Männliche Identität Gender-Aspekte in der Suchtrehabilitation der Fachklinik Flammersfeld „Die Konstruktion sozialer Geschlechtlichkeit (doing gender) kann den Blick für den Ansatz öffnen, Drogenkonsum weniger als Reaktion auf Problemlagen, sondern als bewusstes, gezielt eingesetztes und damit funktionales Instrument zur Herstellung von Geschlechtsidentitäten zu verstehen – ein Instrument, das zur Bewältigung männlich konnotierter Entwicklungsanforderungen eingesetzt wird. Hier wird nicht das passive Moment, sondern die Aktivität der Person betont. Der Drogenkonsum ist ein traditionelles und hoch besetztes Medium, um Männlichkeiten herzustellen. Drogen – insbesondere der intensive Konsum von Alkohol, Tabak und illegalen Substanzen – bieten Abgrenzungsmöglichkeiten zum weiblichen Drogenkonsum. Vor allem aber setzten sie etwas frei, das zur Herstellung und öffentlichen Äusserung von Männlichkeiten genutzt werden kann: Unverletzlichkeitsphantasien Grössenwahn Intensives Erleben von Gruppe und Dynamik Quantifizierung des (Sich-)Erlebens im ‘Kampf- und Komatrinken’ Trophäensammlung Demonstration und Ausleben von Stärke und Macht (H. Stöver „Gender berücksichtigen in Schule, Freizeit und Erwerbsleben“in: SuchtMagazin, 5/04)) Kriminalität, Dissozialität, Gewalttätigkeit, Mißbrauch und Abhängigkeit von illegalen Drogen sind – statistisch gesehen – fast ausschließlich Männerangelegenheiten. Viele suchtkranke Patienten waren zeitweise inhaftiert, infolge Beschaffungskriminalität oder Verstössen gegen das Betäubungsmittelgesetz. Dies verdeckt allerdings, daß ein großer Anteil der männlichen Patienten schon früh in ihrer persönlichen Entwicklung Schwierigkeiten hatten, sich an von außen gesetzte Verhaltensregeln zu halten. Schon im Kindergartenalter lassen sich häufig Verhaltensstörungen und aggressive Trieb durchbrüche diagnostizieren. Oft tauchen Disziplinprobleme in den ersten Schuljahren der Grundschulen auf, mitunter als Hyperaktivität, ADS, oppositionelles Verhalten oder ähnlich klassifiziert. Beim genauen Nachfragen lassen sich bei vielen Patienten auch schon in diesem Zeitraum erste „Delikte“ eruieren, meist kleinere Diebstähle oder mutprobenartige Einbrüche, auch bewußte Sachbeschädigungen, oft im Kontext, andere Kinder zu beeindrucken. Im Zuge der weiteren Entwicklung häufen sich bei diesen Patienten zunehmend die Probleme mit den außerfamiliären Sozialisationsinstanzen und es erfolgt regelhaft ein früher Anschluß an Banden älterer Jugendlicher. Zigarettenkonsum, Alkoholmißbrauch, erster Konsum illegaler Drogen, frühe Sexualisierung und weitere kriminelle Akte übernehmen dann die Funktion von selbstwertstabilisierenden Attributen in der jugendlichen Peer-Group, mit deren Hilfe nach außen sichtbar gemacht werden soll, daß man trotz mannigfaltiger Probleme kein Versager, sondern ein ernstzunehmender starker Mann ist, demgegenüber andere, insbesondere angepasstere oder schwächere Mitschüler „Respekt“ erweisen müssen, ansonsten droht diesen Gewalttätigkeit. Wir stellen dieses Muster mit individuellen Abweichungen bei mehr als der Hälfte unserer Patienten fest. Hierunter befinden sich nur sehr selten klassisch „neurotisch dissoziale“ Patienten, die ein inneres Konfliktgeschehen symbolisch verkleidet in Szene setzen. Einige wenige, andere Patienten mit ähnlichen Verlaufsmustern sind schon durch familiäres kriminelles Milieu geprägt worden, verhalten sich also ihrer Herkunft entsprechend rollenkonform. Der größte Teil jedoch ist gekennzeichnet durch ich-strukturelle Störungen und Defizite, Ängste und Minderwertigkeitskomplexe, die durch das überzeichnete, holzschnittartige Muster des „coolen Typen“ verborgen werden, mit dissozialem Verhalten abgewehrt werden und durch Suchtmittelmißbrauch vom eigenen Erleben ferngehalten werden. Im familiären Entwicklungshintergrund bei den meisten dieser Patienten existiert mindestens ein psychisch erkranktes oder selbst suchtkrankes Elternteil, meist ein alkoholabhängiger Vater, (seltener die Mutter) der auch gewalttätig, zumindestens aber unberechenbar in den Aktionen und Reaktionen war, welche die frühen Beziehungen gestalteten. Zusätzlich verunsicherten oft Wechsel der primären Bezugspersonen, z.B. nach Scheidung, Fremdunterbringung usw.. Bei den Müttern dieser Patienten ist häufig coabhängiges, wenig begrenzendes Verhalten gegenüber dem jeweiligen Partner prägend, das auch in Wiederholung gegenüber dem suchtkranken Sohn beziehungsgestaltend bleibt. Das Fehlen gesunder, realistischer männlicher Leitbilder im familiären und/oder außerfamiliären Raum (Kindergarten, Grundschule) in den ersten 10 Lebensjahren verunmöglicht eine autonome Korrektur und trägt zur Fixierung der malignen Verhaltensmuster bei, z.B. als Dissoziale Persönlichkeitsstörung u.ä.. Zusammengefasst handelt es sich um ein aus persönlicher Not entstandenes überdauerndes Schema männlicher Identitätsbildung, das sozusagen kristallisiert im Stereotyp des „kriminellen Drogenabhängigen“ die Adoleszenz überdauert, nicht nur infolge der basalen Selbstwertstörung und der Ich-Defizite, der drogenbedingten Reifungshemmung, des ungelösten Autonomie-Abhängigkeitskonfliktes, sondern auch infolge der fehlenden Unterstützung bei der Entwicklung anderer maskuliner Identitätsbestandteile. Dies hat weitreichende Bedeutung für die Therapie drogenabhängiger Männer und erfordert neben der Berücksichtigung im therapeutischen Konzept eine gesonderte Betrachtung der Art und Weise, wie Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen ihre jeweilige Geschlechterrolle im Rahmen ihrer Profession in der medizinischen Rehabilitation Suchtkranker zur Anwendung bringen. Unser primärer Arbeitsauftrag bezieht sich auf die Wiederherstellung der Erwerbsfähigkeit. Vor dem Hintergrund der Handlungsorientierung der betroffenen Patienten zur Stabilisierung ihrer brüchigen Identität erhalten deshalb insbesondere die traditionell männlich besetzte Arbeitstherapie und Sporttherapie eine besondere Bedeutung in ihrer Funktion, ein gesundes Rollenmodell, Identifikation mit befriedigender (Arbeits-) Tätigkeit und Erlernen basaler Kompetenzen über den Modus einer Beziehung nach dem Anlehnungsmodus (sensu Winnicott) zur Verfügung zu stellen. Unser personelles Behandlungsangebot entspricht strukturell eher klassischen Rollenverteilungen. Wir bieten den männlichen Patienten somit eine einfache und bekannte Struktur zum Identitätsaufbau an. Insbesondere ausländische Patienten mit starker patriarchaler Prägung (Türken, Deutschrussen, Italiener) finden hier anfangs Sicherheit und Geborgenheit. Nachdem die Patienten in ihrer unsicheren männlichen Identität per Identifikation eine Art Grundsicherheit gefunden haben, unterstützen wir sie bei der allmählichen Differenzierung hin zu einer modernen und flexiblen Konstruktion von „Gender“, basierend auf einem stabilen maskulinen Identitätsfundament. Dipl.-Psych. Rainer Koch-Möhr Klinikleiter