Hessischer Rundfunk Hörfunk – Bildungsprogramm Redaktion: Karl-Heinz Wellmann WISSENSWERT Kann man Norden fühlen? Wie Hirnforscher das Magnetfeld erfahrbar machen Von Moritz Müller Sendung: 20.06.2005, 8:40 bis 8:55 Uhr, hr2 05-084 COPYRIGHT: Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt. Der Empfänger darf es nur zu privaten Zwecken benutzen. Jede andere Verwendung (z.B. Mitteilung, Vortrag oder Aufführung in der Öffentlichkeit, Vervielfältigung, Bearbeitung, Verteilung oder Zurverfügungstellung in elektronischen Medien, Übersetzung) ist nur mit Zustimmung des Autors/ der Autoren zulässig. Die Verwendung zu Rundfunkzwecken bedarf der Genehmigung des Hessischen Rundfunks. Sprecher Was Bewusstsein ist und wie es entsteht – darüber ist schon immer viel gestritten worden. Der französische Philosoph Descartes beispielsweise glaubte im 17. Jahrhundert, dass das Bewusstsein irgendwo in unserem Kopf seinen festen Sitz hat. Was wir mit unseren Sinnesorganen registrieren, fließe an diesem Ort zusammen. Dort würde dann alles von unserem inneren Auge interpretiert. So entstehe bewusste Wahrnehmung. Descartes‘ Vorstellung erscheint heute ein wenig naiv. In der Hirnforschung glaubt niemand mehr, dass es einen solchen Ort gibt. Aber wenn man genauer hinsieht, ist die moderne Hirnforschung gar nicht so viel weiter als Descartes. Das eigentliche Problem besteht nach wie vor, erklärt Peter König. Er ist Professor für Neurobiopsychologie an der Universität Osnabrück. O-Ton König „Also, wenn wir morgens aufwachen, die Augen öffnen, sehen wir `ne farbige Welt, nehmen Gerüche wahr, hören was, riechen den Kaffee und das ist für mich immer sehr eindrucksvoll. Und da frag ich mich: Das hat etwas mit dem Gehirn zu tun, das ist klar. Aber wie kommen die Farben ins Gehirn hinein? Nun kann man sich anschauen, was beim Auge passiert. Da wird Licht in Nervensignale umgesetzt, beim Ohr werden Schallwellen in Nervensignale umgesetzt, zum Gehirn geleitet. Das Gehirn selber jetzt sitzt ja in einer dunklen feuchten Höhle. Da frag ich mich: Wie werden dort wiederum Farben, Gerüche, Töne erzeugt? Woher kommt der Unterschied davon? Und jetzt gibt’s einige Gruppen, die versuchen herauszufinden, welche Nervenzellen besonders mit Sehen zu tun haben, oder welche mit Hören zu tun haben, da gibt es sicherlich eine Spezialisierung, aber es sind ja doch nur Signale einzelner Nervenzellen. Da ist kein Licht mehr im Schädel, dort ist es eigentlich dunkel und still. Und deswegen ist die große Frage: Suchen wir eigentlich am richtigen Ort, nach dem, was unser Bewusstsein, unser reiches Erlebnis so reich macht?“ Sprecher Die Wahrnehmungsforscher Kevin O’Reagan und Alva Noé haben eine klare Antwort auf diese Frage: Bewusste Wahrnehmung entstehe nicht an einem bestimmten Ort im Gehirn. Das glaubt zwar auch in der Hirnforschung heute niemand mehr. Aus Sicht von O’Reagan und Noé bleibt dort aber die Frage offen, wie es dazu kommt, dass die Eindrücke verschiedener Sinne so unterschiedlich erlebt werden. Die beiden Wissen- schaftler glauben hierauf eine Antwort zu haben. Um erklären zu können, warum sich die Qualität der Wahrnehmung bei verschiedenen Sinnen unterscheidet, müssten wir uns die Beziehung zwischen dem Gehirn und seiner Umwelt genauer ansehen. Peter König erläutert diese Idee an einem Beispiel. O-Ton König „Stellen Sie sich vor, Sie sind ein U-Boot-Kapitän und dann kommt das große Unterseemonster, und würfelt alle ihre Kabel durcheinander und Sie wissen nicht mehr, was passiert eigentlich, wenn ich an diesem Hebel ziehe, den Knopf drücke, oder auf den Fernseher schaue. Und das ist die Situation vom Gehirn: Das Gehirn kann Impulse nach außen senden, es werden Impulse hineingesendet, aber die muss es interpretieren. Nun, wenn ich so ein U-Boot-Kapitän wäre, dann würde ich anfangen, die Hebel auszuprobieren. Ich würde ziehen, loslassen, ziehen, loslassen, Knöpfe drücken, schauen, ob ich verstehe, was sich auf dem Monitor ändert. Und wenn ich das verstehe, dann interpretiere ich meine Welt. Das heißt, die Idee ist, dass unsere bewusste Wahrnehmung eine Interpretation der Nervensignale ist, die entsteht durch das Herumspielen, durch das Ausprobieren der Interaktion mit der Welt. Und ohne diese Interaktion, ohne dass ich handeln würde in der Welt, gäbe es diese bewusste Wahrnehmung nicht.“ Sprecher Jeder Sinn hat seine eigenen Gesetzmäßigkeiten. Wenn wir uns bewegen, ändert sich das Licht auf unserer Netzhaut. Die Abbildung einer geraden Linie beispielsweise krümmt sich, wenn wir den Kopf nach oben oder unten bewegen. Ganz anders ist das beim Schall, der unser Ohr erreicht. Wenn wir pfeifen und den Kopf drehen, ändert sich das Echo des Pfiffs auf eine ganz eigene Weise. Deshalb, meinen Kevin O’Reagan und Alva Noé, fühlt es sich auch unterschiedlich an, ob wir Farben sehen oder Töne hören. Es spielt dabei keine Rolle, wo die Impulse in unserem Gehirn verarbeitet werden. Entscheidend ist, dass wir die Regeln beherrschen, die unsere Sinne voneinander unterscheiden. Peter König erklärt, was das genau bedeutet. O-Ton König „Ja, wenn die Theorie stimmt, dass wir durch die Handlungen in der Welt bewusste Wahrnehmung erzeugen, dann kann ich die Eigenschaften, wie sich zum Beispiel das Licht ändert, wenn ich durch den Raum gehe, ändern – sagen wir mal, ich ändere es in einer ganz raffinierten Weise, dass es sich so ändert wie das Echo. Dann müsste ich eigentlich, was ich sehe, als Töne wahrnehmen. Nun, das ist, mag Ihnen verwegen vorkommen, weil in den Genen steckt schon drinnen, dass wir Augen haben, dass wir einen Innenohr haben – und wir haben sehr viel Erfahrung, so wie wir die Welt sehen und so, wie wir die Welt hören. Ob wir das im Erwachsenenalter noch ändern können, ist nicht ganz klar. Aber vielleicht ist es ja möglich einfach eine völlig neue Regelhaftigkeit einzuführen in unserem Handeln in der Welt und so völlig neue, nicht beschreibbare Sinneseindrücke zu erzeugen.“ Sprecher Ob es uns tatsächlich möglich ist gleichsam künstlich einen völlig neuen Sinn zu entwickeln, testen Peter König und eine Gruppe von Studenten der Kognitionswissenschaft in einem umfangreichen Experiment. Dabei knüpften sie an eine Idee des mexikanischen Arztes Paul Bach y Rita an. Bach y Rita entdeckte eine Möglichkeit blinden Patienten die ihnen fehlenden Eindrücke wahrnehmungsgetreu zu vermitteln. Seine Patienten trugen eine Brille mit einer eingebauten Kamera. Das Bild der Kamera wurde von einem Apparat auf ihrem Rücken in ein Muster aus Druckpunkten übersetzt. Je nach dem, wie sich Bach y Ritas Patienten bewegten, änderten sich auch die Druckpunkte auf ihrem Rücken. Was sie nicht sehen konnten, konnten sie so auf ihrem Rücken spüren. Die Patienten spielten einige Zeit mit dem neuen Apparat herum um so festzustellen, wie sich das Muster veränderte, wenn sie sich bewegten. Nach einiger Zeit hatten sie erkannt, welchen Regeln diese Veränderungen unterliegen. Von da an waren in der Lage auf Reize im Blickfeld der Kamera zu reagieren. Warf man ihnen einen Ball zu, konnten sie ihn sogar fangen. Sie mussten die Empfindung auf ihrem Rücken nicht mehr bewusst interpretieren, sondern reagierten spontan. Peter König und seine Mitarbeiter haben ein ähnliches Ziel. Ihr Experiment trägt den Namen „feelSpace“. Es geht darum den Teilnehmern einen Sinn für die Orientierung im Raum zu vermitteln. O-Ton König „Wir sind eigentlich relative bescheiden. Wir wollen die einfachste Möglichkeit machen – und da sind wir darauf gekommen einen Richtungssinn zu machen. D.h. wir statten Menschen mit einem Kompass aus. Nun ist es nicht so dass wir mit dem Kompass durch die Stadt laufen und alle 50 Meter schauen, wo ist Norden, sondern, dass wir das wir das als Gefühl vermittelt bekommen, dass wir sofort / intuitiv wissen, wo Norden ist – und da koppeln wir einen Kompass mit Vibratoren, die rund um die Taille platziert sind, so dass es immer im Norden vibriert. So können wir einen sofortigen, direkten Zugang zu der absoluten Himmelsrichtung haben, was natürlich eine bestimmte Regelhaftigkeit unserer Handlungen bewirkt. Zum Beispiel, wenn ich mich – ich trage einen solchen Gürtel – drehe, dann vibriert es einmal auf dem Bauch, einmal auf dem Rücken, einmal auf der Seite – je nach dem, wie ich mich drehe. Und das ist eine neue Regelhaftigkeit, die ich lernen kann. Und dann ist die spannende Frage: bekomme ich eine andere Wahrnehmung der Welt dadurch? Etwas, was nicht durch Sehen, nicht durch Hören, nicht durch Fühlen beschrieben ist, sondern, was eine Art eine Art Magnetsinn wäre, eine Wahrnehmung des absoluten Raumes.“ Sprecher Die Arbeit an dem Experiment erstreckt sich über mehrere Monate. Sechs Wochen lang müssen die vier Teilnehmer den Gürtel tragen, im ganz normalen Alltag. An einzelnen Tagen gibt es spezielle Trainingsprogramme. Da werden dann einzelne Sinne ausgeblendet. Zum Beispiel mit einer Augenbinde. So sind die Teilnehmer gezwungen noch mehr auf die Signale des Gürtels zu achten. Peter König und seine Mitarbeiter untersuchen genau, wie ihre Teilnehmer auf die neuen Signale aus dem Gürtel reagieren. Dazu haben sie verschiedene Tests kombiniert, erklärt Moritz Stefaner. Er studiert Kognitionswissenschaft und ist Mitarbeiter im „feelSpace“-Team um Peter König. O-Ton Stefaner „Wir testen zum einen, wie verändern sich Navigations- und Orientierungsfähigkeiten mit dem Gürtel und ohne den Gürtel. Zum einen mit verbundenen Augen in natürlicher Umgebung. Wir haben so eine Art virtuelles Labyrinth entworfen und entwickelt, in dem die VP dann verschiedene markante Punkte wiederfinden müssen. Und was wir noch zusätzlich testen, sind verschiedene klinische Tests. Da testen wir dann den Gleichgewichtssinn und Körperreflexe.“ Sprecher Um ihr Experiment auszuwerten untersucht die „feelSpace“Gruppe, wie sich die Leistungen der Teilnehmer im Verlauf des Trainings ändern. Moritz Stefaner berichtet über die bisherigen Ergebnisse. O-Ton Stefaner „Also, vor der Trainingsphase wurden erstmal die Versuchspersonen und die Kontrollpersonen gemessen. Da konnten wir feststellen, dass die Leistung ungefähr vergleichbar war. Das ist gut, denn sonst könnten wir später die Lerneffekte schlechter festhalten. Die Tests nach dem Training, die sind eben gerade im Gange. Wir können jetzt aber schon sagen, dass in den Orientierungsspielen sich ne deutliche Verbesserung abgezeichnet hat.“ Sprecher Die Signale des Gürtels müssen schrittweise verinnerlicht werden. Peter König und seine Mitarbeiter unterscheiden bei dem Vorgang vier Stufen. Im Idealfall werden die Stufen alle nacheinander durchlaufen, erklärt Saskia Nagel, Studentin der Kognitionswissenschaft und Mitglied im „feelSpace“-Team. O-Ton Nagel „Die erste Stufe nennen wir schwache Integration, da testen wir auch einfach, ob Training mit dem Gürtel die Leistung in unseren Tests verbessert. Dann gibt’s die starke Integration, die testen wir dadurch, dass wir auch falsche Information über den Gürtel vermitteln und gucken halt ob, ob falsche Information die Leistung verschlechtert. Dritte Stufe ist unterbewusste oder unbewusste Verarbeitung. Da ist schon ein bisschen heikler, ob wir das schaffen. Da ist die Frage, ob es ohne Aufmerksamkeit die Informationen verarbeitet werden können. Und die letzte Stufe ist das Spannendste und auch das Unwahrscheinlichste wahrscheinlich, dass wir eine komplett neue Modalität erreichen, d.h. dass es sich wirklich anfühlt nach Magnetsinn, dass es ja n qualitativ neues Erleben ist.“ Sprecher Wie es sich mit dem Gürtel anfühlt – das müssen die Teilnehmer in einer Art Tagebuch festhalten. Zusätzlich gibt es wöchentliche Interviews. Da werden sie dann direkt zu ihren Erfahrungen mit dem Gürtel befragt. So können die Mitarbeiter von „feelSpace“ verfolgen, wie sich die subjektive Wahrnehmung mit dem Gürtel in den sechs Wochen verändert. Die ersten Berichte der Teilnehmer sind sehr unterschiedlich. Peter König berichtet von seinen eigenen Erfahrungen mit dem Gürtel. O-Ton König „Ich bin vielleicht selber eine Versuchsperson, wo’s am Eindrücklichsten war. Also in den ersten Tagen hab ich mich abends immer gefühlt, als wenn ich schwer gearbeitet hätte. Dabei hab ich nichts weiter gemacht als diesen Gürtel getragen. Und dabei habe ich auch sehr gemerkt, wie der Gürtel funktioniert hat und mich daran gewöhnt. Und ein interessanter Effekt war für mich, dass mein Raumgefühl sich ausgeweitet hat. D.h. ich habe nicht nur ein Gefühl, wo jetzt hier in diesem Raum die Tür ist, wo das Fenster ist, was hinter der Tür ist, sondern das ist enorm viel größer geworden. Ich hab auch ein Gefühl dafür, wo zum Beispiel ich mit meiner Familie wohne, in welcher absoluten Himmelsrichtung. Da muss ich nicht nachdenken, das weiß ich intuitiv und kann es ihnen direkt zeigen ohne kognitiv schließen zu müssen nach Sonnenstand oder so etwas. Und das ist für mich ein sehr beeindruckender Effekt. Auf der anderen Seite muss ich sagen, ich habe kein Gefühl dafür, wie das Magnetfeld jetzt hier im Raum ist. Das heißt ich habe keinen primären Magnetsinn, sondern ein Sinn über den Raum, den ich auch schon vorher zu einem gewissen Maße gehabt habe, hat sich dramatisch ausgeweitet. Es ist also mehr von einem Sinn, der in einer Form vorher schon dagewesen ist.“ Sprecher Dass es der „feelSpace“-Gruppe tatsächlich gelingt einen völlig neuen Sinn zu schaffen, scheint also bislang noch sehr ungewiss. Zu allerlei Spekulationen lädt die Vorstellung dennoch ein. In einem einflussreichen Aufsatz hat der Philosoph Thomas Nagel in den 1970er Jahren die Frage gestellt, wie es ist die Welt wie eine Fledermaus wahrzunehmen. Fledermäuse erkennen Hindernisse in ihrer Flugbahn am Echo ihrer eigenen Schreie. Weil wir keinen vergleichbaren Sinn besitzen, meint Nagel, können wir auch nicht wissen, wie die Fledermaus ihre Umgebung wahrnimmt. Wenn sich die Idee von „feelSpace“ tatsächlich bestätigen sollte, ist das Fledermaus-Problem aber vielleicht gar kein unlösbares Problem mehr. Wir bräuchten dann nämlich kein Fledermaushirn um einen vergleichbaren Sinn zu entwickeln. Alles, was wir wissen müssten, wären die Regeln, denen die Schallwahrneh- mung der Fledermaus gehorcht. Hätten wir einen Apparat, der die Ultraschallwellen in eine für uns wahrnehmbare Erregung umsetzt, dann könnten wir womöglich auch lernen, wie es sich anfühlt den Schallsinn einer Fledermaus zu haben. Wir müssten lediglich erkennen, welche Gesetzmäßigkeiten dieser Wahrnehmung zugrunde liegen. Eine etwas naheliegendere Frage ist dagegen, ob wir Menschen die Welt mit unterschiedlichen Augen sehen. Auch zum Unterschied zwischen Mann und Frau lassen sich einige Überlegungen anstellen. O-Ton König „Z.B. ist ein wichtiges Diskussionsthema, inwieweit es Unterschiede zwischen den Geschlechtern gibt. Und es ist klar, dass die Gehirne von Männern und Frauen in mehrerer Hinsicht unterschiedlich sind, aber wenn sich diese Theorie bestätigt, wäre das eigentlich gar nicht das wichtigste. Sondern das eigentlich wichtige ist, wie wir handeln in unserer Welt und welche Regelmäßigkeiten es da gibt. Und wenn Frauen prinzipiell anders handeln als Männer, oder umgekehrt, dann ist das der Hauptunterschied und nicht die Gehirne.“ Sprecher Wie plausibel solche Überlegungen tatsächlich sind – das zu beurteilen mag zum jetzigen Zeitpunkt arg verfrüht erscheinen. Dabei kommt es natürlich auch nicht allein auf die Ergebnisse der Osnabrücker „feelSpace“-Gruppe an. In wie weit wir aber überhaupt in der Lage sind einen neuen Sinn zu erlernen - dazu werden uns Peter König und seine Mitarbeiter in Zukunft genauer Auskunft geben können.