Henri Bergson Von der Auswahl der Bilder bei der Vorstellung (aus: Kursbuch Medienkultur: Die massgeblichen Theorien von Brecht bis Baudrillard, hrsg. von Lorenz Engell, DVA, Stuttgart 1999 Abstract Der Autor stellt in seinem Text Thesen auf, die sich mit Bildern in und um uns sowie mit dem Bild des eigenen Leibes befassen und hinterfragt deren Entstehungsprozess anhand von Gedankenexperimenten aus der Neurophysiologie, der Physik und der Biologie. So wie Bergson Hypothesen der Bilder aufstellt, so experimentiert er auch mit Wahrnehmung und Bewusstsein, auf der Suche nach der reinen, absoluten Wahrnehmung, deren Existenz in Zweifel gestellt wird und somit die bewusste, die von Bildern behaftete Wahrnehmung ins Zentrum der Fragestellung rückt. Schlagwörter Monade Deduzieren Indeterminiertheit Zentripetale Nerven Zerebrospinales System Claudia Schemerl-Streben, 9902711 696511 VO Medienpädagogik: Medienbildung, Medienkompetenz, Medienkultur Univ.-Prof. Dr. Thomas A. Bauer, Institut für Publizistik- und Kommunikationswissenschaft, Universität Wien, WS 2004/2005 Zusammenfassung Lässt man sich auf den Gedankengang des Autors ein, so sieht man sich umgeben von Bildern. Eines dieser Bilder kann nicht nur von außen, sondern auch von innen, durch Affektionen, wahrgenommen werden - gemeint ist der 'Leib'1. Die Affektionen treten zwischen den Reizungen von außen und der darauf folgenden Bewegung auf und scheinen somit einen Einfluss auf die Entscheidung darüber zu haben, ob und wie man auf diese Reizungen reagiert. Bergson interpretiert diesen Einfluss als „Aufforderung zum Handeln“2, trotzdem räumt er ein, dass auch die Möglichkeit bestehe, gar nicht zu reagieren bzw. abzuwarten – der Autor gesteht uns hiermit also eine Wahlmöglichkeit zu. Die Funktion des Bewussteins im Zusammenhang mit Affektionen wird als das Gefühl beschrieben, das jene Schritte begleitet, bei denen der eigene Wille sich als handelnd empfindet. Auf der Suche nach der Ursache für die Handlung, die als Reaktion auf äußere Reizungen und somit auf die Empfindung dieser erfolgt, stellt Bergson die These auf, dass die Handlung sich nicht zwingend aus vorhergehenden Vorgängen ableiten müsse und somit etwas „wirklich Neues nur durch die Vermittlung eigentümlicher Bilder“ entstehe, dass in die Welt hineintritt. Die Überprüfung soll durch die Auskunft des Physiologen und des Psychologen erfolgen, die die zentripetalen Nerven, die den Reiz zu den Nervenzentren leiten, für die Erzeugung der Vorstellung von der Außenwelt verantwortlich machen. Bergson folgert daraus, dass diese Bildvorstellungen, ebenso wie das Gehirn und die Reizungen, die an das Gehirn weitergeleitet werden, Bilder sind. Die Bilder der Außenwelt müssten somit allerdings bereits im Gehirnreiz enthalten sein, womit der Autor diese These wieder verwirft, denn das Gehirn ist nicht Bedingung des Gesamtbildes, sondern ein Teil dieses Bildes.3 Bergson stellt sich somit die Frage, wie der Leib die Vorstellung vom Universum erzeugen kann und stellt bei der Beantwortung dieser Frage fest, dass es irrelevant sei, ob man nun vom Leib, einem Bild oder der Materie spricht. Ist der Leib also Bergson, Henri: Von der Auswahl der Bilder bei der Vorstellung, S. 308 – 318, in: Pias, Klaus/Vogl, Joseph/Engell (Hrsg.), Lorenz: Kursbuch Medienkultur, Stuttgart 1999, S. 308. 2 Ebd., S. 308. 3 Vgl. ebd., S. 309. 1 ein Gegenstand, der dazu bestimmt ist, andere Gegenstände zu bewegen, dann ist er „ein Zentrum von Handlung“ und nicht in der Lage, „Vorstellung zu erzeugen.“4 Trotzdem wird eingeräumt, dass der Leib „reale und neue Wirkungen“ auf umgebene Gegenstände ausüben könne und somit eine „bevorzugte Stellung“ gegenüber diesen Gegenständen einnimmt, da er eine Auswahlmöglichkeit in Bezug auf die Reaktion auf diese Gegenstände hat.5 In einem Gedankenexperiment werden die zentripetalen Nerven vom zerebrospinalen System getrennt, wodurch die Wahrnehmung verloren geht, der Übertragungsvermittler der Reizungen wird somit außer Kraft gesetzt und der Körper kann nicht mehr auf umgebende Gegenstände wirken.6 Fazit: Wahrnehmung tritt auf, wenn ein von der Materie empfangener Reiz nicht automatisch, also reflexartig, eine Reaktion auslöst. Wie kommt es dann, dass Wahrnehmung Bewusstsein ist, dass Wahrnehmung also bewusst stattfindet? Auf der Suche nach der Antwort postuliert Bergson, dass es die reine, objektive und damit auch ideale Wahrnehmung der Dinge nicht gibt. Sie sei durch Erinnerungen, also vorhergehende Bilder, geprägt, was den Nachteil mit sich bringt, dass Täuschungen nicht ausgeschlossen werden können. Und trotzdem müsse der Wahrnehmung der behafteten Wahrnehmung eine reine als Wurzel zugrunde liegen, die diese subjektiven Erinnerungen einmal abgespeichert hat. Bergson stellt zwei Hypothesen auf: 1. Hypothese: Es gibt keine Wahrnehmung, die frei von subjektiven Visionen ist. 2. Hypothese: Wahrnehmung nimmt Zeit in Anspruch, da sie Momente zu einer Einheit zusammenfasst, somit ist das Gedächtnis ein „Hauptbestandteil des individuellen Bewusstseins.“7 Die Frage, die sich daraus ergibt: Wie ist bewusste Wahrnehmung erklärbar? Die Antwort wird anhand von Atomen sehr anschaulich beschrieben, denn diese sind ja schließlich auch nur über eine mögliche Anschauung denkbar, weshalb die Schlussfolgerung gezogen wird, dass ein Bild auch „gegenwärtig“ sein kann , 4 Ebd., S. 310. 5 Ebd, S. 310. 6 Vgl. Ebd., S. 310 7 Ebd, S. 314 „ohne wahrgenommen zu werden“, also „ohne vorgestellt zu werden.“8 Somit müsste der Gegenwärtigkeit der Dinge nur etwas weggenommen werden, um Vorstellung zu erzeugen. Die Frage, die sich dadurch für den Autor aufdrängt ist, wieso die Vorstellung eines Gegenstandes bzw. des Bildes etwas anderes als der Gegenstand an sich sein könne? Dieses Bild ist in eine Gesamtheit übriger Bilder eingebettet und sowohl durch diesen Umstand, als auch durch vorangegangene sowie durch folgende Bilder behaftet. Will man die Gegenwärtigkeit dieses Bildes in die reine Vorstellung umwandeln, so müsste man dieses Bild isolieren.9 Je höher der Entwicklungsstand eines Lebewesens ist , desto eher ist es in der Lage, den Nutzen aus den Elementen dieser Gegenstände das für sich Wesentliche vom Unwesentlichen zu selektieren. Diese Isolations- bzw. Auswahlfähigkeit ist das Wesen des Bewusstseins und verantwortlich für die Entstehung von bewusster Wahrnehmung. Die Erklärung für Vorstellung ist also in der Wahlmöglichkeit oder 'Indeterminiertheit'10, wie Bergson sie nennt, zu finden. Die Schwierigkeit, die der Autor in diesem Zusammenhang aufzeigen möchte, liegt darin, dass die Wahrnehmung mit dem Prinzip der Fotografie verglichen wird. Der Philosoph und Naturforscher Leibniz spricht von Monaden, unteilbaren, beseelten Kraftpunkten, die als Spiegel der Welt fungieren. Doch „wenn man nun einen beliebigen Punkt im Weltall betrachtet“, dann geht „die Wirkung der gesamten Materie ohne Widerstand und ohne Verlust“11 durch diesen Punkt durch. So ist auch der Wahrnehmungsprozess zu verstehen: Denn die Wahrnehmung fügt „dem Vorhandenen nichts hinzu, sie [bewirkt] nur, dass die reele Wirkung durchgeht und die virtuelle bleibt.“12 Auswertung & Besprechung: Der Text stellt das Problem der ursprünglichen, traditionellen Medienpädagogik sehr anschaulich dar, die sich als objektiver Betrachter der Medien verstanden hat, 8 9 Ebd., S. 315. Vgl. 315f. 11 12 Ebd., S. 318. Ebd., S.318. als eine außerhalb der Medien stehende Wirklichkeit. Diese, aus der Medienphilosophie entstandene Sichtweise, ist mehr als nur überholt, auch wenn sie heute noch Befürworter hat. Medienpädagogik kann kein externer Beobachter von Medien oder Zensor kultureller Vorgänge sein, da sie Teil des Kulturraumes ist. So kann man durchaus Vergleiche zwischen dem ursprünglichen Selbstverständnis der Medienpädagogik und den Fragestellungen von Henri Bergson ziehen, der deutlich macht, dass es die, von Erinnerungen unbehaftete Wahrnehmung nicht geben kann, dass unsere Wahrnehmung immer durch Bilder behaftet ist, die wir bereits in unserem Gedächtnis abgespeichert haben und die unsere Sichtweise der Dinge im positiven, wie im negativen Sinne, prägt. Die Wahlmöglichkeit, die der Autor in seinem Text bespricht, interpretiere ich als Wahlmöglichkeit des einzelnen Menschen, die Freiheit, selbst zu wählen und damit den Kommunikationsprozess mitzubestimmen. Diese Indeterminiertheit stellt die Mündigkeit oder besser gesagt Kritikfähigkeit des Einzelnen dar, die nicht unterschätzt werden darf und die erst mit der Agenda Setting-Forschung eine Umkehrung der Fragestellung „Was machen die Medien mit dem Rezipienten“ in „Was machen die Rezipienten mit den Medien“ laut diskutiert und ernstgenommen wurde. Vom Autor inspiriert, würde ich ebenfalls gerne ein Gedankenexperiment durchspielen: Eine Gruppe von Versuchspersonen (Vpn) wird in einen Raum geführt. Die Anordnung des Raumes ist einem Fernsehzimmer nachempfunden – die Vpn sollen sich also wie zu Hause fühlen. Man zeigt ihnen eine Ausgabe der „Zeit im Bild“ und lässt sie nach der Darbietung nach Hause gehen. Am nächsten Tag sollen die Personen die am letzten Tag dargebotene ZIB-Ausgabe reproduzieren. Meine These dazu würde lauten – und Bergson würde sie bestätigen: Keine der reproduzierten Angaben würde sich auf Punkt und Beistrich gleichen. Jede der Vpn würde die Sendung auf ihre Art, aus ihrer Sichtweise, erzählen. Einige würden vielleicht einen Beitrag vergessen oder Sequenzen auslassen, andere würden die Sendung möglichst genau nacherzählen, die nächsten könnten sich vielleicht nur an einige Sager erinnern. Der Grund für diese unterschiedliche Reproduktion und damit auch Rezeption, liegt in der individuellen Sicht der Bilder, die auch über die Selektion dieser entscheidet. Genauso hat auch der Leser einer Zeitung ganz alleine die Entscheidungsgewalt darüber, welchen Artikel er aufmerksam rezipiert, welchen er überblättert oder bei welchem er zwischen den Zeilen liest. Die Zeitung kann nur den Stoff liefern, die Themen bereitstellen, mit denen sich die Menschen am nächsten Tag am Frühstückstisch oder auf dem Weg zur Arbeit, auseinander setzen – oder eben nicht. Was der Rezipient für eine Vorstellung von den Dingen oder von der Welt hat, kann somit nicht oder wenn, nur beschränkt, beeinflusst werden, denn diese Vorstellung unterliegt seinen individuellen Visionen, also seinen Erlebnissen, die er im Laufe seines Lebens gemacht hat und der Kultur, die ihn umgibt und damit auch prägt. Die Individualität gilt es also zu berücksichtigen, denn Medien, Kultur und Gesellschaft sind zwar eng miteinander verknüpft aber sie sind nicht miteinander gleichzusetzen.