst, um sie zu besprechen mit des Thrakiers Besprechungen, so werde ich auch deinem Kopf das Mittel auflegen; wenn aber nicht, so weiß ich nichts, was ich für dich tun kann, lieber Charmides.«‘ Dass man den Körper nie als Körper, sondern nur den Menschen als Einheit von Leib und Seele sehen darf, und dass man einen Arzt, der ohne die Kunst schöner Gespräche für die Seele nur den Körper und an ihm wiederum nur bestimmte isolierte Details zu sehen vermag, nach Kräften fliehen soll wie, ja als die Krankheit selber — mit dieser Weisheit eines barbarischen Thrakers möchte ich schließen. Heilungswege Liebe und Bewusstsein als eigentliches Ziel jeder Partnerschaft. Wir sind hier, weil es letztlich kein Entrinnen vor uns selbst gibt. Solange der Mensch sich nicht selbst in den Augen und Herzen seiner Mitmenschen begegnet, ist er auf der Flucht. Stand: September 2012 Seite 24 Solange er nicht zulässt, dass seine Mitmenschen an seinem Innersten teilhaben, gibt es für Ihn keine Geborgenheit. Solange er sich fürchtet, durchschaut zu werden, kann er weder sich selbst noch andere erkennen, er wird allein sein. Wo können wir solch Spiegel finden, wenn nicht in unserem Nächsten. Hier in der Gemeinschaft kann ein Mensch erst richtig klar über sich werden und sich nicht mehr als den Riesen seiner Träume oder den Zwerg seiner Ängste sehen, sondern als Mensch, der, Teil eines Ganzen, zu ihrem Wohl seinen Beitrag leistet. In solchen Boden können wir Wurzeln schlagen und wachsen; nicht mehr allein, wie im Sterben sondern lebendig als Mensch unter Menschen. Ordnung und Liebe Die Liebe füllt, was die Ordnung umschließt. Sie ist das Wasser, die Ordnung der Krug. Die Ordnung sammelt, die Liebe fließt Wie sich ein klingend Lied den Harmonien fügt, so fügt die Liebe sich der Ordnung Und wie das Ohr sich schwer gewöhnt, an Dissonanzen, auch wenn man sie erklärt, so gewöhnt sich unsere Seele schwer an Liebe ohne Ordnung Mit dieser Ordnung gehen manche um, als wäre sie nur eine Meinung, die man beliebig haben und ändern kann. Doch sie ist vorgegeben. Sie wirkt, auch ohne dass wir sie verstehen. Sie wird nicht gedacht, sie wird gefunden. Wir erschließen sie, wie Sinn und Seele, aus der Wirkung. Die wahre Liebe ist kein Versuch der Einsamkeit zu entkommen. Sie verwandelt das Gefühl der Isolation in ein bewusstes Annehmen des Alleinseins. Wenn Du den Anderen liebst, versuchst Du nicht, Ihn zu ergänzen oder Ihn durch Deine Anwesenheit zu ändern. Du hilfst Ihm nur dabei, sein eigenes Sein so vollständig zu entdecken, dass er auch ohne Dich Stand: September 2012 Seite 25 auskommen kann. Erst wenn man total frei ist, ist der wirkliche Austausch möglich. Dann gibt man nichts mehr aus Bedürfnis oder weil der Vertrag es so will, sondern man gibt, weil das Dasein überfließt und weil man es liebt zu geben. Liebe akzeptiert und verstärkt die Freiheit des Anderen. Alles was die Freiheit zerstört ist nicht Liebe. Wenn die Liebe zugrunde geht, wird Sie zu Besitzenwollen, Eifersucht, Machtkampf, Herrschsucht, Manipulation. Wenn die Liebe wirklich lebt, wird Sie zur absoluten Freiheit. Und diese Liebe beginnt damit, dass Du Dich selbst liebst. Lass los, lass kommen, was will. Sei in der Liebe nicht Bettler, sei Kaiser. Gib und Du wirst tausendfach zurück bekommen. Wenn Du vom Anderen etwas erwartest, dann manipulierst Du Ihn. Wenn man sich manipuliert fühlt, möchte man sich auflehnen, denn jede Forderung ist ein Verbrechen gegen Dich. Deine Freiheit wird dadurch beschmutzt. Du bist dann nicht mehr geheiligt, Du bist nicht mehr hier und jetzt um Deiner selberwillen da, sondern wirst wie eine Sache benutzt. Es ist das Unnatürlichste von der Welt, jemanden so zu manipulieren. Jedes Wesen ist um seiner selbst willen da. Du bist nicht dazu hier, den Wünschen anderer zu entsprechen. Und liebe auch nicht aus dem Bedürfnis, sondern aus dem Geben und dem Nehmen. Deine Liebe darf für den Anderen nicht zu einem Gefängnis werden. Leidenschaft ist eine Fessel, die Liebe schenkt Freiheit. Wesentliches in Beziehungen Die Vertrautheit Sicherheit finden wir beim Vertrauten. Erregung erfasst uns angesichts des Fremden. Um zu überleben und sich entwickeln zu können, braucht das kleine Kind am Anfang ein sehr großes Maß an Sicherheit, das das Maß an Erregung bei weitem übersteigt und das in der Regel bei den Eltern und in der Familie zu finden ist. Auf diese Erfahrung der Sicherheit reagiert das Kind mit Bindung. Durch Bindung entsteht Vertrautheit, die so genannte primäre Vertrautheit. Diese vermittelt uns das Gefühl fundamentaler Geborgenheit (Urvertrauen) für das weitere Leben. Stand: September 2012 Seite 26 Aber schon sehr bald erwacht im Kind das Bedürfnis nach Autonomie. Dieses Autonomiestreben lässt wachsenden Verdruss am Vertrauten entstehen und drängt hinaus zum Unvertrauten, zum Fremden, das dem Kind Erregung vermittelt, die sich entweder in Neugierde und Faszination äußert, oder aber, wenn es zu bedrohlich wird in Furcht. Die Furcht veranlasst das Kind, wieder zum Vertrauten zurückzukehren, zum Beispiel bei der Mutter wieder Zuflucht zu suchen. Je weiter das Kind heranwächst, desto häufiger und intensiver reagiert es mit Überdruss auf das primär Vertraute, und dieser Überdruss lockert die Bindung zu Eltern und Familie. Zum Autonomiebestreben gesellt sich nun der wachsende Drang nach Sexualität. Autonomie und Sexualität drängen mit aller Macht hinaus ins Fremde, reizen zu Abenteuern. Besonders der/die Angehörigen des anderen Geschlechts wird Kristallisationspunkt dieses Dranges weg vom Vertrauten hin zum Fremden, weg von der primären Bindung an die Herkunftsfamilie hin einem eigenständigen Leben mit eigenen, selbst gewählten Beziehungen. Sexuelle Erlebnisse spielen dabei eine wichtige Rolle und stehen zunächst ganz im Dienst der Autonomie und Abnabelung von den Eltern. Allmählich gelangt der nunmehr erwachsen gewordene an einen zentralen Wendepunkt. Die Sexualität mit dem andersgeschlechtlichen Partner lässt ein neues/ altes Bedürfnis entstehen: Das Bedürfnis nach einer neuen Art der Bindung. Sexualität schafft neue Bindung, und im Geschlechtpartner wird nun nicht mehr die Faszination des Neuen und Fremden gesucht, sondern auch eine neue Sicherheit, die neue Vertrautheit vermittelt. Sekundäre Vertrautheit. In der primären Vertrautheit steckt eine tiefe Ambivalenz. Einerseits ist sie fundamental für das Überleben. Bekommen wir zu wenig davon, sind wir ein Leben lang verzweifelt auf der Suche danach. Bekommen wir aber zu viel und zu lange davon, droht sie uns zu ersticken, zu verschlingen, zu töten. Der heranwachsende wird durch sie von Mutter, Eltern und Familie wegund zum Fremden, Erregenden hingetrieben. Nur dadurch erhalten wir Anteil am Leben. Dem Gegenüber hat die sekundäre Vertrautheit einen anderen Charakter. Anstelle der Ambivalenz tritt hier -ideal typisch gesprochen- die Synthese. Sekundäre Vertrautheit Stand: September 2012 Seite 27 beinhaltet, sowohl Sicherheit als auch Erregung, Bindung als auch Autonomie, und darum ermöglicht sie auch weiterhin, Sexualität zu erleben. Anders ausgedrückt: Gegenüber der Bindung der primären Vertrautheit des Kindes bei Vater und Mutter drückt sich die Bindung der sekundären Vertrautheit zwischen erwachsenen Partnern darin aus, dass letztere miteinander eine dynamische Balance zwischen den beiden Polen Sicherheit und Quelle von Erregung finden. Das heißt: Erwachsene Partner sind, anders als Mutter und Kind, füreinander zugleich Quelle von Sicherheit und Erregung. Sie geben einander gerade genug Sicherheit, so dass kein Überdruss entsteht, und gerade soviel Erregung, dass die Beziehung nicht ängstigend wird. Diese Balance zwischen Sicherheit und Erregung ist das Typische einer erwachsenen Beziehung. Viele Beziehungen zwischen Frauen und Männern haben nicht den Charakter sekundärer Vertrautheit, sondern eher primärer Vertrautheit. Sie stellen sich als quasi Eltern Kind Beziehung dar. Die Sicherheit dominiert gegenüber der Erregung, die Bindung gegenüber der Autonomie, eine- jedenfalls äußerlich aufrecht erhaltene Nähe gegenüber einer echten Distanz, und die Pflicht gegenüber der Lust. Damit übertragen sich aber die Gesetzmäßigkeiten der primären Vertrautheit auf die erwachsene Beziehung. Es ist bekannt, dass auch bei Tieren die primäre Vertrautheit Sexualität blockiert. Zweifelsohne hat das Schwinden wechselseitiger Attraktivität in vielen Paarbeziehungen mit dieser Angleichung an primäre Vertrautheit zu tun. Bei dieser wird das Inzesttabu wirksam, der Überdruss aneinander nimmt überhand, Erregung, Neugier, Faszination hören auf und werden außerhalb der Beziehung gesucht. Die Partner in der Ehe haben die Konturen als Frauen und Männer quasi verloren, mit ihnen hat sich eine Art Primärfamilie hergestellt, in der sie sich zwar geborgen fühlen, in der es aber langweilig ist, und zwar nicht nur im Bereich der Sexualität. Die Untreuen sind dann jeweils diejenigen, die sich damit nicht zufrieden geben. Sie handeln genauso wie junge Erwachsene, die sich von der Herkunftsfamilie ablösen. Durch das Familienstellen ist es nun möglich die primären Bindungsmuster erkenntlich zumachen und damit auch zu korrigieren. Dadurch kann die Beziehung noch einmal angeschaut werden und neue Rahmenbedingungen und Verträge geschlossen werden. Das System wird durch die Aufstellung wieder offen. Aus meiner Sicht ist daher eine Familienaufstellung, die die Ursprungsfamilienaufstellung beider beinhaltet, am besten in Stand: September 2012 Seite 28 Anwesenheit beider, zur Korrektur dringend erforderlich. Daran anschließend, sollte die jetzige Familiensicht von beiden dargestellt werden, damit so zu sagen jeder Partner die Möglichkeit erhält die Sicht des anderen zu erleben. Das führt oft zu erstaunlichen Erkenntnissen und schließlich zu erwachsenen Strukturen. Darauf folgen Nachgespräche CDWas Paare bindet, was Paare trennt Systemische Familienarbeit und Beziehung Das Geschenk seiner Liebe Was immer wir in unserem Leben von Gott verstehen, werden wir am intensivsten in der Sprache unserer tiefsten Sehnsucht und unserer tiefsten Gefühle verstehen‘. Kein Gefühl aber lehrt uns, Gott tiefer zu begreifen, als die Empfindung einer Liebe, die unser ganzes Dasein ergreift, ist doch Gott selber die Liebe — ihr Ursprung, ihr Ziel, ihre Hoffnung. Wenn wir einen Menschen so anreden, dass wir die Tiefe seines Wesens berühren, wenn wir sein Du so aussprechen, dass es seinen Namen möglichst vollständig verdichtet und bezeichnet so öffnet sich seine Person und wird für uns zu einem Weg, der ins Unendliche hinüberführt Hinter der Gestalt einer jeden menschlichen Person, eines jeden menschlichen Du, taucht unsichtbar die Person und das ewige Du Gottes auf und ist mit angeredet und mit gegenwärtig; und wann immer wir selber uns so angesprochen fühlen, dass unser eigenes Ich davon umfangen, gemeint und getragen wird, so fühlen wir uns selbst verbunden mit dem Ursprung unseres Daseins, den wir Gott nennen. Wenn wir zu einem anderen Menschen «Du» sagen, so verbindet es uns mit dem Auftrag unseres Lebens; und wenn wir selber uns von einem anderen in unserem eigenen Wesen tief genug angeredet fühlen, so tauchen wir zurück in den Grund unseres Daseins; und am Anfang wie am Ende unseres Lebens ist es Gott, der in jeder Anrede wechselseitiger Liebe zur Sprache kommt. Deshalb ist es vermutlich ein zentraler Weg, jedenfalls ein möglicher Zugang, um zu verstehen, was Jesus uns in dem Bild der Abendmahlsgemeinschaft seiner Jünger sagen wollte, wenn wir das Sakrament der Eucharistie als Aus druck und Gebärde eines Geschenks der Liebe betrachten. Wir machen für gewöhnlich einander Geschenke in Antwort auf bestimmte Erfahrungen Wenn wir einen anderen Menschen selber dankbar als Bereicherung unseres Lebens empfinden, als etwas, das uns gnadenhaft verliehen wurde, sogar als etwas, das wir notwendig Stand: September 2012 Seite 29 brauchen, um selber zu sein, so antwortet in uns alles auf die Gegenwart des anderen, und wir selber möchten uns am liebsten auch für ihn als Geschenk, Bereicherung und Gabe seines Lebens verstehen So gehört es zum Wesen und zur Erfahrung der Liebe. Dennoch drängt es uns, das Gefühl unserer Liebe einander zu zeigen, indem wir bestimmte Dinge miteinander tauschen und einander zum Ge schenk machen. Solche Geschenke sind nötig, solange wir auf Erden noch begrenzt in den Schranken von Raum und Zeit miteinander leben müssen. Mit Hilfe von Geschenken möchten wir einander nicht nur sagen: Ich erlebe dich als ein solches Geschenk für mein Leben, so dass ich auch für dich eine solche Bereicherung und ein solcher Beistand sein möchte; im Grunde sind Geschenke auch ein Versuch, die Trennungen der Zeit zu überbrücken in Form der bleibenden Gegenwart des geschenkten Gegenstandes Das bloße Ding, das wir miteinander als Geschenk austauschen, soll sich in den Augen des anderen mit unserer Person erfüllen und für ihn als Ausdruck unserer Seele mit einem eigenen Leben begaben. In dem Gegenstand des Geschenkes möchten wir selber dem anderen nahe sein, und genauso möchten wir, dass er uns selbst in dem geschenkten Ding als gegenwärtig fühlt Je tiefer wir dieses Gefühl in uns verspüren, desto mehr erleben wir den geschenkten Gegenstand des anderen nicht mehr als ein totes Ding vor uns oder neben uns, sondern zunehmend als etwas Lebendiges, das erfüllt ist von der Poesie und der Spürkraft der Liebe. Das geschenkte Ding, das ursprünglich nur ein Zeichen unserer Liebe war, wird jetzt zum «Sakrament», zu einem Gegenstand, der sich belebt durch die Gegenwart einer geliebten Person und uns ihrer Liebe versichert Raum und Zeit verlieren mit einem mal ihre Kraft, uns voneinander zu trennen, und es kann sein, dass wir etwas, das zunächst nur ein Gegenstand der Erinnerung sein sollte, als etwas uns Begleitendes empfinden, als etwas ganz und gar Lebendiges, als etwas zu uns Sprechendes. Es ist wahr, wir können ein Bild, ein Erinnerungsstück, ein Geschenk aus vergangenen Zeiten nehmen, und es beginnt ein sonderbares Zwiegespräch mit uns: Wir selber sprechen plötzlich wieder die gleichen Worte von damals, aber es geschieht in Antwort auf das Hören von Worten, die jetzt zu uns reden, und wir wissen, dass es eine Vergangenheit gar nicht gibt, sondern nur eine lebendige Gegenwart, ein nie abreißendes Gespräch, den unendlichen Dialog einer unsterblichen Liebe Auf gerade diese Weise feiern wir seit dieser Nacht des Abschiedsmahles Jesu sein Geschenk der Eucharistie. Wir hören die Worte, die er damals sprach, und wissen: Sie sind nie vergangen“; sie sind in unserem Leben gegenwärtig, und die Zeit trennt uns nicht von ihm, sondern sie taucht uns immer wieder in dieselbe unmittelbare Erfahrung seines uns begleitenden Lebens. In jeder Gemeinschaft Stand: September 2012 Seite 30 dieses Mahles formen wir jene Worte der Dankbarkeit, der Fürbitte und der Verehrung nach, die Jesus damals uns vorgesprochen hat, und in Hören und Antwort versammeln wir uns um den Gegenstand seines Geschenkes, um das Brot seines Lebens und um den Kelch seiner Liebe. Es ist die Frage, wie man einem anderen etwas so schenken kann, dass es vollkommen ausdrückt, was wir ihm sagen möchten. Wenn wir zu wählen hätten, vor allem: was wir einander schenken könnten, und — gesetzt —‚ wir wären gezwungen, dem anderen etwas Endgültiges in dieser irdischen Welt zu hinterlassen, als Geschenk unseres Abschieds, als unser letztes Vermächtnis, — was würden, was könnten wir dann einander schenken? Ein Bild von uns? — Der andere trägt unser Bild schon in seinem Herzen, und zudem würden wir in zehn Jahren bereits längst nicht mehr so aussehen, wie ein Photo heute uns zeigen könnte. Ein Gemälde von uns? Es wäre nur wahr, wenn es gezeichnet wäre in den Umrissen und in der Wahrnehmungskraft der Liebe, und nur der andere, dem wir es schenken wollen, ist imstande, ein solches Bild zu sehen, zuzeichnen und bei sich zu behalten Also bedarf es eines solchen Ausdrucks nicht. Worte von uns, testamentarische Hinterlegungen? Was irgend lebendig war an unseren Worten, lebt in dem Herzen des anderen weiter, es ist Teil, Garantie und Bestand seines Lebens Nichts ist dem hinzuzufügen, was wichtig wäre, ein Kommentar ist überflüssig; denn selber wird der andere mit seinem Leben zur Auslegung all dessen werden, was wir ihm zu sagen hatten. Von daher lässt sich wirklich nicht denken, was Jesus Besseres hätte sagen oder tun können, als was er in den letzten Stunden seines Abschieds seinen Jüngern tat und sagte. Weil er unser Leben ist, darum wusste er nichts Besseres, als zum Geschenk an uns die «Lebensmittel» Brot und Wein zu wählen. Weil seine Gegenwart uns Nahrung ist, deshalb wollte er, dass wir niemals mehr Brot äßen, ohne dass es uns mit ihm verbände; weil er unser Glück, unsere Freude, der Rausch unseres Lebens ist, darum mochte er, dass wir den Wein, das Getränk der Festlichkeit niemals mehr zu uns nähmen, ohne dass es uns in Verbindung setzen würde mit allem, was unser Herz weit macht und zum Himmel erhebt. Er mochte, dass wir die Grenzen unseres Lebens aufbrechen könnten: die drückende Angst, die lastende Schuld. Er mochte, dass wir gemeinsam in derselben Weise des Fühlens und des Denkens im Umkreis der Liebe uns miteinander in seinem Namen verbündeten. Und wann immer wir einander tief genug begegneten, sollten wir seine Gegenwart spüren wie Brot und Wein, wie eine Festgemeinschaft, die nie mehr enden würde. Beendet sein sollten die Gottesdienste der blutigen Opfer; und nie mehr sollten Kasteiung, Askese, Qual und Bedrückung die Vorbedingung bilden, um sich Gott zu Stand: September 2012 Seite 31 nahen; beendet sein sollte das Darbringen von Opferlämmern, das Auswählen von Sündenböcken, das Spießrutenlaufen von Prügelknaben. Im Gegenteil sollten wir als eine heilige Gemeinschaft des Glücks und der Freude miteinander leben, indem wir unser eigenes Dasein wechselseitig als etwas unendlich Kostbares am anderen und für den anderen begreifen lernen. Ein Geschenk wäre keine Gabe des Glücks, wäre es nicht, mehr noch als eine Erinnerung, im Grunde eine Verheißung. Alle Erinnerung verbindet nur mit rückwärts, und stets trägt sie deshalb das düstere Gewand der Traurigkeit; bei aller Freude, die sie uns aus der Vergangenheit vor Augen stellt, hört das Gefühl des Getrenntseins nicht auf. Wahr ist ein Geschenk erst, wenn es uns nicht allein mit der Vergangenheit verbindet, sondern viel mehr noch mit der Zukunft Wir erinnern uns ja nicht an etwas Totes, sondern in Wirklichkeit an etwas Lebendes und Gegenwärtiges; und am allermeisten ist ein Geschenk der Liebe wahr, wenn in ihm die Hoffnung lebt und zur Gewissheit wird, dass wir einander wieder sehen und dass es eigentlich gar keinen Abschied, keine Trennung gibt, sondern nur eine Überbrückung der Zeit und des Raumes, solange das irdische Leben noch dauert. Indem Jesus das Brot seinen Jüngern brach und mit ihnen den Becher leerte, enthüllte er noch einmal seine leidenschaftlichste und schönste Vision: den Bund seines Vermächtnisses vom Reiche Gottes, in dem wir vom Gewächs des Weinstocks mit ihm trinken werden in alle Ewigkeit (Mk 14,25). Niemals mehr wollen wir essen, trinken oder schlafen, ohne verbündet zu sein miteinander und aneinander Ruhe zu finden in der Nähe Gottes. Sie ist uns zugesagt, sie ist uns anvertraut, sie ist das, was uns begleitet, wohin immer wir gehen bis an die Grenzen der Erde. Diese Gewissheit ist die eigentliche Gabe Jesu in Gestalt von Brot und Wein. Geschenke sind Brücken zwischen Vergangenheit und Zukunft. Das Geschenk der Eucharistie aber ist eine Brücke zwischen Zeit und Ewigkeit, der reinste Ausdruck dessen, was die Liebe Gottes ist: ein Weg der Gemeinsamkeit durch die Welt hindurch bis zum Horizont des Unendlichen. Da sangen die Jünger den Lobgesang und gingen hinaus zum Ölberg, hinaus nach Golgotha, zu jenen Bergen des Herzens, auf denen Leid in Freude, Traurigkeit in Hoffnung, Schuld in Weisheit und Angst in Tapferkeit verwandelt wird. Tantra als Weg. Stand: September 2012 Seite 32 Notizen Stand: September 2012 Seite 33