In guten wie in schlechten Zeiten Fröhlich macht sich Ingrid an diesem Morgen auf den Weg zum Dienst. Sie fühlt sich so wohl, wie schon lange nicht mehr. Gestern ist sie aus dem Urlaub wiedergekommen und fühlt sich so richtig erholt. „Guten Morgen!“, ruft sie fröhlich, als sie Yvonne am Empfangstresen stehen sieht. „Guten Morgen, Oberschwester! Schön, dass Sie wieder da sind. Wie war denn Ihr Urlaub?“ „Wunderbar, einfach toll. Wenn die Fotos fertig sind, können wir ja bei mir mal einen Fotoabend machen. Was halten Sie davon?“ „Oh, eine tolle Idee. Ich komme gern.“, lacht Yvonne, denn Ingrids Fröhlichkeit wirkt überaus ansteckend. Als Ingrid den Aufzug betritt, huscht im letzten Moment, bevor sich die Türen schließen, Gernot noch mit hinein. „Hallo, Urlauberin!“, lacht er Ingrid an. „Hallo! Guten Morgen, Du altes Arbeitstier!“, lacht Ingrid zurück. „Wie ich Dich kenne, hast Du Deinen Jahresurlaub bestimmt noch nicht geplant, oder?“ „Doch, Du wirst es kaum glauben. Ich fahre in einer Woche für zehn Tage mit Günther zum Hochseeangeln.“ „Wirklich?“ Ingrid wundert sich. Noch nie hatte Gernot es geschafft, so lange Urlaub an einem Stück zu machen, nur ein einziges Mal. Damals, als sie zuerst gemeinsam in Seiffen und dann noch auf Rügen gewesen waren. „Ja. Und ich freue mich sehr. Endlich mal raus aus allem und den lieben Gott einen guten Mann sein lassen. Kein Handy, keine Klinik, keine Termine – nur eine Hochseeyacht, Fische und mein guter alter Kumpel Günther.“ Ingrid sieht Gernot an, dass er sich wirklich sehr auf diesen Urlaub freut, und sie freut sich mit ihm. „Ja, ich denke, dass wird Dir wirklich mal gut tun, Gernot. Ich wünsche Dir, dass Du genauso einen tollen Urlaub hast, wie ich ihn hatte.“ Gernot tritt näher auf Ingrid zu. „Wenn ich wieder da bin, müssen wir unbedingt mal bei einem guten Glas Wein unsere Urlaubserlebnisse austauschen, was meinst Du?“ „Das ist eine tolle Idee, das sollten wir auf jeden Fall mal tun.“ Der Aufzug ist angekommen und die Aufzugtüren öffnen sich. Ingrid und Gernot treten hinaus auf den Flur, lächeln sich noch einmal freundlich zu und gehen dann in entgegengesetzte Richtungen davon. Am Freitag dieser Woche hat Ingrid bei Roland Heilmann ihre jährliche Vorsorgeuntersuchung, zu der alle Klinikmitarbeiter regelmäßig müssen. Deshalb erscheint sie schon, wie mit Dr. Heilmann verabredet, eine Stunde vor Dienstbeginn im Untersuchungsraum, denn Roland muss heute auch noch die Dienstübergabe mit dem Professor hinter sich bringen, weil dieser in Urlaub geht. „Morgen, Ingrid.“, begrüßt Roland Ingrid freundlich. „Morgen, Dr. Heilmann. Hier stehe ich, ich kann nicht anders…“, lacht Ingrid. „Na, dann wollen wir Sie mal auf den Kopf stellen. Zuerst nehme ich mal Blut ab, danach kommt dann der Hörtest und das Belastungs-EKG. Einverstanden?“ „Ich bin Ihnen doch sowieso ausgeliefert.“, grinst Ingrid Roland an. Während der Untersuchungen scherzen Ingrid und Roland miteinander und lachen herzlich darüber. „Ach, Dr. Heilmann. Ich bin bestimmt nicht krank, so viel wie wir gelacht haben. Denn Lachen ist doch gesund.“ Mit diesen Worten verabschiedet Ingrid sich und macht sich auf den Weg zum Schwesternzimmer. Sie geht hinüber an ihren Spind, nimmt ihren Kittel heraus und zieht ihn sich über. Da kommt Yvonne ins Schwesternzimmer. „Guten Morgen, Oberschwester.“ „Morgen Yvonne.“ Sie machen kurz Schichtübergabe, dann geht Yvonne nach Hause. Gegen Mittag erscheint Gernot im Schwesternzimmer. „Ich wollte mich von Dir verabschieden, Ingrid.“ Ingrid kommt auf ihn zu, beugt sich etwas vor und gibt Gernot einen zärtlichen Kuss auf die Wange. „Ich wünsche Dir einen schönen Urlaub, Gernot.“ „Danke.“ In Gernots Augen ist ein glückliches Strahlen getreten, als Ingrid ihn auf die Wange küsste. Er verabschiedet sich und gibt Ingrid nun seinerseits einen Kuss auf die Wange. „Und nicht vergessen, nach meinem Urlaub gehen wir zusammen aus.“ „Versprochen.“ Nach einem 1 letzten liebevollen Blick verlässt Gernot das Schwesternzimmer und startet in seinen wohlverdienten Urlaub. Ingrid hat an diesem Wochenende Dienst, also bleibt nicht viel Freizeit. Die wenige freie Zeit verbringt sie mit Lesen, Schwimmen und Faulenzen und erscheint am Montagmorgen ausgeruht zum Dienst. Heute kann sie sich bei Dr. Heilmann nach den Untersuchungsergebnissen erkundigen, obwohl Ingrid das eigentlich für überflüssig hält, da sie sich sehr wohl und gesund fühlt. Trotzdem macht sie sich zur vereinbarten Zeit auf den Weg zu Dr. Heilmanns Büro. Dort wird sie schon erwartet, Roland hat bereits ihre Akte mit den Untersuchungsergebnissen in der Hand und studiert die Auswertungen. „Hallo, Ingrid. Da sind Sie ja. Nehmen Sie doch bitte Platz.“ „Und? Wie lautet das Urteil des Fachmanns?“ Roland sieht Ingrid prüfend an. „Ingrid. Ich glaube, Sie arbeiten in letzter Zeit ein bisschen zu viel. Kann das sein?“ „Ach, Doktor, Sie kennen mich doch.“ „Eben drum…“ Als Roland gerade fortfahren will, wird er durch ein Klopfen an der Tür unterbrochen. „Roland, hast Du einen Moment Zeit?“ Kathrin Globisch steht im Nebenzimmer und macht ein ernstes Gesicht. „Einen Moment, Ingrid, ja?“ „Kein Problem.“ Ingrid lehnt sich entspannt in ihrem Stuhl zurück. Roland hat im Hinausgehen die Tür nur angelehnt, und so kann Ingrid das Gespräch, das er mit Kathrin Globisch führt, mithören. „Roland, du kannst es ihr nicht einfach so vor den Kopf knallen.“ „Aber Kathrin. Sie hat ein Recht darauf, die Wahrheit zu erfahren.“ „Ja, sicher,“, hört Ingrid Kathrins Stimme, „…aber ob das in diesem Stadium noch Sinn macht. Es ist endgültig, Roland. Mit irgendeiner Therapie würden wir nur den Sterbeprozess verlängern. Es hat keinen Sinn, Roland. Sieh es doch ein, auch wenn es Dir in diesem Fall noch so nahe geht, weil Ihr Euch schon eine Ewigkeit kennt.“ „Verdammt…“, lässt sich Rolands Stimme vernehmen, „…warum stellt sich so was ausgerechnet bei der jährlichen Routineuntersuchung heraus. Hier, sieh mal, die Blutwerte sind einfach katastrophal.“ Ingrid erstarrt auf ihrem Stuhl. Wenn Dr. Heilmann seiner Kollegin die Untersuchungsauswertungen zeigte, konnte das nur eines bedeuten. Bei der Patientin, die dem Inhalt des Gespräches nach zu urteilen nicht mehr lange zu leben hatte, handelte es sich allem Anschein nach um sie selbst. Ingrids Hände klammern sich an der Stuhllehne fest, so dass Ingrids Handknöchel ganz weiß werden. „Man sollte versuchen, ihr die letzte Zeit so angenehm und glücklich wie möglich zu gestalten. Viele schöne Eindrücke und etwas unternehmen, so lange es noch geht.“ Rolands Stimme klingt niedergeschlagen, und diesen niedergeschlagenen Eindruck macht er auch, als er jetzt zu Ingrid zurückkehrt. Die gibt sich die größte Mühe, genauso zu wirken wie zu Beginn des Gespräches mit Dr. Heilmann, was ihr unter größten Mühen auch gelingt. „So, da bin ich wieder, Ingrid.“ „Also, schießen Sie los, Dr. Heilmann.“, sagt Ingrid betont fröhlich. „Ingrid, Sie sollten allmählich etwas kürzer treten. Diese ewigen Doppel- und Nachtschichten sind zuviel für Sie.“ Also doch, schießt es Ingrid durch den Kopf. Dr. Heilmann hatte mit Dr. Globisch über sie gesprochen. „Aber warum? Mir geht es doch gut.“ „Ingrid. Seien Sie doch vernünftig. Sie sind auch nicht mehr die Jüngste.“ Er meinte es ja gut mit ihr, dass verstand Ingrid schon. Aber sie wollte versuchen, die Wahrheit herauszubekommen. „Was ist denn mit mir, Dr. Heilmann? Ich kann die Wahrheit vertragen.“ Ingrid blickt ihn ernst an. „Nichts wirklich Beunruhigendes, Ingrid. Nur eine leichte Erschöpfung, die sich aber geben dürfte, wenn Sie nicht mehr so viele Extraschichten schieben.“ Aufmunternd zwinkert Roland ihr zu. „War das alles?“, fragt Ingrid ihn. „Klar. Schönen Tag noch, Oberschwester.“ Ingrid erhebt sich aus dem Stuhl und verlässt Rolands Büro. Doch statt ins Schwesternzimmer zu gehen, geht Ingrid hinüber in den Medikamentenraum und verschließt dessen Tür hinter sich. Ihr Atem geht stoßweise, so aufgeregt ist sie. Aber weinen, weinen kann sie nicht. Zu tief sitzt der Schock. Sie fühlte sich doch auch gar nicht krank. Ja, manchmal war sie schon erschöpft, aber todkrank? Aber sie würde sich ihrem 2 Schicksal stellen müssen. Energisch und beherrscht, wie jeder sie in der Klinik kennt, macht Ingrid sich ein paar Minuten später wieder an ihre Arbeit. Erst am Abend, als sie allein in ihrem Wohnzimmer sitzt, bricht Ingrid weinend in ihrem Sessel zusammen. Warum ich? Warum jetzt? Und niemand in ihrer Nähe, mit dem sie darüber reden kann. Oder doch? Nein, der Einzige, mit dem Ingrid über so etwas reden würde, schippert zurzeit auf einer Hochseeyacht über die Ostsee und dachte wahrscheinlich gar nicht an sie. Ja, Gernot. Er war ihr seit ihrer Trennung zu einem sehr guten Freund geworden. Er hätte bestimmt einen Rat gewusst oder sie tröstend in den Arm genommen. Aber er ist so weit weg. Ob sie einfach versuchen sollte, ihn über sein Handy zu erreichen? Aber nein. Er hatte ihr ja selbst gesagt, dass er sein Handy gar nicht mitnehmen würde. Die Gedanken an Gernot verschlimmern Ingrids Seelenpein nur noch. Wenn sie ihm damals nur eine einzige Chance gegeben hätte, um sie zu kämpfen. Aber sie hatte ihn einfach vor vollendete Tatsachen gestellt, als sie ihm eröffnet hatte, dass sie beschlossen hatte, sich von ihm zu trennen. Jetzt musste sie sehen, wie sie allein mit allem fertig wurde. Doch ihr Herz schrie vor Sehnsucht nach ihm. Dass es Gernot hunderte von Kilometern entfernt nicht viel anders geht, weiß Ingrid nicht. Gernot steht an der Reling der Yacht und blickt hinauf in den Nachthimmel. Wie gern hätte er jetzt Ingrid hier bei sich. Dann könnte er ihr endlich sagen, was ihm schon lange auf der Seele liegt. Nämlich, dass er sich nichts sehnlicher wünschte, als mit ihr wieder eine gemeinsame Zukunft zu haben und dass er nie aufgehört hatte, Ingrid zu lieben. Seufzend blickt Gernot noch einmal hoch zu den Sternen, bevor er hinunter in die Kajüte geht und sich schlafen legt. Als er Günther am nächsten Morgen von seinen Plänen erzählt, klopft der ihm aufmunternd auf die Schulter. „Ihr zwei gehört einfach zusammen, Gernot. Das habe ich ja schon immer gesagt.“, grinst Günther seinen Freund vielsagend an. Nach einer schlaflosen Nacht erscheint Ingrid am nächsten Morgen zum Dienst. In dieser Nacht hatte sie eine Entscheidung gefällt. Keiner soll merken, dass sie Bescheid weiß. Sie versucht, sich so zu geben wie immer. Und irgendwann, ja irgendwann würde sie dann einfach nicht mehr da sein. Eigentlich ist doch alles ganz einfach. Selbst als Dr. Heilmann sie eine Woche später bittet, ihr nochmals Blut abnehmen zu dürfen, bleibt Ingrid standhaft. Sie tut, als würde sie seine Erklärung dafür glauben. „Die Eisenwerte muss ich noch mal überprüfen, die können nämlich auch für ihre leichte Erschöpfung verantwortlich sein.“ „Eisen? Dann muss ich wohl mehr Spinat essen, oder?“, versucht Ingrid zu scherzen. „Wäre eine Möglichkeit.“, erwidert Roland Heilmann lachend und geht mit der Blutprobe in Richtung Labor davon. Ingrid rollt den Ärmel ihres Kittels wieder herunter und geht zurück ins Schwesternzimmer. Zuhause hat Ingrid schon vor drei Tagen begonnen, ihre Papiere zu ordnen und alles in einen korrekten Zustand zu bringen. Auch hatte sie bei einem Notar ihr Testament hinterlegt. Da sie keine Angehörigen hatte, sollte all ihre Habe an den Menschen fallen, der ihr trotz allem immer noch sehr nahe stand, ihren Ex-Mann Arno. Seit seiner Entziehungskur war er trocken, und seitdem hatten sie auch ab und an wieder Kontakt zueinander. Es war in den letzten Monaten eine lockere Freundschaft zwischen ihnen entstanden und mittlerweile hatte Arno ihr auch seine Lebensgefährtin vorgestellt, die ihm geholfen hatte, mit seiner Alkoholsucht fertig zu werden. Sie hatte genau das getan, was Ingrid damals nicht geschafft hatte. Aber Arno hatte Ingrid keine Vorwürfe gemacht, sondern ihr die Hand zur Versöhnung gereicht. Das hatte Ingrid sehr gefreut. Und Arno würde sowohl die Gegenstände, die Ingrid gehörten, als auch das kleine Vermögen, das Ingrid angespart hatte, gut gebrauchen können. Nur eines 3 sollte er nicht bekommen, ihr Fotoalbum, in dem Ingrid alle Fotos aus ihrer gemeinsamen Zeit mit Gernot aufbewahrte. Darin war auch jenes Foto, das Gernot ihr gegeben hatte, als sie gerade frisch verliebt waren. ‚Für meine Ingrid. In ewiger Liebe. Gernot.’, hatte er darunter geschrieben. Dieses Fotoalbum, so hatte Ingrid verfügt, sollte Gernot nach ihrem Tod von ihrem Notar ausgehändigt werden, und dazu würde sie noch einen Brief schreiben. Noch lange betrachtet Ingrid das Foto. „In ewiger Liebe.“ Eine Träne rollt ihre Wange hinunter. Diesen besagten Brief verfasst Ingrid am nächsten Tag, während des Nachtdienstes. Wieder einmal hatte Ingrid, entgegen Dr. Heilmanns Empfehlung, eine Doppelschicht übernommen. Da es eine ruhige Nacht zu werden scheint, nimmt Ingrid irgendwann kurz vor drei Uhr ihren Block aus der Tasche, nimmt die Kappe ihres Füllhalters ab und beginnt zu schreiben. Eine Stunde später ist der Brief fertig. Ingrid ist es nicht leicht gefallen, diesen Brief zu formulieren. Aber Gernot hatte ein Recht darauf, alles zu erfahren, was sie ihm nicht mehr selber würde sagen können. Gerade, als Ingrid den Brief beendet hat und das Blatt vom Block abtrennt, ertönt eine Patientenklingel. Damit der Brief vor fremden Augen geschützt ist, faltet sie ihn zusammen, packt ihn in einen Umschlag und schiebt diesen unter die Post. Ihren Block packt sie wieder in die Tasche. Dann eilt sie hinaus auf den Flur. Als Ingrid eine halbe Stunde später wieder kommt, hat sie über ihre Arbeit den Brief längst vergessen. Sie bereitet die Patientenakten für die morgendliche Visite vor und ordnet die Post, die sie kurz darauf in Gernots Büro hinüberbringt. Sie legt die Postmappe auf den großen Stapel Postmappen, der sich während Gernots Urlaub hier angesammelt hat. Dann beendet sie ihren Dienst für heute und geht nach Hause. Die nächsten zwei Tage hat Ingrid dienstfrei, da sie am nächsten Wochenende wieder Dienst schieben muss. Während Ingrid zuhause über die ihr noch verbleibende Zeit nachdenkt, und darüber, ob es überhaupt jemandem etwas ausmachen würde, wenn sie irgendwann nicht mehr da wäre, kommt Gernot aus dem Urlaub zurück. Als er die Postberge sieht, die sich auf seinem Schreibtisch türmen, seufzt er laut. „Na, da weiß ich ja, was ich heute abend zuhause zu tun habe.“ Er packt die oberen zwanzig Postmappen direkt in seine Aktentasche und macht sich dann daran, alles andere liegengebliebene zu erledigen. Spätnachmittags macht er sich auf den Weg nach Hause. Übermorgen würde er Ingrid wieder sehen, die zwei freie Tage hatte. Sie hat genau wie er am Wochenende Dienst, da würde sich bestimmt die Gelegenheit ergeben, ein längeres Gespräch miteinander zu führen. Denn er hat Ingrid so viel zu sagen… Während seines Urlaubs war Gernot sich darüber klar geworden, dass er nicht so wie bisher neben Ingrid her leben wollte, sondern wieder mit ihr leben wollte, und zwar für immer. Dafür wollte er, wenn nötig, kämpfen, bis er sein Ziel erreicht hatte. Das hat er sich fest vorgenommen und will so bald wie möglich mit Ingrid reden. Als Gernot an diesem Abend zuhause sitzt und die Postmappen durcharbeitet, wandern seine Gedanken oft zu Ingrid. Wenn er sich früher Arbeit mit nach Hause gebracht hatte, hatte Ingrid es auf ihre unnachahmliche Art immer wieder geschafft, dass er ganz schnell das Interesse an der Arbeit verlor. Mal wartete sie mit einem romantischen Abendessen auf ihn und ein anderes Mal hatte sie seinen Lieblingswein besorgt und sie machten sich einen schönen Abend auf der Terrasse. Einmal hatte sie sogar – Gernot lächelt glücklich bei dem Gedanken an diesen Abend – ja einmal hatte sie ihn direkt an der Haustür empfangen und von dort aus direkt ins Schlafzimmer bugsiert, wo sie beide ihre Sehnsucht nach dem anderen eine ganze Nacht lang auslebten. Nächte wie diese hatte es allerdings selten gegeben, und meistens trug er selber die Schuld daran, weil er vor lauter Arbeit kaum noch Zeit für anderes hatte. Daran war letztendlich auch ihre Beziehung zugrunde gegangen. Doch in Zukunft, so hatte 4 Gernot sich geschworen, würde immer Zeit sein für Ingrid, für ihre Liebe und ihr gemeinsames Leben – wenn Ingrid es auch wollte. Das war die einzige Ungewissheit, mit der Gernot leben musste, bis er endlich mit Ingrid gesprochen hatte. Blatt um Blatt arbeitet Gernot die Postmappe durch, bis plötzlich, als er das gelesene Blatt zur Seite legt, ein Umschlag vor ihm liegt. Es ist unverkennbar Ingrids Schrift, mit der der Umschlag beschrieben ist. Als Gernot die Worte liest, kann er nicht glauben, was er sieht. Wieder und wieder liest er die Worte, die Ingrid auf den Umschlag geschrieben hat. ‚Erst nach meinem Tode zu öffnen’ hatte Ingrid handschriftlich auf den Briefumschlag geschrieben. Gernots Hände beginnen zu zittern. Was sollte er mit diesem Brief tun? Es wäre Ingrid sicher unangenehm, dass ausgerechnet er diesen Brief gefunden hat. Der Umschlag ist nicht zugeklebt, und Gernot kann ein Blatt erkennen, dass Ingrid handschriftlich beidseitig beschrieben hat. Sorgsam legt Gernot den Brief vor sich auf den Schreibtisch und starrt lange darauf. Ingrid wird erst morgen wieder zum Dienst kommen, also konnte er ihr den Brief heute nicht mehr persönlich übergeben. Er beschließt, Ingrid den Brief morgen persönlich zu übergeben. Immer wieder überlegt er, ob er den Brief lesen soll, aber ist das Ingrid gegenüber fair? Andererseits, warum schrieb Ingrid jetzt einen Brief, der erst nach ihrem Tode geöffnet werden sollte? Konnte er ihr helfen, wenn er den Inhalt des Briefes kannte? Stundenlang ringt Gernot mit sich, dann nimmt er vorsichtig den Brief aus dem Umschlag und beginnt zu lesen. Mein über alles Geliebter! Es ist zu spät. Zu spät für mich, zu spät für uns, zu spät für unsere Liebe. Ja, ich spreche zu Dir von Liebe, denn das ist es, was ich all die Jahre für Dich empfunden habe. Auch wenn sich vor langer Zeit unsere Wege getrennt haben, liebe ich Dich, vielleicht sogar noch mehr als während unserer gemeinsam verbrachten Jahre. Ich weiß sehr wohl, dass Du meine Liebe nicht (mehr) erwiderst, aber Deine Freundschaft ist und war immer sehr wichtig für mich und hat es mir auch erleichtert, Dir diesen allerletzten Brief zu schreiben. Denn niemals hätte ich es gewagt, Dir zu sagen, das ich noch etwas für Dich empfinde. Ich möchte nicht von dieser Welt gehen, ohne Dir zu danken. Zu danken für Deine Liebe, die mein Leben für eine lange Zeit sehr glücklich gemacht hat. Für mich wirst du immer der Mann sein, den ich mir stets an meiner Seite gewünscht habe und mit dem ich einmal unendlich glücklich war - mein Mann. 5 Da ich nicht weiß, wie viel Zeit mir noch bleibt, schreibe ich diesen Brief schon heute. Aber der Zeitpunkt ist auch egal, denn an meinen Gefühlen für Dich wird sich nie etwas ändern. Ich werde Dich immer lieben! Und ich möchte, dass Du das niemals vergisst, auch wenn ich eines Tages nicht mehr da bin. Gernot ist entsetzt. Warum glaubte Ingrid, dass sie sterben würde? Und wenn es so war, warum wusste er nichts davon? Er lässt die Hand, in der er den Brief hält, in den Schoß sinken. Und für wen war dieser Brief bestimmt? Sicher nicht für ihn, mutmaßt Gernot. Alles deutet daraufhin, dass Ingrid diesen Brief wahrscheinlich an Arno, ihren Ex-Mann geschrieben hatte. Sie hatte Gernot gegenüber vor einiger Zeit einmal erwähnt, dass sie jetzt einen fast freundschaftlichen Kontakt zu Arno pflegte. Dafür spricht auch, dass Ingrid von ‚mein Mann’ spricht. Und das war er, Gernot, nie gewesen. Hätte er Ingrid doch damals bloß geheiratet. So vieles wäre in ihrer beider Leben anders und vor allem glücklicher verlaufen. Heute versteht Gernot es selbst nicht mehr, warum er damals diesen Schritt nicht getan hat. Denn was gibt es Schöneres für einen Mann, als mit der Frau, die er über alles liebt, verheiratet zu sein, für immer zusammenzugehören? Gernot schluckt die aufsteigenden Tränen hinunter, bevor er wie unter einem inneren Zwang den Brief wieder hochhebt und weiter liest. Bis heute habe ich mir nicht verziehen, Dich damals einfach verlassen zu haben. Ich wusste schon in dem Moment, als ich es Dir sagte und dabei den unendlichen Schmerz in Deine Augen sah, dass ich einen Fehler gemacht habe. Bitte verzeih mir, wenn Du kannst; ich hatte nie die Absicht, Dir wehzutun oder Dich unglücklich zu machen, Gernot. Mit tränenüberströmtem Gesicht lässt Gernot den Brief beinah aus der Hand gleiten. Dieser Abschiedsbrief von Ingrid galt ihm! Aber warum hatte sie ihm nie gesagt, dass sie ihn immer noch liebte? „Ach, Ingrid. Warum hast du all die Zeit geschwiegen?“, schluchzt Gernot und der Schmerz um Ingrid droht im beinahe das Herz zu brechen. Nachdem er sich wieder etwas gefangen hat, liest er den Rest des Briefes. Eines musst Du mir versprechen, Liebster. Du sollst nicht um mich weinen, weil Du mich für immer verloren hast, sondern Dich mit einem Lächeln daran erinnern, dass wir für eine lange Zeit sehr, sehr glücklich miteinander waren. In der Zeit nach unserer Trennung, als Du immer mein Freund geblieben bist, trotz aller Schwierigkeiten und Streitereien, wäre ich Dir so gerne viel näher gewesen als ein Freund. 6 Das alles hätte ich Dir gern persönlich gesagt, aber ich hatte nicht den Mut dazu. Ich weiß, Du verstehst mich. Und wenn Du magst, bewahre mich für immer in Deinem Herzen. Deine Dich liebende Ingrid. Ein paar Tränen tropfen auf den Brief, aber das bemerkt Gernot nicht. Sorgsam faltet er das Blatt wieder zusammen, schiebt es in den Umschlag zurück und legt diesen wieder in die Postmappe. Würde er Ingrid schon bald für immer verlieren? Das konnte und durfte nicht sein. Warum gerade Ingrid? Warum wurde ihm immer die Frau, die er wirklich von Herzen liebte, vom Schicksal genommen? Und was ist mit Ingrid? Wie geht es ihr jetzt? Wäre es nicht schon so spät am Abend, er würde jetzt auf der Stelle zu ihr fahren, einfach, um bei ihr zu sein. Vielleicht sollte er morgen früh…? Die Klinik erscheint ihm nämlich nicht der geeignete Ort zu sein, um mit Ingrid über dieses heikle Thema zu sprechen. Morgen früh, ja, die Idee ist gut. Gernot überlegt sich in dieser Nacht genau, was er Ingrid morgen sagen will und vor allen Dingen, wie er es ihr sagen will. Als Ingrid am nächsten Morgen aus der Haustür tritt, um zum Dienst zu gehen, wird sie schon erwartet. Ingrid glaubt, zu träumen. Endlich, endlich ist er da. Ohne ein Wort zu sagen, läuft sie auf Gernot zu und wirft sich in seine Arme. „Gernot! Endlich!“, schluchzt sie an seiner Schulter. Gernot kann spüren, wie Ingrid zittert und zieht sie enger in seine Arme. „Was ist denn los?“, fragt er leise und streichelt Ingrid beruhigend über den Rücken. Sie soll nicht merken, dass er etwas ahnt. Unter seiner Berührung beruhigt Ingrid sich wirklich einige Zeit später. Noch immer stehen sie eng umschlungen da. Zwar wünschten sich beide, sie könnten sich unter anderen Voraussetzungen so im Arm halten, aber beide gestehen sich auch ehrlich ein, dass sie diese Umarmung sehr genießen. „Gernot? Hast Du Zeit? Können wir irgendwohin fahren, wo wir ungestört sind? Ich muss dir so vieles sagen.“ „Sicher. Komm.“, antwortet Gernot knapp und führt Ingrid zum Auto, ohne sie loszulassen. Er öffnet ihr die Beifahrertür, lässt sie einsteigen und schließt die Tür hinter Ingrid. Als er um das Auto herumgeht, stehen Tränen in seinen Augen. Entschlossen wischt er diese fort, bevor er sich neben Ingrid ins Auto setzt. Über Handy informiert er kurz Barbara, dass sowohl er als auch die Oberschwester später kommen werden. Gernot startet den Wagen und sie fahren hinaus aus der Stadt in Richtung des Waldstückes, wo Gernots Ferienhaus liegt. Hier würde zu dieser frühen Stunde noch kein Mensch sein und sie könnten in Ruhe reden, während sie spazieren gingen. „Wieso warst du eigentlich heute morgen plötzlich da?“, wundert sich Ingrid irgendwann während der Fahrt. Gernot sieht zu ihr hinüber. Nein, zunächst wollte er verschweigen, dass eigentlich der Brief die Ursache für sein frühes Erscheinen war. „Ach Ingrid. Mir ist in den letzten zwei Wochen klar geworden, dass wir unbedingt miteinander reden müssen, vor allen Dingen über uns, Ingrid. Und das wollte ich nicht unnötig lange aufschieben.“ Ingrid wundert sich. Gernot kommt von selbst und will über irgendetwas reden, ausgerechnet er, bei dem man sonst ewig lange bohren musste, bis er überhaupt mal etwas von sich preisgab? Aber sie ist unendlich froh, dass Gernot in diesem Moment bei ihr ist, deshalb fragt sie nicht lange nach. Doch bevor Gernot auf die Idee kommt, mit ihr über die Zukunft zu reden, hat er ein Recht 7 darauf, die Wahrheit zu erfahren. Also nimmt Ingrid ihren ganzen Mut zusammen und beginnt leise zu sprechen. „Bevor du weitersprichst…“, Ingrid sieht ihn lange an, „…es gibt da etwas, das du wissen solltest.“ Mittlerweile hat Gernot den Wagen angehalten und sie steigen aus. Sie gehen in einigem Abstand nebeneinander her und keiner der beiden sagt etwas, bis Gernot einige Minuten später das Schweigen beendet. „Was sollte ich wissen, Ingrid?“ Ingrid blickt stur geradeaus, als sie jetzt beginnt, zu sprechen. Sie würde keinen Ton herausbekommen, wenn sie ihm bei dem, was sie ihm jetzt sagen musste, in seine blauen Augen sehen müsste, diese Augen, die für sie immer die wunderbarsten blauen Augen auf der ganzen Welt sein und bleiben würden. „Gernot, du hast vor langer Zeit einmal zu mir gesagt, dass du immer mein Freund sein würdest. Und du bist der Einzige, dem ich mich anvertrauen will. Keiner sonst weiß etwas.“ Bei diesen Worten schiebt sie vorsichtig ihre Hand in seine und fühlt, wie Gernot diese Berührung mit sanftem Druck erwidert. „Ich weiß, dass ich dir sehr wehtun werde mit dem, was ich dir sagen muss. Aber glaube mir, es tut mir genauso weh.“ Gernot sieht Ingrid lange an, die immer noch stur geradeaus blickt, sagt aber nichts. Ingrid hält inne und bleibt mitten auf dem Waldweg stehen. Verlegen scharrt sie mit dem Fuß auf dem Waldboden. „Gernot…ich…ich…“ Tränen treten in Ingrids Augen und sie hat Mühe, weiter zu sprechen. Sie holt tief Luft und stößt nur den einen Satz hervor: „Ich habe nicht mehr lange zu leben.“ Dann wirft sie sich an Gernots Brust und beginnt hemmungslos zu weinen. Tröstend streichelt Gernot über ihren Rücken. Es scheint also zu stimmen, dass Ingrid sehr, sehr krank ist. Obwohl er etwas geahnt hatte, trifft diese Nachricht Gernot ziemlich unvorbereitet und er würde seinen Schmerz am liebsten in die Welt hinausschreien. Aber Ingrid zuliebe muss er sich zusammenreißen. „Ingrid.“, sagt Gernot lange Zeit später, als Ingrid noch leise vor sich hin schluchzt. „Aber wieso denn?“ „Können wir uns setzen?“ „Natürlich.“ Er legt seinen Arm um Ingrids Schulter und führt sie zu einem gefällten Baumstamm am Wegesrand. Dicht nebeneinander setzen sie sich darauf. Noch immer liegt Gernots Arm um Ingrids Schulter. Leise beginnt Ingrid zu berichten, was sie aus dem Gespräch zwischen Roland Heilmann und Kathrin Globisch erfahren hatte. „Und du bist sicher, dass sie dich gemeint haben?“ „Ja. Denn Dr. Heilmann hatte nur diese eine Mappe mit den Auswertungen in der Hand. Glaub mir, es ist wahr.“ Gernot hat Mühe, die Fassung nicht zu verlieren, am liebsten würde er sich an Ingrid klammern und einfach losheulen. Das konnte doch alles nicht sein. Das durfte einfach nicht sein. „Aber Dr. Heilmann sagt mir nicht die Wahrheit. Und darum bitte ich Dich, Gernot, sprich Du doch mal mit ihm. Dir wird er bestimmt etwas sagen.“, sagt Ingrid, nachdem sie ihm alles berichtet hat. „Gleich nachher gehe ich zu ihm, das verspreche ich dir. Aber ich bin mir sicher, alles ist nur ein Irrtum.“ „Danke.“, sagt Ingrid schlicht und lehnt ihren Kopf an Gernots Schulter. „Du bist ein echter Freund.“ ‚Ich wäre so gern mehr, als nur dein Freund, Ingrid.’, denkt Gernot bei sich, hütet sich aber, es auszusprechen. Ingrid hatte genug mit sich selbst zu tun, da wollte er nicht zusätzlich noch für Verwirrung in ihren Gefühlen sorgen. „Komm.“, sagt er lange Zeit später, steht auf und streckt Ingrid beide Hände hin. Mit einem kleinen Lächeln ergreift Ingrid seine Hände und lässt sich von ihm hochziehen. Dann machen sie sich auf den Rückweg zum Auto. „Soll ich dich nicht lieber nach Hause bringen?“, wendet sich Gernot während der Fahrt an Ingrid. „Nein. In der Klinik soll keiner was merken. So lange es geht, will ich so weitermachen, wie bisher.“ Gernot bewundert Ingrid wieder einmal für ihre Stärke und ihre Willenskraft. Das machte ihr so leicht keiner nach, in einer solchen Situation nicht den Kopf zu verlieren. In der Klinik angekommen, gehen sie nebeneinander zum Aufzug. „Ich melde mich sofort bei dir, wenn ich mit Heilmann gesprochen habe.“ „Danke, Gernot.“ Ingrid beugt sich zu ihm hinüber und gibt ihm einen sanften Kuss auf die Wange. Gernot muss sich sehr bemühen, 8 Ingrid nicht auf der Stelle in seine Arme zu ziehen und sie mit Küssen zu überhäufen. Er reißt sich zusammen, nicht über seine Gefühle zu ihr zu sprechen, auch wenn es ihm sehr schwer fällt. Aber Ingrid sollte erst mal zur Ruhe kommen. Er sieht Ingrid noch lange nach. Gernot erfährt auf seine Nachfrage hin, dass Roland Heilmann zurzeit Nachtdienst hat und bereits nach Hause gegangen ist. Kurz entschlossen verlässt Gernot die Klinik wieder, setzt sich in sein Auto und fährt zum Haus der Heilmanns. Er muss mehrmals klingeln, bevor Roland ihm die Tür öffnet. „Herr Professor! Sie?“ Roland blickt ihn aus verschlafenen Augen an. „Heilmann, ich muss sie sprechen. Bitte! Es ist sehr wichtig für mich.“ „Dann kommen Sie erst mal rein.“ Roland öffnet die Tür weiter und lässt seinen Chef eintreten. Wenn der ihn zu so früher Stunde zuhause aufsuchte, musste es etwas wirklich Wichtiges sein. „Heilmann, ich bitte Sie, sagen Sie mir die Wahrheit. Wie krank ist Ingrid wirklich?“ Roland stutzt. Die Oberschwester sollte krank sein? Wie kam sein Chef auf diesen abwegigen Gedanken? „Aber…ich verstehe nicht, was Sie meinen, Herr Professor.“ „Ingrid hat mir gesagt, dass…“, Gernot muss schlucken, um weitersprechen zu können, „…Ingrid sagt, sie hat nicht mehr lange zu leben.“ Er sitzt vor Roland auf der Couch und schlägt die Hände vors Gesicht. „Nun sagen Sie schon…“, fordert er Roland auf. In seinen Augen schimmern Tränen. Aber Gernot ist weit entfernt davon, sich für seine Gefühle zu schämen, schließlich geht es hier um Ingrid, um seine Ingrid. „Herr Professor, ich versichere Ihnen, bis auf eine leichte Erschöpfung…“ „Sie brauchen mich nicht zu belügen, Heilmann.“ „Ich schwöre Ihnen, ich lüge nicht. Ich würde Sie nie belügen.“ Gernot atmet tief durch. „Aber wieso?“ Verständnislos blickt er seinen Chefarzt an. „Ich habe Ingrid geraten, keine Doppel- und Extraschichten mehr zu machen. Und dass sie sich ein bisschen Ruhe gönnen soll, wenigstens ab und zu. Mehr war nicht. Deshalb verstehe ich nicht, wie Ingrid auf die Idee kommt, ernsthaft krank zu sein.“ Gernot berichtet Roland davon, was Ingrid gehört hatte. Ratlos sitzen sich Roland und Gernot gegenüber. „Die einzige Möglichkeit, Klarheit zu bekommen, ist ein gründlicher Check-Up.“, sagt Roland und Gernot nickt. Nur so würde Ingrid, würde er, Gewissheit bekommen. Gernot bedankt sich herzlich bei Roland und fährt dann zurück in die Klinik. „Ingrid, kann ich dich bitte kurz sprechen.“ Gernot steht in der Tür des Schwesternzimmers. „Sicher, sofort.“ Ingrid legt die Patientenakte zur Seite und geht zu Gernot hinüber. „Lass uns in den Garten gehen, dort können wir ungestört reden.“ „Gerne.“ Auf dem Weg in den Klinikgarten greift Gernot zaghaft nach Ingrids Hand und nimmt sie in die seine. Ingrid registriert das und lächelt Gernot liebevoll an. Es ist so schön, dass er einfach für sie da ist und sie spüren lässt, dass sie sich auf ihn verlassen kann. „Hat er dir die Wahrheit gesagt?“ Gernot sieht Ingrid prüfend an, sagt aber nichts. „Ingrid, wer hat dir gesagt, dass du bald…sterben musst?“ Diese Worte kommen ihm nur sehr schwer über die Lippen und brechen ihm fast das Herz. „Ich habe dir doch erzählt, was ich gehört habe.“ Nebeneinander gehen sie durch den Klinikgarten, aber die vielen blühenden Blumen nehmen sie gar nicht wahr. „Aber es kann sich unmöglich um deine Untersuchungsergebnisse gehandelt haben, Heilmann hat mir gegenüber nur eine leichte Erschöpfung erwähnt.“ Ingrid blickt Gernot ungläubig in die Augen. „Du glaubst ihm?“ „Ja, Ingrid. Und es gibt nur einen Weg, herauszufinden, ob du so krank bist, wie du glaubst.“ „Ein neuerlicher Check-Up.“, vermutet Ingrid ganz richtig. „Ja, am besten sofort. Wenn es dir recht ist, mache ich die Untersuchungen und Tests selber.“ Ingrid bleibt stehen und lässt Gernots Hand los. Nachdenklich betrachtet sie ihn eine Weile. „Es wäre wirklich schön, wenn…“ Die aufsteigenden Tränen hindern Ingrid am Weitersprechen. Aber Gernot hat auch so verstanden, 9 was sie meint. Tröstend nimmt er sie in die Arme und streichelt ihr beruhigend über den Rücken. „Wollen wir?“, fragt er Ingrid lange Zeit später. Ingrid nickt, lässt es zu, dass Gernot beim Gehen seinen Arm um ihre Schultern legt und geht mit ihm in Richtung Untersuchungsraum fort. Alle notwendigen Test und Untersuchungen hat Gernot nacheinander durchgeführt, Ingrid Blut abgenommen und das Belastungs-EKG ausgewertet. „Ich würde zur Sicherheit gerne noch ein CT machen, Ingrid. Bist du einverstanden?“ Ingrid ist froh, dass Gernot an alles denkt. „Ja, sicher.“ Immer wieder im Laufe der Untersuchungen berührt Gernot sie zärtlich, streicht ihr über den Arm oder übers Haar. Ingrid ist einfach froh, dass sie sich ihm anvertraut hat. Wenn sich wirklich herausstellen sollte, dass ihr nichts Ernsthaftes fehlt, vielleicht hätten sie doch noch die Chance auf ein neues Glück. Ingrid wirft Gernot einen zärtlichen Blick zu, den er aber nicht wahrnehmen kann, da er sich gerade über den Auswertungsstreifen des EKG beugt und wohlwollend nickt. „Alles in Ordnung hier. Siehst Du?“ Er lässt Ingrid einen Blick auf den Auswertungsstreifen werfen. Gernot hatte Recht, sie konnte auch keine Auffälligkeiten erkennen. Nachmittags wertet Gernot die CT-Aufnahmen aus und kann auch hier nichts Verdächtiges feststellen. Das berichtet er Ingrid umgehend, die sich dankbar an ihn lehnt und mit ihrer Hand sanft über seine Brust streicht. „Es wäre nicht gut, wenn du heute abend alleine bist, Ingrid. Ich kenne dich, du würdest nur grübeln. Also werde ich dich um sieben Uhr abholen und mich darum kümmern, dass du auf andere Gedanken kommst.“ Gernots Tonfall duldet keinen Widerspruch, also nickt Ingrid nur. Gerne nimmt sie Gernots Angebot an, sie nach Hause zu fahren. Sie wollte jede Minute, die der liebe Gott ihr noch schenkte, genießen, am liebsten mit Gernot zusammen. Innerlich klammert sich Ingrid wie eine Ertrinkende an den Strohhalm, den Gernot ihr mit den neuerlichen Untersuchungen gereicht hatte. Vielleicht würde sie doch weiterleben? Ein kleiner Hoffnungsschimmer taucht an Ingrids seit Tagen verdunkeltem Himmel auf. Aber so recht daran glauben, dass es nur ein Irrtum war, kann Ingrid doch nicht. Immer wieder schleichen sich dunkle Gedanken in ihr Herz. Morgen will Ingrid das Fotoalbum und den Brief ihrem Notar übergeben. Doch der Brief liegt nicht mehr in ihrem Block. Ingrid hat auch keine Idee, wo sie ihn sonst finden könnte. Verzweifelt suchte Ingrid nach dem Brief. Wo konnte er nur sein? Hoffentlich hatte ihn keiner ihrer Kollegen gefunden und dann vielleicht auch noch gelesen. Nachdem Ingrid ihre ganze Wohnung auf den Kopf gestellt hat, gibt sie erfolglos auf. Der Brief blieb verschwunden. Pünktlich um sieben Uhr erscheint Gernot bei ihr. „Lass uns ein wenig rausfahren. Du musst mal was anderes sehen, Ingrid.“ Er nimmt ihre Hand und zieht sie hinter sich her zu seinem Auto. Nachdem sie ungefähr eine halbe Stunde gefahren sind, hält Gernot den Wagen vor seinem Ferienhaus an. Ingrid blickt ihn fragend an, aber bevor sie etwas sagen kann, beantwortet Gernot ihre unausgesprochene Frage. „Weder in deiner Wohnung noch in meinem Haus könntest du wirklich abschalten. Lass uns den heutigen Abend hier verbringen. Zuerst gehen wir hinunter zum See. Was meinst du?“ „Eine gute Idee.“ Ingrid schiebt ihre Hand vertrauensvoll in Gernots und so gehen sie hinunter zum See. Als Gernot Ingrid anbietet, im Gästezimmer seines Ferienhauses zu übernachten, nimmt Ingrid dankbar an. „Morgen werden die Ergebnisse der Blutuntersuchung da sein, Ingrid. Dann werden wir Gewissheit haben.“ Ingrid blickt ihn verwundert an. „Wir?“ „Glaubst du, es lässt mich kalt, was mit dir ist?“ Gernot bleibt stehen und dreht Ingrid so, dass sie ihm in die Augen sehen muss. Für eine lange Zeit versinken ihre Blicke ineinander. Nach einem gemütlichen Rundgang um den kleinen See kehren Ingrid und Gernot erst im Dunkeln zu Gernots 10 Ferienhaus zurück. Im Wohnzimmer zündet Gernot ein paar große Kerzen an. Er weiß, Kerzenlicht ist Ingrid lieber als elektrisches Licht. Dann setzt er sich Ingrid gegenüber in einen der Sessel. Er würde ihr jetzt endlich beichten müssen, dass er ihren Brief gefunden hatte. Je länger er damit wartete, desto schlimmer würde vielleicht Ingrids Reaktion ausfallen. Er geht hinüber an seine Jacke und nimmt den Brief aus der Innentasche. Zögernden Schrittes geht er auf Ingrid zu, die noch immer im Sessel sitzt und ihn jetzt fragend ansieht. Ich weiß nicht, ob Du mir meinen Vertrauensbruch verzeihen kannst, Ingrid. Aber ich kenne den Inhalt dieses Briefes. Es liegt nun an Dir, zu entscheiden, wie es weitergehen soll.“, hatte Gernot auf einen kleinen Zettel geschrieben, den er mit einer Büroklammer an den Briefumschlag geheftet hat. Gernot reicht Ingrid den Brief. Er geht hinaus auf die Terrasse und blickt in den dunklen Garten. Wie würde Ingrid reagieren? Könnte sie ihm verzeihen, oder wollte sie nichts mehr mit ihm zu tun haben? Während er noch so dasteht und grübelt, hat Ingrid ihre Entscheidung längst getroffen. Was hätte es für einen Sinn, Gernot jetzt fort zu stoßen. In den letzten Tagen war er ihr eine große Hilfe gewesen, der ruhende Pol in ihrem völlig aus den Fugen geratenen Leben. Und eines Tages hätte er sowieso erfahren, was in dem Brief stand. Da machte es für Ingrid keinen Unterschied, dass er jetzt schon über ihre Gefühle für ihn Bescheid wusste. Das würde es ihr leichter machen, zu gehen, falls sie doch nur einer trügerischen Hoffnung nachjagte. Leise kommt sie auf die Terrasse hinaus, tritt neben Gernot und schiebt ihre Hand unter seinen Arm. „Es ist gut so, wie es ist.“, sagt Ingrid leise und legt ihren Kopf an seine Schulter. „Es würde mir sehr viel bedeuten, wenn du mich auf dem letzten Stück meines Weges begleiten würdest, Gernot.“ „Du sollst nicht so reden, Ingrid. Du wirst sehen, es ist ein Irrtum. Es kann gar nicht anders sein.“ Bei diesen Worten legt er sanft seine Arme um Ingrid, hält sie fest und ist einfach für sie da. Ganz so, wie Ingrid es sich immer erträumt hat. „Es tut gut, wenn du mich so festhältst.“, flüstert Ingrid und genießt die Nähe zu Gernot. Doch auch Gernot geht es nicht anders. Allerdings würde er Ingrid nicht gerne nur festhalten, sondern ihr zeigen, was er für sie empfindet. Aber ist dafür jetzt der richtige Zeitpunkt? Gernot weiß es nicht. Doch als Ingrid jetzt ihr Gesicht zu ihm emporhebt, um ihm in die Augen zu sehen, kann Gernot nicht anders und legt seine Lippen auf ihre. Sie versinken in einem nicht enden wollenden zärtlichen Kuss. Lange Zeit bleiben sie nach dem Kuss noch eng umschlungen stehen. Ingrid beginnt in Gernots Armen zu zittern. „Ist dir kalt?“, fragt er fürsorglich. „Ein bisschen.“ „Dann lass uns reingehen, komm.“ Gernot nimmt Ingrid bei der Hand und geht mit ihr ins Haus zurück. Sie sprechen nicht viel, als sie jetzt im Wohnzimmer nebeneinander auf dem Sofa sitzen. Gernot hat Ingrid den Arm um die Schultern gelegt und Ingrids Kopf lehnt an seiner Schulter. Mit ihrer Hand streichelt Ingrid sanft über Gernots Oberschenkel. „Gernot, darf ich dich etwas fragen?“ „Alles, das weißt du doch.“ „Bist du nur hier, weil…, weil…“ Ingrid weiß nicht, wie sie ihre Frage formulieren soll. Doch Gernot hat ihre Gedanken längst erraten. „Ich bin nicht mit dir hier, weil ich Mitleid mit dir habe, Ingrid. Das wolltest du doch gerade fragen, oder?“ Ingrid nickt und blickt verlegen in eine andere Richtung. „Es tut mir leid, Gernot.“ Gernot legt eine Hand unter Ingrids Kinn und dreht ihr Gesicht wieder so, dass er ihr in die Augen sehen kann. „Ich versteh dich schon, Ingrid. Es ist, als würde einem der Boden unter den Füssen weggerissen. Ich habe es dir nie gesagt, aber mir ging es nach meinen zwei Herzinfarkten genauso.“ Ingrid blickt Gernot erstaunt an. Nie hatte er mit ihr darüber gesprochen, was ihm nach seinen schweren Infarkten so durch den Kopf gegangen war. Nur ein einziges Mal, als er nach seinem ersten Infarkt mit ihr in seinem Büro gestanden hatte und sich bei ihr für die gute Pflege bedankte. Da hatte er 11 ihr gesagt, dass er die Zeit, die ihm noch blieb, besser nutzen wollte. Dieser Satz hatte Ingrid in den letzten Tagen oft Mut gemacht, wenn ihre dunklen Gedanken übermächtig wurden. „Ich bin so froh, dass du mich verstehst, Gernot. Es bedeutet mir so viel, dass du als Freund jetzt zu mir hältst.“ Bevor er etwas dazu sagt, küsst Gernot Ingrid so unendlich zärtlich auf den Mund, wie sie es gar nicht von ihm kennt. „Als Freund, Ingrid? Weißt du denn nicht, dass es mir genauso geht wie dir? Ich habe nie aufgehört, dich zu lieben, Ingrid.“ „Gernot…“ Jetzt ist es Ingrid, die ihm den Mund mit einem langen Kuss verschließt. Beide sind in dem Moment, in dem sie sich über ihre Gefühle füreinander völlig im Klaren sind, einfach nur glücklich. Erst später schleichen sich wieder dunkle Gedanken in Ingrids Herz. Warum konnten sie erst jetzt wieder zusammenfinden, wo es fast zu spät ist? Warum hatten sie beide so lang geschwiegen, wenn sie doch noch für den anderen etwas empfanden? Diese Gedanken lassen Ingrid hörbar aufseufzen. „Was ist?“, fragt Gernot besorgt. „Ach, nichts.“ „Ingrid!“ „Ich weiß, dir kann man halt nichts vormachen.“, lächelt sie. „Also, was ist?“, fragt Gernot nochmals. „Es ist so schwer…“ Ingrid beginnt zu weinen. „…nicht zu wissen, wie lange…“ „Ingrid, bitte. Denk nicht darüber nach. Wir sind zusammen, und nur das ist im Moment wichtig, nicht wahr?“ „Ja. Ich bin so froh, dass du heute morgen einfach vor meiner Tür standest. Das hat mir heute schon vieles erleichtert.“ Eng kuschelt sie sich in Gernots Arme und Gernot zieht sie fest an sich heran. Es ist, als klammern sie sich aneinander, um sich nie wieder loszulassen. Es ist schon mitten in der Nacht, als Ingrid sich etwas aus Gernots Armen löst. „Ich möchte mich gerne hinlegen.“ „Aber sicher.“ Gernot steht auf, streckt beide Hände nach Ingrid aus und zieht sie zu sich hoch. Er haucht ihr einen zärtlichen Kuss auf die Lippen. Durch seine Aufmerksamkeiten und Zärtlichkeiten vergisst Ingrid ihre Probleme und Sorgen und gibt sich ganz diesem Glücksgefühl hin, Gernot endlich wieder so nah bei sich zu wissen. Als Gernot sie jetzt nach oben ins Gästezimmer bringt, weiß sie längst, dass sie die kommende Nacht nicht alleine verbringen möchte. „Warte, ich hol dir einen Pyjama.“ Gernot lässt sie kurz allein und geht in sein Schlafzimmer hinüber. Kurz darauf kommt er mit einem seiner Pyjamas in der Hand zurück. „Danke.“ Ingrid nimmt den Pyjama und verschwindet im Bad. Gernot geht derweil nach unten und räumt auf. Ein paar Minuten später kommt Ingrid wieder aus dem Bad heraus, mit Gernots Pyjama bekleidet und verschwindet hinter der angelehnten Zimmertür. Eine Viertelstunde später löscht Gernot im Parterre das Licht und geht langsam die Treppe nach oben. So vieles war heute passiert, er hatte erfahren, dass Ingrid vielleicht todkrank ist, und er hatte erfahren, dass sie ihn noch immer über alles liebte. Er hatte ihr gestanden, dass er dasselbe für sie empfindet und hatte es genossen, Ingrid mit Zärtlichkeiten zu verwöhnen. Er löscht das Licht im Flur und geht in sein Schlafzimmer hinüber. Seine Hand sucht nach dem Lichtschalter, als er ihn gefunden hat, knipst er das Licht an. „Ingrid!“ Ein unbändiges Strahlen liegt auf seinem Gesicht, als er Ingrid auf seinem Bett sitzen sieht. Sie lächelt ihn an und streckt ihm beide Hände entgegen. Mit wenigen Schritten ist er am Bett und setzt sich auf die Bettkante. Er nimmt Ingrids Hände in seine und streichelt sanft mit seinen Daumen über ihre Handrücken. „Bist du dir sicher, dass du dich nicht in der Tür geirrt hast?“, grinst er sie an. Ingrid nickt und blickt lange auf ihre ineinander liegenden Hände. „Gernot, tust du mir einen Gefallen?“ „Jeden, Ingrid. Das weißt du doch.“ „Kannst du mich heute nacht einfach in deinen Armen halten?“ „Klar.“ Gernot steht von der Bettkante auf, verschwindet kurz im Bad und kehrt im Pyjama zu Ingrid zurück. Er legt sich neben Ingrid und streckt die Arme nach ihr aus. „Komm her.“, sagt er zärtlich zu Ingrid. Ganz nah kuschelt sie sich an ihn heran und Gernot legt fest und beschützend seine Arme um die über alles geliebte Frau. In diesem Moment fühlt sie sich bei ihm völlig sicher und geborgen. Nach einem zärtlichen Gute-Nacht- 12 Kuss knipst Gernot die Nachttischlampe aus und bald darauf schlafen sie eng umschlungen ein. Als Ingrid am nächsten Morgen erwacht, hält Gernot sie immer noch in seinen Armen. Er ist schon eine ganze Weile wach. Noch nie hatte er Ingrid eine ganze Nacht lang einfach im Arm gehalten und hatte ihr die Sicherheit gegeben, die sie sich von ihm wünschte. Dieses Gefühl, einfach für sie da sein zu können, machte ihn sehr zufrieden. Als Ingrid sich jetzt in seinen Armen bewegt, zieht er sie näher zu sich heran und gibt ihr einen sanften Kuss auf die Stirn. „Guten Morgen!“, raunt er ihr zärtlich zu. „Guten Morgen!“ Ingrid schenkt ihm ein liebevolles Lächeln. Ohne zu reden, liegen sie noch einige Zeit so beieinander, bis es Zeit ist, zur Klinik zu fahren, wo Ingrid heute vor dem allgemeinen Dienstbeginn bereits einen Termin mit Dr. Heilmann hat. Den Termin hatten sie extra so früh vereinbart, damit Ingrid nicht den neugierigen Fragen verschiedener Kollegen würde entgegentreten müssen. Und Roland Heilmann hatte sowieso Nachtdienst gehabt und war um dieses frühe Stunde deshalb vor Ort. Da Roland noch bei einem Notfall in der Ambulanz ist, geht Gernot mit Ingrid hinaus in den Garten, wo sie sich auf eine Bank setzen. „Ich hol uns mal einen Kaffee, ja?“ „Gerne.“ Gernot merkt, wie unruhig Ingrid ist, legt ihr kurz die Hand auf die Schulter und geht dann zur Cafeteria. Als er wieder in den Garten zurückkommt, sitzt Ingrid vornüber gebeugt auf der Parkbank, hat den Kopf in die Hände gestützt und starrt unentwegt vor sich auf den Boden. Langsam kommt Gernot näher. Ingrid, die Schritte hört, hebt den Kopf etwas. Als sie Gernot erkennt, richtet sie sich auf. „Gernot, ich habe Angst.“ Ingrids Stimme hört sich kraftlos an, als sie ihn anspricht. Es tut Gernot unendlich weh, Ingrid so zu sehen, und wieder krampft sich sein Herz vor Sorge um Ingrid zusammen. Sie wirkt jetzt in ihrer Angst noch schmaler und blasser als in den letzten Tagen. Jetzt steht Gernot dicht vor ihr und er gibt sich Mühe, ruhig zu bleiben, obwohl in seinem Innern totale Unruhe ist. Gernot stellt die Kaffeebecher neben der Bank auf den Boden und setzt sich neben Ingrid. Wortlos nimmt er sie in seine Arme und drückt ihren Kopf an seine Brust. Sanft fährt er mit seiner Hand durch ihr Haar. „Jetzt ist unser Kaffee kalt.“, grinst er lange Zeit später. „Was macht schon kalter Kaffee, wenn du mir so viel Wärme gibst.“ Bei diesen Worten streichelt Ingrid zärtlich über seinen Oberschenkel. In diesem Moment erscheint Roland Heilmann in der Tür zum Garten. „Ich bin soweit.“, ruft er Ingrid und Gernot zu. Ingrid löst sich aus Gernots Umarmung und steht von der Bank auf. Sie sieht zu Gernot, der sitzen geblieben ist. „Lass mich jetzt nicht allein…“, bittet sie leise und streckt ihre Hand nach ihm aus, die er sofort ergreift und ebenfalls aufsteht. Ingrid schaut auf ihre Armbanduhr. „Halb sechs…“, flüstert sie, „…so früh noch und vielleicht doch zu spät.“ Gernot, der Ingrids Worte gehört hat, legt ihr seinen Arm um die Taille. „Komm, Heilmann wartet.“, sagt er mit zitternder Stimme, denn in ihm ist fast genauso viel Angst und Unruhe wie in Ingrid. Arm in Arm gehen sie hinauf in das Büro von Roland Heilmann. Roland wartet bereits auf sie und in seiner Hand hält er einen Umschlag. „Die Ergebnisse, Ingrid.“, lächelt er Ingrid aufmunternd an. Als er gerade den Umschlag öffnen will, wird er zu einem Patienten gerufen. „Hier.“ Er reicht Gernot den Umschlag. „Sagen Sie’s Ihr.“ Schon ist Roland aus seinem Büro hinausgelaufen. Gernot dreht den Umschlag nervös in seiner Hand. „Bitte, sieh nach, Gernot. Ich will wissen, woran ich bin.“ Mit zitternden Händen öffnet Gernot den Umschlag und seine Augen fliegen über die Zeilen. Ein Seufzer entfährt im, als er den Bericht zu Ende gelesen hat. „Ich bin so glücklich, dass ich es sein darf, der dir diese gute Nachricht überbringt, Ingrid.“ Gernot hat Tränen in den Augen, als er jetzt vor Ingrid, die in einem Sessel vor Dr. Heilmanns Schreibtisch sitzt, auf die Knie sinkt. „Gute Nachricht?“ Ingrid sieht ihn fragend an. „Ja, Schatz. Du bist völlig gesund.“ Jetzt übermannt ihn doch die 13 Rührung und er bettet seinen Kopf auf Ingrids Schoß und beginnt, hemmungslos zu weinen. Seine Arme schlingt er fest um Ingrid, ganz so, als wolle er sie nie wieder loslassen. Auch Ingrid weint. Es ist ein erlösendes Weinen, durch das sich, genau wie bei Gernot, die ganze Anspannung der letzten Wochen löst. Während Ingrid unaufhörlich die Tränen über die Wangen laufen, fährt sie mit ihrer Hand durch Gernots Haar. „Nicht mehr weinen, Liebling.“, sagt Ingrid leise, als sie sich etwas beruhigt hat und greift mit den Händen nach Gernots Gesicht. Sie hebt sein verweintes Gesicht zu sich hoch, wischt ihm mit ihren Daumen die Tränen aus dem Gesicht und küsst zärtlich seine Lippen. „Zu einem neuen Leben gehört eine neue Liebe. Willst du diese neue Liebe in meinem neuen Leben sein?“ „Ingrid…“ In Gernots Augen tritt ein unbändig glückliches Strahlen. Er steht auf und zieht Ingrid zu sich hoch. Fest schlingt er seine Arme um Ingrid und bevor er sie jetzt zärtlich küsst, sagt er dicht an ihren Lippen: „Wenn du wüsstest, wie unendlich glücklich du mich machst.“ Endlos scheint dieser Kuss, und als sie sich voneinander lösen, lächelt Ingrid ihn an. „Ich wollte immer schon wissen, wie es ist, wenn du wirklich glücklich bist. Jetzt hast du es mich das erste Mal spüren lassen.“ Gernot weiß, dass er ihr das früher nie gezeigt hat, aber das sollte jetzt, genauso wie alle anderen Fehler, die sie beide damals gemacht haben, endgültig der Vergangenheit angehören. Noch immer halten sie sich im Arm, als jetzt Roland Heilmann wieder in seinem Büro auftaucht. Mittlerweile hat dieser auch herausgefunden, um welche Patientin es sich damals bei dem Gespräch zwischen Kathrin und ihm gehandelt hatte. „Susanne Krämer ist eine alte Klassenkameradin von mir. Sie leidet an einer unheilbaren Immunschwäche. Im Gegensatz zu ihr, Ingrid, können Sie mindestens hundert Jahre alt werden.“, lächelt er Ingrid an. Vor lauter Glück beginnt Ingrid zu weinen. Dr. Heilmann rät ihr, den heutigen Tag freizunehmen, „damit Sie erst mal wieder zu sich selbst zurückfinden können.“ Nach dieser erlösenden Nachricht kehren Ingrid und Gernot in Gernots Ferienhaus zurück. Sie frühstücken ausgiebig, dann räumen sie gemeinsam den Tisch ab und gehen hinaus in den Garten. „Sag mal, musst du denn nicht arbeiten?“, fragt Ingrid einige Zeit später. „Ich nehme mir heute auch frei.“, strahlt Gernot sie an. „Extra für mich?“ „Für dich, für mich, für uns.“ Gernot hebt sie hoch und wirbelt mit Ingrid im Arm um seine eigene Achse. „Und was machen wir jetzt mit unserem freien Tag?“, wendet sie sich mit einem verführerischen Lächeln an Gernot und legt ihm ihre Hand auf die Brust. „Wir könnten doch noch mal ins Bett gehen…, es ist doch noch sooo früh.“, antwortet er grinsend und zieht sie fest in seine Arme. „Nichts lieber als das.“, flüstert Ingrid an seinen Lippen, bevor sie ihm den Mund mit einem fordernden Kuss verschließt. Gernot fühlt plötzlich, wie Ingrids Hände sich daran machen, sein Hemd aus der Hose zu ziehen. Zärtlich lässt Ingrid ihre Hände unter das Hemd gleiten und über seine nackte Haut streichen. Gernot schließt die Augen, um Ingrids Berührung voll auskosten zu können. Als Ingrid dann noch beginnt, mit einer unendlich langsamen Bewegung sein Hemd aufzuknöpfen, reißt Gernot sie in seine Arme und stöhnt: „Du machst mich wahnsinnig.“ Ohne sie loszulassen, zieht er sie mit sich ins Schlafzimmer, wo sie sich eng umschlungen auf das Bett fallen lassen und sich ihrer Leidenschaft hingeben. Verschwitzt und glücklich halten sie sich lange Zeit später in den Armen. Sie bleiben den ganzen Vormittag im Bett. Irgendwann richtet Ingrid sich etwas auf, um Gernot ansehen zu können. Nach einem zärtlichen Kuss auf seine Lippen beginnt sie zu sprechen. „Ich liebe dich noch viel, viel mehr als damals, weißt du das eigentlich?“ „Und wieso?“, will Gernot von ihr wissen. „Weil du so ganz anders bist, als damals. Aufmerksam, fürsorglich und…“ Ingrid sieht ihn lange an und beginnt zu schmunzeln. „Und?“ Gernot wird neugierig. „Na, ja. Früher warst du ganz anders.“ „Anders? Ingrid, nun sag schon.“ „Du bist der zärtlichste Liebhaber, den ich mir nur wünschen kann…“ Sie küsst seine nackte Brust 14 und streicht mit der Hand über die Stelle, wo sein Herz schlägt. „Und deshalb…“, spricht sie weiter, während sie immer wieder seine nackte Haut küsst, „…bin ich nicht dazu bereit, jemals in meinem Leben wieder darauf zu verzichten.“ Tief atmet Gernot ein, als Ingrid jetzt ihre Hände über seinen ganzen Körper gleiten lässt. „Dann kannst du mich ja heiraten, dann bist du diesbezüglich auf jeden Fall auf der sicheren Seite.“, grinst er sie an. „Liebling.“ Ingrid richtet sich auf und sieht ihm erstaunt in die Augen. „Hast du dir das auch wirklich gut überlegt?“, will sie von ihm wissen. „Es heißt doch: In guten wie in schlechten Zeiten. Die schlechten Zeiten liegen hinter uns, und die guten Zeiten möchte ich mit dir gemeinsam erleben, Ingrid. Sagst du ‚ja’?“ „Hmmm...“, macht Ingrid und zieht ihre Augenbraue abschätzend hoch. „…ich weiß ja nicht, ob ich so’n Angebot noch mal kriege. Also sage ich besser ‚ja’.“, lacht sie und küsst Gernot stürmisch. „Ich würde dich gern noch mal spüren lassen, wie es sich anfühlt, wenn ich unendlich glücklich bin.“, spielt Gernot auf Ingrids Bemerkung vom Morgen an, drückt sie sanft zurück in die Kissen und sucht begierig ihre Lippen. Als er sie dann fragend ansieht, schlingt Ingrid die Arme um seinen Hals und zieht ihn zu sich herunter. „Dann tu’s doch.“, ist das letzte, was Gernot zu hören bekommt, bevor sie gemeinsam der unausweichlichen Explosion ihrer Leidenschaft entgegenstreben. Ende. 15