1. Abstract zum DBL Kongress Juni 04 in Bielefeld Auditives Gedächtnis und die Systematik der Spracherwerbsstörung – Implikationen für Diagnostik und Therapie des Dysgrammatismus Das auditive Gedächtnis gilt bei Spracherwerbsstörungen oder Spezifischer Sprachentwicklungsstörung (SSES) häufig als eingeschränkt (Grimm, 2001). In einigen Tests zur sprachlichen Kompetenz von auffälligen Kindern im Spracherwerb wird die Ermittlung des auditiven Gedächtnisses auf Wort- und Satzebene vorgesehen (z.B. HSET, SETK, PET, vgl. Grimm, 2001). Ziel ist die Bestimmung der altersgemäßen Entwicklung in Bezug auf die Satzlänge und ggf. die Anzahl von erinnerten Items. Diese Ergebnisse werden mit der sprachlichen Entwicklung assoziiert. Der Einbezug des auditiven Gedächtnisses in die Diagnostik gründet sich auf die häufige Begleitsymptomatik der betroffenen Kinder. Solche Resultate haben vermuten lassen, dass auch der Störungsursprung bei SSES im auditiven Gedächtnis zu suchen ist. Studien stützten sich meist auf das phonologische Arbeitsgedächtnis auf Wortebene (vgl. Adams und Gathercole, 2000). Ist das auditive Gedächtnis verantwortlich für die Entwicklung einer SSES, muss es eine Voraussage auf sprachliche Symptome machen können. Das Bild einer z.B. vorwiegend grammatischen SSES muss eindeutig auf Gedächtnisdefizite zurückzuführen sein. Demzufolge können die Symptome nur unsystematisch sein, jeden Bereich der Grammatik betreffen und in jedem Kind einen anderen. Bei der Analyse sprachlicher Symptome ist aber eine Systematik feststellbar, die viele Kinder mit SSES zeigen. Das sind in frühen Phasen Subjekt- und Artikelauslassungen, Verbendstellung, die Markierung von Finitheit, eventuell Kongruenz und in späteren Phasen das flexible Einsetzen von Satzstrukturen wie Objektvoranstellung oder Fragesätze. Nachhaltige Schwierigkeiten können auch im Kasussystem liegen. Erklärungsansätze zur SSES müssen solche systematischen Phänomene voraussagen können. Auditive Gedächtnisdefizite können die spezifische Symptomatik der SSES nicht hinreichend erklären (Van der Lely und Howard, 1993, Hyams und Wexler, 1993). In den meisten Studien wird der Einfluss von sprachlicher Entwicklung auf verbales Arbeitsgedächtnis nicht berücksichtigt. Zwischen beiden besteht eine mindestens wechselseitige Beziehung, wenn nicht eine Dominanz sprachlichen Wissens, das maßgeblich Gedächtnisleistungen beeinflusst (Bishop, 1999, Montgomery, 2000). Die gängigen Testungen lassen daher keine Rückschlüsse auf grammatische Entwicklung zu und können nicht zu einer Ableitung von grammati-schen Therapiezielen beitragen. Studien, in denen Übungen zum auditiven Gedächtnis als Intervention bei SSES genutzt wurden, konnten nicht eindeutig verbesserten Spracherwerb nachweisen (de Jong, 1999, Weinert 2002). Die Ursachenforschung als auch die sprachliche Intervention sind im Bereich der linguistischen Ansätze erfolgsversprechender. Die Systematik sprachlicher Symptome ist Gegenstand vieler Studien (z.B. Hyams und Wexler, 1993; Rice et.al.; 1995, Hamann, Penner und Lindner, 1998) und wird innerhalb der sprachlichen Domäne genauer erfasst. Kinder mit SSES haben daher nicht notwendigerweise ein eingeschränktes auditives Gedächtnis und Kinder mit eingeschränktem auditiven Gedächtnis nicht notwendigerweise eine SSES (Bishop, 1999). Die Konsequenz für die Therapie der Grammatikerwerbsstörung ist die Konzentration auf die sprachliche Symptomatik. Die Ableitung der Therapiehierarchie stützt sich auf Ergebnisse aus Studien, die auf linguistischen Theorien beruhen. Auf dieser Grundlage sind vielversprechende Diagnostikmaterialien (z.B. Kauschke und Siegmüller, 2002) und Therapieansätze entstanden (z.B. Penner und Kölliker-Funk, 1998). Sie sehen vor, nur die sprachlichen Bereiche einzubeziehen und nur solche, in denen die Störung bzw. die Verzögerung des Grammatikerwerbs begründet liegt. Dabei wird davon ausgegangen, dass bestimmte sprachliche Informationen, die zur Entwicklung der zielsprachlichen Grammatik nötig sind, dem Kind bislang verschlossen blieben. In der Therapie können zum Beispiel das Erkennen von obligatorischer Verbfinitheit und die Beweglichkeit von Elementen im Satz (Objektvoranstellung und Fragesatz) die Verbzweitstellung auslösen. Das Erkennen bedeutungsleerer Subjekte wie z.B. das Pronomen ‚es’ zeigen dem Kind, dass ein Satz ein Subjekt haben muss. Diese und andere Resultate aus theoretischen Überlegungen und empirischen Daten legen diagnostische Gegenstände fest und werden zu einer Therapiehierarchie geformt. Damit können zum Einen die nötigen Therapiegegenstände eingegrenzt und zum Anderen die geeigneten sprachlichen Stimuli festlegt werden. Rein rezeptive Therapiemethoden wie der strikt-entwicklungsproximale Ansatz (Penner und Kölliker-Funk, 1998) als auch ‚grammatische Minimalpaare’ (Schlag, 2003) in der Kombination mit ‚Freispiel mit Dachverben’ (Schlag, 2003) fußen auf solchen Ergebnissen. Bei der Diagnostik und Therapie zumindest der Grammatikerwerbsstörung spielt das auditive Gedächtnis keine tragende Rolle. Literatur: Bishop, D. V. M., Carlyon, R., Deeks, J., Bishop, S. (1999). Auditory Temporal Processing Impairment: Neither Necessary nor Sufficient for Causing Language Impairment in Children. Journal of Speech ,Language and Hearing Research, 42, 1295-1310 Adams, A. and Gathercole, S. (2000). Limitations in Working Memory: Implications for Language Development. Int. Journal of Language and Communication Disorders, 35, 1, 95-116 Grimm, H. (2001). Sprachentwicklungstest für drei bis fünfjährige Kinder. Göttingen. Hogrefe. Hamann, C., Penner, Z. and K. Lindner (1998). German Impaired Grammar: The Clause Structure Revisited. Language Acquisition, 7, 2-4, 193-245 Hyams, N. and K. Wexler (1993). On the grammatical basis of Null Subjects in Child Language. Linguistic Inquiry, 24, 3, 421-459 Jong, J. de (1999). Specific Language Impairment in Dutch. Inflectional Morphology and Argument Structure. Groningen Dissertations in Linguistics Kauschke, C. und J. Siegmüller (2002): Patholinguistische Diagnostik bei Sprachentwicklungs-störungen. Urban und Fischer. München, Jena Montgomery, J. (2000). Verbal Working Memory and Sentence Comprehension in Children with Specific Language Impairment. Journal of Speech, Language and Hearing Research, 43, 293-308 Penner, Z. und M. Kölliker-Funk (1998). Therapie und Diagnose von Grammatikerwerbsstörungen. Ein Arbeitsbuch. Luzern: Edition SZH Rice, M.; Wexler, K. and Cleave, P. (1995). Specific Language Impairment as a Period of Extended Optional Infinitive. Journal of Speech and Hearing Research, 38, 850-863 Schlag, E. (2003). Dysgrammatismus - Ursachen, Diagnostik und Therapie auf der Grundlage linguistischer Forschung (Seminarskript) Van der Lely, H. and D. Howard (1993). Children with Specific Language Impairment: Linguistic Impairment or Short-Term Memory Deficit?. Journal of Speech and Hearing Research, 36, 1193 – 1207 Weinert, S. (2002). Therapie bei Sprachentwicklungsstörungen: Forschung und Praxis. In: W. von Suchodoletz (Hrsg.). Therapie von Sprachentwicklungsstörungen. Anspruch und Realität. W. Kohlhammer. Stuttgart