Tab. 2.1: Krankheiten: Risiken oder Gefahren?

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2.
Krankheitsbilder als soziale Konstruktionen: Laienkonzepte von
Krankheit
Rüdiger Jacob, Harald Michels, Martin Richarz, Dorle Springer, Julia Treike, Katja Windelen
Der erste Teil des Titels ist bewußt doppeldeutig gewählt.1 In der medizinischen Diskussion
bezeichnet der Begriff des Krankheitsbildes mehr oder weniger evidente Symptome, die auf
das Vorliegen einer bestimmten Krankheit schließen lassen. Dabei wird häufig von der Annahme ausgegangen, dass Krankheiten objektiver Natur sind, und man diese gleichsam automatisch erkennen kann, wenn man über das dazu nötige Wissen verfügt - der konstruktive
Charakter solcher Krankheitsbilder bleibt vielfach ausgeblendet. In den Sozialwissenschaften
wird der Begriff "Krankheitsbilder" dagegen auch als Synoym für den Begriff der "Krankheitskonzepte" verwendet, womit laientheoretische Annahmen über die Ursachen, den Verlauf und die Schwere, die Therapiemöglichkeiten, aber auch den "Sinn" von Krankheiten bezeichnet werden. Festzuhalten ist, dass bei beiden Varianten, Krankheiten definiert werden
(und zwar von einer mehr oder weniger homogenen sozialen Gruppe), unterschiedlich sind
allerdings die jeweiligen Begründungen für die Definitionen (und häufig natürlich auch die
Definitionen selbst).
Nun könnte man allerdings vor dem Hintergrund der bahnbrechenden Erfolge der medizinischen Wissenschaft in den letzten 100 Jahren für die moderne Gesellschaft annehmen, dass
im Fall von Krankheiten Alltagsvorstellungen und Alltagswissen – also Laienkonzepte - als
eigenständige Zugangsweisen zu diesem Phänomen obsolet sind und es gerade hier ein allgemein anerkanntes medizinisches Expertenwissen gibt. Dies ist aber nicht der Fall, wie eine
Fülle von Untersuchungen gezeigt hat.
Krankheiten sind auch heute noch Chiffren für Unsicherheiten und motivieren zu vielfältigen
Interpretationen und zwar insbesondere dort, wo das Expertenwissen der Medizin keine Hilfe
bietet. Dabei spielt auch der Umstand, dass Krankheiten im wissenschaftlichen Diskurs emotionslos als gleichsam "sinnfreie" Phänomene betrachtet werden, eine entscheidende Rolle.
Deutungen von Krankheiten und Sinnattributionen sind in diesem Diskurs nicht zulässig. Was
1
Die folgende theoretische Einführung zu diesem Kapitel ist eine gekürzte und überarbeitete Fassung des
Beitrags: Jacob, R.: Krankheitsbilder als soziale Konstruktionen, in: Grundmann, M. (Hrsg.):
Konstruktivistische Sozialisationsforschung, Frankfurt 1999, S. 324-347, dort finden sich auch weitere
Literaturangaben und Quellenbelege.
11
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Göckenjan im Zusammenhang mit dem medizinischen Modell der Infektionskrankheiten
schreibt, gilt so im Prinzip für alle wissenschaftlichen Krankheitskonzepte: "Die Bakteriologie ... präsentiert .. ein technisch formuliertes und als ebenso steuerbar gedachtes Gefährdungsmodell: Die Katastrophe ist nur mehr eine zufällige Überschwemmung durch Mikroorganismen. ... Kranke sind von dem Mißtrauen befreit, dass mit ihnen etwas "nicht in Ordnung" ist, ihre Krankheit evoziert keinen Ordnungswillen mehr. ... Dieses bakteriologische
Katastrophenmodell mußte scheitern, nicht zuletzt, weil es, sich als Naturwissenschaft verstehend, Bedeutungszuweisungen vermeiden zu können glaubte. Denn das Bedürfnis nach Bedeutung besteht fort, wenn Betroffene Krankheit und Tod als Katastrophe erleben; hier muß
das Modell eines biologischen Zufalls versagen."2
Die Deutungsabstinenz der modernen Wissenschaft ist insofern also problematisch, als das
kranke Individuum mit einer Krankheit und daraus resultierenden Erfahrungen faktisch allein
gelassen wird. Eine Krankheit bleibt unverständlich und sinnlos, sofern man nicht auf sozial
etablierte Deutungsmuster zurückgreifen kann, die spezifische Sinnerklärungen anbieten. In
nahezu allen Gesellschaften lassen sich solche Deutungsmuster beobachten, die körperliche
Funktionsstörungen als Manifestation einer vorher verborgenen Wahrheit interpretieren,
Krankheiten mit Moralvorstellungen verknüpfen und insbesondere auf individuelle Verfehlungen zurückführen.3 Dies gilt übrigens nicht nur für laienhafte Krankheitsvorstellungen und
Ursachenattributionen, auch die jeweiligen medizinischen Theorien vergangener Epochen und
Kulturen vermuteten entsprechende Kausalzusammenhänge. So hat z. B. die für unseren
Kulturkreis insgesamt prägende christliche Religion mit entsprechenden Vorstellungen die
mittelalterliche Medizin stark beeinflußt. Krankheit galt im Christentum ursprünglich entweder als Strafe für Sünden, Besessenheit durch den Teufel oder Folge von Hexerei, und diese
ätiologischen Vorstellungen fanden ihren Niederschlag in Krankheitskonzepten und therapeutischen Methoden (und prägen manche Laienvorstellungen bis heute).
Aber nicht nur die Frage, wie eine bestimmte Krankheit interpretiert wird, sondern auch, was
überhaupt als Krankheit gilt, ist von sozialen Definitionen abhängig und variiert zeitlich und
kulturell, wie pointiert folgendes Beispiel von Watzlawick illustriert: "In Indien kann einem
als swami, als Heiliger vorgestellt werden, wer im Westen als katatoner Schizophrener diag-
2
Göckenjan 1988, S. 85.
3
vgl. dazu den von Keller 1995 herausgegebenen Band "Krank-Warum".
12
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nostiziert würde."4 Gerade Abweichungen von einer empirisch oder normativ begründeten
Regel sind häufig Gegenstand sozialer Labelingprozesse. Dies gilt nicht nur für Straftaten,
sondern auch für Krankheiten. Historisch läßt sich diese soziale Konstruktion von Krankheiten gut an der Karriere psychischer Krankheiten veranschaulichen. 5 Heute auch den meisten
Laien zumindest dem Namen nach geläufige Krankheiten wie Schizophrenie, Paranoia oder
manisch-depressive Erkrankungen waren bis zum 19. Jahrhundert gänzlich unbekannt und
wurden erst im letzten Jahrhundert unterschieden und beschrieben.6 Die zugrundeliegenden
Symptome galten vorher nicht als Indikatoren für psychische Krankheiten, sondern wurden
interpretiert als Besessenheit, als Ausdruck von Charakterschwäche oder von krimineller Veranlagung. Die Psychiatrie ist denn auch "die bei weitem jüngste der großen Disziplinen der
Medizin. Sie konnte sich erst entwickeln, nachdem die Epoche der Aufklärung Ende des 18.
Jahrhunderts die Geisteskrankheiten in die Hände der Ärzte zurückgegeben hatte und nachdem die Asyle für Geisteskranke allmählich aus einer Mischung von Zoo und Gefängnis in
Heil- und Pflegeanstalten für Geisteskranke umgewandelt worden waren."7 Der Labelingprozeß wird hier recht deutlich: Mit der Zuständigkeit von Ärzten für bestimmte Phänomene (indem man ihnen sukzessive die Leitung für Asyle anvertraute, was wiederum mit dem allmählich steigenden Prestige dieses Berufsstandes zusammenhing) werden diese Phänomene gemäß der spezifischen Weltsicht von Medizinern als Krankheiten definiert. Nur der Vollständigkeit halber sei angemerkt, dass dieser Prozeß bis heute nicht abgeschlossen ist, wie die
stetig zunehmende Erstellung von psychiatrischen Gutachten bei Strafprozessen zeigt - mit
dem Resultat, dass Verhaltensweisen, die früher als kriminell eingestuft wurden, heute häufig
als Krankheitssymptome interpretiert werden.
Dieses Beispiel zeigt auch, dass die Medizin sukzessive ihren Zuständigkeitsbereich ausdehnt
und als eine Teildisziplin des ausdifferenzierten Funktionssystems "Wissenschaft" eine vergleichsweise neue Erscheinung ist. Historisch gesehen stellen Laientheorien die älteren Konzepte dar.
Alltagskonzepte über Krankheiten beinhalten neben Sinnerklärungen stets auch bestimmte
Vorstellungen über Therapie oder Prophylaxe. Unterstützung bei diesen existentiellen Fragen
4
Watzlawick 1992, S. 125.
5
vgl. dazu Ackerknecht 1992.
6
vgl. Ackerknecht 1992, S. 148.
7
Ackerknecht 1992, S. 148.
13
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suchte "man überall, bevor sie auf den Arzt fixiert wurde. Noch am Ende des Mittelalters
richtete sich der Hilferuf ... in den Dörfern, in denen der drohende Tod immer gegenwärtig
war, aber kein Arzt zur Verfügung stand, beinahe ausschließlich an Wahrsager und Heilkundige, in deren Gebräuchen sich magische und religiöse Rituale eng vermischten. ... In der
Stadt dagegen, am Hof vor allem, waren Ärzte seit dem Mittelalter präsent." 8 Auch heute
praktizieren "Wunderheiler" und insbesondere auch "Wunderheilerinnen" bevorzugt in ländlichen Gebieten. Zu ihrem therapeutischem Repertoire zählen Praktiken wie Handauflegen,
Warzen besprechen oder auch die Verabreichung bestimmter Kräutermischungen. Die Erforschung von Placeboeffekten und der Bedeutung des individuellen Glaubens an die Wirksamkeit bestimmter Maßnahmen hat Erklärungen für die Erfolge solcher Methoden geliefert.
Dass in der Folge speziell ausgebildete Ärzte ein legitimes Zuständigkeitsmonopol für Fragen
von Gesundheit und Krankheit erlangen konnten, lag zunächst übrigens nicht an einer höheren Kompetenz, fundiertem Wissen oder frappanten Erfolgen dieses Berufsstandes - wie man
vielleicht vermuten würde, nachdem eben von "Wunderheilern" und Placeboeffekten die Rede
war. Vielmehr waren manche Vorstellungen des mittelalterlichen Laiensystem in gewisser
Weise "moderner" als das damalige medizinische Fachwissen. So wurde z. B. im Laiensystem
des Mittelalters und der frühen Neuzeit vermutet, dass Krankheiten "ansteckend" sein könnten. Zur Vermeidung von Krankheiten wurden dementsprechend bereits Erkrankte isoliert. Im
medizinisch-gelehrten Denken dieser Zeit wurden die These der Ansteckung dagegen für
Aberglauben gehalten.9 Die Qualität der medizinischen Versorgung war lange Zeit ebenfalls wie Lüth es sehr vorsichtig ausdrückt - "wenig erfreulich".
10
Evans, um nur ein Beispiel aus-
führlich zu zitieren, weist darauf hin, dass sogar noch Ende des 18. Jahrhunderts die Ärzteschaft alles andere als ein allgemein angesehener Berufsstand war. "Mediziner mit einem
Universitätsabschluß waren häufig für den Umgang mit Kranken und Sterbenden schlecht
vorbereitet; mit nichts als theoretischem Wissen gerüstet, standen sie weitgehend noch in der
Tradition der Säftelehre der alten Griechen. ... Eben wegen der ungewissen Wirkungen ihrer
Bemühungen waren die Ärzte außerdem gezwungen, die überall praktizierenden Quacksalber
und Kurpfuscher zu dulden, deren Behandlung häufig keineswegs gefährlicher und weniger
8
Herzlich und Pierret 1991, S. 230.
9
vgl. Herzlich und Pierret 1991, S. 132 f: "In der Medizin sollte die Debatte um die Ansteckung und ihre Wirkungsweise bis zu den Entdeckungen Pasteurs andauern." Auch die Cholera wurde von vielen Ärzten bis in
die Mitte des 19. Jahrhunderts hinein nicht als infektiös angesehen; vgl. Evans 1990, S. 331.
10
vgl. Lüth 1974, S. 19. Siehe auch die z. T. recht drastischen Beispiele bei Herzlich und Pierret 1991.
14
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wirksam waren als ihre eigenen."11 Für den Aufstieg des Berufstandes waren anfänglich also
weniger besondere Leistungen und Erfolge der Medizin verantwortlich, vielmehr war entscheidend, dass die Kirche die Konkurrenz der akademisch ausgebildeten Ärzte - die Bader,
Wunderheiler und Kräuterfrauen - aus dem Weg räumte und es ihr zudem gelang, deren positives Image als Helfer und Heiler ins Gegenteil zu verkehren.
Erst gegen Ende des 19. Jahrhunderts, als Wissenschaftler wie Pasteur, Yersin, Kitasato oder
Koch ihre großen Erfolge im Kampf gegen schwere Infektionskrankheiten erzielten, gewann
die Medizin zunehmend an Effizienz und Reputation. Gleichwohl zeigen - insbesondere auf
dem Land - volksmedizinische Vorstellungen ein ausgeprägtes Beharrungsvermögen, was
darauf zurückzuführen ist, dass auch nach der erfolgreichen Etablierung der Medizin das Land
mit medizinischer Infrastruktur lange Zeit unterversorgt blieb - und auch heute noch ist die
Ärztedichte in ländlichen Regionen deutlich niedriger als in Ballungsgebieten. Volkskundler
wie Schenda sehen deshalb in der Persistenz von volksmedizinischen Krankheitstheorien auch
ein Deprivationsphänomen.12
Würde diese Persistenz aber ausschließlich auf einer Deprivation beruhen, dann müßte es ausreichen, diese durch eine bessere medizinische Infrastruktur zu beenden. Die Persistenz von
Alltagskonzepten über Krankheit ist allein durch eine bessere medizinische Versorgung aber
solange nicht aufhebbar, solange es unheilbare Krankheiten und krankheitsbedingten Tod
gibt. Entscheidend ist hier, dass volksmedizinisches Wissen und das Vertrauen in Helfer und
Heiler, die außerhalb des etablierten Medikalsystems stehen, als eine Form von Heilswissen
Bedürfnisse befriedigt, die durch die moderne Medizin und ihre Vertreter, die Ärzte, entsprechend einer anderen Funktionslogik nicht befriedigt werden können. Denn der Heiler ist natürlich auch eine charismatische Figur, an den man sich in existentiellen Notlagen wenden
und hoffen kann, dass man auch die entsprechende Hilfe erhält, wobei der Wahl der Mittel
prinzipiell keine Grenzen gesetzt sind. Dieses Image haben Ärzte zum Teil zwar auch (noch),
sind aber dadurch gewissermaßen im Nachteil, dass die Schulmedizin und deren Wissensbestand samt der etablierten Standesregeln ihnen deutliche Grenzen auferlegen. Sozusagen
11
Evans 1990, S. 271 f. Im Fall der Cholera beispielsweise beschleunigt die Verabreichung von Abführ- und
Brechmitteln den Krankheitsverlauf hin zu einem finalen Stadium. Gleichwohl haben bei den
Choleraepidemien im 19. Jahrhundert Ärzte eben diese Therapien bei Kranken angewendet und damit "wohl
Tausende von Cholerapatienten ... ins Grab gebracht." Evans 1990, S. 433.
12
vgl. Schenda 1985, S. 152.
15
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"freischaffende" Heiler haben diesbezüglich keine Probleme und können das Image des charismatischen Wunderheilers beliebig kultivieren. Paradox dabei mutet der Umstand an, dass
gerade die von der Schulmedizin geforderte Wiederholbarkeit des Erfolges einer Therapie,
also die Forderung nach einem verläßlichen Qualitätsstandard, für Heiler nicht nur nahezu
vollständig irrelevant, sondern die Negation eines solchen Standards im Gegenteil vielfach
geradezu konstitutiv für Charisma ist. Nicht der Mißerfolg wird als Problem angesehen, vielmehr festigen einzelne und eben deshalb unerklärliche Behandlungserfolge, die sich in kein
klar erkennbares Muster fügen lassen, den Ruf des wundertätigen Nothelfers. Der Mißerfolg
der gleichen Behandlung bei anderen Personen kann dann unter Zuhilfenahme ideosynkratischer Annahmen problemlos erklärt werden und man versucht die nächste Therapie. Dabei
scheint der Wandel im Krankheitsspektrum hin zu chronisch-degenerativen und vielfach von
der Schulmedizin kaum zu therapierenden Krankheiten sogar für eine Renaissance solcher
alternativer Angebote zu sorgen.
Chronisch-degenerative Krankheiten sind nicht nur wegen ihrer aktuellen Dominanz im
Krankheitsspektrum die gleichsam typischen Krankheiten der modernen Gesellschaft, sondern auch, weil sie in weitaus höherem Maß individuelle Krankheiten sind als die Infektionskrankheiten früherer Jahrhunderte. Denn anders als die Ätiologie von Infektionskrankheiten
wird ihre Genese - unbeschadet aller unbestrittenen Umwelteinflüsse - stark von individuellen
Verhaltensweisen beeinflußt. Schwere Infektionskrankheiten waren jahrhundertelang idealtypische Beispiele für Gefahren, also für Unsicherheiten die man im Unterschied zu Risiken
kaum durch eigenes Zutun beeinflussen oder steuern kann. Ihre Erreger existieren als Folge
bestimmter evolutionärer Prozesse, ob man erkrankte war - vor allem bei unsicherem Wissen
über die jeweilige Krankheit und ihre Ätiologie - individuell kaum zu beeinflußen, sondern
stellte sich als Schicksal dar, dem man bestenfalls durch generelle Meidung oder Isolierung
der bereits Erkrankten hoffte, entgehen zu können.
Diese Interpretation von Krankheiten als schicksalhaften Gefahren konnte sich grundsätzlich
erst mit den Fortschritten der Medizin ändern. Krankheiten, für die nach deren genauerer Erforschung in zunehmendem Maß Impfstoffe, Therapien und verhaltenspräventive Ratschläge
zur Verfügung standen, erschienen parallel dazu auch als (grundsätzlich) individuell vermeidbar und wurden zum Risiko. Dies gilt erst recht für chronisch-degenerative Erkrankungen, wo
individuelles Tun oder Lassen (natürlich nach Maßgabe der gegebenen mehr oder weniger
krankmachenden Rahmenbedingungen) eine wesentliche Erkrankungsursache oder Vermei16
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dungschance darstellt. In gewisser Weise sind chronische Krankheiten somit auch Spiegel der
individuellen Biographie.
Dieser generelle Wandel bei der Einschätzung von Krankheiten als Risiken oder als Gefahren
zeigt wiederum, dass entsprechende Zuschreibungen sozial bedingt sind und sich nicht aus
"natürlichen" Qualitäten des Phänomens gleichsam objektiv und zwingend ableiten lassen. Ob
eine Krankheit als Risiko (und damit als durch eigene Handlungen beeinflußbar) oder als Gefahr (die einen als Schicksalsschlag trifft) interpretiert wird, ist sozial konstruiert und sozial
vermittelt, wobei sich auch heute noch Unterschiede in der Einschätzung bestimmter Krankheiten zeigen. Gut untersucht ist dies z. B. für AIDS, einer Krankheit, die von bestimmten
Personengruppen als Risiko, von anderen als Gefahr angesehen wird. Die Persistenz der Einschätzung von Krankheiten als Gefahren – abgeleitet aus jahrhundertealten Erfahrungen mit
Infektionskrankheiten – hängt zum einen damit zusammen, dass die Ätiologie von Infektionskrankheiten sich sehr viel einfacher darstellt, kognitiv besser zu bewältigen ist und damit paradoxerweise insofern Unsicherheit reduziert, als man hier zumindest sicher zu wissen glaubt,
warum man erkrankt ist. Außerdem beoabachten wir in den letzten Jahren wieder steigende
Inzidenzraten bei "alten" Infektionskrankheiten wie Masern oder Diphtherie, die schon als
"besiegt" galten und das Auftreten "neuer" Seuchen mit extrem hohen Letalitätsraten wie
AIDS oder Ebola. Beides sorgt dafür, dass Ängste vor einer Ansteckung mit einer schweren
Krankheit nach wie vor sehr häufig sind.
Grundsätzlich ist die Interpretation von Krankheiten als Gefahren für präventive Maßnahmen
ausgesprochen hinderlich, in ihrer Verhaltensimplikation aber konsistent: Wenn man "gegen
eine Krankheit" sowieso nichts machen kann und "es kommt, wie es kommen muß", wozu
sollte man dann sein Verhalten ändern, sich regelmäßig untersuchen oder impfen lassen.
Allerdings muß hier konstatiert werden, dass auch Personen, die eine Krankheit grundsätzlich
eher als Risiko ansehen, dies nicht notwendig auch auf die eigene Person beziehen und sich
risikominimierend verhalten. In diesem Zusammenhang ist das Reaktionsmuster des "unrealistischen Optimismus" zu erwähnen. Dieser Glaube an die "eigene Unverwundbarkeit" scheint
relativ weit verbreitet zu sein und führt zu der Überzeugung, dass das eigene Erkrankungsrisiko im Vergleich zu anderen gering sei. Diese Haltung dürfte sich vielfach, etwa im Fall der
Bildung eines Bronchialkarzinoms bei starken Rauchern durchaus als krasse Fehleinschätzung herausstellen, sorgt aber kurz- und mittelfristig für die Beseitigung kognitiver Dissonan17
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zen, indem man die potentiell schädigende Wirkung bestimmter Verhaltensweisen nicht zur
Kenntnis nimmt.
Laienkonzepte von Krankheiten, also die Vorstellungen darüber, was überhaupt als Krankheit
oder als der Gesundheit abträglich gilt, welche Ursachen und welche Möglichkeiten der Beeinflussung von Krankheiten es gibt, sind mithin die entscheidenden Variablen für das individuelle Konsultationsverhalten, die Akzeptanz ärztlicher Empfehlungen und für präventives
Verhalten. Aus diesem Grund haben wir diese etwas umfangreicheren theoretischen Überlegungen an den Anfang dieses Berichtes gestellt. Die folgenden Befunde – nicht nur in diesem
Kapitel, sondern auch in den nachfolgenden – sind vor dem Hintergrund dieser Ausführungen
zu interpretieren.
Auffällig bei Laienkonzepten von Krankheiten ist zudem ihre Inkonsistenz. Dies liegt daran,
dass Alltagswissen insgesamt keine geschlossene Theorie darstellt, sondern einen einen Vorrat an unsystematischem Wissen versammelt, welches je nach den aktuellen Erfordernissen
gedeutet und verwendet wird. Prinzipielle Widersprüche können wegen der stets situationsbedingten Aktualisierung von Wissen nebeneinander bestehen, ohne dass dies jemanden stören
würde oder dass es ständig auffiele. Deutlich wird dies beispielsweise an der Existenz gegensätzlicher Sprichwortpaare: Viele Aussagen des sog. gesunden Menschenverstandes kommen
paarweise vor. Es wird uns gesagt, dass sich Gegensätze anziehen, aber es wird uns auch gesagt, dass sich gleich und gleich gern gesellen. Diese Widersprüchlichkeit gilt auch für Alltagstheorien über Krankheiten, die "Wissen" ganz unterschiedlicher Quellen beinhalten, etwa
Versatzstücke aus medizinischen Aufklärungskampagnen oder tradiertes Hauswissen.
So stimmen z. B. 72,9% der Befragten des vorliegenden Surveys der Meinung zu, dass man
schweren Krankheiten durch eine entsprechende Lebensweise vorbeugen kann (Frage 15),
87,4% sind aber auch der Meinung, dass eine schwere Krankheit zufällig jeden treffen kann.
Hier zeigt sich exemplarisch der Gegensatz von Risiko- und Gefahrperspektive, wobei die
eine oder die andere Sichtweise situationsspezifisch aktualisiert werden dürfte. Insgesamt
dominiert bei den Items aus Frage 15 zwar – gemessen an den Zustimmungsquoten - die Risikoperspektive, die auch der zur Zeit quasi offiziellen Sichtweise von Krankheiten entspricht.
Zumindest bei schweren Infektionskrankheiten (danach wurde ausdrücklich gefragt) – die
derzeit allerdings epidemiologisch (noch?) keine wesentliche Rolle im Krankheitsspektrum
der Bundesrepublik spielen - sind aber nach wie vor alte Ängste vor Seuchen und ubiquitärer
18
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Verbreitung von Erregern vorhanden, wenn man sich die befürchteten Übertragungswege
näher ansieht (Frage 71). Über 60% glauben z. B. dass man sich mit solchen Krankheiten in
öffentlichen Toiletten oder Turnhallen anstecken kann und immer noch 34% halten Geschirr
in Gaststätten für übertragungsrelevant.
15. Gerade über schwere Krankheiten gibt es ganz unterschiedliche Vorstellungen. Wir haben einige davon zusammengestellt. Sagen Sie mir bitte jeweils, inwieweit Sie diesen
Vorstellungen zustimmen. (Angaben in Prozent)
Ja,
Teils/Teils
stimme zu
A
Nein,
stimme nicht zu
Durch eine bestimmte Lebensweise kann man schweren
72,9
22,3
4,7
87,4
10,1
2,6
77,3
18,5
4,1
14,1
13,3
72,6
27,7
36,8
35,4
Krankheiten vorbeugen. (n=506)
B
Krankheiten können ganz zufällig
jeden treffen. (n=506)
C
Durch den eigenen Willen kann
man den Heilungsprozess stark
beeinflussen. (n=507)
D
Eine schwere Krankheit ist eine
Mahnung Gottes. (n=504)
E
Angesichts der vielen schädlichen Umwelteinflüsse hat man
selbst nur einen geringen Einfluss
auf die eigene Gesundheit.
(n=507)
19
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71.
Wodurch können Ihrer Meinung nach schwere Infektionskrankheiten übertragen werden? (keine leichte Erkrankung wie eine Erkältung)/(Angaben in Prozent)
Ja
Nein
Weiß nicht
(nicht vorlesen)
A
Benutzung von öffentlichen Toiletten (n=504)
63,3
31,7
5,0
B
Turnhalle, Sauna, Schwimmbad (n=506)
60,1
35,8
4,2
C
Geschirr in Gaststätten (n=506)
34,0
60,7
5,3
D
Stationärer Aufenthalt im Krankenhaus (n=506)
68,6
28,7
2,8
E
Küsse (n=505)
53,1
41,8
5,1
F
Wartezimmer in Arztpraxen (n=506)
41,1
56,1
2,8
Faßt man die Indikatoren für die Risiko- und die Gefahrperspektive aus Frage 15 zusammen,13 dann ergeben sich folgende Verteilungen:
Tab. 2.1: Krankheiten: Risiken oder Gefahren?
Krankheiten sind:
stimme zu
teils-teils
stimme nicht zu
Risiken
58,5
38,7
2,8
Gefahren
27,2
66,3
6,5
13
Ein in der Datenaufbereitung übliches Verfahren zum Test von Meßinstrumenten auf Eindimensionalität ist
die Faktorenanalyse, genauer gesagt die Hauptkomponentenanalyse (PCA, Varimax, Kaiser-Kriterium), mit
der ermittelt werden soll, ob Indikatoren – z.B. Statements wie die hier verwendeten – alle zu einer
gemeinsamen theoretischen Variable, die man als zugrundeliegenden Faktor bezeichnet, gehören. Ist dies so,
dann ist die Korrelation (die Faktorladung) jedes Items mit diesem Faktor hoch (Konvention: größer als .5),
mit möglichen anderen Faktoren dagegen niedrig. In der Tat ergeben sich bei entsprechender Analyse zwei
Faktoren, die Items A und C korrelieren mit .760 und .711 mit einem Faktor, die Items B und E mit .781 und
.724 mit einem zweiten. Inhaltlich kann man diese Faktoren als Risiko- und als Gefahrperspektive von
Krankheiten interpretieren. Die Zusammenfassung oder Skalierung der Items erfolgt, indem man die
Codezahlen für jeden Befragten addiert, durch die Summe durch die Gesamtzahl der Items (hier: 2) teilt und
rundet. Man erhält dann eine neue Variable mit den gleichen Ausprägungen (stimme zu, teils-teils, stimme
nicht zu) wie die sie konstituierenden Einzelindikatoren.
20
Regionaler Gesundheitssurvey für Trier und Trier-Saarburg
Insgesamt 58,5% der Befragten halten schwere Krankheiten für grundsätzlich vermeid- und
beeinflußbare Risiken. 27,2% glauben aber auch, dass solche Krankheiten Gefahren darstellen, die jeden treffen können und auf die man nur geringen Einfluss hat.
Ängste vor Ansteckung sind ebenfalls sehr weit verbreitet, wie ein aus den Antworten auf
Frage 71 berechneter Summenindex zeigt. Nur 4,3% glauben, dass in keiner der vorgegebenen Situationen die Ansteckung mit einer schweren Krankheit droht, dagegen befürchten annähernd dreimal so viele (11,8%), dass man sich in allen 6 genannten Fällen anstecken kann.
Abb. 2.1: Alltagssituationen: Übertragung von schweren Infektionskrankheiten, Zahl
der Nennungen (Angaben in Prozent)
25
20,3
20
17,1
17,9
15
15
13,5
11,8
10
5
4,3
0
0
1
2
3
4
5
6
N = 414
Dieser Index korreliert vergleichsweise hoch (Gamma = -.362) mit der Interpretation von
Krankheiten als Gefahren. Personen, die diese Einschätzung teilen, befürchten mithin überdurchschnittlich häufig auch Infektionsgefahren in Situationen der Alltagsroutine. Diese Einschätzung hat zudem einen spürbaren Einfluß auf die Einschätzung des allgemeinen Krebserkrankungsrisikos. 50% der Befragten, die Krankheiten als Gefahren einstufen, schätzen das
allgemeine Risiko als hoch ein (Frage 68). Sie liegen damit 10 Prozentpunkte über dem
21
Regionaler Gesundheitssurvey für Trier und Trier-Saarburg
Durchschnittswert der Stichprobe. Von den Personen, die Krankheiten als Risiko interpretieren, bezeichnen dagegen nur 43% das allgemeine Krebsrisiko als hoch.
Die Furcht vor schweren Infektionskrankheiten hat einen signifikanten, allerdings nicht linearen Einfluß auf die Teilnahme an Impfungen gegen Polio, Diphtherie und Tetanus. Signifikant
mehr Personen, die Infektionsgefahren im Alltag befürchten, haben sich zumindest einmal
gegen diese Krankheiten impfen lassen (zur Messung der Impfbeteilung finden sich genauere
Angaben in Kapitel 6).
Abb. 2.2: Impfungen gegen Polio, Diphtherie und Tetanus nach Zahl der als mit Ansteckungsrisiken verbundenen Alltagssituation (Angaben in Prozent)
60
56,3
50
43,2
39,3
37,5
40
32,3
30,6
5
6
30
20
16,7
10
0
0
1
2
3
4
N = 414, Sig. = .014, Cramer´s V = .196
In der Tendenz zeichnet sich auch der Einfluß der generellen Interpretation von Krankheiten
als Risiken oder Gefahren in der Impfbeteiligung ab, allerdings auf insgesamt sehr niedrigem
Niveau, so dass die Ergebnisse nicht durchgängig signifikant sind. Nur 7,3% der befragten
Personen, die Krankheiten explizit als Gefahren einstufen, weisen einen vollständig dokumentierten Impfschutz gegen Polio, Diphtherie und Tetanus auf, in der Vergleichsgruppe der
Befragten, die dezidiert der Meinung sind, Krankheiten seien beeinflußbare Risiken, sind dies
immerhin 12,2%.
22
Regionaler Gesundheitssurvey für Trier und Trier-Saarburg
Aufgrund zeitlicher Restriktionen konnten Laienvorstellungen von Krankheit in dem vorliegenden Survey leider nicht differenzierter und ausführlicher erfaßt werden. Immerhin stützen
aber auch die mit einem vergleichsweise undifferenzierten und wenig trennscharfen Instrumentarium erhobenen Daten einige der theoretischen Vermutungen und unterstreichen damit
die Bedeutung, die Laienkonzepte von Krankheit für die individuelle Gesundheit wie auch für
Entwicklungen im Gesundheitswesen haben.
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