Frühpädagogische Einrichtungen

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Einführung in „Konzepte, Empirie und Geschichte der Frühpädagogik“, Master in Erziehungswissenschaften, Option B „Pädagogik der frühen Kindheit und Kindheitsforschung“,
Modul 6
Dozent: Prof. Sascha Neumann
Protokoll zur Sitzung vom 20. Oktober 2015: „Frühpädagogische
Einrichtungen“
Seminarliteratur: Honig, M.-S. (2012): „Frühpädagogische Einrichtungen“. In: Fried,
L./Dippelhofer-Stiem, B./Honig, M.-S./Liegle, L.: Pädagogik der frühen Kindheit. Weinheim
und Basel: Beltz, S. 91-128.
Protokollführerin: Angelika Müggler
Gelbe Markierung = Wandtafelnotizen von Prof. Neumann
o Begrüssung durch Prof. Neumann
o Daniela Iseli stellt das Protokoll der Sitzung vom 13. 10. 2015 vor.
In der letzten Veranstaltung wurde die Geschichte der Frühpädagogik besprochen. Das
Erkennen, dass das Kind in der frühen Kindheit extrem viel lernen kann und nach Bildung strebt, führte zur Forderung einer entsprechenden Pädagogik. In der Frühpädagogik wird darüber nachgedacht, was es braucht, damit sich das Kind gut entwickeln kann.
Sie wird durch das Verständnis von „Kind“ und „Bildung“ geprägt. Der historische Wandel der Frühpädagogik wurde massgebend durch die Klassiker beeinflusst. Darum wurde
in der Veranstaltung die Definition von „Klassiker“ diskutiert und deren Funktion rsp.
Bedeutung untersucht.
o Veranstaltung vom 20. Oktober: Frühpädagogische Einrichtungen.
Herr Neumann fordert die Studierenden auf, das Zitat von Wolfgang Tietze „Um die
Kinder allein ging es nie“ mit Belegen/Argumenten aus der Seminarliteratur von Michael-Sebastian Honig zu untermauern.
Wolfgang Tietze: Professor der Frühen Kindheit an der freien Universität Berlin, Inhaber
eines grossen Forschungs- und Beratungsinstituts, das Qualitätseinschätzungen von
Kindergrippen macht. Er ist sowohl Praktikern, als auch Wissenschaftlern bekannt.
Michael-Sebastian Honig: Ehemaliger Professor für Social Worker an der Universität
Luxemburg. Er leitet eine Arbeitsgruppe Early Childhood und Care.
o Student: Das Kind ist wichtig für die Gesellschaft. Der Staat will Kinder zu Sittlichkeit
erziehen.
o Prof. Neumann:
1. Argument: Kindertagesstätten sind Sozialisationsfelder. Sie beziehen sich auf Kinder als zukünftige Mitglieder der Gesellschaft. Adressat der Leistung der Kindertagesstätten ist also die Gesellschaft. Die Kinder sind nur Medium.
Dieses Argument zeigt, dass für den Staat nicht das Kind im Zentrum steht, sondern
volkswirtschaftliche Interessen. Die Triebfeder der Entwicklung frühpädagogischer Einrichtungen waren stets ökonomische Gründe. Auch die EU hat sich stets dafür stark gemacht, dass qualifizierte weibliche Arbeitskräfte früh wieder ins Erwerbsleben einsteigen. Schon damals während der Industrialisierung ging es nur um ökonomische Aspekte. Entweder mussten die Kinder arbeiten gehen oder es musste eine Kinderbetreuung
eingerichtet werden, damit die Mütter erwerbstätig sein konnten.
2. Argument: Vereinbarkeit von Familie und Beruf.
Die Vereinbarkeit von Familie und Beruf ist ein schwerwiegendes Motiv für den Ausbau
von Kinderbetreuung in der Schweiz. In den seltenen Projekten des Schweizerischen
Nationalfonds zum Thema Kinderbetreuung wird nicht gefragt, wie die Entwicklung der
Kinder gefördert werden kann. Im Gegenteil, die Frage lautet stets: „Was leisten Kindertageseinrichtungen für die Erwerbsbeteiligung der Frau?“
Es gibt Regionen in der Schweiz mit einer Versorgungsquote von mehr als 30%, was für
die Schweiz relativ viel ist. Wie aber wirkt sich das konkret auf die Erwerbsbeteiligung
von Frauen aus? Frauen arbeiten zwar etwas mehr, aber dafür arbeiten die Männer weniger. Beide, Frauen und Männer, arbeiten zu ca. 70%. Die Vermehrung der Plätze in den
Kindertageseinrichtungen führt also nicht zu einer Steigerung der Erwerbsbeteiligung
bei beiden Geschlechtern, sondern ändert lediglich das Verhältnis der Erwerbsbeteiligung zwischen Mann und Frau.
In der Romandie kann beobachtet werden, dass die Kindertagesstätten besser ausgebaut sind als in der Deutschschweiz. Der Anteil erwerbstätiger Frauen ist deshalb jedoch
nicht höher. Dies führt uns zu der Annahme, dass es bestimmte Vorstellungen über eine
„gute Kindheit“ gibt, welche sich nicht einfach durch Einrichtung von Betreuungsplätzen
ändern lassen.
Eine wichtige Rolle für die Kinderbetreuung spielen nach wie vor die Grosseltern. Diese
machen etwa 50% der Betreuungsleistung aus, welche nicht von den Eltern selber geleistet wird. Im Gegensatz dazu machen die Tageseinrichtungen nur etwa 25% aus.
Der Unterschied zwischen der Schweiz und anderen Ländern besteht darin, dass die
Schweizer Kinder solche Einrichtungen nicht nur weniger besuchen, sondern auch seltener, nämlich durchschnittlich nur 2.5 Tage pro Woche gegenüber 4 Tagen pro Woche im
EU-Durchschnitt.
o Student: Hat das Bestreben nach früher Bildung zum Ziel die Schulzeit zu kürzen, damit
man früher erwerbstätig werden kann?
o Herr Neumann: Lebenslanges Lernen dauert von der Wiege bis zur Bahre und darüber
hinaus. Besonders gut können die Auswirkungen der Programmatik „Lebenslanges Lernen“ jedoch auch im Erwachsenenalter beobachtet werden. Es gibt viele Programme für
Erwachsene, welche zum Lernen animieren und zur Fortbildung anregen. Ausgeklügelte
nationale Entwicklungskonzepte verknüpfen Aufstiegschancen mit Weiterbildung. Die
Pädagogisierung der Lebensphasen ist also nicht nur eine Sache des Kindes- und Jugendalters.
Bildung geht über die Schule hinaus. Das kann man auf zwei Achsen zeigen. Neben dem
Lebenslauf gibt es zusätzlich den Tagesablauf. Vermehrt haben mit Tagesschulen vernetzte Freizeitangebote den Anspruch, dass die Kinder auch nach der Schule noch etwas lernen. Freizeit wird somit informell mit Bildung gefüllt, womit die Kinder täglich
mehr Zeit mit Lernen verbringen (Informal and life-long learning).
Wie ist nun das Verhältnis von Bildung und frühem Lernen? Wie sind education und care
miteinander verknüpft (Honig, S. 97)?
Je nach ihrer historischen Priorität ist die institutionelle Kinderbetreuung eines Landes
entweder kinderbezogen (bildungsfördernd durch Vorschulerziehung) oder elternbezogen (Armutsbekämpfung durch nebenfamiliale Kinderfürsorge).
In der Schweiz beginnt die Bildung mit dem Kindergarten ab dem vierten oder fünften
Altersjahr. Die davor stattfindende Kinderbetreuung zielt nicht so sehr auf Bildung ab,
sondern stellt viel mehr eine Dienstleistung für erwerbstätige Eltern dar.
Die Bezeichnungen care und education werden also wie folgt definiert:
care: Dienstleitungsangebot für erwerbstätige Eltern
education: Bildungsförderung
Zur Frage, was education ist, gibt es zwei verschiedene Positionen.
Für die Vertreter der ersten Position geht es bei education um schoolreadiness, um Bildung als Vorbereitung auf die Schule. Die Vertreter der zweiten Position verstehen hingegen unter education „frühe Bildung“ und „informelles Lernen“. Für die Vertreter dieser
Position hat Bildung eine andere Form. Es geht zum Beispiel um das Konzept der
Selbstbildung, das nicht direktiv ist, sondern durch die Gestaltung der Räume den Kindern einen Erfahrungsraum zur Verfügung stellt, ohne den Kindern jedoch ein bestimmtes Lernziel oder Niveau vorzugeben.
Während die Vertreter der ersten Position bereits bei Dreijährigen eine PISA-Studie
durchführen würden, lehnt die Gruppe der „informellen Bildung“ dies konkret ab. Prüfungen würden sich problematisch auf Kinder auswirken. Es sei gar nicht möglich, bei
Kindern in diesem frühen Alter ein bestimmtes Wissen abzurufen, da die Entwicklung so
schnell vorangeht. Dies belegen auch Ärzte, indem sie sagen, dass es keinen Sinn
macht, bei einem Zweijährigen ein ADHS zu diagnostizieren, denn seine Entwicklung
geht so schnell voran, dass die ADHS-Erscheinung im nächsten Jahr bereits wieder ausgewachsen sein kann.
Die beiden Positionen legen Bildung also unterschiedlich aus. Sie streiten sich schon seit
100 Jahren und werden dies bestimmt auch weiterhin so tun.
o Student: Wann ist lebenslanges Lernen aufgekommen?
o Prof. Neumann: Life-long Learning bedeutet in den Industrieländern, dass aus dem Einzelnen möglichst optimal und viel davon herausgeholt werden soll. Damit kann die ökonomische Leistungsfähigkeit von Ländern im internationalen Zusammenhang gestärkt
werden. Das Prinzip life-long learning machte sich anfangs der 2000 Jahre in Europa
breit. Aber es ist ein alter Traum aller Pädagogen. Die Pädagogik entstand in der Aufklä-
rung, die wir als Beginn der Moderne markieren. Sie ist der Versuch den Einzelnen so zu
verändern, dass er möglichst besser wird und sich perfektionieren kann. Pestalozzi
kannte schon Menschen, die sich nicht nur in der Kindheit sondern auch später noch
entwickelten. Gemäss Pestalozzi ist der Höchstzustand, den ein Mensch erreichen kann,
im Kindes- und Jugendalter gar nicht erreichbar.
Als einziger Knackpunkt galt das Alter, weil man sich im Alter nicht mehr weiterentwickeln kann, sondern nur einen Zustand festigen kann. Heute ist aber auch das theoretisch denkbar, weil das Alter als aktive Lebensphase definiert wird.
Historisch betrachtet gibt es immer mehr Pädagogen, die sich mit den Veränderungen
der Menschen beschäftigen. Dies sind auch immer mehr private Wirtschaftsunternehmen (Internate, Privatschulen, Hochschulen etc.). Pädagogik ist ein big business, wenn
sie auch in Zahlen nicht so viel umsetzen kann wie der Banksektor. Dies erklärt, warum
der Bereich Pädagogik immer wieder reproduziert wird und auf Wachstum ausgerichtet
ist.
o Prof. Neumann: Welches Argument spricht noch für Tietzes Zitat?
o Studentin: Wir können es historisch begründen, da Krippen seit jeher eine NothilfeEinrichtung waren.
o Prof. Neumann:
3. Argument: Nothilfesituation
Auf Grund der grossen Kindersterblichkeit waren die Krippen Versuche, bessere hygienische Bedingungen zu schaffen.
Krippen entstanden als Antwort auf die Notwendigkeit der Müttererwerbstätigkeit bei
Arbeiterfamilien. Dies änderte sich nach dem 2. Weltkrieg. Mit dem Fordismus entstand
ein gewisser Wohlstandseffekt, das sog. Wirtschaftswunder, da gewisse Technologisierungen im Haushalt mehr Freizeit erlaubten und somit auch mehr Zeit für die Kindererziehung vorhanden war. In dieser Zeit entstand etwas, von dem wir uns heute wieder
distanzieren: Das männliche Ernährermodell.
Aber weibliche Erwerbstätigkeit gab es immer schon. Die Epochen, in denen sie untypisch war, sind nur kurz gewesen.
Kinderkrippen entstanden auch als Armutsprävention. Kinder waren schon immer stärker von Armut betroffen als Erwachsene, weil sie nicht arbeiten dürfen oder wenn sie
arbeiten, viel weniger verdienen. Dazu kommt, dass Familien mit vielen Kindern einen
grösseren finanziellen Aufwand haben und wegen der Kinderbetreuung zusätzlich noch
weniger arbeiten können.
Auch heute bedingt das Aufwachsen in Armut häufig auch ein zukünftiges Leben in Armut. Das Leben unter der „Armutsgrenze“ bedeutet, dass mit einem Einkommen von
weniger als 50% des Durchschnittseinkommens ausgekommen werden muss. Dies stellt
materiell gesehen nicht unbedingt ein Problem dar. Heute richtet sich Armut vor allem
auf kulturelle Aspekte. Wenn Kinder täglich sechs Stunden vor dem Fernseher sitzen,
aber kein einziges Buch im Haushalt vorhanden ist, so spricht man von einer Bildungsarmut. Die heutige Armutsprävention der Frühpädagogik ist daher eine Prävention von
Bildungsarmut. Sie betrifft zum Beispiel Kinder, die zu Hause keine Landessprache sprechen und daher benachteiligt sind.
o Student: Im Text steht aber, dass Einrichtung die vorhandenen Unterschiede nur verstärken würden. Stimmt das?
o Prof. Neumann: Dies ist ein zentrales Argument, wenn es um den Ausbau und die Qualitätssicherung von Kindertageseinrichtungen geht.
Sicher kann man sagen, dass es positive Aspekte gibt, wenn die Qualität stimmt. Es ist
aber auch ein Befund, dass die Zustände zu Hause nicht geändert werden können. Soll
man deswegen die Kinder aus armem Haus zu Hause lassen? Nein, insgesamt will man
ja eine gebildetere Gesellschaft haben. Es geht also nicht immer darum, die Bildungsschere zu schliessen, sondern manchmal auch darum, dass alle mehr lernen.
Man kann nicht alleine darauf setzen, dass die Kindertageseinrichtungen die Unterschiede ausgleichen, welche die Kinder von zu Hause mitbringen. Darum geht man davon aus, dass gleichzeitig die Eltern gebildet werden müssen, womit die Grenzen von öffentlicher und privater Erziehung verschwimmen.
Die Bildungsaspiration bei Migranten ist immer stärker ausgeprägt als bei der Mittelschicht. Migranten wollen nach oben. Daran kann die Bildungspolitik ansetzen. Es fehlt
also an den Mitteln und nicht an der Motivation.
o Prof. Neumann: Noch ein weiteres Beispiel:
Im Text von Honig werden die beiden Deutschen Staaten, DDR und BRD, verschiedentlich miteinander verglichen. In der DDR waren die Kindertageseinrichtungen
sehr gut ausgebaut. Wenn sie auf Berlin schauen, dann sind die Kitas im Osten der Stadt
viel besser ausgebaut. Aufgrund der schwierigen Verhältnissen und der Flüchtlingswellen (Starke Abwanderung der DDR in die BRD), war es volkswirtschaftlich notwendig,
eine möglichst breite Masse von Erwachsenen für die Arbeit zu mobilisieren. Deswegen
waren Kindertageseinrichtungen notwendig.
Ein anderes, in der Schweiz von familienkonservativen Politikern immer wieder implizit
angesprochenes, Ziel von Kindertageseinrichtungen war es z.B. in der Diktatur des Sozialismus, das Gedankengut möglichst früh an die Kinder zu vermitteln. Wenn die Kinder
zu lange von zu Hause beeinflusst werden, stellt Familie ein Risiko für die staatsbürgerliche Erziehung im Sinne des Sozialismus dar. Ähnlich ist es in Frankreich, wo die Kinder
ab dem dritten Lebensjahr in die „Ecole maternelle“ gehen. Sie gehören so früh der Republik an und werden im Gedankengut des Staats erzogen. Diese ideologische Bindung
der Tagesbetreuung an den Staat in manchen Ländern wird in der Schweiz häufig als
ein wichtiges Argument gegen den flächendeckenden Ausbau der Kindertagesbetreuung herangezogen. Betont wird demgegenüber die Plicht der Eltern, sich um die Kinder
zu kümmern. Der Familienkonservatismus distanziert sich daher auch von einer Verstaatlichung der Kindheit.
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