Stottern als dialogische Fehlentwicklung

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Stottern als dialogische Fehlentwicklung (Britta Becke & Nadja Borchardt) - 1 -
Literatur:
Bindel, Rolf: Stottern als dialogische Fehlentwicklung.
Göttingen (Verlag für Psychologie) 1987.
Zusammenfassung von Kapitel 3 & 4 !
Stottern als dialogische Fehlentwicklung
Das Problem Stottern
Stottern hat es immer und auf der ganzen Welt gegeben. Gegenwärtig geht man von
davon aus, dass ca. 1% der Gesamtbevölkerung vom Stottern betroffen sind.
Obwohl das Phänomen Stottern über Jahre hinweg wissenschaftlich erforscht wurde,
bleiben Ursachen, Funktion und Wirkung von Therapien ungeklärt.
Stottern entsteht in der Kindheit und ist dann oft noch rückbildbar. Bestehen die
Symptome allerdings bis in das Erwachsenenalter hinein, werden sie außerordentlich
therapieresistent. Gegenwärtig kann beim Erwachsenen durch Therapie einzig eine
Verminderung der Symptome, aber keine Heilung erreicht werden.
Im Vergleich zu anderen psychischen Symptomen gilt das Stottern als die am
schwierigsten zu beeinflussende und komplexeste Störung überhaupt. Ein Beleg ist
die Tatsache, dass der überwiegende Teil therapieresistenter Erwachsener bereits in
der Kindheit erfolglos behandelt wurde.
Die Therapieformen unterscheiden sich meist in zwei Hauptrichtungen. Zum einen
wird das Stottern als eine Störung der Sprechweise betrachtet oder aber als
Ausdruck einer Personstörung.
(Vgl. S.1)
Das Stottern lässt sich nicht auf einen Organdefekt beziehen, da jeder Stotternde
sehr wohl in der Lage ist, normal zu sprechen. Das Stottern tritt auch nur zu
bestimmten Punkten im Sprechen mit anderen Personen auf und der Rest der
Aussage kann normal gesprochen werden.
Stottern als dialogische Fehlentwicklung (Britta Becke & Nadja Borchardt) - 2 Auf unvorhersehbare und unkontrollierbare Weise ist das Aussprechen eines Wortes
behindert, wobei das Aussprechen entweder gar nicht gelingt, erst nach längerer
innerer Verarbeitungszeit oder nur mit einer speziellen Sprechstrategie.
Stottern nimmt bei einem Bericht oder der Beantwortung von Fragen zu und ist am
stärksten
beim
spontanen
Reden.
Eine
Vermehrung
des
Stotterns
im
Zusammenhang mit der inneren Erregung wird in der Literatur festgestellt. Demnach
ist das Stottern auch stark von der Beziehung zum jeweiligen Gesprächspartner
abhängig und variiert von Person zu Person.
(Vgl. S.2 a.a.O)
Wie äußert sich das Stottern?
Meist ist beim Stottern der Sprechbeginn eines Wortes betroffen, aber niemals das
Wortende.
Je nach Schweregrad des Stotterns ist der Anfang einer Aussage, der Anfang von
Aussagesegmenten, der Anfang zahlreicher Wörter einer Aussage oder der Anfang
von Wortteilen betroffen.
Es ist möglich, dass Stottern äußerlich zu verändern, in dem innere Strategien
entwickelt werden.
(Vgl. S.3 a.a.O.)
Entsprechend dem Ausmaß der Abänderung, werden die Sprechsymptome in drei
Gruppen eingeteilt:
Symptome, die unmittelbar als Stottern erkannt werden, sind vor allem gehäufte
Laut- und Silbenwiederholungen oder massive Verspannungen bei der Artikulation.
Es können Blockierungen durch muskuläre Spasmen der Artikulationsorgane
auftreten, die willkürliche nicht mehr zu kontrollieren sind.
Bei Symptomen, die weniger deutlich als Stottern erkannt werden, ist Stottern in eine
scheinbar sozial akzeptable Form umgewandelt worden. Beim Zuhörer soll zum
Beispiel der Eindruck entstehen, als denke der Stotterer nur nach, als sei er
abgelenkt oder als habe er Halsbeschwerden. Bei Verzicht auf diese Strategien
würde Stottern wieder in seiner direkten Form auftreten.
Sprachbegleitende Symptome durch weitere körperliche Bewegungsanomalien
entstehen aus Versuchen, Stottern übermäßig gewaltsam zu kontrollieren. Dem
eigentlichen Stottern können unter Umständen Bewegungsrituale vorausgehen, die
Stottern als dialogische Fehlentwicklung (Britta Becke & Nadja Borchardt) - 3 sich in der Vergangenheit als scheinbar effektiv erwiesen haben.
(S. 3 a.a.O)
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Stottern als Dialogproblem
Betrachtet man das Stottern als eine spezielle Störung des dialogischen Sprechens
lassen sich folgende Punkte festhalten:
Das Stottern ereignet sich nur zu bestimmten Augenblicken im Dialog und ist ein
Kontrollmechanismus gegenüber möglichen Sprechabweichungen. Beim Stottern
selbst
laufen
unkontrollierbare
muskuläre
Spasmen
ab,
die
zu
einem
unkontrollierbaren Sprechproblem werden.
Außerdem ist das Stottern von der interpersonellen Beziehung und somit von der
kritischen Sprechanforderung und Sprechbeobachtung abhängig. Zusätzliche
Belastungen wie Erregung oder Ängste vermehren die Stottersymptome.
Es ist anzunehmen, dass Stottern als Folge einer äußeren Sprechkritik entsteht.
Beziehungsprobleme zu den Erziehungspersonen, Sprechlabilität des Kindes oder
äußere Leistungsanforderungen sind mitauslösende Faktoren.
(Vgl. S. 67 a.a.O)
Sprechunregelmäßigkeiten
In
einem
Dialog sind
Sprechunregelmäßigkeiten
ein
vollkommen
normaler
Bestandteil. Diese Unregelmäßigkeiten lassen sich in drei Gruppen unterscheiden.
Bei der leeren Pause spricht man von der natürlichsten Form der syntaktischen
Strukturierung. Hingegen geht man bei durch Ersatzlaute gefüllten Pausen und den
Sprechfehlern im engeren Sinne davon aus, dass sie vom Redner dazu gebraucht
werden, um Leerzeiten beim Sprechen zu überbrücken bzw. zu vermeiden.
Vergleicht man Stotterer und Normalsprechende, lässt sich feststellen, dass bei
beiden die gleichen Sprechbelastungen zu Sprechunregelmäßigkeiten führen. Der
Unterschied ist allerdings, dass sich der Normalsprechende zu korrektem Sprechen
zwingen kann, beim Stotterer aber gerade dieser selbstauferlegte Druck das Stottern
noch weiter verstärkt.
(Vgl. S.68 a.a.O.)
Stottern als dialogische Fehlentwicklung (Britta Becke & Nadja Borchardt) - 4 -
Dialogische Sprechabstimmung
Jeder Dialog unterliegt komplexen Planungen, im Besonderen muss der Inhalt mit
den interpersonellen Beziehungen vereinbart und anschließend sprachlich gestaltet
werden.
Personen wollen durch ihr Sprechen beim Dialogpartner etwas erreichen,
demzufolge orientiert sich die gesamte Sprechregelung über die Kenntnis des
Gegenübers, die Beziehung zu ihm und entsprechend seiner Rückmeldung.
Es wird jedoch niemals zu einer vollständig flüssigen Gesprächsabstimmung
kommen können. Der Dialog gestaltet sich um so schwerer, je fremder sich zwei
Personen sind, um so mehr sich ihr Kenntnishintergrund unterscheidet und um so
weniger Rückmeldungen sie sich im Gespräch geben.
Nach einem psycholinguistischem Modell von Jaffe, Anderson und Stern können die
Dialogprozesse vier Beziehungsebenen zugeordnet werden.
Auf der Ebene der dialogischen Grundbeziehung erfolgt die Festlegung, ob ein
Dialog aufgenommen wird. Die Qualität der Grundbeziehung ist im Ausmaß der
Kommunikationsbeachtung der Dialogpartner zu erkennen. So kann eine Aussage
des Dialogpartners missachtet werden oder die Aussage wird beachtet, aber nur um
die eigene Argumentation zu stützen. Ein intensiveres Verstehen ergibt sich
allerdings erst aus der Bereitschaft, eigene Konzeptionen zu erweitern oder sogar
abändern zu wollen.
Auf der Ebene des dialogischen Rhythmus regelt sich die Abfolge der
Sprecheinheiten zwischen den Dialogpartnern. Das Hauptmerkmal des Dialogs ist
der rhythmische Sprechwechsel zwischen den Beteiligten. Da gleichzeitiges Zuhören
und Sprechen die geistigen Kapazitäten übersteigen würde, sollte immer nur ein
Gesprächsteilnehmer reden und der andere zuhören. Ein Wechsel der Sprechrollen
vollzieht sich in der Regel in Sprechpausen, die entweder bewusst in das Gespräch
eingebunden oder aber vom Zuhörer erzwungen werden, in dem er den Sprecher
unterbricht.
Sprechinitiative
und
Sprechdauer
sind
von
Dominanz
und
Beeinflussbarkeit der Dialogpartner abhängig.
Auf der Ebene der semantischen und syntaktischen Expression vollzieht sich die
Stottern als dialogische Fehlentwicklung (Britta Becke & Nadja Borchardt) - 5 Formulierung. Im Normalfall ist kaum eine Aussage komplett wörtlich vorplanbar. So
muss
der
Wissenshintergrund
des
Dialogpartners
berücksichtigt
werden.
Insbesondere der spontane Dialog stellt besondere Anforderungen an die
Aussagestrukturierung. Permanent müssen auf Grund des Feedbacks des Zuhörers,
wie
etwa
Zustimmung,
Ablehnung,
Unverständnis
oder
Langeweile
Umstrukturierungen vorgenommen werden.
Man kann also sagen, dass bei der Formulierung Regeln zu beachten sind. So muss
die Rede für den Zuhörer relevant sein, so dass er nicht gelangweilt wird. Die Rede
muss den Kenntnisstand des Zuhörers vorweg nehmen und soll vom Allgemeinen
zum Speziellen fortschreiten. Zur Aufmerksamkeitssteigerung sollen nonverbale
Elemente beitragen.
Auf der Ebene der Phonation erfolgt die akustische Aussteuerung der Aussage über
Phonation, Artikulation, Akzentuierung, Sprechgeschwindigkeit, Mimik, Gestik und
Körperhaltung. Die extraverbale Kommunikation (Mimik, Gestik, Blickkontakt)
repräsentiert dabei den emotionalen Zustand.
(Vgl. S 68- 69 a.a.O)
Dialogische Sprechbelastung
Bei Belastungen vermehren sich Sprechunregelmäßigkeiten. So wirken sich geistige
Anforderungen unmittelbar auf die Sprechunregelmäßigkeiten aus. Dies ist in einer
Hierarchie erkennbar, in der zunehmend mehr Anforderungen an die Formulierung
der Rede gestellt werden, da die organisierbaren Strukturen abnehmen und somit
eine fortwährende Neueinstellung in Inhalt und Form erforderlich wird: Lesen,
Nacherzählen, Erzählen und spontane Konversation.
Weiterhin führen emotionale Erregungszustände zu Planungs- und Sprechstörungen,
so dass Sprechpausen und Sprechfehler vermehrt und die Sprechkontrolle
vermindert ist.
Darüber hinaus bestimmt die interpersonelle Beziehung Inhalt und Form der
Aussage. Über Körperaktivität teilt der Zuhörer sein Ausmaß an Dialogbereitschaft
mit.
(Vgl. S. 70- 71 a.a.O.)
Die dialogische Sprechlabilität des Kindes
Stottern als dialogische Fehlentwicklung (Britta Becke & Nadja Borchardt) - 6 Das Kind hat in seiner Entwicklung die schwierige Aufgabe, die sprachlich voll
entfaltete Umwelt, mit allen Kenntnissen und Konventionen des Erwachsenen
aufzunehmen. Der Erwachsene muss sich mit seinen Anforderungen dem
Wissenstand des Kindes anpassen. (Vgl. S. 71)
Im ersten Lebensjahr werden die lautlichen Äußerungen des Kindes vollständig
beachtet und häufig imitiert. Im zweiten Lebensjahr entstehen die ersten Worte und
Zweitwortsätze, die wiederum eine vollständige Resonanz erfahren. Im dritten
Lebensjahr vergrößert sich der Wortschatz von ca. 50 Wörtern auf 3000 Wörter. Jetzt
wird situativ ein Dialog mit Erwachsenen möglich, das Kind kann direkter seine
Bedürfnisse sprachlich ausdrücken und wird selbst direkter sprachlich dirigiert: die
Sprache des Kindes wird sozial orientiert. Erst im vierten Lebensjahr wird ein Dialog
über mehrere wechselseitige aussagen möglich. Erst die routinierte Verwendung
ganzer Aussagesegmente führt zur kommunikativen Kompetenz. Im fünften
Lebensjahr sind die Hauptstrukturen der Sprachfähigkeit vorhanden, die dialogische
Rede ist jedoch noch labil. Die Sprechleistung des Kindes unterliegt daher einer
starken situativen Variation, so ist sie beispielsweise im Spiel deutlich besser als bei
einer offiziellen Sprechaufforderung. Erst das achtjährige Kind beginnt die komplexen
Grundregeln des Dialogs zu beherrschen. Intellektuelle Berechnungen werden
möglich, die optimales Reagieren erlauben. Kommunikative Absicht, Partneraktivität
und situative Angemessenheit werden koordiniert.
Sprechunregelmäßigkeiten wie Korrekturen, Wiederholungen, gefüllte Pausen
ergeben sich bei Kindern häufig und vermindern sich bis in die späte Kindheit kaum.
(S. 71- 72 a.a.O.)
Die dialogische Labilität auf der Ebene der Grundbeziehung: Für das Kind hat das
Sprechen andere Prioritäten als für den Erwachsenen. In erster Linie ist die
Kontaktaufnahme wichtig und nicht die inhaltliche Mitteilung. Das Kind hat das
besondere Bedürfnis von sich selbst zu sprechen und bleibt die Bestätigung des
erwachsenen Dialogpartners aus, kommt es zu Sprechstörungen und einer starken
dialogischen Belastung. Demnach ist das Kind beim Weitersprechen extrem von
gestischen und mimischen Signalen des Zuhörers abhängig und bedarf einer
ständigen Ermutigung.
Die dialogische Labilität auf der Ebene des dialogischen Rhythmus: Die dialogische
Stottern als dialogische Fehlentwicklung (Britta Becke & Nadja Borchardt) - 7 Flexibilität ist beim Kind reduziert. Einschränkungen in der Aufmerksamkeit,
Unterbrechungen oder Vorwegnahmen führen direkt zu Aussageeinbrüchen. Erst
durch einen intensiven Lernprozess wird es das Kind schaffen, sich von der
absoluten Aufmerksamkeit zu lösen und eine Dialogabfolge einzugehen. Zu erlernen
sind Kriterien wie Reihenfolge, Sprechdauer und vordringliche Mitteilungen.
Die dialogische Labilität auf der Ebene der Semantik und der Syntax: Beim Kind sind
sprachliche Darstellungen weniger entfaltet und logisch unvollständiger. Vor allem
bei komplexeren Darstellungen mit längeren Ausführungen sind häufig Korrekturen
notwendig. Der erwachsene Gesprächspartner muss seine Erwartungen an
Realismus und Perfektion herabsetzten. Kritik, Kontrolle und Fragen erschweren die
Strukturierungsversuche und stören das Kind in seiner Mitteilung.
Die dialogische Labilität auf der Ebene der Phonation: Die Fähigkeit zum lautlich
korrekten Sprechen ist im allgemeinen im sechsten Lebensjahr erreicht, aber noch
sind nicht alle Begriffe verfügbar. Die eigene Wortverfügbarkeit wird leicht
überschätzt, wodurch es zu Sprechfehlern kommt. Kritik führt zu noch größeren
Sprechverunsicherungen.
(Vgl. S. 72- 73 a.a.O.)
Das angemessene Reagieren des Erwachsenen ist enorm wichtig, da sowohl zu
intensives als auch zu geringes Reagieren die Darstellungen des Kindes erschüttern
können. Im Kampf um Sprachbausteine ist das Kind in beiden Fällen emotional
belastet, in seiner Aussage verunsichert und es kommt zu mehr Sprechstörungen.
Normalerweise entsprechen Eltern der dialogischen Labilität ihres Kindes durch
tolerante Sprecherwartungen. Auch die eigene Sprechweise wird grammatikalisch
vereinfacht, verlangsamt und informationsbetont dem Kind angepasst. Das
angemessene
Sprachniveau
des
Erwachsenen
wird
aus
Versteh-
und
Ausdrucksvermögen des Kindes erschlossen.
Demnach bewegen sich das Kind und der Erwachsene in einem Dialograhmen, der
tolerant gegenüber Sprechunregelmäßigkeiten ist.
(Vgl. S. 73- 74 a.a.O.)
Die Entwicklung der Sprechsymptome des Stotterns
In einem Modell lässt sich die Entstehung von Stottern durch eine dialogische
Stottern als dialogische Fehlentwicklung (Britta Becke & Nadja Borchardt) - 8 Überlastung erklären.
Das dialogische Sprechen erfordert vom Kind Regulierungsleistungen, die sowohl
von der geistigen Kapazität, als auch vom emotionalen Zustand und den
Anforderungen des Dialogpartners geprägt sind.
Das dialogische Sprechen ist kapazitätslimitiert. Das bedeutet, dass das Kind im
Falle einer Überforderung in einen Geschwindigkeits- Genauigkeitskonflikt gerät.
Entweder wird mehr Zeit benötigt oder aber die Antwort wird fehlerhaft.
Beobachtungen zeigen, dass sich das Kind für die Geschwindigkeit und gegen die
Genauigkeit entscheidet. Stottern wird zur lautlichen Füllung einer Leerzeit.
(Vgl. S. 76 a.a.O.)
Stottern als Silbenwiederholung
Tritt Stottern das erste mal auf, so ist das häufigste Merkmal die Silbenwiederholung,
ein eigentlich normaler Sprechfehler. Aber gerade die rasche und längere Folge des
gleichen Sprechfehlers (Dasdasdasdasdas ist ein Hund) provozieren die Diagnose
Stottern.
Die Ursache für die Silbenwiederholungen lässt sich in der Entwicklungspsychologie
finden. Gerät der Mensch in eine Stresssituation ist das Zurückgreifen auf bekannte
Situationen oft sinnvoll. Demnach ist die Wiederholung von Worten oder Wortteilen in
einer belastenden Situation naheliegend.
Unter
einer
Belastung
ist
Nichtssprechen
keine
dialogische
Lösung;
Silbenwiederholungen entsprechen hingegen dem Kommunikationsimpuls.
Bei Vorschulkindern führt der Antrieb zur Mitteilung zu Wiederholungen. Beim älteren
Kind nehmen die Wiederholungen ab, dafür vermehren sich die leeren Pausen, die
Neuanfänge und Interjektionen in der Aussage.
Die Anzahl der Sprechfehler nimmt im Bereich von vier bis acht Jahren insgesamt
kaum ab.
Auf Grund von früheren Sprecherfahrungen befürchtet der Redner beim Entstehenlassen einer Leerzeit unterbrochen zu werden. Bei Erwachsenen und Kindern
gleichermaßen, soll durch die gefüllte Pause Zeit gewonnen und ein Signal des
Weiterredenwollens gesetzt werden.
Das höchste Vorkommen hat die gefüllte Pause beim spontanen Sprechen, da hier
besonders schnell Aussagestrukturierungen vorgenommen werden müssen.
Stottern als dialogische Fehlentwicklung (Britta Becke & Nadja Borchardt) - 9 Die Aufmerksamkeitsfähigkeit des Kindes führt zum Problem des Sprechfehlers als
aufrechterhaltendes Dialogmittel. Das Kind ist nur für kurze Zeitspannen voll zur
Aufmerksamkeit fähig und wird von den Sprechfehlern von seinem eigentlichen
Mitteilungsversuch abgelenkt. Somit erschwert und grenzt das Stottern die
Aussagestrukturierung zusätzlich ein.
Da sich die Kinder der Regeln der Sprache bewusst sind, nehmen sie auch ihr
Stottern
bewusst
wahr.
So
entsteht
Furcht
vor
dem
Kontrollverlust
und
Wiederholungen beim Sprechen.
(Vgl. S. 76- 78 a.a.O.)
Zusammenfassend ist festzustellen: Stottern ist zunächst das Problem einer
Pausenfüllung
beim
dialogischen
Sprechen.
In
einem
Geschwindigkeits-
Genauigkeitskonflikt im Dialog mit dem Erwachsenen hat sich das stotternde Kind für
die
fehlerhafte
Reaktion
entschieden:
eine
Leerzeit
wird
rasch
mit
Silbenwiederholungen gefüllt. Das Bewusstsein dieser Sprechstörung kann die
Sprechleistung dabei noch mehr stören und noch mehr Stottern auslösen.
(S. 78 a.a.O.)
Stottern als Wortanfangsblockierung
Wenn innere und äußere Ansprüche verlangen, dass Wiederholungen vermieden
werden, verschiebt sich das Stottersymptom. Dadurch, dass das Kind zwanghaft
versucht die Wortanfangswiederholung zu kontrollieren kommt es zu muskulären
Verspannungen. Als Folge wird dadurch speziell der Wortanfang blockiert.
Der Zustand für das Kind wird noch verschlimmert, wenn der Zuhörer offenkundig
macht, dass er nachfolgend ein richtiges Sprechen anstelle des Stotterns wünscht.
(Vgl. S. 78 a.a.O.)
Stottern als Blockierungsveranlagung
Bei Versuchen zu besserem Sprechen entstehen Blockierungsveranlagungen.
Versucht der Stotterer mit Gewalt gegen eine Blockierung anzugehen, können
Blockierungen entstehen, die alle Sprechmuskeln betreffen können. Bei diesen
Verspannungen geht der Bezug zum Wortanfang verloren, und der Stotterer versucht
aussichtslos aus einer falschen Artikulationsstellung heraus zu sprechen.
(Vgl. S. 79 a.a.O.)
Stottern als dialogische Fehlentwicklung (Britta Becke & Nadja Borchardt) - 10 -
Koartikulationssymptome
Lang anhaltendes Stottern und Blockierungen haben Auswirkungen auf die gesamte
Sprechweise. Durch angespannte Artikulation versucht der Stotterer Blockierungen
zu verhindern.
Koartikulationssymptome
werden
durch
einen
übermäßigen
Geschwindigkeitsanspruch verursacht.
(Vgl. S. 79 a.a.O.)
Die Hierarchie der Sprechsymptome
Das Stottern verändert sich in einer hierarchischen Entwicklung. Die offene
Wiederholung wird durch Verspannungen und Sprechtricks immer mehr unterdrückt.
Zu intensive Sprechanforderungen können zu Sprechstörungen beim störanfälligen
Kind führen. Das Stottern besteht aus dem Versuch, trotz innerer oder äußerer
Störung weiterzusprechen. Wiederholungssymptome entstehen durch eine Störung
auf dem Niveau der inneren Satzplanung, Blockierungen erst durch äußere Kritik. Die
vielfältige Stottersymptomatik entsteht erst aus den Versuchen, die Blockierungen
vermeiden zu wollen.
(Vgl. S. 80 a.a.O.)
Die inneren Symptome beim Stottern
Die Erwartungsängste werden um so größer, je unkontrollierbarer das Stottern
erfahren wird. Durch rechtzeitige Reaktionsversuche wird das Stottern noch
verstärkt.
Da der Stotterer vor Leerzeiten Angst hat und motiviert ist im Dialog mitzuhalten, ist
das Stottern zunächst ein Problem der Pausenfüllung, in dem gewaltsam versucht
wird die Pause zu beenden. Erst daraufhin wird es zu einem Problem des
Wortanfangs.
Da der Stotterer so auf seinen Mitteilungswunsch fixiert ist, nimmt er sich die
Möglichkeit
der
Sprachsteuerung.
Sprechvariationen,
Verlangsamungen,
Beschleunigungen oder Betonungen sind ihm nicht möglich.
Bei allen Stotterern ist eine Sprechscham zu beobachten. Die Entwicklung der
Stottersymptome ist bestimmt durch den Versuch, sprachlich unauffällig zu
erscheinen.
Stottern als dialogische Fehlentwicklung (Britta Becke & Nadja Borchardt) - 11 Die Angst vor der Blockierung (Unfähigkeit ein bestimmtes Wort auszusprechen)
kann so groß sein, dass selbst das Denken an die Blockierung eine solche auslöst.
(Vgl. S. 81- 83 a.a.O.)
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Grundkonzeptionen einer Therapie des Stotterns
Beim Stottern ergeben sich Symptome auf drei Beobachtungsebenen:
1. Ebene des Verhaltens: Sprechsymptome schleifen sich ins allgemeine Verhalten
ein und darauf aufbauende Muster wie Blockierungssymptome und muskuläre
Spasmen manifestieren sich.
2. Ebene des Denkens: Erwartungsängste herrschen vor, die Vorstellung vom
Stottern kann zum Beispiel das Stottern auslösen.
3. körperliche Ebene: Emotionen wie Angst oder Scham sowie diverses
Vermeidungsverhalten in Verbindung mit dem Stottern können von Person zu
Person unterschiedliche körperliche Reaktionen auslösen.
Mögliche Therapieansätze:
1. „Dekonditionierung der Angst zum angstauslösenden Reiz“ (siehe S. 91). Der
Reiz, der die Angst auslöst, soll Angstattribute verlieren.
2. Primäre Veränderungen auf der Ebene des Verhaltens und des Denkens, die
körperliche Ebene wird automatisch mitvollzogen. In-vivo-Desensibilisierung legt
es darauf an, dass Vermeidungsverhalten durch Verhaltensalternativen ersetzt
wird. Außerdem können falsche Ansprüche an das Verhalten abgebaut werden.
3. Die Ängste betreffen Sprechgeschwindigkeit, Sprechgenauigkeit und Sprechblockierungen. Diese drei Angstfaktoren müssen bei der Therapie berücksichtigt
und abgebaut (nicht unterdrückt) werden.
Jede Therapie muss auf die Person individuell abgestimmt werden, insbesondere auf
das Alter muss geachtet werden.
Die Therapie des Stotterns beim Kind
Dialogische Belastungen:
1. Störung der scheinbar nicht gesicherten interpersonellen Grundbeziehung
Stottern als dialogische Fehlentwicklung (Britta Becke & Nadja Borchardt) - 12 2. Negative Dialogerfahrungen, Äußerungen bzw. Miteilungsabsichten werden nicht
genügend respektiert
3. Negative Dialogerfahrungen, Gegenüber legt statt auf den Inhalt zu großen Wert
auf die Formulierungen
4. Negative Dialogerfahrungen, Sprechweise wird ständig kritisiert
Bei derartigem negativen Hintergrund redet das Kind nicht mehr frei und kann somit
immer weniger den Geschwindigkeits- und Genauigkeitsanforderungen entsprechen.
Symptome werden somit erhalten, vermehrt und andere ausgelöst. Das Kind nimmt
wahr, dass die Eltern das Stottern als etwas Negatives sehen, diese elterliche
Sprechkritik ruft im Kind eine Blockierung hervor und fördert somit auch das Stottern.
Die Verminderung der dialogischen Anforderungen
„Stottern kann rasch entstehen, es kann sich aber nur langsam wieder zurückbilden“
(siehe S. 93). Dem Stottern kann also nicht nur ein paar Stunden in der Woche
entgegengewirkt und sonst nicht beachtet werden, sondern es muss in den Alltag
eingebunden sein. Erst durch einen großzügigen Dialograhmen kann das Kind die
Angst vor Unsicherheiten, Fehlern und dem Stottern langsam verlieren und zu einer
Sprechsicherheit führen.
Eltern können meist nicht ad hoc ihre Ansprüche umkehren und wie nötig auf das
Kind eingehen. Deshalb ist ein wichtiger Teil der Therapie die Beratung und
Unterstützung der Eltern. Dieses findet nicht einmalig zu Beginn der Therapie statt,
sondern in regelmäßigen Abständen. Hier werden dann auch Schwierigkeiten
und/oder Fortschritte sowie das weitere Vorgehen besprochen werden.
Wichtigster Bestandteil der Therapie ist die Verminderung der dialogischen
Anforderungen. Dies kann auf unterschiedlichen Ebenen geschehen :
1. Ebene der Grundbeziehung: Die Ursachen für das Stottern kann muss aber nicht
in den Beziehungs- und Erziehungssystemen des Kindes begründet sein.
Unabhängig davon sollte bei der Therapie auf eine Verminderung der
„Erziehungsprobleme“
(siehe
S.
93)
und
die
„individuellen
Beziehungsbedürfnisse“ (siehe S. 93) geachtet werden, so dass das Kind dort
Entspannung
erfährt.
Überfordernde
Erwartungen,
mangelnde
Gefühlsausdrücke, Erklärungsverweigerungen oder unterschwellige Allianzen
Stottern als dialogische Fehlentwicklung (Britta Becke & Nadja Borchardt) - 13 (vgl. S. 93) stellen ein absolutes Tabu dar.
2. Ebene des dialogischen Rhythmus‘: Das Kind soll jegliche Art von sprachlicher
Kommunikation mit positiven Gefühlen verbinden können. Das heißt, dass alle
Äußerungen beachtet und darauf eingegangen werden sollte. „Sprechendürfen
hat Vorrang vor allen andern Bedürfnissen“ (siehe S. 93). Analysiert und
gegebenenfalls verändert sollten auch die Kommunikationsmuster werden bzw.
die Häufigkeit der Interaktionen. Spricht das Kind zum Beispiel selten mit dem
Vater, sondern eher über die Mutter mit dem Vater und umgekehrt?
3. Ebene der Semantik und Syntax: Dem Kind muss die Sicherheit gegeben
werden, dass kein Wert auf die Art der Äußerung, sondern auf den Inhalt gelegt
wird bzw. Toleranz zu Sprechabweichungen vorherrscht (das geht aber nicht so
weit, dass gesagt wird du kannst sprechen wie du willst.). So erlangt es
„Vertrauen in seine Kommunikationsfähigkeit“ (siehe S. 93) zurück.
4. Ebene der Phonation: Das Kind soll zu der Einsicht kommen, dass scheinbar
fehlerhaftes Sprechen besser ist als unterdrücktes und spannungsvolles. Die
„Freiheit zum Experimentieren und Versprechen“ (siehe S. 95) sollte dem Kind
ganz bewusst sein, Sprechfehler sind keine Blöße.
Die Rückarbeitung der Sprechsymptome
Das therapeutische Vorgehen zur Rückbildung der Sprechsymptome vollzieht sich in
drei unterschiedlichen Bereichen:
1. Einstellungsveränderung bei den Eltern: Die Eltern sollen zu Beginn der Therapie
wie oben schon erwähnt über das Stottern allgemein und speziell bei ihrem Kind
aufgeklärt werden sowie über wichtige Einzelheiten die für die Rückbildung der
Sprechsymptome wichtig sind (zum Beispiel: (a) Wiederholungssymptome sind
günstiger als Unterdrückungsversuche, (b) Stottern ist keine Beeinträchtigung
der Kommunikation/ Sprechunsicherheiten und Sprachfehler akzeptieren, (c)
gerade beim Stottern sollte positiv auf den Inhalt reagiert werden, (d) die
Symptome können sich während der Therapie anfänglich verschlechtern – das
ist nicht negativ, denn die therapeutische Wirkung vollzieht sich in schlechteren
Phasen, (e) in diesen Phasen ist dem Kind mit Toleranz und Lernerfahrung über
Sprechkorrekturen zu helfen).
2. Modellierung des Sprechens: Der Therapeut stellt für das Kind ein Sprechvorbild
dar, für die Eltern ist er ein Beispiel im Umgang mit dem Kind. Er sollte
Stottern als dialogische Fehlentwicklung (Britta Becke & Nadja Borchardt) - 14 „verlangsamt,
entspannt,
pausierend,
eventuell
gedehnt
oder
mit
Wortwiederholungen“ (siehe S. 96) sprechen. Korrekturen des Kindes werden
allenfalls eingestreut ohne die entspannte Lage zu stören, außerdem kann durch
„Lächeln, Aufmerksamkeit [oder] Kopfnicken“ (siehe S. 96) auf leichte Formen
des Stotterns oder normale Sprechstörungen eingegangen werden. Dem Kind
sollte
deutlich
gemacht
werden,
dass
sich
durch
Pausen-
und
Gestaltungsmomente Stottern verhindern lässt.
3. Direktere Interventionen: Eine direkte Einwirkung auf das Sprechen ist
notwendig, wenn ein Kind sehr stark stottert. Dabei ist zu beachten, dass das
Kind damit nicht mit scheinbar unerfüllbaren Ansprüchen konfrontiert wird! Diese
Einwirkungen können zum Beispiel durch verminderten Zeitdruck (bei zwanghaft
massierten Silbenwiederholungen), Anregungen von Wiederholungssymptomen
(bei massiven Blockierungen) oder einfache Sprechkorrekturen erreicht werden.
Zur Therapie beim älteren Kind
Bei älteren Kindern ist Scham und Furcht vorm Stottern größer als bei jüngeren,
außerdem haben Eltern einen höheren Anspruch an die Sprache ihrer älteren Kinder.
Eltern erwarten überdies, dass eine Therapie sofort Besserung bringt und stellen
somit auch hohe Anforderungen ans Kind, denen dieses gar nicht entsprechen kann
und dadurch eher negativ beeinflusst wird. Sinnvoll ist es, wenn häufig ein Elternteil
an den Übungen teilnimmt und diese Übungen zu Hause ebenfalls durchgeführt
werden.
Das direkte Einwirken bei der Therapie auf das Sprechen ist bei älteren Kindern
unabdingbar. Hauptsächlich wird die Therapie über „Spannungsauflösungen bei
Blockierungen“ (siehe S. 98) durchgeführt.
Durch die Mitarbeit des Kindes sollen die hohen Ansprüche an Geschwindigkeit und
Genauigkeit sowie Angst vor den Blockierungen (vgl. S. 98) abgebaut und der Weg
zum stotterfreien Sprechen begangen werden. Diverse Übungen helfen, die starre
Einstellung zum Sprechen zu überwinden.
Die Therapie des Stotterns bei Jugendlichen und Erwachsenen
Bereits bei Jugendlichen und später auch bei Erwachsenen besteht das „Stottern in
all seinen Komponenten“ (siehe S. 98) und hat sich in den allgemeinen
Stottern als dialogische Fehlentwicklung (Britta Becke & Nadja Borchardt) - 15 Sprechgebrauch und den Alltag der Person integriert, so dass sich beispielsweise
Symptome und Ängste schon sehr festgefahren haben. (Symptome einer Stufe
werden durch die der nächsten ersetzt und Ängste summiert!)
Die Therapie beinhaltet die Rückführung von Stufe zur nächst unteren und
Bewältigung der Ängste, dies geschieht unter anderem durch folgendes:
1. Abbau der Angst vor Blockierungen
2. Verminderung der inneren und äußeren Dialogansprüche
3. Toleranz gegenüber zeitlich und akustisch unregelmäßigen Sprechens
4. Erlernen von Sprechstrategien
Die Rückarbeitung der Sprechsypmtome
Abbau der Wortanfangsblockaden:
Für den Abbau der Vermeidungs- und Verlagerungssymtptome ist die Bewältigung
der Wortanfangsblockade entscheiden (vgl. S. 99). Bei der Wortanfangsblockade
werden Atmung, Artikulation und Phonation durch Verspannung der addduktorischen
Sprechmuskeln reflexhaft gestoppt, das weitere Wort ist davon nicht betroffen. Durch
Abspannung bzw. Gegenbewegung wird die Blockade aufgehoben und mit der Zeit
verliert sich der Reflex durch Nichtgebrauch.
Eine solche Blockade kann an den drei hauptsächlichen Artikulationsorten
stattfinden:
1. Rachenraum: Einige Laute werden im Rachenraum gebildet, wie zum Beispiel R
und K. Eine Blockierung in diesem Bereich entsteht durch Verspannen der
Kehlkopfmuskulatur (hierbei kann die Zunge nicht mehr fest in den Rachenraum
zurückgezogen werden) oder durch Verspannen der Kiefermuskulatur. Eine
Lösung kann durch die Entspannung der Muskeln, d.h. entspannte Vorlage der
Zunge, leichte Mundöffnung, lockeren Kiefer und entspannte Vokalisation in die
offene Ausatmung (vgl. S. 99) erreicht werden.
2. Gaumenbereich: Einige Laute werden mit Hilfe der Zunge am Gaumen gebildet,
wie zum Beispiel D und L. Eine Blockierung in diesem Bereich entsteht durch
Verspannen von Zunge und Unterkiefer. Eine Lösung kann durch die
Entspannung der Kiefermuskulatur und eine flachere, vom Gaumen entfernte
Zungenbewegung erreicht werden.
3. Lippenbereich: Einige Laute werden mit Hilfe der Lippen gebildet, wie zum
Beispiel M und F. Eine Blockierung in diesem Bereich entsteht durch zu starkes
Stottern als dialogische Fehlentwicklung (Britta Becke & Nadja Borchardt) - 16 Zusammenpressen der Lippen. Eine Verbesserung kann durch Lockerung des
Lippenverschlusses erreicht werden.
Bei solchen Entspannungen sind „Sprachpräxision und Lautreinheit“ (siehe S. 100)
eingeschränkt. Durch diese Therapie soll keine neue Sprechweise eingeübt werden,
sondern „nur zu der jeweils notwendigen Korrektur“ (siege S. 100) befähigen.
Neben den genannten inneren Einwirkungen bzw. „Abänderungen motorischer
Automatismen“ (siehe S. 100) muss von außen ebenfalls gewirkt werden. Dazu sind
drei Prinzipen (nach Miles und Evarts) neben der ausführlichen Aufklärung des
stotternden Menschen über Entstehung, Entwicklung und Stigmatisierung des
Stotterns entscheidend:
1. Abweichungen vom alten Bewegungsmuster müssen die neue Bewegung durch
genaue Zielanweisungen charakterisieren und von der alten unterscheidbar
machen.
2. Damit alte Bewegungsmuster als negativ ausgemacht werden können, muss die
neue Bewegung ganz bewusst und anfangs verlangsamt durchgeführt werden.
Gleichzeitig soll zur „Exploration der Sprechbewegungen“ (siehe S. 100)
angeregt werden. Die Überwindung soll zu einem autarken Ziel werden.
3. Positive Rückmeldungen müssen bestärken und so die neue Bewegung erhalten.
Dies kann zum Beispiel durch Bestätigung des spannungsgelösten Sprechens
statt durch Bestätigung des korrekten Sprechens oder Stotterns geschehen.
Formen des Übens sind sprechen und lesen. Bei diesen Übungen wird Stottern
schon zu Beginn im Gegensatz zu Korrekturen nicht mehr zulassen. Beim freien
Sprechen wird nur akribisch auf die gerade behandelten Bereiche geachtet.
Erstes Ziel der Therapie ist das stotterfreie Lesen, dann das stotterfreie
Sprechen mit dem Therapeuten und Therapiemitgliedern, erst zum Schluss das
stotterfreie Sprechen außerhalb der Therapie.
Abbau der Blockierungsverlagerungen und Blockierungsvermeidungen:
Es kann sein, dass Symptome der Blockierungsverlagerungen und Blockierungsvermeidungen den Abbau der Wortanfangsblockade behindern, denn:
1. Unterschiedliche Buchstaben, die durch Wortanfangsblockaden nicht richtig bzw.
flüssig ausgesprochen werden können, werden vermieden und gleichbedeutende
Stottern als dialogische Fehlentwicklung (Britta Becke & Nadja Borchardt) - 17 Wörter mit unproblematischen Anfängen gewählt.
2. Beim Abstoppen wird lieber ganz aufgehört als eine Wortanfangsblockade zu
haben.
3. Ersatzlaute dienen der Vortäuschung einfacher Formulierungsunsicherheiten.
4. Gefürchtete Wörter werden im Schwung mit anderen gesprochen.
5. Bei Ankündigung einer Wortanfangsblockade wird eingeatmet. (Das kann
Atmungsanomalien nach sich ziehen!)
6. Durch
die
Blockierungsverlagerung
entstehen
an
Artikulationsorten
Verspannungen und Mitbewegungen, die den richtigen Wortanfang behindern.
7. Durch diverse Verlagerungs- und Blockierungstaktiken erscheint das Sprechen
äußerlich glatt, aber es bedarf höchster Anstrengung und Konzentration vom
Sprecher. Bei Schwächen tritt die Wortanfangsblockade sofort wieder auf.
Wichtig
für
den
Abbau
der
Blockierungsverlagerungen
und
Blockierungs-
vermeidungen ist das Hineingehen in das gefürchtete Wort. Durch Aufhebung der
Tricks und Vermeidungen tritt häufig zu Beginn eine Verschlechterung bzw.
Verschlimmerung des Stotterns ein.
Verminderung der Koartikulationssymptome:
Die Verspannung beim Stottern zum Beispiel am Wortanfang kann zu einer
allgemein verspannten Sprechweise führen. Dadurch sind „Atmung, Stimmbildung
und Artikulation stark in ihrer natürlichen Funktion beim Sprechen behindert“ (s. Seite
33). Es verspannt sich die Muskulatur also nicht erst zu Beginn des gefürchteten
Wortes, sondern ist von vorn herein schon unter einer gewissen Spannung, so dass
sich Stottern wiederum häufiger ergeben wird. Gegen diese Verspannungen muss in
Folge dessen gewirkt werden.
(Es gibt Verfahren bei denen mit absolut entspannter Kehlkopfmuskulatur
niederfrequente Laute produziert werden. (vgl. S. 105))
Sprechen unter dialogischen Belastungen
Dialogisches Sprechen kann durch „übermäßige kognitive, emotionale oder
evaluative Prozesse belastet“ (siege S. 105) sein.
Sprechen unter schwieriger Aussagestrukturierung:
Stottern als dialogische Fehlentwicklung (Britta Becke & Nadja Borchardt) - 18 Es gibt zwei Hauptfaktoren, die schwierige Aussagestrukturierungen hervorrufen
können:
1. mehr Planungszeit ist erforderlich: die benötigten Sprechpausen zur Planung
bzw. die Signalisierung an den Kommunikationspartner Ich bin noch nicht fertig!
werden durch besondere Wortbetonungen, weitere Abweichungen oder Stottern
ausgeführt. „Bei strukturell schwierigen Sprechanforderungen ist daher die
Wahrscheinlichkeit von stottern wesentlich höher“ (siehe S. 105).
2. Verspannungen beim Sprechen: zum Beispiel durch kognitive Anstrengungen
kann es dazu kommen, dass die Ausatmung um einiges verlängert wird und keine
Abspannung
beim
Einatmen
erfolgt.
Diese
wesentlich
erhöhten
Spannungszustände, denen beispielsweise auch das Stottern zugrunde liegt,
fördern bzw. aktivieren das Stottern.
Der Stotternde muss lernen, dass Pausen neben der inhaltlichen Übermittlung eine
Beschaffenheit des Sprechens sind, die sinnhaft zusammengehörende Wörter zu
einer Gruppe verschmelzen lassen und Entspannung für die Muskeln bergen. Ziel ist
die „Einheit von Denken, Atmen und Intonation“ (siehe S. 107) und dadurch eine
verbesserte Sprechqualität. Folgende Elemente reduzieren die beschleunigte
Sprechweise: (a) Vokale werden mehr betont, (b) gedehntere Laute werden auch
gedehnt, (c) nach Strukturpause wird ohne Beschleunigung weiter gesprochen.
Sprechen unter Erregung:
Es gibt drei Hauptfaktoren, die Stottern unter Erregung vermehren:
1. Verwendung von Atmen und Sprechen gestört: Abweichungen vom normalen
Atemrhythmus – gehemmte oder vermehrte Atmung – können durch immense
Erregung entstehen. Dadurch können die oben bereits erwähnten Sprechpausen
nicht sinnvoll genutzt werden und Sprechstörungen, Pausenfüller oder Sprechen
mit Restluft (vgl. S. 107) auftreten. Um die Situation kontrollieren zu können,
werden die Muskeln mehr angespannt und so aber im Gegenzug das Stottern
gefördert (s.o.).
2. erhöhte Muskelspannung: wie schon erwähnt erhöht sich der Muskeltonus und
auch direkt unabhängige Muskeln verspannen sich (zum Beispiel äußere
Kehlkopfmuskulatur > Feinkoordination der Lautproduktion gestört). Insgesamt
läuft das Räderwerk von Atmung, Phonation und Artikulation nicht mehr rund,
Stottern als dialogische Fehlentwicklung (Britta Becke & Nadja Borchardt) - 19 Dyskoordinationen treten auf und äußern sich in unüblicher Lautstärke, Intonation
und Geschwindigkeit.
3. Handlungsausführungen gestört: durch immense Erregung kann die „produktive
Aktivität beim Sprechen gestört sein“ (siehe S. 107), dies führt zu Störungen des
Satzbaus und der Wortwahl und in Folge dessen nimmt die Zahl der Sprach- und
Sprechfehler zu.
Erst durch besseres Sprechen kann die Angst und die Erregung vermindert bzw.
normalisiert werden. Bei vermehrter Erregung ist eine funktionelle Sprechweise
essentiell, dabei sollten innere und äußere Ansprüche vermindert werden und
Unregelmäßigkeiten vorkommen ohne unterdrückt oder korrigiert zu werden.
Außerdem sollte besonderes Augenmerk auf
den Atemrhythmus und die
Entspannung der Muskel beim Sprechen gelegt werden. Die Erkenntnis, dass durch
die Angst die Handlungsausführungen nicht unbedingt gestört wird, sondern
zumindest teilweise ausgeführt werden kann muss erlangt werden.
Zu Beginn ist eine entsprechende Konzentration auf das Sprechen unabdingbar.
(Es konnte nachgewiesen werden, dass sich Sprechängstliche zu Beginn einer Rede
beim Sprechen nicht von Nicht-Sprechängstlichen unterscheiden. Erstere bleiben nur
die ganze Zeit ängstlich, bei letzteren verbessert sich das Sprechen durch positive
Aktiviertheit. (vgl. S. 108))
Sprechen unter kritischer Beurteilung des Dialogpartners:
Eine Person stottert nur, wenn andere anwesend sind und das in dem Maße wie sie
ihr Selbstbild durch die Beurteilung anderer bedroht sieht (vgl. S. 108). Niemand
kann sich von dieser Beurteilungsbange lossagen bzw. immunisieren, Stotternde
müssen nur zu einer „realistischen Einstellung bezüglich (der) interpersonellen
Situation“ (siehe S. 108) geführt werden. Die Angst deshalb kann durch folgendes
bestärkt werden: (a) Spott anderer, (b) beobachtete Unterlegenheit gegenüber
Normalsprechenden. Erfahrungen und neue Einstellungen sind vonnöten:
1. Der Stotternde muss wissen und wissen lassen, dass Stottern keine
Charaktereigenschaft bzw. kein Charakterfehler ist, sondern ein vom Charakter
unabhängiges Sprechproblem. Die Bewältigung dessen ist möglich.
Dieser Sprechfehler tritt in keiner Regelmäßigkeit auf, denn er kann durch
Vermeidung und Tricks unterdrückt werden. Dies möchte der Stotterer in der
Gegenwart von Personen, dessen Beurteilung er mehr fürchtet, in erhöhtem
Stottern als dialogische Fehlentwicklung (Britta Becke & Nadja Borchardt) - 20 Maße. Durch die Anstrengung, nicht stottern zu wollen, treten aber zum Beispiel
Verspannungen auf, die das Stottern fördern – ein Teufelskreis. Zur Überwindung
des Stotterns ist die öffentliche Spannungsauflösung sowie die „Annahme und
Darstellung des Sprechproblems“ (siehe S. 109) notwendig. Dies bedarf großer
Überwindung und bedeutet starke Belastungen, aber ist für die Zukunft
maßgebend.
2. Der Stotterer muss darauf achten, mit normal Sprechenden in Kontakt zu bleiben
– mit ihnen zu sprechen, so wird er sich als weiterhin normal und nicht
ausgegrenzt begreifen und entsprechend agieren können. Das nahe Umfeld
sollte der Stotterer über sein Stottern und übers Stottern an sich aufklären, damit
sich „eine dialogische Freiheit zu neuen Sprechversuchen“ (siehe S. 109) ergibt.
Die Einübung bestimmter sozialer Fertigkeiten kann außerdem erleichternd sein:
(a) Blickabwendung gilt als Merkmal des Stotterers – es wird als Kontaktabwehr
von anderen gedeutet. Dies sollte also vermieden werden und die räumliche
Orientierung
zum
Gesprächspartner
entsprechend
gestaltet
werden.
(b)
Therapiebekannte Maßnahmen (Abbau der Verspannungen, etc.) sind außerdem
erleichternd. Es ist klar – auch dem Stotterer – , dass erste Eindrücke prägend
sind, Sprechfehler sind dabei immer defizitär. Dies muss der Stotterer
akzeptieren.
Ziel der Therapie ist es, dass der Stotterer Stottermomente öffentlich korrigieren kann
und das Sprechen nicht nur als Informationsübermittlung sieht, sondern auch als
soziale Beziehungsherstellung und Selbstdarstellung (vgl. S. 109). Diese drei
Elemente werden zu Beginn der Therapie mit negativen Gefühlen verbunden – diese
Umkehrung zu positiven ist das A und O. Denn auch nur ein negativ behaftetes
Element überschattet auch gleich die anderen (Angst zu Sprechen > kritische
Selbstbeurteilung > Handlungserfolg bezweifelt > Handlungsabbruch > Zurückzug >
Selbstvertrauen für weitere Situationen gemindert > Angst zu Sprechen > ...). Neu
erlernte Sprechmuster werden häufig in nicht therapeutischer Umgebung schnell
aufgegeben, weil sie noch mehr Aufheben um die Sache machen, und alte
Vermeidungsmuster benutzt.
Größere Toleranz gegenüber inneren und äußeren Leistungsansprüchen stellt sich
schneller ein, wenn die Kommunikationspartner rücksichtsvoll sind. Zuvor hat der
Stotternde oftmals erfahren, dass andere ihn unterbrechen, Missverständnis oder
Stottern als dialogische Fehlentwicklung (Britta Becke & Nadja Borchardt) - 21 Desinteresse zeigen. Mit den neuen Methoden kann das Stottern eventuell noch
verhäuft
auftreten
oder
Zusagendes
länger
dauern,
dies
muss
der
Kommunikationspartner wissen und so seine Reaktion entsprechend ausfallen
lassen. Er muss dem Stotternden die Möglichkeit geben, im eigenen Tempo zu
sprechen, Korrekturen durchführen zu können oder neu zu beginnen.
Die dialogische Restrukturierung
Stottern kann bei vielen Personen unterschiedliche Ursprünge und Ausprägungen
haben, so ist auch die Therapie nie exakt gleich bzw. die Therapieansätze fruchten
nie gleich. Bei manchen Personen reicht die Auflösung von Blockierungen zur
Überwindung – auch hier muss auf Sprechgeschwindigkeit etc eingegangen werden
– , bei anderen beispielsweise ist „Stottern intensiv eine dialogische Ausdrucksform
geworden“ (siehe S. 110) – dabei ist natürlich ein anderer Gang der Therapie nötig
(„In Besonderem Maße Aufgabenstellungen zu dialogischen Problemsituationen und
zum Sprechen unter Belastung notwendig“ (siehe S. 110) und zu hohe Erwartungen
müssen abgebaut werden).
Dem Stotterer sollte nicht nur das normale Sprechen nahe gebracht werden, sondern
auch die Darstellung der Sprechunflüssigkeit, dadurch kann der Stotterer einerseits
manches seiner Geschichte und vorherrschende Symptome besser verstehen und
andererseits dem Stottern einen anderen Stellenwert in seinem Leben geben –
eventuell besser damit zu leben.
Nach der Analyse des jeweiligen Stotterns können Stottermomente vorausgesehen
und
entsprechend
gelernte
Verhaltensweisen
geplant
werden.
„Über
die
Veränderung des Dialogverhaltens kann sich so eine Veränderung der Person
ergeben“ (siehe S. 111). Maßnahmen der sozialen Rückführung betreffen
Information, Anregung, Beobachtung und Praktizierung des notwendigen Verhaltens
und Widerlegung falscher Auffassungen und Ansprüche an das Verhalten sowie die
Wiederherstellung einer positiven Selbstauffassung, der Immunisierung gegenüber
negativen Beurteilungen soll möglichst nahe gekommen werden (vgl. S. 111). Es gibt
verschiedene Dialogkonflikten auf unterschiedlichen Ebenen, die einer individuellen
Therapie bedürfen, die beispielsweise Aufgaben zu Sprechpausen, Korrekturen und
Spannungsauflösungen beinhaltet:
Stottern als dialogische Fehlentwicklung (Britta Becke & Nadja Borchardt) - 22 Ebene der Grundbeziehung:
1. Es können Probleme auftreten, wenn die Kommunikationspartner unterschiedliche Ansichten zur Beziehung zueinander haben, einer zum Beispiel zu
intim wird. Oder auch wenn Kontaktaufnahme und –beendigung nicht von beiden
gleich gesehen werden. Nonverbale Kommunikation neben der verbalen wird
außerdem nicht immer richtig gedeutet und es kann zu Missverständnissen
kommen. Es können also „Probleme bezüglich der Intensität der Beziehung“
(siehe S. 111) auftreten.
2. Eine
gesunde
Kommunikation
kann
nur
statt
finden,
wenn
beide
Kommunikationspartner gleiche Rechte haben, d.h., dass jeder den anderen für
voll nimmt, ihn ausreden lässt, niemand dieses Gespräch zur Selbstdarstellung
nutzt, keine einseitige Gesprächskontrolle durch eine Serie von Fragen erfolgt,
etc. . Dies alles kann bei Auftreten belastend und einengend für einen empfunden
werden.
3. Probleme können überdies auftreten, wenn ein Kommunikationspartner hohe
Erwartungen an Wortwahl, Sprechweise, Verhalten und Inhalt stellt, die der
andere nicht erfüllen kann. Für den anderen ist das dann kein entspanntes
Gespräch mehr, da er ständig Maßregelungen, nonverbales Missgefallen und den
Hochmut des anderen, der dadurch seine Überlegenheit demonstriert, zu
befürchten bzw. zu ertragen hat. Ein solches Gespräch kann sehr quälend und
anstrengend sein.
Ebene der Sprechfolge:
1. Ohne es direkt zu bemerken gleichen sich die Kommunikationspartner in der
Regel nach kurzer Zeit bei Sprechgeschwindigkeit und -dauer sowie -häufigkeit
aneinander an. Bei unbekannten Partnern kann dieses länger dauern und Stress
bedeuten, im Extremfall bzw. bei Nichtgelingen kommt es „zu Unbehagen und
der Partner verliert an Attraktivität“ (siehe S. 113). Der schnellere und so
forderndere Partner kann bestimmend werden und versucht damit indirekt den
anderen zu seinem Tempo anzuregen, was nicht immer funktioniert.
2. Gleichzeitiges Sprechen der Kommunikationspartner verhindert einen kommunikativen Dialog. Es gibt eine Reihe von immer eindeutigen Signalen, die das
Wechseln des Redners einläuten: (a) Sprechaufforderungen, (b) ansehen, (c)
abwarten, (d) minimale Zeit zum Sprecheinsatz geben, etc. .
Stottern als dialogische Fehlentwicklung (Britta Becke & Nadja Borchardt) - 23 Außerdem kann es gleichzeitiges Sprechen geben, wenn ein Partner den zu
langen Redefluss des anderen durch Anspringen auf inhaltliche Stichpunkte zu
unterbrechen versucht. Dies kann funktionieren – muss aber nicht. Besonders bei
bekannten Kommunikationspartnern ist diese Art von Sprechwechsel kein großes
Problem, aber mit wenig bekannten Partnern kann das bei einer Person zu
Resignation und einer Entstehung „komplementärer Redebeziehungen“ (siehe S.
113) führen.
Stotterer können/wollen sich dazu zwingen, das Stotterfreie schneller zu reden,
um den Zeitverlust zum Beispiel bei den Blockierungen wider wett zu machen.
Ebene der Semantik und Syntax
1. Der Kommunikationspartner, der bei der zu beredenden Thematik über mehr
Wissen und so beispielsweise über entsprechende Fachwörter verfügt, muss sich
bei der Kommunikation auf den Partner einstellen bzw. sich bei der Wort- und
Inhaltswahl auf die Ebene des anderen stellen. Bei „Fehleinschätzungen der
Verständnismöglichkeit des Partners“ (siehe S. 114) bzw. bei nicht Beachtung
können kommunikative Probleme und Desinteresse beim anderen auftreten.
2. Unsicherheiten können entstehen, wenn die Interaktionsabläufe nicht durch
gleiche Regeln bestimmt werden. Dies ist bei sich kennenden Kommunikationspartnern eher seltener und bei sich fremden häufiger bzw. dabei wird nicht nach
den persönlichen Regeln kommuniziert, sondern nach den kulturell gültigen – das
kann sich aber auch unterscheiden – das führt dann zu Verhaltensunsicherheiten.
„Entsprechend ist unter Fremden das Fragen nach Informationen vermehrt, und
ihr Dialog folgt mehr einer expliziten Struktur“ (siehe S. 114).
Aussagewiederholungen, die vom Zuhörer mit „Wie bitte?“ erbeten werden, sind
fürs Verständnis und die weitere Kommunikation sehr von Bedeutung. Die
Antworten auf diese Frage enthält meist das bereits Gesagte klarer und logischer
formuliert und ist in einen einfacheren Satzbau eingebettet.
Ebene der Phonation
Die Art und Weise der akustischen Vermittlung zwischen den Kommunikationspartnern ist auch nicht außer Acht zu lassen, dazu zählt zum Beispiel: (a)
Sprechgeschwindigkeit, (b) Lautstärke und (c) Artikulationsklarheit (vgl. S. 115). Ob
dabei akustisch alles in Ordnung ist, kann durch diverse Reaktionen des Zuhörers
Stottern als dialogische Fehlentwicklung (Britta Becke & Nadja Borchardt) - 24 erschlossen werden: (a) häufiges Nachfragen, (b) zahlreiche Missverständnisse, (c)
Verständnismühen oder/und Unverständnis darstellende Körpersignale, etc. .
Zu Beginn der Stottertherapie verschlechtert sich meist das Stottern und Kommunikation wird erschwert. Die Konzentration auf das Aufgeben von Stottern (Entspannung, etc.) bedeutet zunächst einen „Verlust der Kontrolle über den Dialogpartner“
(siehe S. 116) und eine Verschlechterung des Dialoges. Schlechte Dialogpartner
sind in diesen Situationen nur darauf aus, endlich selbst etwas zu sagen, und können
nicht geduldig zuhören. Dann kann es zu Problemen auf den erwähnten Ebenen
kommen und zu Frust beim Stotterer.1
Der Umgang bzw. das Wiedergewinnen der Gleichgestelltheit beim Dialog ist auch
ein Teil der Therapie: (a) Aufmerksamkeitsgewinnung durch Gestik und Mimik, (b)
Einsetzen von prägnanten Formulierungen und (c) bessere Intonationen halten. Der
Umgang mit Kritik oder Abweisungen ist theoretisch nicht zu leisten, sondern
entwickelt sich in der Praxis – im Dialog mit anderen.
Wichtig für einen (neuen) eigenen Kommunikationsstil sind intensive Selbstdarstellungen und –mitteilungen im Dialog, außerdem darf das Wirken auf den
Kommunikationspartner nicht vergessen werden. Neues Dialogverhalten steht dann
im Kontrast zum Stottern. Positive Emotionen beim neuen Dialogverhalten sind
entscheidend, damit Stottern vergehen kann, negative Emotionen wirken umgekehrt.
Persönliche Probleme bzw. persönliche Problematiken können in den Vordergrund
rücken und den Fortgang der Therapie behindern.
Therapieergebnisse
Die Therapie ist in einem großen Maße vom Alter des Stotternden abhängig, je älter
desto geringer ist die Heilungschance. Bei Erwachsenen ist häufig das Problem,
dass sie den Verlust an Sprechflüssigkeit und Gleichwertigkeit mit dem
Kommunikationspartner nicht akzeptieren wollen/können.
Bei stationären Behandlungen sieht das Ergebnis etwas besser aus – auch
Erwachsene erreichen da ein normales Sprechen. Rückfälle im Alltag ist bei einem
Teil der Personen aufgetreten.
1
„Möglicherweise haben Frauen eine bessere Chance zur Überwindung des Stotterns, denn ihre
Bereitschaft, sich unterbrechen zu lassen, ist größer; weitere Geschlechtsunterschiede im
therapeutischen Prozess sind sicherlich zu erwarten.“ (siehe S. 117)
Stottern als dialogische Fehlentwicklung (Britta Becke & Nadja Borchardt) - 25 Als sinnvoll haben sich ambulante Gruppentherapien mit gelegentlichen stationären
Wochenenden erwiesen.
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