Was der Atem vermag 1.1. Was mein Verständnis von Atemarbeit ist und was nicht Atemtherapie Middendorf®1 ist eine salutogenetische (salus = gesund, genese = Entstehung), psycho-physische Weise, mit dem Atem umzugehen. Sie ist ein übendes, aktives, nicht suggestives, eutonisierendes (tonus = Spannung, eu = gesund, gut), selbsterfahrungszentriertes, leibtherapeutisches Verfahren. „Leibtherapeutisch“ meint die Arbeit am „beseelten Körper“, dem Leib. Die Beobachtung des Atems, der zugelassen wird - und nicht mit Vorgaben wie falsch und richtig beeinflusst – ermöglicht dem Klienten, zwischen Hingabe und Achtsamkeit Fähigkeiten zu entwickeln: Atemfähigkeit, Sammlungsfähigkeit, Empfindungsfähigkeit. Sowohl therapeutisch also auch pädagogisch geht der Erfahrbare Atem von einem „heilen Kern“ und dem leiblich-seelisch-geistigen Entwicklungspotential aus und verhilft dem Klienten zu einem leiblich gegründeten Selbstbewusstsein, damit einer Ich-Kraft, die für Selbsterkenntnis und Heilung wichtig ist. Ein feststehender Begriff ist das „Leitseil des Atems“, den ich so übersetzen würde: die Art, wie ich als atmendes Wesen jetzt gerade bin. Ilse Middendorf prägte die Begriffe ‚zugelassener Atem, ‚beseelter Körper’ (= Leib), womit sie sich von anderen Methoden in Ihrer Haltung ansetzt (siehe vorletzter Absatz). Es gibt keinen keine Technik, sondern ein Wahrnehmen, Erlauben, Zulassen. So ist zum Beispiel in der Gruppenarbeit von Haltungen und Veränderungen der „oberen, unteren, mittleren, diagonalen, horizontalen Bewegungsräumen“ die Rede oder beim Üben ohne Begleiter folgende Fragen möglich: Wie geht es mir gerade? Wie spüre ich meinen Körper, meinen Atem jetzt? In welcher Stimmung bin ich? Welche Gedanken bewegen mich? Als ein Sahnehäubchen im Gruppenprozess ist das laute oder stumme Tönen, das den Körper und die direkte Umgebung zusätzlich belebt und beschwingt. In der Einzelarbeit, kommt der Atemtherapeut (ab jetzt ‚Begleiter’ genannt) mit dem Klienten (bekleidet, liegend, üblicherweise mit geschlossenen Augen) durch haltende, manchmal sanft Druck ausübenden, manchmal nur angedeuteten Berührungen ‚ins Gespräch’. Es ist ein körperliches Fragen und Antworten: Wie ist das jetzt hier? Ah, da gibt es (noch) nichts zu berichten? Und wie ist es jetzt? Hm, keine Lust. Oder; Oh, bloß nicht da! Oder: Hm, jetzt kann ich mich erinnern, da ist ja noch Platz! Oder: Oh, wie schön, mir war gar nicht klar, dass da so viel Raum zur Verfügung steht. Wie der Betreuer dabei vorgeht, ist zum einen von seiner Intuition abhängig (die sich auf eine ausgeformte Wahrnehmung stützt) und der exakten Beobachtung der Atemgestalt (kräftig, ängstlich, rhythmisch) und des Umfangs (viel, schnell). Das verbale Gespräch am Anfang und Ende der Einzelarbeit ermöglicht den Austausch und die Spiegelung und von Wahrnehmungen. Der Verstand, das Denken, das Ich, der Wille werden nicht direkt aktiviert. Gedanken und Gefühle „passieren“ (im Sinne von kommen und gehen). Vielleicht mag das der Grund sein, weshalb Atemklienten berichten, dass sie in ihrem Alltag plötzlich anders reagieren, fühlen, wenn man sie auf ein zuvor 1 Der Erfahrbare Atem, Ilse Middendorf 1 geschildertes Problem anspricht. Dass der Klient sich verändert, erkennt der Betreuer ganz eindeutig: am Atemgeschehen. Es soll Bemühungen gegeben haben die Wirkungsweise des Erfahrbaren Atems mit Definitionen von C.G Jung, Rudolf Steiner, der Psychologie, der Psychopathologie und der Medizin zu beschreiben. Sie schlugen fehl, was ich gut nachvollziehen kann. Denn ich komme immer mehr zu der Ansicht, dass Ilse Middendorf, die erst 2009 mit 99 Jahren starb, sich in ihrer erfrischenden und selbst bestimmten Art nicht von Strömungen abbringen ließ, den Menschen mit ihrer absolut beschreibenden, respektvollen und achtsamen Weise unbewertet als Lebewesen zu nehmen. Sie lässt sich damit weder in eine wissenschaftliche noch in eine esoterische Ecke zwängen. Es gibt andere Atemlehren und auch Atemtechniken, teils östlichen, teils medizinischen Ursprungs. Solche, die bewusst ins Machen gehen und somit beispielsweise die Hyperventilation oder kathartische Erlebnisse provozieren, um unbewusste Erlebnisse zu „retraumatisierten“, um sie integrieren zu können, um vollkommen zu werden, sind z. B. Rebirthing, Bioenergetik, holotropes Atmen. Ich schließe nicht aus, dass mit solchen Techniken erstaunliche Erkenntnisse zu Tage treten. Da wir von einem Anteil Unbewusstem von 95% ausgehen, sehe ich es als sinnvoller an, die Dinge zu bearbeiten, die sich zeigen, weil die Seele bereit dazu ist: im erfahrbaren Atem. Ich halte nichts davon, Dinge mit Gewalt auszugraben, weil z.B. Geburt ja per se ein traumatisches Erlebnis ist. Sonst könnte man auch sagen, dass das ganze Leben ein Trauma ist, denn es endet ja schließlich mit dem Tod. Ich halte es da schon eher wie Wolf Büntig, der neulich auf einem Vortrag2 einen Autor zitierte: Im’ not ok, you’re not ok and that’s ok. Ich habe ein sicheres Gefühl - und in der Auseinandersetzung mit dieser Thematik wuchs diese Haltung -, dass „das Weiche das Harte“ besiegt. Vielleicht muss erst so ein Grundvertrauen zur eigenen Seele bestehen, um sich dieser gewaltfreien Atemlehre anvertrauen zu können. Wir kennen aus der Ausbildung bei Hephaistos den Begriff der Akzeptanz und auf die Unvollkommenheit komme ich noch einmal zu sprechen, wenn es um Polarität und Balance in Kapitel 3.4 geht. 1.2. Als was gilt der Atem sonst noch? 1.2.1. Biologisch 2 3 Das Leben ist mit dem ersten und letzten Atemzug besiegelt. Dazwischen ist er uns geschenkt, wir müssen nichts tun, um ihn zu erwerben, es gilt nur, ihn zu lassen. Mit dem Atem, der Haut und den Sinnesorganen sind wir mit der Natur verbunden. Dort findet Austausch statt. Dieser Austausch erhält uns am Leben. Um den Stoffwechsel, also die Energieumwandlung in den Zellen zu ver- und entsorgen, schickt die Atmung Sauerstoff/Stickstoff über 300 bis 400 Millionen Alveolen [Lungenbläschen, die eine Oberfläche von 70 m² bilden] und 150.000 km Kapillare (Haargefäße) durch den Körper.3 Es befinden sich auch Atmungsorgane im Kopf, wo sie den Atem für uns anpassen, für Druckausgleich sorgen und am Gleichgewicht mitwirken. Über unseren ‚Riechkolben’ erhalten wir zusätzliche Aussagen über unsere Umwelt. Im Brustkorb umschließt die Lunge das Herz. Das Zwerchfell als größter Atemmuskel trennt den Brustkorb von den weiteren Organen. Ohne das Zwerchfell wäre Lachen, Singen, Pressen nicht möglich. Seine Kontraktion massiert die Organe im Bauchraum. Am bottle-neck zwischen Kopf Die Spiritualität der Unvollkommenheit (Vortrag), Wolf Büntig Kapillaren, Michael Peuser 2 und Rumpf ermöglicht der Atem die Bildung der Stimme. Also ist Atem auch ein Teil unserer Stimme. 1.2.2. Energetisch Atmen ist die Lebensenergie die das Universum durchdringt und erweckt. Mit diesem Bewusstsein kann auch der Mensch Lebens spendende Energien durch verschiedene Stellen des Körpers schicken. Atmen ist sich bewegen, ist lebendig sein, frei sein. 1.2.3. Spirituell Unser Atem ist die Brücke zwischen Außen und Innen. Er verbindet uns mit unserem ureigenen Wesenskern, tief in unseren Zellen. Von diesem Ort in uns stellen wir über die Brücke unseres Atems den Kontakt her zu unserem Gegenüber und von dort gemeinsam die Verbindung zum großen Ganzen, von dem wir ein Teil sind. Gott ist nur einen Atemzug von uns entfernt. Atem ist auch Einbindung, Rückbildung. Im Hinduismus zum Beispiel heißt Atman Selbst, Prana Lebensenergie; das althochdeutsche Wort Odem kennen wir daher, dass Gott Adam seinen Odem einhauchte. Der Atem bewahrt uns davor, dass der Mensch sich ganz abschließt, sich ganz verschließt, dass er seine Ich-Grenze ganz undurchdringlich macht. So gerne der Mensch sich auch immer wieder in sein Ego verkapselt – der Atem zwingt ihn, die Verbindung zum Nicht-Ich aufrechtzuerhalten. Machen wir uns bewusst, dass wir die gleiche Luft einatmen, die unser Feind ein- und ausatmet. Es ist die gleiche Luft, die Tier und Pflanze atmen. Der Atem verbindet uns ständig mit allem. Mag sich der Mensch noch so abgrenzen – der Atem verbindet uns ständig mit allem und jedem. Die Atemluft verbindet uns alle miteinander, ob wir es wollen oder nicht. Atem hat also etwas mit „Kontakt“ mit „Beziehung“ zu tun.4 Indem Ihr Euren Atem liebt, liebt Ihr den lebendigen Gott in Euch und erfahrt die Wahrheit.5 1.2.4. Physikalisch Atem hat durch den Rhythmus (Amplitude Ein- und Ausatem) eine zeitliche und durch die Ausdehnung im Leib und der Wahrnehmung unseres Körpers im Außenraum eine räumliche Komponente. 1.2.5. Psychisch Durch die Atembewegung passiert eine innere Berührung. Sind Menschen berührt, findet oft ein Wechsel in der Atemgestalt statt. 5 6 7 Atmen impliziert, dass ich gut für mich sorge (weil der Atem dennoch auch willentlich funktioniert). Düfte sind sehr eng an Gefühle gekoppelt, was nicht nur der Spruch „jemanden nicht riechen können“ ausdrückt. Studien bergen neue Entdeckungen. Atem schafft Gegenwart (eines nach dem anderen, einen Atemzug nach dem anderen). 4 Atmen gibt Sicherheit (ich atme, egal ob ich etwas tue oder nicht). Atem schafft Zugang zu unseren Ressourcen.6 Der Atem wirkt bis in die Tiefen der vegetativen und motorischen Steuerungsprozesse im Unbewussten: diese Ebene verstehen auch hirnverletzte Menschen. … In einem körpernahen Dialog kann Kommunikation aufgebaut werden – jenseits der Sprache.7 Krankheit als Weg, Rüdiger Dahlke , Thorwald Dethlefsen, S. 160 http://www.kriya-meditation.de/Atem.html Atem und Bewegung, Norbert Faller Hirnverletzte Menschen teilen sich mit, www. Atemcentrum.de 3 1.3. Mit dem Atem zur inneren Achtsamkeit Ich sehe den Atem als eine Zugriffsmöglichkeit, ein Schienensystem zu Empfindungen und Gefühlen, zum Inneren, eine Art „Abfragesystem“ für Unterschiede. Also treffe ich auf die innere Achtsamkeit‚ wenn ich dem Atem Beachtung schenke. Der Atem gibt Auskunft über das Körperbefinden (z. B. aus-gedehnt, zurückhaltend, ausdrucks-stark) aber auch der Körper selbst (hart, warm, angespannt). Deshalb möchte ich im Anschluss die in der körperorientierten (psychotherapeutischen) Arbeit geschilderten „heiligen“ Momente nennen und beginne zunächst den Erfahrungen in der Atemarbeit. Wenn wir das automatische Geschehen, den Fluss des Atems unter-brechen, „halten wir inne“, werden langsamer, nehmen wir uns als Ganzes wahr, spüren wir unsere Gliedmaßen, unseren Rumpf und wie unser Kopf auf dem Hals sitzt. Wir spüren, wo Raum sein möchte, aber noch nicht ist (z. B. in den Schultern, im Unterbauch). In der Atemeinzelbehandlung, also dem Leitseil des Atems aufmerksam folgend, kommt es vor, dass der Atem stillsteht. Zu sehen ist nur ein Pulsschlag an der Stelle, an der sonst Heben und Senken der Bauchdecke zu erkennen ist. Als Begleiter ist zu spüren, dass da etwas ist wie höchste Konzentration und Entspannung gleichzeitig. Im Nachhinein schildert der Klient diesen Zeitraum immer als eine Art Fenster, das aufging und etwas Neues aufzeigte (ein Bild, ein Film, ein tiefes Gefühl, ein großes Nichts). Ich selbst würde dies als ein tiefes Gefühl bezeichnen, wie wir es kennen von einem Augenblick (Blick in Augen), der alles sagt und alles offen lässt, wie eine Wahrheit. Eine Studie für ‚Achtsamkeitsbasiertes Stressmanagement’ führt die achtsame Atembetrachtung als eine von vier Erfahrungsschritten auf. Interessant ist die in dem Arbeitspapier beschriebene Wertigkeit der Akzeptanz als veränderungswirksamer Faktor: Akzeptanz scheint eine hochkomplexe Integrationsfunktion des Präfrontalkortex zu sein, die erlaubt destruktive Stimmungen und Gefühle, die aus dem Bereich des Mandelkerns stammen, durch eine nichtwertende Akzeptanz herunterzuregulieren und zu verändern. Eine für die Regulierung von Angst zentrale Region scheint der rechte ventrodorsale Präfrontalkortex zu sein.8 Achtsamkeitsübungen scheinen besonders Funktionen wieder zu aktivieren, die unter anhaltendem Stress (also scheinbar unlösbaren Konfliktsituationen) gemindert werden. 1.4. Sprachlos dem Leitseil des Atems in die Tiefe folgen Mit der Atemarbeit spreche ich unmittelbar das Körperselbst an, das sich noch vor der Sprachentwicklung und der Bewertung des eigenen Denkens und Handelns durch wichtige Bezugspersonen bildete. Das Körperselbst ist der selbstverständlichste und ureigenste Teil des Selbst. Ich spreche also (wenn der Moment der inneren Achtsamkeit möglich ist) sehr direkt ein authentisches, ursprüngliches Selbst an. Es ist Zeuge dessen, was überdeckt wurde, um anderen wachsenden Bedürfnissen im Laufe der Entwicklung oder Individuation, wie es C.G. Jung nennt, gerecht werden zu können. Das ist sicher der Grund dafür, dass Klienten häufig von einer Sehnsucht berichten, die sich bei der Behandlung zeigt, und die doch wohl immer da war, ohne zu wissen, was dieses Suchen ausmachte. Es wird auch als Nachhause kommen bezeichnet, als Vertrauen in sich selbst, das neu wächst, bei jedem Teil, der sich auf dieser Basis zeigt. Die Inhalte der einzelnen Gestalten, Bilder, Filme, Sätze oder nur Empfindungen sind offensichtlich zweitrangig. Fakt ist jedenfalls, dass die Klienten entweder nicht 8 ABSM – Achtsamkeitsbasiertes Stressmanagement“, Arbeitspapier (Stand Mai 2008) 4 darüber reden können oder nicht wollen. Vielleicht ist das dabei Erfahrene so „eigenartig“ (im Sinne von authentisch), dass der Klient, jetzt, wo er es wieder gefunden hat, es nicht preisgeben möchte. Der Klient einer Kollegin antwortete auf die Frage der Kollegin, ob er denn bei der Behandlung etwas erfahren habe: „Mehr, als Sie sich denken können!“ Mir selbst geht es als Klient auch hin und wieder so, dass es mir schwer fällt, das Erfahrene auszudrücken. Entweder ich erinnere es nicht bis zum Ende der Behandlung oder es kommt mir so unpassend vor, zu reden. Es sind einfach zwei unterschiedliche „Fähigkeitszustände“. Ich will nicht sagen Bewusstseinszustände, denn ich erleben genau solche Momente auch im Coaching oder in der Therapie. Aber es ist einfach schwierig oder ungewohnt, in die verbale Sprache zu wechseln. Vielleicht ist das so, wie vom Holzhacken aufs Querflötespielen überzugehen. Die Atemlehre nach Middendorf vertraut darauf, dass der Mensch selbst die Fähigkeit besitzt, von dem für sich sicher gefunden Ort in sich aus sein Leben zu erneuern, es zu bejahen, mit Freude zu gestalten. Julius Kuhl beschreibt in seiner Persönlichkeits-Systeme-Interaktionen (PSITheorie)9 (die ich kurz vor Beendigung meiner Arbeit aufspürte), dass bei länger anhaltendem Stress der Zugang zu Schaltkreisen im Präfrontalkortex versperrt ist, die integrierende und angstdämpfende Funktionen ausführen. Neben der unbewussten Regulierung körperlicher Prozesse sind zentrale Funktionen dieser parallel arbeitenden Schaltkreise: Intuitive Problemlösung Empathievermögen Selbstempfinden und Zugang zu persönlichkeitskongruenten Motivationen Angst- und Stressdämpfung Integrierende Akzeptanz von Widrigkeiten, unangenehmen Empfindungen und Erinnerungen (z. B. sich selbst und anderen verzeihen können) Spontanes Handeln in sozialen Kontexten Moralisches Empfinden (Was ist gut für das Ganze?) Eine Studie der University of Columbia belegt, dass bestimmte Achtsamkeitstechniken diese Präfrontalregion anfeuern und dadurch die Tätigkeit der Amygdala (Mandelkern) signifikant gehemmt wird. Diese Ergebnisse sind ein zusätzlicher Beweis, dass innere Achtsamkeit, die z. B. durch Begleitung oder Beachtung des Atems eintritt, dazu führt, sich besser zu spüren, sich unbelasteter zu fühlen, sich als Teil eines Ganzen wahrnehmen zu können und dadurch gekräftigt zu sein, sein Leben (zwischen den Polen) zu meistern. 9 Motivation und Persönlichkeit. Interaktionen psychischer Systeme, Julius Kuhl 5