Bundesverband - ISL e.V. Krantorweg 1 D 13503 Berlin Tel.: 030 4057-1409 Fax: 030 4057-3685 eMail: [email protected] ISL e.V. * Krantorweg 1 * 13503 Berlin Stellungnahme der Interessenvertretung Selbstbestimmt Leben in Deutschland e.V. – ISL zu dem Referentenentwurf zu einem Interessenvertretung Selbstbestimmt Leben in Deutschland e.V. - ISL Mitglied bei „Disabled Peoples´ International” - DPI - Bankverbindung: Sparkasse Kassel BLZ: 520 503 53 Kto.: 1 187 333 Gesetz zur Verbesserung der Versorgungsstrukturen in der gesetzlichen Krankenversicherung GKV-Versorgungsstrukturgesetz – GKV-VSG (Schreiben datiert am 9.06.2011, Poststempel vom 20.6.2011, eingegangen 21.06.2011) 1. Vorbemerkungen Angesichts der knappen Fristsetzung zur Stellungnahme (Daten s. oben) sehen wir uns außerstande, detailliert zu dem Referentenentwurf Stellung zu nehmen. Wir begrüßen die Absicht des Gesetzgebers, die Versorgungssituation spürbar zu verbessern und eine flächendeckende bedarfsgerechte und wohnortnahe medizinische Versorgung der Bevölkerung sicherzustellen. 2. Übergeordnete Kritikpunkte 2.1. Fehlende Berücksichtigung der Behindertenrechtskonvention Grundsätzlich vermissen wir insbesondere aus zwei Gründen in dem Referentenentwurf jegliche Bezugnahme zum Übereinkommen der Vereinten Nationen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen (UN-Behindertenrechtskonvention - BRK): Mit der Behindertenrechtskonvention haben sich die Vertragsstaaten auch zu einem durchgängigen „Disability Mainstreaming“ verpflichtet, was bei dem vorliegenden Entwurf offensichtlich bislang unterblieben ist (s. unten). Dies gilt es unbedingt vor der Verabschiedung des Gesetzes nachzuholen, da sonst ein Verstoß gegen geltendes Recht vorliegt. In der Koalitionsvereinbarung vom Herbst 2009 heißt es in Kapitel 7.4 (Menschen mit Behinderungen): „Politische Entscheidungen, die Menschen mit Behinderungen direkt oder indirekt betreffen, müssen sich an den Inhalten der UN-Konvention über die Rechte der Menschen mit Behinderungen messen lassen.“ Jegliche Maßnahmen im Gesundheitswesen betreffen behinderte Menschen, da weit über 80 Prozent der behinderten Menschen aufgrund einer chronischen Erkrankung behindert sind. Hier hat sich der Gesetzgeber bislang nicht an die Koalitionsvereinbarung gehalten, was es unbedingt nachzuholen gilt. 2.2. Fehlendes Bewusstsein der quantitativen Bedeutung von Menschen mit Behinderungen Abgesehen von diesen Versäumnissen kennen die Autorinnen und Autoren dieses Gesetzentwurfes offensichtlich nicht die Bedeutung und Größenordnung behinderten Lebens: Nach dem „World Report on Disability“ der WHO vom Juni 2011 leben rund 15 Prozent der Bevölkerung mit einer Behinderung, Tendenz steigend. Da behinderte Menschen häufiger auf das Gesundheitswesen angewiesen sind als Menschen ohne Behinderungen, ist davon auszugehen, dass bei Arztkontakten oder Krankenhausbettenbelegungen der Prozentsatz behinderter Menschen mindestens bei 30 Prozent liegt. Bei mindestens einem Drittel derjenigen, für die dieses Gesetz geschaffen wird, handelt es sich also um Menschen mit Behinderungen. Es ist deshalb nicht zu verstehen, dass deren Bedürfnisse bei der Formulierung des Gesetzentwurfs kaum berücksichtigt worden sind. Das verstößt nicht nur gegen geltendes Recht (s. oben), sondern ist angesichts des demographischen Wandels nicht zielführend und das Gegenteil von nachhaltig. 3. Notwendige Änderungen unter Berücksichtigung der BRK 3.1. Barrierefreiheit als unabdingbarer Bestandteil in allen Phasen der Bedarfsplanung Aufgrund der obigen Ausführungen muss Barrierefreiheit in einem umfassenden Sinn als elementarer Bestandteil in allen Phasen der Bedarfsplanung zwingend vorgeschrieben werden. Die Berücksichtigung dieses Kriteriums darf nicht dem Zufall oder regionalen Besonderheiten überlassen werden. Im übrigen haben sich die BRK-Vertragsstaaten in § 9 der BRK dazu verpflichtet, sicherzustellen, dass auch private Dienstleister alle Aspekte der Barrierefreiheit berücksichtigen. Mit § 25 BRK garantieren die Vertragsstaaten Menschen mit Behinderungen einen gleichberechtigten Zugang zum Gesundheitswesen. Obwohl die BRK bereits seit über zwei Jahren geltendes Recht in Deutschland ist, ist diesbezüglich bislang nichts geschehen. Deshalb muss die Chance des Versorgungsgesetzes genutzt werden, damit Deutschland seine rechtlichen Verpflichtungen zu erfüllen beginnt. Das betrifft sowohl die Bedarfsplanung für die ambulante spezialärztliche Versorgung als auch die Bedarfsplanung generell. Auch nach dem vom Bundeskabinett beschlossenen nationalen Aktionsplan der Bundesregierung zur Umsetzung der Behindertenrechtskonvention soll ein Programm zur Schaffung barrierefreier Arztpraxen aufgelegt werden. Diese Zielsetzung macht es zusätzlich zu den bereits genannten Gesichtspunkten erforderlich, das Kriterium der Barrierefreiheit im Zusammenhang mit der Bedarfsplanung gesetzlich verbindlich zu verankern. Um dem Ziel eines barrierefreien Gesundheitswesens zeitnah näher zu kommen, schließen wir uns außerdem dem Vorschlag der BAG Selbsthilfe an, für nicht barrierefreie Arztpraxen eine Ausgleichsabgabe zu erheben. Die gewonnenen Mittel sollen eingesetzt werden, um Umbauten im Sinne der Barrierefreiheit bestehender Praxen zu finanzieren. 3.2. Beteiligung von Menschen mit Behinderungen über die sie vertretenden Organisationen Die Bundesrepublik Deutschland hat sich nach Artikel 4, Abs. 3 der BRK dazu verpflichtet, „bei der Ausarbeitung und Umsetzung von Rechtsvorschriften und politischen Konzepten zur Durchführung dieses Übereinkommens und bei anderen Entscheidungsprozessen in Fragen, die Menschen mit Behinderungen betreffen, ... mit den Menschen mit Behinderungen, einschließlich Kindern mit Behinderungen, über die sie vertretenden Organisationen enge Konsultationen“ zu führen und sie aktiv einzubeziehen. Diese Partizipation auf Augenhöhe fehlt in dem Referentenentwurf insbesondere hinsichtlich der Festlegung von Praxisbesonderheiten. Deshalb ist die entsprechende Beteiligung und die Bereitstellung der notwendigen Ressourcen vor allem in den §§ 32, 84, 90a und 106 des SGB V zu verankern. 3.3. Ambulante spezialärztliche Versorgung Wie oben bereits ausgeführt, muss auch bei der Bedarfsplanung dieser Versorgungsstrukturen das Kriterium der Barrierefreiheit verbindlich vorgeschrieben werden. Es darf aber keinesfalls dazu kommen, dass behinderte Mensch für ihre medizinische Versorgung ausschließlich auf die Spezialambulanzen verwiesen werden. Vielmehr muss entsprechend der Vorgaben des Artikel 25 der BRK zum einen das allgemeine Gesundheitssystem für Menschen mit Behinderungen gleichberechtigt zugänglich sein. Zum anderen müssen Gesundheitsleistungen angeboten werden, die speziell aufgrund der Behinderung notwendig sind. 3.4. Fortbildung(spflicht) Artikel 25 d) der BRK bestimmt, dass bei Angehörigen der Gesundheitsberufe „durch Schulungen und den Erlass ethischer Normen für die öffentliche und private Gesundheitsversorgung das Bewusstsein für die Menschenrechte, die Würde, die Autonomie und die Bedürfnisse von Menschen mit Behinderungen“ geschärft wird. Entsprechende Bestimmungen sind im Versorgungsgesetz bei den Regelungen zu Fortbildungen und zur Fortbildungspflicht aufzunehmen. 4. Sonstiger Änderungsbedarf 4.1. Berücksichtigung des behinderungsbedingten Mehraufwands Der erhöhte Zeitbedarf bei der Behandlung von Menschen mit Behinderungen, der sich aus besonderen Kommunikationsformen (beispielsweise Gebärdensprachdolmetschung) oder durch verlängerte Aus- und Ankleidezeiten ergeben kann, ist zu berücksichtigen. Der § 87 SGB V muss entsprechend ergänzt werden. 5. Abschließende Empfehlung Aufgrund der feststellbaren fehlenden Berücksichtigung der Behindertenrechtskonvention ist das gesamte Dokument zu überarbeiten. Dabei ist der Sachverstand von Menschen mit Behinderungen über die sie vertretenden Organisationen einzubeziehen. Berlin, den 24. Juni 2011 Dr. Sigrid Arnade Geschäftsführerin