Dieser Aufsatz will aufzeigen, daß familiäre Gewalt- und Mißachtungserfahrungen zu den wichtigsten Ursachen der Gewalttätigkeit von Kindern und Jugendlichen gehören. Weil diese Erfahrungen in allen Lebensbereichen von Kindern ihre Wirkungen entfalten und ihre nachhaltigen Folgen bis in die Jugendphase hineinreichen, müssen sie gerade bei der Gewaltprävention im Grundschulalter eine besondere Berücksichtigung erhalten. Der die These von der Existenz eines Kreislaufs der Gewalt erläuternde und weiterführende Aufsatz ist in folgende Punkte gegliedert: 1 Zahlen zum Ausmaß der familiären Gewalt 2 Zum Kreislauf der Gewalt 3 Ohnmachtserfahrungen und ihre Folgen 4 Mißachtungserfahrungen und ihre Folgen 5 Fazit 1 Zahlen zum Ausmaß der familiären Gewalt Die Familie ist nicht nur der soziale Ort, in dem Biographien ihre Anfänge haben, sondern, folgt man der Gewaltkommission der deutschen Bundesregierung , auch eine Institution, die in besonderer Weise durch gewaltsame Interaktionen belastet ist. In ihrem Endgutachten gelangt die Kommission zu dem Befund, daß Gewalt in der Familie „die verbreitetste Form von Gewalt“ ist. Die Unterkommission Soziologie wiederum spricht in ihrem Erstgutachten von einem „strukturell angelegten Gewaltpotential in Familien“. Schwind, Hans-Dieter/Jürgen Baumann u.a. (Hg.): Ursachen, Prävention und Kontrolle von Gewalt. Analysen und Vorschläge der Unabhängigen Regierungskommission zur Verhinderung und Bekämpfung von Gewalt. Bd. I: Endgutachten und Zwischengutachten der Arbeitsgruppen; Bd. II: Erstgutachten der Unterkommissionen; Bd. III: Sondergutachten (Auslandsgutachten, Inlandsgutachten); Bd. IV: Politische Gewalt und Repression. Ergebnisse von Bevölkerungsumfragen. Berlin 1990. Schwind, Hans-Dieter/Jürgen Baumann/Ursula Schneider/Manfred Winter unter Mitarbeit aller Kommissionsmitglieder: Gewalt in der Bundesrepublik Deutschland. Endgutachten der Unabhängigen Regierungskommission zur Verhinderung und Bekämpfung von Gewalt, a.a.O., Bd. I, S. 1-285, hier S. 75; Hervorh. im Orig. Siehe Eckert, Roland/Max Kaase/Friedhelm Neidhardt (unter Mitarbeit von Helmut Willems): Ursachen, Dieses ergebe sich aus dem konflikthaften Zusammenleben verschiedener Geschlechter und Generationen, der Emotionalität familiärer Beziehungen, der Normalität intimer Körperkontakte in der Familie und dem daraus resultierenden Fehlen des – in distanzierteren sozialen Beziehungen bestehenden – Berührungstabus bei eskalierenden Konflikten. Als eine weitere Besonderheit, welche die Familie strukturell zu einem für Gewalttaten anfälligen Lebensraum und zu einem Ort dauerhafter Gewaltzusammenhänge machen kann, nennen die Autoren des soziologischen Erstgutachtens den Umstand, daß der Abbruch der familiären Beziehungen für die jeweiligen Opfer eine in mehrfacher Hinsicht schwierige und problematische Handlungsoption darstellt. Schließlich weisen sie darauf hin, daß die Eigendynamik eskalierender Konflikte in der Familie aufgrund ihres Rechts auf Privatheit nur schwer durch Intervention von außen gestoppt werden kann. Die Prävalenzraten familiärer Gewalt, auf die ich nun einen kursorischen Blick werfen werde, scheinen der These eines strukturell angelegten Gewaltpotentials in der Familie entgegenzukommen. Die erste umfassende Dunkelfelduntersuchung über das Ausmaß familiärer Gewaltanwendung wurde von Murray A. Straus, Richard J. Gelles und Suzanne K. Steinmetz 1976 in den USA durchgeführt. Die Untersuchung, die auf einer Zufallsstichprobe von über 2000 Familien beruhte, bezog sich auf fast alle Formen familiärer Gewalt. Sie umfaßte die ganze Bandbreite der Gewaltphänomene auf der vertikalen Ebene, d.h. alle Schweregrade von Gewalthandlungen. Auf der horizontalen Ebene, d.h. bezogen auf die jeweils beteiligten Personen, umfaßte sie mit Ausnahme der Gewalt gegen ältere Familienangehörige ebenfalls sämtliche Formen familiärer Gewalt (Partnergewalt, Eltern-Kind-Gewalt, Geschwistergewalt und Kind-Eltern-Gewalt). Das Ergebnis der Untersuchung zeigte durchwegs hohe Prävalenzraten, wobei die höchsten bei der Eltern-Kind-Gewalt und bei der Geschwistergewalt auftraten: 73% der befragten Eltern gaben an, schon einmal körperliche Gewalt in irgendeiner Form gegen ihre Kinder eingesetzt zu haben. Freilich wurden die Raten mit steigender Intensität der elterlichen Gewaltanwendung niedriger, aber es waren immer noch 20% der Eltern, die ihre Kinder mit Gegenständen geschlagen hatten; fast 3% der Eltern hatten ihre Kinder mit einem Messer oder einer Schußwaffe bedroht und ebenso viele hatten Gebrauch von diesen Waffen gemacht. Bei der Geschwistergewalt waren die Prävalenzraten noch höher als bei der Eltern-Kind-Gewalt. Prävention und Kontrolle von Gewalt aus soziologischer Sicht, a.a.O., Bd. II, S. 293-414, hier S. 394 f. Straus, Murray A./Richard J. Gelles/Suzanne K. Steinmetz: Behind Closed Doors. Violence in the American Family. Garden City, N.Y. 1980. Einen guten Überblick über die Entstehung, die empirischen Ergebnisse und die theoretische Entwicklung der Erforschung der family violence in den USA bis 1989 bietet Schneider, Hans-Joachim: Zusammenfassende Darstellung und kritische Auswertung der Arbeit der „National Commission on the Causes and Prevention of Violence“ (USA) und Untersuchung über die weitere Entwicklung und Auswirkungen der Arbeit der U.S. Violence Commission (Sondergutachten), in: Schwind, Hans-Dieter/Jürgen Baumann u.a. (Hg.), a.a.O., Bd. III, S. 155-292, hier bes. S. 258-275. Vgl. Straus, Murray A./Richard J. Gelles/Suzanne K. Steinmetz, a.a.O., S. 60 f. Von den Kindern mit Geschwistern hatten allein 1975, dem Jahr vor der Untersuchung, 82% ihre Geschwister gewaltsam angegriffen. 40% hatten ihre Geschwister in diesem Jahr mit Gegenständen geschlagen und 16% schwer verprügelt; 4,7% hatten zu irgendeinem Zeitpunkt während eines Konflikts mit den Geschwistern ein Messer oder eine Schußwaffe benutzt. Die im Jahre 1985 von derselben Forschergruppe durchgeführte Folgeuntersuchung ergab bei einzelnen Gewaltformen leichte, insgesamt jedoch nicht signifikante Rückgänge der Zahlen. Bei der Frage nach den Prävalenzraten familiärer Gewalt war man in Deutschland aufgrund des Fehlens einschlägiger Dunkelfelduntersuchungen lange auf Schätzungen von anfechtbarem Wert und auf regionale behördliche Zählungen angewiesen, deren Übertragbarkeit auf das gesamte Bundesgebiet skeptisch eingeschätzt werden mußte. Während zu den bekannt gewordenen Gewalttaten unter den (Ehe-)Partnern gar keine systematischen behördlichen Zählungen existieren, enthält die Polizeiliche Kriminalstatistik immerhin quantitative Angaben zum Delikt der Kindesmißhandlung; aber diese statistischen Zahlen können naturgemäß nur über das Hellfeld Auskunft geben, was ihre Aussagekraft aufgrund des erheblichen Dunkelfeldes entscheidend schmälert. Neuere empirische Untersuchungen zur Eltern-Kind-Gewalt, die nicht dem Problem unterliegen, nur aktenkundig gewordene Fälle zu erfassen, treffen sich in der Einschätzung, daß in Deutschland etwa 70% der Kinder im Lauf ihrer familiären Sozialisation Erfahrungen mit zumindest leichteren Formen der Gewaltausübung durch ihre Eltern machen. Die mittlerweile vorliegende Querschnittuntersuchung von Peter Wetzels , die am Kriminologischen Forschungsinstitut Niedersachsen durchgeführt wurde, bietet verläßliche Ergebnisse zur Prävalenz körperlicher Gewalt der Eltern gegen ihre Kinder. Vgl. a.a.O., S. 81 f. Siehe Straus, Murray A./Richard J. Gelles: Societal Change in Family Violence from 1975 to 1985 As Revealed by Two National Surveys, in: Journal of Marriage and the Family, Vol. 48 (1986), S. 465-479; Gelles, Richard J./Murray A. Straus: Is Violence Toward Children Increasing? A Comparison of 1975 and 1985 National Survey Rates, in: Gelles, Richard J.: Family Violence. Newbury Park, Calif./Beverly Hills u.a. 21987, S. 78-88; Gelles, Richard J.: Family Violence, in: Annual Review of Sociology, Vol. 11 (1985), S. 347-367. Dazu siehe Lösel, Friedrich/Herbert Selg/Ursula Schneider (unter Mitarbeit von Elisabeth Müller-Luckmann): Ursachen, Prävention und Kontrolle von Gewalt aus psychologischer Sicht, a.a.O., Bd. II, S. 1-156, hier S. 94-97 sowie Schneider, Ursula: Gewalt in der Familie (Sondergutachten), a.a.O., Bd. III, S. 503-573, hier S. 510-518. Darauf, daß allerdings auch die Dunkelfeldforschung nicht alle Mängel von Schätzungen beseitigen kann, hat Michael-Sebastian Honig nachdrücklich hingewiesen. Siehe Honig, Michael-Sebastian: Verhäuslichte Gewalt: Sozialer Konflikt, wissenschaftliche Konstrukte, Alltagswissen, Handlungssituationen. Eine Explorativstudie über Gewalthandeln von Familien. Frankfurt a.M. 1986, bes. S. 33-41. Vgl. dazu die zusammenfassenden Bemerkungen und Literaturhinweise bei Böttger, Andreas: Gewalt und Biographie. Eine qualitative Analyse rekonstruierter Lebensgeschichten von 100 Jugendlichen. BadenBaden 1998, S. 65. Wetzels, Peter: Gewalterfahrungen in der Kindheit. Sexueller Mißbrauch, körperliche Mißhandlung und deren langfristige Konsequenzen. Baden-Baden 1997. Die Untersuchung, die Teil einer umfassenden Studie zu Viktimisierung durch kriminelle Delikte ist, basiert auf retrospektiven Daten, die nach der mündlichen Befragung einer repräsentativen Zufallsstichprobe der Allgemeinbevölkerung durch eine zusätzliche schriftliche Befragung eines Teils dieser Stichprobe erhoben wurden. Die schriftliche Befragung zielte auf die Erfassung von innerfamiliären Gewalterfahrungen in der Kindheit und im Erwachsenenalter sowie von Vorkommnissen des sexuellen Mißbrauchs. Wetzels’ Untersuchung kommt hinsichtlich der Erfahrungen von Kindern mit körperlicher Erziehungsgewalt durch die Eltern, die er wiederum in „körperliche Züchtigung“ und „körperliche Mißhandlung“ unterscheidet, zu folgenden Ergebnissen (N=3248 Befragte): Insgesamt geben 74,9% der Befragten an, in ihrer Kindheit körperliche Gewalthandlungen seitens der Eltern erlebt zu haben. Darunter finden sich n=350 Befragte (10,6% der Stichprobe), die Opfer elterlicher Mißhandlungen wurden. (...) 38,4% wurden häufiger als selten [d.h. manchmal, häufig oder sehr häufig, F.S.] körperlich gezüchtigt, Mißhandlungen erlebten 4,7% häufiger als selten. Von den n=350 Befragten, die über elterliche körperliche Mißhandlungen berichten, geben bis auf n=13 alle übrigen zusätzlich auch an, von ihren Eltern körperlich gezüchtigt worden zu sein. (...) Offenbar ist also die Mißhandlung von Kindern in der überwiegenden Mehrzahl der Fälle kein ,einmaliger Ausrutscher‘ einer ansonsten gewaltfreien oder im Durchschnittsbereich der Häufigkeit von Körperstrafen liegenden Erziehung, sondern zumeist eingebettet in ein elterliches Erziehungsverhalten, in welchem auch Körperstrafen unterhalb der Schwelle der Mißhandlungen in höherer Frequenz vorkommen. Wetzels’ Vergleich der Prävalenzraten zwischen verschiedenen Alterskohorten spricht für einen Rückgang elterlicher Gewalt; die Raten der schweren Mißhandlungsfälle unterscheiden sich zwischen den jüngeren und den älteren Alterskohorten jedoch nicht signifikant. Da die einschlägige Forschung gezeigt hat, daß die kindliche Zeugenschaft von Gewalthandlungen zwischen den Eltern sowohl in ihrem unmittelbaren Erfahrungsgehalt als auch in ihren langfristigen Folgen mit der direkten Viktimisierung durch elterliche Gewalt vergleichbar ist , kommt auch der Prävalenz der Konfrontation mit elterlicher Partnergewalt eine besondere Relevanz zu. A.a.O., S. 146. Der Vergleich zwischen den neuen und den alten Bundesländern erbrachte mit 80,7% gegenüber 72,9%, die insgesamt angaben, körperliche Elterngewalt erlebt zu haben, eine signifikant niedrigere Rate in den alten Bundesländern. Während jedoch die körperliche Züchtigung für die höhere Rate der körperlichen Elterngewalt insgesamt in den neuen Bundesländern verantwortlich ist, zeigt sich bei der körperlichen Mißhandlung durch die Eltern in den alten Bundesländern mit 12,0% ein gegenüber den neuen Bundesländern mit 7,1% eine signifikant höhere Rate. Vgl. a.a.O., S. 146 f. Vgl. a.a.O., S. 151 f. Siehe Rosenbaum, Alan/K. Daniel O’Leary: Children: The Unintended Victims of Marital Violence, in: American Journal of Orthopsychiatry, Vol. 51 (1981), S. 692-699; Pfouts, Jane H./Janice H. Schopler/H. Carl Henley jr.: Deviant Behaviors of Child Victims and Bystanders in Violent Families, in: Hunner, Robert J./Yvonne E. Walker (Hg.): Exploring the Relationship Between Child Abuse and Delinquency. Montclair, N.J. 1981, S. 79-99; Jaffe, Peter G./David A. Wolfe/Susan Kaye Wilson: Children of Battered Women. Newbury Park, Calif./London/New Delhi 1990, bes. Kap. 2 und 3, S. 32-75; Osofsky, Joy D.: The Effects of Exposure to Violence on Young Children, in: American Psychologist, Vol. 50 (1995), S. 782-788. Wetzels gelangt diesbezüglich zu dem Befund, daß insgesamt 22,7% der Befragten im Laufe ihrer Kindheit physische Gewalt eines Elternteils gegenüber dem anderen miterlebt haben; bei 8,9% der Probanden war dies häufiger als selten der Fall. Die Gewalt zwischen Geschwistern fand in Wetzels’ Untersuchung wie auch die Gewalt der jugendlichen oder heranwachsenden Kinder gegenüber ihren Eltern keine Berücksichtigung. Auf der Basis der Prävalenzraten der beiden jüngsten Alterskohorten (16-20 und 21-29 Jahre) kommt Wetzels zu folgendem Resultat: Legt man für eine konservative Schätzung der Opferzahlen in der Grundgesamtheit die untere Grenze des Konfidenzintervalls zugrunde, so ist davon auszugehen, daß ungefähr 1/3 der Bevölkerung dieser Altersgruppe häufiger als selten körperliche Gewalt seitens der Eltern erlebt hat. Etwa 8% haben körperliche Mißhandlungen erlebt, darunter ca. 3%, die häufiger als selten betroffen waren. (...) Bei einer Bevölkerungszahl dieser Altersgruppe im Jahr 1996 von 15,36 Millionen (vgl. Statistisches Jahrbuch 1996, S. 63) haben demnach 1,28 Millionen der heutigen Generation der jungen Erwachsenen und Jugendlichen die Erfahrung gemacht, von ihren Eltern körperlich mißhandelt worden zu sein; darunter sind ca. 420.000, die das häufiger als selten erlebt haben. Die vorstehenden Ergebnisse der Forschung zur Gewalt in der Familie gewinnen ihre besondere Brisanz auch dem vielfach bestätigten Umstand, daß Gewalt neue Gewalt erzeugt. Darin besteht der Kern des von Suzanne K. Steinmetz geprägten Begriffs eines Kreislaufs der Gewalt. Siehe Wetzels, a.a.O., S. 165. Hinsichtlich der Konfrontation mit Gewalt zwischen den Eltern kommt Wetzels in den neuen Bundesländern zu niedrigeren Raten als in den alten Bundesländern. Die deutlichsten Unterschiede zeigen sich jedoch in der Struktur der Herkunftsfamilien: Am niedrigsten ist die Rate der Zeugen elterlicher Partnergewalt bei Personen, die hauptsächlich von beiden leiblichen Eltern erzogen wurden. Besonders hohe Raten finden sich bei denen, die hauptsächlich beim Vater oder in einer neu gebildeten Familie mit einem Stiefelternteil aufgewachsen sind; bei den Befragten, die diesen Gruppen zuzuordnen sind, fanden sich insgesamt 45%, die davon berichteten, Zeugen der Partnergewalt geworden zu sein. Wetzels’ Vergleich der Alterskohorten zur Analyse möglicher historischer Veränderungen erbrachte keine signifikanten Unterschiede der Prävalenzraten der Konfrontation mit elterlicher Partnergewalt. Dazu vgl. a.a.O., S. 166-170. A.a.O., S. 153. Steinmetz, Suzanne K.: The Cycle of Violence. Assertive, Aggressive, and Abusive Family Interaction. New York/London 1977. 2 Zum Kreislauf der Gewalt Zu den gesicherten Ergebnissen empirischer Forschung gehört es, daß in ihrer Herkunftsfamilie durch Gewalt viktimisierte Kinder in späteren Lebensphasen eine besonders hohe Neigung zur Gewalttätigkeit zeigen. Dieser Zusammenhang wurde in der breit gefächerten Literatur zum Kreislauf der Gewalt mit Bezug auf zwei Kontexte mehrfach aufgewiesen. Der erste Kontext betrifft die intergenerationale Übertragung gewalttätigen Handelns von der Herkunftsfamilie in die später gegründete eigene Familie. In den verschiedenen empirischen Untersuchungen stellte sich übereinstimmend heraus, daß Kinder, die von ihren Eltern geschlagen und mißhandelt wurden, als Erwachsene in deutlich überhöhtem Maße selbst gewalttätige Ehepartner und Eltern sind. Der zweite Kontext, in dem die empirischen Evidenzen zur Diagnose eines Kreislaufs der Gewalt führten, betrifft den Nexus zwischen Kindesmißhandlung und außerfamiliärer Gewaltkriminalität im Jugendund Erwachsenenalter. Zu der Frage, ob Gewalt in der Jugendphase zu den Langzeitfolgen familiärer Opfererfahrungen gehört, existiert zwar keine so umfangreiche Literatur wie zur intergenerationalen Weitergabe der Gewalt in der Familie, aber die Untersuchungen, die sich der Frage gewidmet haben, sprechen eine deutliche Sprache. Diese vornehmlich quantitativ ausgerichteten Untersuchungen konvergieren in dem Ergebnis, daß Jugendliche, die im Lauf ihrer Sozialisation Opfer elterlicher Gewalt wurden, eine weit überproportionale Neigung zur Gewaltkriminalität aufweisen - insbesondere dann, wenn die elterliche Gewalt die Form schwerer und wiederholter Mißhandlungen annahm. Vgl. dazu vor allem Kempe, C. Henry/Frederic N. Silverman/Brandt F. Steele/William Droegemueller/Henry K. Silver: The Battered-Child Syndrome, in: Journal of the American Medical Association, Vol. 181 (1962), S. 17-24; Silver, Larry B./Christina C. Dublin/Reginald S. Lourie: Does Violence Breed Violence? Contributions from a Study of Child Abuse Syndrome, in: American Journal of Psychiatry, Vol. 126 (1969), S. 404-407; Steinmetz, Suzanne K.: The Cycle of Violence. Assertive, Aggressive, and Abusive Family Interaction. New York/London 1977, bes. Kap. 7, S. 98-119; Straus, Murray A./Richard J. Gelles/Suzanne K. Steinmetz: Behind Closed Doors. Violence in the American Family. Garden City, N.Y. 1980, bes. S. 99 ff; Herrenkohl, Ellen C./Roy C. Herrenkohl/Lori J. Toedter: Perspectives on the Intergenerational Transmission of Abuse, in: Finkelhor, David/Richard J. Gelles/Gerald T. Hotaling/Murray A. Straus (Hg.): The Dark Side of Families. Current Family Violence Research. Newbury Park, Calif./London/New Delhi 1983, S. 305-316. Weitere Bestätigung fand die These der intergenerationalen Weitergabe der Gewalt zuletzt auch bei Wetzels, Peter 1997, a.a.O., S. 227-232. Joan Kaufman und Edward Zigler haben allerdings darauf hingewiesen, daß mißhandelt worden zu sein keineswegs unausweichlich dazu führen muß, jemand zu werden, der seine eigenen Kinder wieder mißhandelt. Man müsse, so ihr empirisch informiertes Argument, eine Vielzahl von kompensatorischen und Risikofaktoren berücksichtigen, um die Bedingungen angeben zu können, unter denen eine intergenerationale Übertragung des Kindesmißbrauchs wahrscheinlich ist. Siehe Kaufman, Joan/Edward Zigler: The Intergenerational Transmission of Child Abuse, in: Cicchetti, Dante/Vicki Carlson (Hg.): Child Maltreatment: Theory and Research on the Causes and Consequences of Child Abuse and Neglect. Cambridge/New York u.a. 1989, S. 129-150; vgl. dazu auch Schneider, Ursula: Gewalt in der Familie, in: Gruppendynamik, Jg. 26 (1995), S. 41-62, bes. S. 48 f. Eine differenzierte und kritische Diskussion zum Kreislauf der Gewalt insgesamt findet sich bei Widom, Cathy Spatz: The Cycle of Violence, in: Science, Vol. 244 (1989), S. 160-166. Es ist zwar keineswegs so, daß innerfamiliäre Gewalterfahrungen in der Kindheit ausnahmslos zu Gewalt in der Jugendphase führen, aber der umgekehrte Zusammenhang ist von überwältigender empirischer Evidenz: Jugendliche und junge Erwachsene, die andere mißhandeln, waren häufig bereits sehr früh Opfer von Gewalt. Bei aller Übereinstimmung über die statistischen Zusammenhänge, welche die Rede von einem Kreislauf der Gewalt begründen, blieb jedoch die Frage weitgehend ungelöst, wie es zu einer Übertragung von Viktimisierungserfahrungen in der Kindheit in spätere familiäre und außerfamiliäre Lebenszusammenhänge kommt bzw. wie aus Opfern Täter werden. Wenn man nun wissen will, warum und wie aus Kindern, die in der Familie geschlagen wurden, im Jugendalter Gewalttäter werden, reichen statistische Zusammenhänge nicht mehr aus; man muß wissen, • wie sie die familiäre Gewalt erlebt haben (Frage nach der subjektiven Erfahrung), und • wie sich die Gewalt von der Familie in jugendliche Lebensräume hinein überträgt (Frage nach dem Gewalttransfer). Bei der Beantwortung dieser Fragen stütze ich mich auf meine eigene Untersuchung mit dem Titel Gewalterfahrungen und Gewaltkarrieren. Elemente einer empirisch fundierten Theorie der Jugendgewalt. Diese Untersuchung beruht auf qualitativen Intensivinterviews mit 18 Berliner Jugendlichen unterschiedlicher ethnischer Herkunft und Gruppenzugehörigkeit, die zum Großteil mehrfach und in schwerwiegender Weise gewalttätig geworden sind. Sie führte zu dem Ergebnis, daß die Jugendlichen mit einer „Gewaltkarriere“ fast ausnahmslos über einen längeren Zeitraum hinweg und oft schon in frühen Phasen ihrer Sozialisation Opfer der Gewalt waren (wobei die Täter die Väter, die Mütter und/oder die Geschwister sein konnten). Siehe Alfaro, José D.: Report on the Relationship Between Child Abuse and Neglect and Later Socially Deviant Behavior, in: Hunner, Robert J./Yvonne E. Walker (Hg.): Exploring the Relationship Between Child Abuse and Delinquency. Montclair, N.J. 1981, S. 175-219; Mouzakitis, Chris M.: An Inquiry into the Problem of Child Abuse and Juvenile Delinquency, a.a.O., S. 220-232; Lewis, Dorothy Otnow/Catherine Mallouh/Victoria Webb: Child Abuse, Delinquency, and Violent Criminality, in: Cicchetti, Dante/Vicki Carlson (Hg.): Child Maltreatment: Theory and Research on the Causes and Consequences of Child Abuse and Neglect. Cambridge/New York u.a. 1989, S. 707-721; Pfeiffer, Christian/Ingo Delzer/Dirk Enzmann/ Peter Wetzels: Ausgrenzung, Gewalt und Kriminalität im Leben junger Menschen. Kinder und Jugendliche als Opfer und Täter. Sonderdruck des DVJJ-Journals zum 24. Deutschen Jugendgerichtstag vom 18.-22. September 1998 in Hamburg. Hannover 31999, bes. S. 87-103; Pfeiffer, Christian/Peter Wetzels: Kinder als Täter und Opfer. Eine Analyse auf der Basis der PKS und einer repräsentativen Opferbefragung. KFNForschungsberichte Nr. 68. Hannover 1997, bes. S. 34-38; Pfeiffer, Christian/Peter Wetzels: Zur Struktur und Entwicklung der Jugendgewalt in Deutschland. Ein Thesenpapier auf Basis aktueller Forschungsbefunde, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, B 26/1999, S. 3-22, hier S. 11 f. Vgl. dazu Lewis, Dorothy Otnow/Catherine Mallouh/Victoria Webb, a.a.O., bes. S. 708. Erscheint im ersten Quartal 2002. Vgl. auch Sutterlüty, Ferdinand: Wie werden Jugendliche zu Gewalttätern? Theoretische Perspektiven und ein Fallbeispiel, in: Koehler, Jan/Sonja Heyer (Hg.): Anthropologie der Gewalt. Chancen und Grenzen der sozialwissenschaftlichen Forschung. Berlin 1998, S. 27-47. Weiterhin zeigte sich, daß Gewalt in der Familie typischerweise mit massiven Erfahrungen der Ohnmacht verbunden ist, sofern es keine Bezugspersonen gibt, die wirksamen Schutz bieten können und als Anwälte der betroffenen Kinder und Jugendlichen auftreten. Und schließlich gelangen die Analysen des empirischen Materials zu dem Ergebnis, daß in diesen meist weit in die Kindheit zurückreichenden Erfahrungen die späteren gewalttätigen Neigungen der davon betroffenen Kinder bereits grundgelegt sind. Dies möchte ich im nächsten Abschnitt näher erläutern. 3 Ohnmachtserfahrungen und ihre Folgen Wenn die befragten Jugendlichen in ihrer Kindheit Opfer von elterlicher oder geschwisterlicher Gewalt wurden, dann ging dies ihren Erzählungen zufolge regelmäßig mit Gefühlen des physischen Ausgeliefertseins, der Wehrlosigkeit und der Handlungsunfähigkeit einher. Ähnlich verhält es sich in jenen Fällen, bei denen eine Bezugsperson, meist die Mutter oder ein Geschwister, Opfer der innerfamiliären Gewalt wurde und die befragten Jugendlichen sich als hilflose Zeugen erlebten. Auf solche Erlebnisse, die sowohl mit der direkten als auch mit der indirekten Viktimisierung verbunden sein können, stellt der Begriff der Ohnmachtserfahrungen ab, der sich wiederum in drei Komponenten gliedern läßt. Erstens ist da die physische Wehrlosigkeit. Sie äußert sich bei der direkten Viktimisierung darin, daß die Kinder sich dem Täter ohnmächtig ausgeliefert sehen, besonders dann, wenn es niemanden gibt, der sie wirksam schützt. Die physische Wehrlosigkeit wird dadurch verstärkt, daß die Täter in ihrem strafenden und mißhandelnden Verhalten oft unberechenbar sind oder die Opfer die wiederkehrenden Situationen, in denen sie geschlagen werden, nur in begrenztem Maße steuern können. Die Ausweglosigkeit führt dann dazu, daß sich die Kinder ihrer ohnmächtigen Lage anpassen; dies kann so weit gehen, daß Kinder, die sich in der ohnmächtigen Position des Gewaltopfers befinden, schließlich glauben, es verdient zu haben, geschlagen zu werden. Sie übernehmen die Perspektive des familiären Täters und schließen in ihrer kindlichen Logik von den Schlägen auf ihre eigene Schlechtigkeit und Strafwürdigkeit. Die Anpassung kann auch darin bestehen, sich an die Schläge zu gewöhnen und eine gewisse Indolenz, d.h. eine Unempfindlichkeit gegenüber körperlichen Schmerzen zu entwickeln und diese zum Ideal zu erheben. Bei der indirekten Viktimisierung hängt die physische Wehrlosigkeit mit der Unfähigkeit zusammen, aufgrund der körperlichen Unterlegenheit gegenüber dem Täter die geliebte Person, die Opfer der Gewalt wird, nicht schützen zu können und dem Geschehen ohnmächtig zusehen zu müssen. Diese Handlungsunfähigkeit gegenüber dem Täter führt zweitens zu Angstzuständen, die aus der Erwartung geboren sind, wieder geschlagen zu werden bzw. wieder der Mißhandlung eines anderen Familienmitglieds beiwohnen zu müssen. Die Angst vor weiterer Gewalt verlängert die Ohnmacht weit über die Situationen der unmittelbaren Gewaltanwendung hinaus. Die Kinder verinnerlichen ihre ohnmächtige Lage, die weite Teile ihres Sinnens und Trachtens in Beschlag nimmt und zu einem ängstlichen Vermeidungsverhalten führt: Sie haben Angst, mit einer schlechten Note nach Hause zu kommen, weil sie erwarten, dafür wieder geschlagen zu werden; sie verleben durchwachte Nächte aus Angst davor, daß der betrunkene Vater nach Hause kommt und die Mutter wieder schlägt; sie vermeiden den Kontakt mit dem gefürchteten Elternteil, usw. Drittens haben Ohnmachtserfahrungen die Komponente einer moralischen Verletzung, die besonders die Zeugenschaft von Gewalt betrifft. Diese Verletzung besteht darin, daß die Kinder, die miterleben müssen, wie eine Bezugsperson geschlagen wird, mit der beißenden Erkenntnis leben müssen, nicht so handeln zu können, wie sie es gerne tun würden. Was sie als das richtige Handeln empfinden, nämlich der Bezugsperson zu Hilfe zu kommen, können sie nicht realisieren. Dem erwachsenen Täter gegenüber sind sie unfähig, ihrer moralischen Empörung die entsprechenden Taten folgen zu lassen. Weil die Realisierung des intuitiv als richtig empfundene Handeln stets neue Rückschläge erfährt, erleben sie sich nicht nur im physischen, sondern auch im moralischen Sinne als ohnmächtig und als moralische Person verletzt. Diese Verletzung als moralische Person hat, wie sich vielfach zeigte, negative Auswirkungen auf das Selbstbild der Kinder; dies kann so weit gehen, daß sie aufgrund ihrer Unfähigkeit, das Unrecht zu verhindern, das einer mißhandelten Bezugsperson geschieht, sich selbst hassen. Eine quer durch alle Fallbeispiele hindurch zu beobachtende Folge von Ohnmachtserfahrungen in dem eben beschriebenen Sinn sind Projektionen der Gegengewalt, die bereits in einem Alter auftreten, in dem die betroffenen Jugendlichen noch gar nicht gegen die hoffnungslos überlegenen Täter ankommen konnten. Diese Projektionen entspringen dem Wunsch, den familiären Aggressor oder Despoten eines Tages zu bezwingen, und enthalten damit bereits die Konturen eines Selbstbildes, das von der Vorstellung getragen ist, künftig selbst zum Täter zu werden. Hierbei handelt es sich um eine Folge von Ohnmachtserfahrungen, die besonders relevant für die Frage ist, wie die spätere Täterschaft mit dem direkten und indirekten Gewalterleiden in der Familie zusammenhängt: um die Projektion der betroffenen Kinder und Jugendlichen nämlich, den Täter gewaltsam zur Rechenschaft zu ziehen, sobald die physischen Kräfte dies zulassen. Junge Menschen, die wiederholt mißhandelt oder Zeugen der Mißhandlung einer anderen Person in der Familie wurden, nehmen also die Gewalt schließlich als jenes Mittel wahr, das ihre Ohnmacht beenden kann. Damit erweist sich die Verknüpfung kindlicher Ohnmachtserfahrungen mit der lebhaften, in die Zukunft projizierten Vorstellung, sich am Täter gewaltsam zu rächen, als ein konsistenter Zusammenhang. Diese Gewaltprojektionen können in der Jugendphase zu Vergeltungsschlägen führen, die sich gegen den Elternteil richten, deren Gewalt sie zuvor jahrelang ausgesetzt waren. Meist aber entladen sich diese Gewaltprojektionen bald gegenüber Gleichaltrigen im Kindergarten und in der Schule und kommen in der Jugendphase zu ihrer vollen Entfaltung. Ungeachtet dessen, in welchem sozialen Kontext die frühen Gewaltprojektionen zu entsprechenden Handlungen führen, finden sich in den Interviews typischerweise bestimmte Erfahrungen der Gewaltausübung, die den Rollentausch vom Opfer zum Täter mit sich bringen. Solche Gewalterfahrungen werden von den Jugendlichen stets als großer Befreiungsschlag und als biographischer Wendepunkt erlebt. Sie bilden so etwas wie das Coming out als Täter und den Auftakt zu einem neuen Selbstverständnis, zu dem fortan die Wehrhaftigkeit und die Gewaltbereitschaft gehören. Dies ist der Punkt, der den Beginn einer Gewaltkarriere markiert und ab dem es sehr schwierig wird, durch präventive Maßnahmen etwas zu erreichen. 4 Mißachtungserfahrungen und ihre Folgen Neben der Kindesmißhandlung gibt es bestimmte, nicht unbedingt mit Gewalt verbundene Erziehungspraktiken der Eltern, die in der Fachliteratur ebenfalls zu den bedeutendsten Ursachen kindlicher und jugendlicher Gewalt gezählt werden. Allerdings haben die entsprechenden empirischen Untersuchungen sehr heterogene Formen des elterlichen Erziehungsverhaltens als kriminogen und gewaltfördernd ausgewiesen. Ihren Ergebnissen zufolge können sowohl autoritäre, punitive und konfliktreiche als auch permissive, wenig unterstützende und vernachlässigende Erziehungsstile beim Nachwuchs Delinquenz und Gewalttätigkeit hervorbringen. Diese Befunde, die auf den ersten Blick in gegensätzliche Richtungen zu weisen scheinen, kann man, so das Ergebnis meiner Analysen, auf einen gemeinsamen Nenner bringen: Alle diese Erziehungspraktiken und -stile bringen dann Gewalt hervor, wenn sie mißachtend sind bzw. von den betroffenen Kindern und Jugendlichen als mißachtend erfahren werden. Der Begriff der Mißachtungserfahrungen zielt auf die nicht gewaltförmige Verletzung von Anerkennungsbedürfnissen und ansprüchen. Bei den befragten Jugendlichen speisten sich solche Erfahrungen aus einer Vielzahl unterschiedlicher Interaktionen, die in ihren Familien oft zu stabilen Formen geronnen sind und ihre Sozialisation entscheidend geprägt haben. Eine hervorragende Zusammenschau und Systematisierung der englischsprachigen Literatur zu kriminogenen Erziehungspraktiken bieten Snyder, James/Gerald Patterson: Family Interaction and Delinquent Behavior, in: Quay, Herbert C. (Hg.): Handbook of Juvenile Delinquency. New York/Chichester u.a. 1987, S. 216-243. Zu der einschlägigen Diskussion in Deutschland siehe Böttger, Andreas: Gewalt und Biographie. BadenBaden 1997, bes. S. 62-66 und 142 f. Einen guten Überblick über die breite Palette familiärer „Faktoren“ und „Belastungen“, welche die einschlägige Forschung für die Gewalttätigkeit von Jugendlichen verantwortlich gemacht hat, verschaffen auch Siegel, Larry J./Joseph J. Senna: Juvenile Delinquency. Theory, Practice, and Law. St. Paul, Minn. 21985 (1981, 61997), bes. Kap. 9, S. 227 ff sowie Lösel, Friedrich/Herbert Selg/Ursula Schneider (unter Mitarbeit von Elisabeth Müller-Luckmann): Ursachen, Prävention und Kontrolle von Gewalt aus psychologischer Sicht, a.a.O., bes. S. 17-23 und 101-108. Sie reichen von der Benachteiligung gegenüber den Geschwistern bis zur innerfamiliären Marginalisierung, von negativen Zuschreibungen bis zu regelrechten Erniedrigungsritualen und von der elterlichen Vernachlässigung bis hin zur fundamentalen Ablehnung durch die anderen Familienmitglieder. Die Erfahrungen, die aus solchen degradierenden Praktiken hervorgehen, führen bei den betroffenen Kindern zu negativen Selbstkonzepten. Damit bestätigt sich die in Axel Honneths Theorie der Anerkennung am pointiertesten vertretende These , daß der Aufbau eines positiven Verhältnisses zu sich selbst und der Erwerb von Selbstvertrauen und Selbstachtung nur durch die intersubjektive Bestätigung durch andere gelingen können. Bei den Kindern, die unter mißachtenden Bedingungen aufgewachsen sind, zeigt sich eine tiefe Verunsicherung ihrer Identität und die Übernahme der familiären Abwertung in ihr Selbstbild. Kinder, deren Wert in ihrer Familie ständig herabgesetzt wird, bekommen den Eindruck, der Zuneigung und dem Wohlwollen anderer nicht würdig und verachtenswert zu sein. Durch die Akte der Geringschätzung und der Herabsetzung verlieren sie das Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten und in den Wert der eigenen Person. Eine besondere Rolle spielen hier die negativen Etikettierungen der Eltern oder anderer Familienmitglieder, die den Kindern die zukünftige Rolle eines Taugenichts oder Versagers, eines zukünftigen Trinkers oder Straftäters zuschrieben. Solche Zuschreibungen, so zeigten alle Beispiele, verfangen und gehen in das Selbstbild der betroffenen Kinder ein. Den lebensgeschichtlichen Erzählungen der in meiner Untersuchung befragten Jugendlichen wohnt oft ein gewisser Fatalismus inne, der den degradierenden Zuschreibungen den Charakter einer sich selbst erfüllenden Prophezeiung verleiht. Ganz im Sinn des Labeling-Ansatzes führten die beschriebenen Fallbeispiele zu dem Ergebnis, daß sich die Befragten bis in die Jugendphase hinein nicht von den negativen Etikettierungen ihrer Eltern lösen konnten, sie schließlich übernommen und zu einem Element ihrer abweichenden Identität gemacht haben. Honneth, Axel: Kampf um Anerkennung. Zur moralischen Grammatik sozialer Konflikte. Frankfurt a.M. 1992, bes. S. 107-225. Siehe außerdem ders.: Integrität und Mißachtung. Grundmotive einer Moral der Anerkennung, in: Merkur, Jg. 44 (1990), S. 1043-1054 sowie ders.: Die soziale Dynamik von Mißachtung. Zur Ortsbestimmung einer kritischen Gesellschaftstheorie, in: Institut für Sozialforschung an der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt am Main. Mitteilungen, Heft 7 (Juni 1996), S. 13-32. Dazu vgl. bes. Kitsuse, John I.: Societal Reaction to Deviant Behavior: Problems of Theory and Method, in: Social Problems, Vol. 9 (1962), S. 247-256; Becker, Howard S.: Außenseiter. Zur Soziologie abweichenden Verhaltens. Frankfurt a.M. 1973 (1963/71); Lemert, Edwin M.: Der Begriff der sekundären Devianz (1967), in: Lüderssen, Klaus/Fritz Sack (Hg.): Seminar: Abweichendes Verhalten, Bd. I: Die selektiven Normen der Gesellschaft. Frankfurt a.M. 1974, S. 433-476; Steinert, Heinz: Etikettierung im Alltag, in: Heigl-Evers, Annelise (Hg.): Lewin und die Folgen. Die Psychologie des 20. Jahrhunderts, Bd. VIII. Zürich 1979, S. 388404. Selbstkonzepte der beschriebenen Art konstituieren wiederum negative Erwartungen an die soziale Mitwelt, so daß sich die betroffenen Kinder und Jugendlichen so verhalten, daß sie auch außerhalb der Familie auf die Ablehnung von Lehrern und Gleichaltrigen stoßen. Damit perpetuieren sich die Mißachtungserfahrungen und führen nicht selten zur Hinwendung der Jugendlichen zu gewalttätigen Gruppen, mit denen sie das Versprechen schneller und bedingungsloser Anerkennung verbinden. Neben solchen äußeren Folgen der familiären Mißachtung, die oft mit einem frühen Verlassen des Elternhauses verbunden sind, reichen auch ihre inneren Folgen weit in die Jugendphase hinein, indem sie die Selbstachtung der Jugendlichen nachhaltig beschädigen. Kinder mit einer familiären Sozialisation, die von Mißachtungserfahrungen geprägt war, erben, so kann man zusammenfassen, ein spezifisches „Problem“. Es ist das Problem der intersubjektiven Anerkennung und – dies ist die andere Seite der Medaille – der intrasubjektiven Selbstachtung. Dieses Problem, das in vielen Fällen die ganze Kindheit durchzieht und in der Jugendphase besonders virulent wird, hat wiederum sehr viel mit Gewalt zu tun. Denn die Jugendlichen, die in ihrem Kampf um die familiäre Liebe und Anerkennung unaufhörlich scheiterten und statt dessen immer neue Herabwürdigungen ernteten und deren Gefühle des Nicht-gewollt-, Nichtgeschätzt- und Nicht-zugehörig-Seins durch außerfamiliäre Mißachtungserfahrungen oftmals verstärkt wurden, wollen den ihnen aufgebürdeten negativen Selbstbildern nicht das letzte Wort lassen. Gewalt und die Zugehörigkeit zu gewalttätigen Gruppen erscheinen diesen Jugendlichen oft als die Lösung ihres biographisch erworbenen Problems der mangelnden Anerkennung und Selbstachtung. Sie wollen ihre demolierte Selbstschätzung durch die Zugehörigkeit zu gewaltbereiten Gruppen reparieren und durch die Ausübung der Gewalt sich ihrer Überlegenheit und Größe versichern, obwohl der prekäre Versuch, damit die Anerkennung der anderen zu erzwingen, stets nur ephemere Erfolge zeitigt und letztlich zum Scheitern verurteilt ist. Ähnliches gilt auch für gewaltsames Strafen. Anette Engfer, die eine Untersuchung zu den Bedingungen und Auswirkungen harten elterlichen Strafens durchgeführt hat, weist darauf hin, daß die oft und willkürlich bestraften Kinder die ihnen von den Eltern zugeschriebene Rolle des „Sündenbocks“ oder des „bösen Kindes“ schließlich in ihr eigenes Selbstbild übernehmen. Sie schreibt zu diesem Zusammenhang: „Nicht nur daß die Eltern, die ihr Kind hart bestrafen, dieses Kind besonders ungehorsam, bösartig und aggressiv finden; diese elterlichen Beschreibungen korrelieren hochsignifikant mit der Art, wie sich die vielbestraften Kinder in einem Persönlichkeitsfragebogen selbst beschreiben. (...) Allerdings zeigt sich in den Befunden dieser Studie auch, daß diese ,bösen‘ Kinder zugleich sehr unglückliche Kinder sind: Diese Kinder finden sich selbst nicht attraktiv und liebenswert, sie haben wenig Ausdauer, sind leicht entmutigt, haben massive Minderwertigkeitsgefühle und sie leiden darunter, nicht nur von den eigenen Eltern, sondern auch von den Gleichaltrigen abgelehnt zu werden.“ Siehe Engfer, Anette: Kindesmißhandlung. Ursachen – Auswirkungen – Hilfen. Stuttgart 1986, S. 122. Zu ähnlichen Ergebnissen wie Engfer kommen auch Erickson, Martha Farrell/Byron Egeland/Robert Pianta: The Effects of Maltreatment on the Development of Young Children, in: Cicchetti, Dante/Vicki Carlson (Hg.): Child Maltreatment: Theory and Research on the Causes and Consequences of Child Abuse and Neglect. Cambridge/New York u.a. 1989, S. 647-684, bes. S. 679. 5 Fazit Gewalttätige Jugendliche haben, so kann man zusammenfassend sagen, durchgehend Erfahrungen in der Familie gemacht, die subjektiv als Ohnmachtsund Mißachtungserfahrungen zu Buche schlagen und zu Gewaltdispositionen führen. Vergangene familiäre Ohnmachts- und Mißachtungserfahrungen, die oftmals durch aktuelle Vorkommnisse in der Schule, der Nachbarschaft und spezifisch jugendlichen Lebenszusammenhängen neue Nahrung erhalten und reaktiviert werden können, haben Folgen mit Langzeitwirkung und stellen einen wesentlichen Bestandteil des Problems dar, das die Jugendlichen durch gewalttätiges Handeln auf prekäre Weise zu „lösen“ versuchen. Wo andere Wege der Verarbeitung dieser existentiellen Erfahrungen versperrt sind, führen ihre Folgen – in erster Linie sind dies Gewaltprojektionen und negative Selbstbilder – dazu, daß die Jugendlichen ihr Selbstwertgefühl zu heben versuchen, indem sie anderen das zufügen, was ihnen selbst widerfahren ist. Es entsteht die Disposition, Ohnmachtserfahrungen in Macht- und Überlegenheitsgefühle umkehren und Mißachtungserfahrungen in ein akzeptables, auf Gewalt gestütztes Verhältnis zu sich selbst überführen zu wollen. Im Zusammenspiel dieser in Ohnmachts- und Mißachtungserfahrungen gründenden Dispositionen entwickelt sich eine zunächst ungerichtete Gewaltbereitschaft, die bloß noch der Gelegenheiten ihrer Entfaltung harrt. Diese Gelegenheiten ergeben sich meist von selbst, weil die entsprechenden Kinder und Jugendlichen aufgrund ihrer Vorgeschichte besonders verletzlich auf (angeblich) abwertende Äußerungen anderer reagieren und sich durch bloße Blicke oder Gesten leicht mißachtet oder herausgefordert fühlen. D.h., sie interpretieren das, was sie in der Familie erlebt haben, in die Äußerungen anderer hinein, oft ohne daß ihnen dies bewußt ist. In den Situationen, in denen sie gewalttätig werden, zeigen sie eine hypochondrische Vulnerabilität bei allen Äußerungen, die auch nur im entferntesten an das erinnern, was sie in ihren Familien erlitten haben. Kinder, die geschlagen und mißachtet wurden, eignen sich, m.a.W., gewaltaffine Interpretationsregimes an, welche wiederum in der Jugendphase ein wesentlicher Bestandteil von Gewaltkarrieren darstellen. Deswegen muß die Gewaltprävention schon ansetzen, bevor die beschriebene Dynamik der Gewalt in Gang kommt. Das Setting der Grundschule bietet die Möglichkeit, gerade die gefährdeten Kinder zu erreichen und einer gewalttätigen Entwicklung frühzeitig vorzubeugen. Hier sind einerseits spezielle Angebote wie das der Mediation notwendig, andererseits sollte Gewaltprävention das alltägliche pädagogische Handeln bestimmen, damit es insgesamt ein Gegengewicht zu den oben beschriebenen familiären Ohnmachts- und Mißachtungserfahrungen bilden kann.