Univ.-Prof. Dr. Hans Christoph Klingler Universitätsklinik für Urologie am AKH Wien Leiter des Arbeitskreises für Blasenfunktionsstörungen der Österreichischen Gesellschaft für Urologie Nächtlicher Harndrang: Heimliches und unterschätztes Leiden Wien, 9. März 2010 – Kaum jemand redet darüber, doch viele Österreicher - junge und alte – leben damit und leiden darunter. Nächtlicher Harndrang treibt Betroffene je nach Ausprägung entweder mehrmals in der Nacht auf die Toilette oder lässt die Blase im Schlaf übergehen. Ursache ist oft ein Mangel am Botenstoff ADH (antidiuretisches Hormon, Vasopressin), der zur Folge hat, dass die Niere auch nachts munter weiterproduziert. Obwohl ausgezeichnete und rasche Hilfe möglich ist, werden kaum 15% aller Betroffenen adäquat therapiert. Von nächtlicher Harnflut (med. nächtliche Polyurie) spricht man, wenn die Harnausscheidung in der Nacht mehr als ein Drittel der 24-Stunden-Harnmenge beträgt [1]. Hinter dem Begriff nächtliche Harnflut verbergen sich im Wesentlichen drei Krankheitsbilder: Diabetes insipidus (Wasserharnruhr), Bettnässen und vermehrtes nächtliches Wasserlassen (Nykturie). Gemeinsame Ursache der Probleme ist oft auch ein Mangel am Botenstoff ADH (antidiuretisches Hormon, Vasopressin). ADH steuert den Wasserhaushalt im Körper und spielt eine zentrale Rolle in der Harnproduktion, da es für die Harnkonzentrierung in der Niere verantwortlich ist. Fehlt es bzw. wird es in zu geringem Ausmaß vom Hypothalamus (Zwischenhirn) produziert, wird die Blase unentwegt mit Harn gefüllt. Bei Diabetes insipidus ist dieser Mangel massiv bzw. kann ADH überhaupt nicht produziert werden. Angeboren oder durch einen Unfall (Schädel-Hirn-Trauma) verursacht, würde der Körper ohne Behandlung ein Leben lang bis zu 20 Liter (!) Harn pro Tag ausscheiden. Durch diesen hohen Wasserverlust leiden diese Patienten ständig unter Durst und einem entgleisten Elektrolythaushalt. Zudem stehen sie natürlich auch nachts ständig auf, um auf die Toilette zu gehen. Bei Bettnässern und Menschen, die unter Nykturie leiden, ist oft der Tag-Nacht-Rhyhmus der ADH-Produktion aus dem Lot und es können auch andere Faktoren (mit) eine Rolle spielen. Ein ADH-Mangel ist hier nicht so massiv wie bei Diabetes insipidus-Patienten, aber dennoch sehr belastend. Die wesentliche Unterscheidung zwischen Bettnässen und Nykturie ist, dass Bettnässer aufgrund einer verminderten Wahrnehmung („arousal deficit“) des Miktionsreizes den Harndrang nicht spüren, somit nicht aufwachen und im Schlaf einnässen. NykturiePatienten verlieren meist keinen Urin, sondern wachen nachts infolge des Harndrangs mehrmals auf, um die Blase zu entleeren. Bei allen drei Krankheitsbildern gilt es, durch exakte Diagnose der Ursache auf den Grund zu gehen und andere Erkrankungen auszuschließen. Schlafräuber Nykturie Je älter wir werden, desto eher stört die Harnblase den Schlaf – Nykturie ist der häufigste Grund für Schlafstörungen im Alter. Schätzung zufolge leiden in Österreich an die 540.000 Frauen und 290.000 Männer an übermäßigem nächtlichem Harndrang unterschiedlichster Ursache. Bereits ab dem 40. Lebensjahr nimmt die Prävalenz kontinuierlich zu. Sind bei den 60bis 69-Jährigen etwa 30% betroffen, macht bei mehr als 40% der über 70-Jährigen der Harndrang die Nacht zur Qual. Mehr als einmal pro Nacht wegen Harndrangs aufzuwachen (Nykturie), oder wenn ein Drittel der gesamten täglichen Harnmenge nachts ausgeschieden wird (nächtliche Polyurie) gilt als krankhaft. Eine zwei- oder mehrmalige Nykturie als behandlungswürdig. Dennoch wird von fast der Hälfte der zahlreichen Betroffenen ihr nächtlicher Toilettenbesuch als natürliche Folge des Älterwerdens interpretiert, aber nicht als Ausdruck einer Krankheit. Sie wissen auch nicht, dass es gute Behandlungsmöglichkeiten gibt [2]. Damit bleibt der Weg zum Arzt aus. Eine Nykturie ist jedoch nicht nur unangenehm, sie hat auch weitreichende gesundheitliche und sozialökonomische Folgen. Denn mehrmaliges Erwachen und Aufstehen in der Nacht ist zwangsläufig mit schlechter Nachtruhe und damit starker Beeinträchtigung der Lebensqualität und Gesundheit verbunden. Nykturie-Patienten leiden etwa doppelt so häufig unter Depressionen, Stimmungsschwankungen, Tagesmüdigkeit und Konzentrationsschwäche wie Menschen ohne Nykturie. Durch den gestörten Schlaf erhöht sich auch das Risiko für Herzkrankheiten, Morbidität und Mortalität. Bei älteren Menschen verdoppelt sich das nächtliche Sturzrisiko, wodurch auch das Risiko einer gefürchteten Schenkelhalsfraktur drastisch ansteigt [3]. Um weniger häufig aufzuwachen, schränken viele ihre Flüssigkeitszufuhr drastisch ein, womit sie eine Austrocknung des Körpers (med. Dehydration) riskieren. Miktionsprotokoll klärt Ursache Häufig ist das gehäufte nächtliche Wasserlassen eine Begleiterscheinung einer Erkrankung wie Diabetes mellitus (Zuckerkrankheit), Herz- oder Niereninsuffizienz oder eine überaktive Blase. Nach dem Ausschluss bzw. Behandlung dieser Grunderkrankungen und Klärung weiterer möglicher Ursachen wie entwässernde Medikamente (Diuretika) und übermäßiges Trinken vor dem Schlafengehen ist für den Urologen das Blasenentleerungs-Protokoll (Miktionsprotokoll) das wichtigste diagnostische Hilfsmittel. Dabei werden über einen Zeitraum von mindestens 48 Stunden Zeitpunkt und die ausgeschiedenen Harnmengen sowie die aufgenommene Flüssigkeitsmenge erfasst. Häufige Ursache: ADH-Mangel Konnte eine Grunderkrankung ausgeschlossen werden und zeigen Verhaltenänderungen wie vorsichtige Einschränkung der abendlichen Trinkmenge keine Erfolge, ist bei geschätzten 60.000 Menschen in Österreich der beschriebene ADH-Mangel bzw. eine verringerte Wirkung des antidiuretischen Hormons Ursache für die gehäufte harndrangbedingte Bettflucht. Das antidiuretische Hormon Vasopressin spielt eine entscheidende Rolle in der Urinproduktion, da es die Menge der Harnausscheidung regelt. Normalerweise steigt der ADH-Spiegel in der Nacht, wodurch die nächtliche Urinproduktion und -ausscheidung abnimmt und man bei einer normalen Blasenkapazität ungestört durchschlafen kann. Eine Veränderung des Sekretionsrhythmus oder eine verminderte Wirkung des antidiuretischen Hormons können zu nächtlicher Harnflut führen. In diesem Fall ist die Gabe des synthetischen Hormons Desmopressin [4] (ein Analogon des natürlichen Vasopressin) das Mittel der Wahl. Am Abend eingenommen, bewirkt es eine Konzentrierung des Urins und eine Reduktion der nächtlichen Harnausscheidung um rund 30%. Damit kann die Nykturie auf weniger als zwei nächtliche Toilettengänge reduziert und die Dauer der ersten Schlafphase um durchschnittlich zwei Stunden erhöht werden. Ein Drittel der Patienten konnte durch die Behandlung sogar wieder mehr als fünf Stunden durchschlafen [5,6] - das Sturzrisiko wird verringert, die Leistungsfähigkeit und Lebensqualität steigt. Desmopressin hat sich in der Behandlung von Kindern und Erwachsenen mit zentralem Diabetes insipidus, primärer Enuresis (Bettnässen) sowie bei strenger Indikationsstellung auch bei der Nykturie als wirksames und verträgliches Arzneimittel bewährt. Kontakt für Journalisten-Rückfragen: Univ.-Prof. Dr. Hans Christoph Klingler Universitätsklinik für Urologie, Medizinische Universität Wien T: 01/40400-2616 E: [email protected] -------------------------------1 Primus, G. et al, Differentialdiagnose und Therapie der Nykturie – Konsensusstatement; in: Journal für Urlologie und Urogynäkologie, 1/2006 2 Springer and Int Urogynecol J Pelvic Floor Dysfunct,18, 2007, 431–436, Perception of nocturia and medical consulting behavior 3 Brown et al JAGS 2000, Weiss et al J of Urology 2000, Asplund et al BJU 1999 among community-dwelling women, Chen et al., table 5; with kind permission from Springer Science and Business Media 4 Hinweis für medizinische Fachmedien: Minirin® 5 Lose et al. Am J Obstet Gynecol 2003;189:1106–1113; 6 Mattiasson et al. BJU Int 2002;89:855–862 Text und Bildmaterial in Printqualität gibt’s unter www.ferring.at sowie bei Elisabeth Leeb, ikp, T: 01/524 77 90-14, E: [email protected]