Gegen die Zähmung

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Jacques Camatte
Gegen die Zähmung
Die kapitalistische Gesellschaft hat nie eine so kritische Periode wie die
gegenwärtige gekannt. Alle Elemente einer klassischen Krise existieren im
Dauerzustand, ausser der Produktionsverminderung, die nur gewisse Länder in
beschränktem Umfang betrifft. Wir wohnen einer Zersetzung der gesellschaftlichen
Beziehungen und des traditionellen Bewusstseins bei. Jede Institution rekuperiert
die sie bekämpfende Bewegung (die katholische Kirche zählt ihre Aggiornamenti
nicht mehr!). Die Gewalt und die Qualen, welche die Menschen empören, bewegen
sollten, blühen und sind weltweit endemisch; gegenüber der heute praktizierten
Tortur erscheint die „Barbarei“ der Nazi als handwerklich-archaische Methode.
Alle Elemente sind beisammen, um eine Revolution zu begründen. Was aber
hindert oder hemmt die Menschen, all diese Krisen aus der Neustrukturierung des
Kapitals in eine Katastrophe für das Kapital zu verwandeln?
Es ist die Zähmung. Sie ist eingetreten, als sich das Kapital als materielles
Gemeinwesen installierte und dabei den Menschen fragmentierte und zerstörte.
Das Kapital hat ihn nach seinem Bilde als kapitalisiertes Wesen zur Ergänzung
seiner eigenen Anthropomorphose neu zusammengesetzt. Eng damit ist das
Entkommen des Kapitals verbunden, welches die Passivität der Menschen noch
verstärkt: die Kontrolle über die Wirtschaft geht verloren und diejenigen, welche
kraft ihrer Stellung über diese einen Einfluss ausüben sollten, merken, dass sie
ohnmächtig und überfordert sind. Das kommt in der weltweiten Währungskrise
zum Ausdruck,. 1 aber auch in der Überbevölkerung, Verschmutzung und in der
Erschöpfung der natürlichen Ressourcen. Es ist folglich hundert Jahre zu spät, die
Revolution antreiben zu wollen. Die Revolution entkommt den Revolutionären.
Wenn irgendeine Erschütterung eintritt, dann geschieht sie ausserhalb von ihnen,
weshalb die Revolutionäre der „Revolution“ hinten nachrennen müssen, um
anerkannt zu werden.
Die Menschen werden im eigentlichen Sinne des Wortes von der
Kapitalbewegung überholt. Sie haben auf diese schon lange keinen Einfluss mehr.
Viele suchen eine Lösung in der Flucht in die Vergangenheit (Zen, Yoga,
Tantrismus etc. in den USA) oder in alte Mythen (Ablehnung der Wissenschaft,
welche das ganze Leben despotisch beherrscht, und der Technik; dies häufig im
Zusammenhang mit Drogenkonsum, der die Illusion verschafft, schnell zu einer
andern Welt aus einer Welt Zugang zu finden, die grausamer als die Welt ohne
Herz ist, von der Marx in der Kritik der hegelschen Rechtsphilosophie spricht). Für
Was man die Währungskrise nennt, betrifft nicht nur die Etablierung eines neuen Goldpreises und
eines neuen allgemeinen Äquivalentes (ein neues Eich-System), die Einsetzung von „gültigen“ Paritäten
zwischen den nationalen Währungen, die Integration der Ökonomien des Ostens in den Geldmarkt
(Kapital als Totalität, Marx), sondern auch die Rolle des Kapitals unter der Geldform, oder genauer, die
Überwindung der Geldform selbst, wie ja auch die Warenform überwunden worden ist.
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andere kann die Lösung nur durch Wissenschaft und Technik erfolgen, viele
Feministinnen beispielsweise, welche ihre Emanzipation in der Parthenogenese und
in der Fabrikation von Babys in Retorten sehen. 2 Wieder andere möchten die
Gewalt bekämpfen, indem Mittel gegen die Aggressivität bereitgestellt würden, etc.
Ganz allgemein hat für diese Personen jedes Problem seine wissenschaftliche
Lösung, weswegen sie sich passiv verhalten. Der Mensch ist in ihren Augen einfach
ein manipulierbares Objekt. Sie sind unfähig, neue zwischenmenschliche
Beziehungen zu schaffen (worin sie sich mit den Gegnern der Wissenschaft
treffen). Sie merken nicht, dass eine wissenschaftliche Lösung eine kapitalistische
Lösung ist, da sie den Menschen beseitigt und zur vollständigen Kontrolle der
Gesellschaft strebt.
Wer etwas unternehmen will, muss sich also Rechenschaft darüber ablegen, dass
eine wirkliche Einflussnahme fehlt. Wenn man das zu überspielen trachten,
erscheint die eigene Ohnmacht umso deutlicher. Die andern, die „schweigende
Mehrheit“, sind von der Unmöglichkeit einer Einflussnahme durchdrungen. Ihr
Schweigen ist keine reine Hinnahme, sondern eher Unfähigkeit zur Einflussnahme.
Beweis dafür ist ihre Mobilisierung. Sie sind nie für etwas in Bewegung zu setzen,
sondern immer nur gegen etwas: negative Passivität.
Diese beiden Gruppen darf man nicht links und rechts ansiedeln. Hier spielt die
alte politische Dichotomie nicht mehr. Es ist hier eine wichtige Verschiebung
eingetreten: Früher waren diejenigen, welche sich für die Technik aussprachen,
links, während jetzt die Technik von der Neuen Linken in den USA verdammt
wird.
Die Dichotomie dauert hinsichtlich der alten Gruppierungen weiter: die Rackets
der Vergangenheit (Links- und Rechtsparteien). Sie hat aber keinen Sinn mehr,
denn beide verteidigen auf die eine oder andere Weise das Kapital, am effektivsten
aber die Linksparteien, denn sie sind darin wissenschaftlich und rational.
Alle insgesamt aber wirken in einer Bewegung: in der Bewegung der Zerstörung
der menschlichen Gattung. Es läuft nämlich auf dasselbe hinaus, sie auf einige alte
Verhalten zu reduzieren oder sie einem technologischen Mechanismus zu
unterziehen. Diese Alternativen gehören nämlich zu einem und demselben
Entwicklungsstrang und begründen ihn; sie erscheinen von dem Moment an, wo
die KPW substanziell den Produktionsprozess zu beherrschen beginnt und auch in
der Gesellschaft eine wesentliche Kraft wird (Anfangs des 19. Jahrhunderts). Gegen
Voraussetzung einer solchen absurden Forderung ist eine wissenschaftliche Illusion: die
angenommene Unterlegenheit der Frau. Die Wissenschaft leitet daraus ihr Gebot ab, diesen Makel zu
beheben. Braucht es zur Zeugung den Mann nicht mehr (Parthenogenese), dann für das Austragen auch
nicht mehr die Frau (Embryonenkultur oder sogar Ovarienkultur). Stellt sich logischerweise die weitere
Frage: Braucht es überhaupt noch die Gattung Mensch? Diese Leuten glauben alles mit Amputation
beheben zu können. Warum nicht die Schmerzen durch Organentfernung beseitigen? Wer die
gesellschaftlichen und menschlichen Fragen mittels Technik und Wissenschaft lösen möchte, macht die
Menschheit letztlich überflüssig.
Natürlich kann man die Frauenemanzipationsbewegung nicht auf diesen Aspekt reduzieren. Wir
kommen später auf die Bedeutung zurück, die sie im Kampf gegen das Kapital einnimmt. Gerade für die
Kritik der kapitalistischen Gesellschaft und für die Kritik der traditionellen revolutionären Bewegung hat
sie bemerkenswerte Elemente beigebracht.
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das Kapital wendet sich beispielsweise Carlyle. 3 Marx ist eine Überwindung: Er
bejaht die Entwicklung der Produktivkräfte als Notwendigkeit (und damit der
Wissenschaft und Technik), denunziert aber die unmittelbare Auswirkung der
Produktivkräfte auf die Menschen; für ihn stellt sich der Widerspruch so dar, dass
die Entwicklung der Produktivkräfte erst mit der Zerstörung der KPW möglich
wird, dann nämlich, wenn die Menschen diese Entwicklung lenken würden; dann
sollte es keine Entfremdung mehr geben. Das setzte aber voraus, dass sich das
Kapital nicht wirklich verselbständigen, sich nicht den Zwängen seiner sozioökonomischen Grundlage entziehen könnte, d. h. dem Wertgesetz, der
Tauschbeziehung zwischen Kapital und Arbeit, dem Diktat des allgemeinen
Äquivalenten etc.
Das Kapital vermochte sich aber in Bezug auf seine Grundlage zu
verselbständigen, indem es sie einfach vereinnahmte – und damit entkam es
besagten Widersprüchen. Seit vielen Jahren stürmt es in seinem Entwicklungsgang
vorwärts und wird zu einer schweren Bedrohung für die Menschheit und die ganze
Natur. Nicht einmal die Sprecher der euphorischen und einlullenden Diskurse
können das ignorieren. Bis zu einem gewissen Grade sind sie gezwungen, sich auf
den Boden derjenigen zu stellen, welche den apokalyptischen Diskurs halten. Die
Apokalypse ist in Mode, weil unsere Welt an ihr Ende gelangt ist. Das war eine
Welt, wo der Mensch, so geschwächt und degeneriert er war, noch der Massstab
war, der Bezugspunkt. Nach dem Tod Gottes wird derjenige des Menschen
Der Kampf der Menschen gegen das Kapital ist bis anhin nur immer durch das extrem enge Prisma
des Klassenkampfs betrachtet worden. Nur die aktiven Fürsprecher des Proletariates konnten als wirkliche
Gegner des Kapitals Anerkennung finden, die andern galten als blosse Romantiker, Kleinbürger etc. Selbst
nach dem Klassenkampfschema ist diese Betrachtungsweise zu eng, denn das Proletariat sollte alle
Klassen abschaffen. Untersagt man dem proletarischen Standpunkt, den tragischen Diskurs gewisser
Personen zu untersuchen, die sich gegen das Kapital richteten, ohne überhaupt ihren wahren Gegner
richtig auszumachen Beispiel: Bergson), so verhindert man die Selbstzerstörung des Proletariates als
Klasse. Heute, wo dieser Klassenstandpunkt jede solide Grundlage verloren hat, ist es sinnvoll, sich mit
dem Inhalt des Denkens der Rechten zu beschäftigen. Die Rechte ist jene Widerstandsbewegung, welche
an einem bestimmten Moment der Vergangenheit festhalten will. Die Strömung von Action française
fordert zur Abschaffung der Klassenkonflikte, des kapitalistischen Hyperindividualismus, der Spekulation
usw. eine Gemeinschaft, welche ihrer Meinung nach von einer Monarchie garantiert werden kann (siehe
„Le capitalisme“ in „Les dossiers de l’Action française“).
Es scheint, jede gegen das Kapital stossende Bewegung muss sich eine menschliche Gegebenheit, nicht
irgendeine sondern eine grundsätzlich unveränderliche, vornehmen, worin sich die Menschen
wiederfinden können. So wollten auch die Nationalsozialisten das Gemeinwesen, die
„Volksgemeinschaft“, wieder herstellen. Man beachte auch ihre Diskussion um den Urmenschen. Unseres
Erachtens haben das viele nicht richtig begriffen und als totalitäre Demagogie negiert. Die Nazi nahmen
aber nur eine alte Forderung deutscher Soziologen, etwa von Tönnies und Weber, auf. Die Frankfurter
Schule, insbesondere T. W. Adorno dagegen versackte im schlimmsten Demokratismus, da sie unfähig
war, das Phänomen zu begreifen. Dabei hatte Marx gezeigt, dass es darum ging, wieder ein Gemeinwesen
zu bilden, eine Bewegung, welche die ganze Menschheit umfasst.
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Die Probleme in ihrer bestehen für alle. An verschiedenen politischen Ecken wird an Lösungen
gearbeitet. Revolutionäre und Konterrevolutionäre unterscheiden sich in den vorgeschlagenen Lösungen,
nicht in den Problemen an sich. Auch hier zeigt sich das racketistische Denken: Es gäbe theoretische
Gebiete der Rechten und andere der Linken. Nehme man auf Fragen des feindlichen Lagers Bezug, so
trete man zu diesem über. Man erhält dann jeweils die entsprechende Etikette. Auch hier stellt man
Verdinglichung fest: Das Objekt ist entscheidend, nicht das Subjekt!
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verkündet. Der eine wie der andere lassen ihren Platz der göttlichen Dienerin des
Kapitals: der Wissenschaft. Diese ist heute auf der Suche nach Mechanismen der
Anpassung (Eingliederung) der Menschen und der Natur an die KPW. Es ist klar,
dass die am wenigsten zerstörten Menschen, vor allem die jungen, eine solche
Anpassung und Zähmung nicht akzeptieren können und daher das System
verwerfen.
Die Zähmung geschah zuweilen mit Gewalt (primitive Akkumulation), häufiger
jedoch auf hinterhältige Weise: die Revolutionäre akzeptierten nämlich dieselben
Elemente wie das Kapital und vergötterten dieselbe Diva, gemeint sind die
Produktivkräfte und die Wissenschaft. Zähmung und repressives Bewusstsein
haben uns in Jahrhunderte altem Verhalten versteinert, haben unsere Gesten
ebenso starr werden lassen, wie unsere Gedanken stereotyp. Entstanden ist daraus
eine Armee von Salzfiguren, die auf die Vergangenheit gerichtet sind, selbst dort,
wo sie in die Zukunft zu blicken glauben. Aber das Leben ist eingebrochen und hat
wieder Bewegung gebracht, die Bewegung des Kommunismus. Es ist also keine
neue Theorie, keine neue Aktionsform beigebracht worden. Es ist eh und je darauf
angekommen, worauf Theorie und Handeln abzielten, welches der Punkt war, auf
den die Forderungen hinausliefen. Es handelte sich nicht mehr um Politik, oder um
Ideologie oder Wissenschaft, auch nicht Sozialwissenschaft, denn das alles wurde
total zurückgewiesen. Dagegen setzte sich die Forderung nach Leben gleichzeitig
gegen diese Gesellschaft und darüber hinaus: gegen die vom Kapital auferlegte
Passivität, für die wiedergefundene Kommunikation zwischen den Menschen, für
eine befreite Kreativität, für eine schrankenlose Phantasie in der menschlichen
Entwicklung.
Seit Mai-Juni 1968 ist alles verändert und verändert sich weiterhin. Man kann
den Aufstand der Mittelschüler nicht verstehen, ohne auf jene Bewegung zu
weisen.
Wir haben Mai-Juni 1968 als Zeichen für die auftauchende Revolution
charakterisiert und behauptet, dass mit ihm ein neuer revolutionärer Zyklus
begonnen hat. Dabei stützten wir uns aber auf ein klassistisches Erklärungs-Schema
ab.4 So waren wir noch der Meinung, die Bewegung vom Mai hätte das Ergebnis,
das Proletariat auf die Grundlage seiner Klasse zurückzubringen. Zudem fanden
wir im Ablauf der Ereignisse jenes Jahres die Revolutionstheorie nach Marx
bestätigt: Zuerst treten diejenigen Klassen und Gesellschaftsschichten auf, die der
herrschenden Gesellschaft am nächsten stehen, also die „staatstragenden“ Darauf
intervenieren die unterdrückten Klassen, welche die Widersprüche lösen, welchen
die andern Schichten mit Reformen begegneten. Marx nahm am Ablauf der
englischen und französischen Revolution Mass. In der französischen Revolution
beispielsweise gab es vor 1789 die bekannte Adelsrevolte, welche den Kampf des
Bürgertums einleitete und vorspurte. Der aufgeklärte Absolutismus war ihr
Produkt. Später traten Schichten des Bürgertums auf, welche von der Staatsmacht
weiter entfernt waren, u. a. eine Art Intelligentsia, wie Kautsky sagt. Doch die
Siehe die im Mai 1968 verteilte Schrift: „A propos de la semaine rouge: L’être humain est la véritable
communauté de l’homme“ („Das menschliche Wesen ist das wirkliche Gemeinwesen des Menschen“,
Marx); auch in Invariance Serie I, Nr. 4, 1968.
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Reformen schlugen fehl und der Bruch des Systems zog den Fall des Königtums
nach sich. Diese Entwicklung schob schlussendlich die Bauern und bras-nus (der
Vierte Stand, das zukünftige Proletariat) in den Vordergrund. Sie vollzogen den
Bruch und verunmöglichten eine Rückkehr zu den alten Zuständen. Ohne ihr
Mitwirken hätte die Revolution im Sinne einer Änderung der Produktionsweise viel
länger gedauert. In Russland verlief die Sache ähnlich. Man kann also sagen, dass
die am meisten Unterdrückten und objektiv an einer Revolution Interessierten – die
wirkliche revolutionäre Klasse, wie einige sagen – erst in Bewegung kommen, wenn
der Bankrott eingetreten ist und der Staat in beträchtlichem Masse geschwächt ist.
Erst dann ist der Weg offen und sei es auch nur, weil eine Rückkehr nicht mehr
möglich ist. Es gilt also sehr wohl, etwas zu unternehmen. Das Ablaufschema zeigt
im übrigen, dass keine Revolution reinen Klassencharakter hat. Für die
kommunistische Revolution wird das noch viel ausgeprägter sein, denn sie ist nicht
nur das Werk einer Klasse, sondern der ganzen Menschheit.
Um auf die Gegenwart zurückzukommen, so stellt man fest, dass innerhalb der
universellen Klasse, also die Menschheit als Sklavin des Kapitals, die dem Kapital
am nächsten stehenden Gesellschaftsschichten, d. h. die Studenten und die neuen
Mittelklassen, sich gegen das System erhoben haben. Sie (v. a. die Studenten)
nahmen sich als besondere Gesellschaftsschicht wahr, welche als Zünder zur
Explosion des Proletariates, der revolutionären Klasse, wirken sollte. Die
Revolution erschien erneut im alten Gewand, in alten Schemata steckend.
Immerhin interpretierte unsere Klassenanalyse ein wirkliches Phänomen,
welches die wesentlichen Akteure des Mai sich nach den klassischen RevolutionsSchemata wahrnehmen liess. Tatsächlich waren es die Funktionäre des Kapitals,
welche diesem am nächsten standen, ja sogar das Leben im Kapital rechtfertigen
und ihm die notwendigen Repräsentationen liefern müssen 5, welche rebelliert
haben. Diese Rebellion ist aber grundsätzlich rekuperierbar, solange sie sich im
Geleise des Klassenkampfes bewegt: das Proletariat regenerieren wollen, damit es
seine Aufgabe erfülle.
Hier ist die Sackgasse. Die Rolle des Proletariates bestand darin, die
kapitalistische Produktionsweise (KPW) zu zerstören, um die in dieser
eingeschlossenen Produktivkräfte zu befreien. Erst dann sollte der Kommunismus
beginnen können. Doch weit davon entfernt, die Produktivkräfte zu hemmen,
exaltiert sie das Kapital, denn sie sind nicht für den Menschen, sondern für es. Also
ist das Proletariat überflüssig. Dank der Entwicklung der Wissenschaft ist das
möglich geworden. Dem entspricht aber die Zähmung der Menschen: Sie
akzeptieren das Leben des Kapitals. Und der Marxismus selbst hat das Kapital
selbst theoretisiert und verbissen die in ihm liegende Entwicklung der
Produktivkräfte verteidigt. Mit der Verallgemeinerung der Lohnarbeit und der
Löschung jeder möglichen Unterscheidung zwischen produktiver und
unproduktiver Arbeit ist das Proletariat als Produzent des Mehrwerts negiert. Was
bis anhin als Proletariat: künftiger Zerstörer des Kapitals, gerühmt wurde, wurde
Wir sprechen hier von Technikern, Wissenschaftern, Politikern und Ökonomen wie den Mitgliedern
des Club of Rome: S. Mansholt, R. Dumont, Laborit etc
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mit dieser Entwicklung zu sichersten Stütze der KPW. Was ist es denn, was dieses
Proletariat und die in seinem Namen Sprechenden und es Hätschelnden wollen?
Sie wollen Vollbeschäftigung und Selbstverwaltung, also die Verewigung des
Kapitals, indem ihm ein menschliches Gesicht gegeben wird. Sie halten den
Produktionsprozess für die Rationalität in Aktion, weshalb man nur seinen
Nutzniesser ändern müsste. Das sollte nunmehr der Mensch sein. Diese
Rationalität ist aber das Kapital.
Die Mythologie vom Proletariat haben wir den Populismus des Mai genannt.
Die Benennung „Proletarismus“ wäre treffender gewesen: zum Proletariat gehen,
seine kämpferischen Tugenden wecken, es an seine negative Kraft erinnern, damit
es seinen üblen Chefs absage und den Proletaristen auf dem Weg der Revolution
folge.
Mit dem Mai 68 beginnt die Zeit der Verachtung. Man verachtet sich und den
Andern oder die Andere, weil man bzw. sie keine Proletarier ist („prolo“), denn nur
das Proletariat ist potenziell revolutionär. Darin drückt sich nur die Sackgasse der
Protestbewegung gegen die herrschende Gesellschaft aus. Diese Sackgasse wird
aber nicht sofort augenscheinlich, denn der dem Mai 68 folgende Enthusiasmus
liess die wesentlichen Fragen noch ausgeklammert. Zudem bewirkte der Schock des
Mai, dass unter der Verachtung der herrschenden Parteien verschüttete und
vergessene Strömungen der Arbeiterbewegung, etwa die Rätebewegung mit ihren
Varianten oder die KAPD, aber auch Theorien (von Lukacs, Korsch etc.) wieder
auftauchten. Diese Wiederauferstehung der Vergangenheit deutete einesteils auf die
Unmöglichkeit, direkt auf die Wirklichkeit Einfluss zu nehmen, andernteils auf das
Unvermögen, andere Kampfformen und andere theoretische Annäherungen zu
finden. Einen zurückgelegten Weg zu überdenken, ist eine andere Form der
Revolte, denn das heisst, das Diktat dessen, was einfach eingetreten ist, nicht
akzeptieren. Die Besinnung kann den Ausgangspunkt für die Suche des Momentes
bilden, wo die Verirrung der Menschheit begonnen hat, also einen erster Versuch,
der Fatalität zu entkommen, welche die Menschheit aus der menschlichen Bahn in
die produktivistische Hölle geworfen hat.
Sackgasse ist ein ungenügendes Bild. Es wird dem Fazettenreichtum des
Darzustellenden nicht gerecht.
Auf jeden Fall finden sich die verschiedenen Gruppierungen dieser grossen
Strömung vor einer Aporie – und diese Aporie ist das Proletariat. 6 Die Militanten
Der Mensch ist nicht immer in die Natur eingelassen, das Dasein ist nicht immer mit dem Sosein, das
Sein mit dem Bewusstsein identisch. Aus dieser Trennung entspringt die Vorstellung (représentation).
Sobald die Zeit in ihrer Unwiederbringlichkeit gedacht wird, das vergangene Subjekt also vom
gegenwärtigen geschieden ist, tritt die Erinnerung auf, tritt die Vorstellung dazwischen. Von dieser
sprechen, heisst die Philosophie und Wissenschaften ins Spiel bringen, was früher oder später
unvermeidlich ist. Zur Vorstellung (représentation) möchten wir sagen (verschiedene Autoren haben sich
mit ihr beschäftigt: Cardan mit dem Imaginären, die Situationisten mit dem Spektakel, Foucault mit ihrer
Bedeutung im 16. Jahrhundert), dass wir das Wort im Sinne von Marx benutzen, der damit u. a. von der
Vorstellung des Wertes im Preis der Ware spricht. In „A propos du Capital“ (Invariance Serie II, Nr. 1)
haben wir kurz darauf hingewiesen, dass das Kapital dazu gekommen ist, zur selbständigen Vorstellung zu
werden. Von nun an kann es nur noch wirklich bestehen, wen es von allen anerkannt wird, d. h. wenn die
Menschen die Vorstellung des Kapitals verinnerlichen.
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wechseln von einer Gruppe zur andern und gleichzeitig ihre Ideologie, wobei sie in
ihrem Gepäck immer dieselbe Dosis Starrsinn und Sektierertum mit sich tragen.
Einige vollziehen dabei beträchtliche Umläufe: vom Leninismus zum
Situationismus, zum Rätekommunismus etc. Alle stossen an diese Mauer des
Proletariates und prallen mehr oder weniger weit in die Vergangenheit zurück,
wobei erstaunliche Neukombinationen möglich werden, etwa antiautoritäre oder
korschistische Trotzkisten ...
In diesen Gruppen und einzelnen Individuen ist nicht alles negativ; vieles ist
begriffen worden, wobei jedoch alles, den unmöglichen Kombinationen
entsprechend, von einer geistigen Bastelei verdorben wird.
Es ist offensichtlich (...) dass man das Hemmnis nur beseitigen kann, wenn die
Theorie vom Proletariat und die marxsche Auffassung von der Entwicklung der
Produktivkräfte, vom Wertgesetz usw. in Frage gestellt wird. Es ist aber der
Fetischismus des Proletariates mit seinen praktisch-ethischen Konsequenzen, der
am meisten auf dem Bewusstsein der Revolutionäre lastet. Indem man diesen
Fetisch angreift, d. h. ihn als solchen begreift, löst sich das ganze theoretischideologische Gebäude auf. Welche Bestürzung! Umso mehr, als es ein
Nichtgesagtes gibt: die Notwendigkeit, sich an eine Gruppe zu binden, sich mit ihr
zu identifizieren, sich abzusichern, um die Kraft zu finden, den Feind anzugreifen.
Hier zeigt sich nicht nur die Angst vor dem Alleinsein und damit die Einsicht der
notwendigen Vereinigung, um die Macht zu entwickeln, die KPW
niederzuschlagen, nein, es zeigt sich auch die Angst vor der Individualität 7, die
Unfähigkeit, „autonom“ die grundsätzlichen Fragen unserer Epoche anzugehen:
ein weitere Ausdruck der Zähmung der Menschen, die am Übel der Abhängigkeit
leiden.
Diesbezüglich nun ist die Mittelschüler-Bewegung von Frühling 1973 wichtig.
Sie stellt in den Vordergrund, was im Mai 1968 nur angefangen worden ist: die
Kritik des repressiven Bewusstseins. Dies ist eine Form des Bewusstseins, welche
mit dem Marxismus und seinem konkreten Lösungsvorschlag für Zukunft der
menschlichen Gattung entstanden ist: die proletarische Revolution. Diese soll
eintreten, wenn die Entwicklung der Produktivkräfte das zulässt. Dieses
Die Frage der Vorstellung ist bedeutungsvoll. Vom Moment an, wo die unmittelbare Einheit MenschNatur nicht mehr besteht (wenn sie überhaupt je bestanden hat), wird die Vorstellung notwendig. Sie ist
Aneignung der Wirklichkeit und Mittel der Kommunikation zwischen den Menschen. In diesem Sinne
kann sie nicht abgeschafft werden, denn der Mensch kann nicht in ununterschiedener Einheit mit der
Natur leben. Er hat sich also von ihr verselbständigt-entfremdet. Diese Tendenz muss gebremst werden.
7 Das ist von N. O. Brown in „Eros und Thanatos“ hervorgehoben worden. Die Furcht vor der
Individualität kann allein aber nicht erklären, was die Menschen dazu bringt, sich in ihr Schneckenhaus
zurück zu ziehen, sich mit einem Seins-Typus zu identifizieren und sich hinter einer Gruppe zu
verstecken. Der Mensch hat Angst, weil er sich nicht kennt. Es braucht deshalb enorm viel, bis es zu
„Exzessen“ kommt, welche die gesellschaftliche und eigene Ordnung des Individuums durcheinander
bringe. Offensichtlich sind die gesellschaftlichen Organisationen zu labil, dass sie die freie Entwicklung
menschlicher Möglichkeiten erlauben könnten. Mit der KPW wird alles möglich, aber nur insoweit, als es
Element der Kapitalisierung werden kann. Das heisst: Alles ist möglich, insofern es erlaubt ist. Das
Individuum wird bezüglich Verhalten als normal oder abnormal klassiert. Totalität ist der Diskurs des
Kapital, unzugänglich und pervers.
Die Furcht vor der Individualität ist häufig in den Utopien wesentliches Element und führt zur
Despotie der egalitären Vernunft.
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Bewusstsein ist repressiv und normierend und hat zur Auswirkung, dass Aufstände
von Menschen abgelehnt werden, da sie vorzeitig, kleinbürgerlich, abenteuerlichunverantwortlich etc. seien. Dieses repressive Bewusstsein ist das verdinglichte
Bewusstsein der Organisationen: der Parteien, Gewerkschaften und Grüppchen.
Sie organisieren die Repression gegen diejenigen, die nicht organisiert sind,
zumindest nicht so, wie sie das verstehen. Der Unterschied zwischen diesen
Organisationen ermisst sich am Ausmass der Repression welche sie auszuüben
vermögen.
Die Kritik der Mittelschüler nimmt den Mythos vom Proletariat nicht direkt
aufs Korn, indem sie ihn hinterfragt, sondern, indem sie ihn ignoriert und
lächerlich macht. Solange die Jungen nicht in die Falle liefen und die
Arbeiterorganisationen zu Hilfe riefen, um eine Einheitsfront à la Mai 68 zu bilden,
rannten die Politiker aller Ordnungen herbei, um sie zu einer solchen zu überreden:
Der PCF, PS, PSU, die CGT, die CFDT etc. In der Tat liefen die Mittelschüler aus
den Einheitsdemos davon, bis da nur noch die alten Parteigänger und Besserwisser
des PCF und CGT das Gros bildeten, welche nun fünf Jahre nach dem Mai 68 die
Wichtigkeit der Jugend entdeckten und unter den spöttischen Augen der Jungen die
militärische Zurückstellung für alle forderten: Hatte die Jugend sich in ihrer
Verkörperung getäuscht?
Lächerlich war auch, wie an solchen Veranstaltungen von verschiedenen Seiten
das Primat des Proletariates betont wurde: das momentan wesentliche
revolutionäre Ereignis sei der Streik der O. S 8. Diese Leute können sich die
Revolution nur in blauer Arbeitsmontur vorstellen; die O. S. stellten aber keine
Forderungen, welche das System bedrohten. Die KPW hat schon seit langem
Lohnerhöhungen akzeptiert und was die Arbeitsbedingungen anbelangt, so ist man
bereit, sie zu verbessern. Die Notwendigkeit, die Fliessbandarbeit abzuschaffen,
wird auch in Unternehmerkreisen erkannt.
Die Bewegung der Mittelschüler hat die Institutionen und die Menschen, welche
sie verteidigen, wie gesagt lächerlich gemacht. Und wenn sie rekuperiert worden ist,
dann zum Preis der Lächerlichkeit derjenigen, welche sich wider ihren Willen in die
Nähe der „guten Jungs“ stellen wollten. Wer dagegen von Anfang an gegen diese
Bewegung war und sie nicht verhindern konnte, machte sich mit seinem Ärger
lächerlich. So klagten Leute der Regierung: Wir haben immerhin ein Parlament und
Abgeordnete; damit sollen die hängigen Fragen gelöst werden! Die Jungen tun so,
als gäbe es das nicht. Erneut zeigten sich Unverständnis und fehlende gemeinsame
Sprache. 9
„Wir sind für Argumente durchaus offen, ich sehe gegenwärtig nur nicht, was
man wünscht.“ (Fontanet). Was für eine Illusion, die Jungen wollten mit Leuten
wie ihm diskutieren, Argumente austauschen. Da hat sich das Leben erhoben 10 , da
8
ouvrier spécialisé, Facharbeiter.
Siehe den Artikel von P. Drouin in „Le Monde“ vom 27. März 1973 und auch das Buch von R.
Tourneux „Le moi de mai en général“, welches die Handlungsweise De Gaulles glorifizieren will, aber nur
klar macht, wie wenig dieser Mann kapiert hat.
10 Siehe den Artikel von P. Viansson-Ponté, „Le Monde“ vom 31. Dez. 1972. P. Cardan hat 1974 die
Bedeutung der Jugendrevolte verstanden, sie aber als etwas Äusseres wahrgenommen, etwas, das man
benützen sollte, ganz gemäss der Auffassung, dass das Bewusstsein von aussen kommt.
9
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wird eine andere Lebensform gesucht. Ein Dialog ist nur zwischen denjenigen
möglich, welche diesbezügliche Versuche machen, nicht zwischen der
Gesellschaftsordnung und denjenigen, welche sich gegen diese erheben; wenn aber
doch, so weil die Bewegung noch „stotterte“.
Schon zum Mai 1968 wiesen wir auf ein grundlegendes Phänomen: Die
kapitalistische Gesellschaft passt vom ersten Moment ihrer Entstehung an mit dem
menschlichen Leben nicht überein. Die kapitalistische Gesellschaft ist der
organisierte Tod unter dem Anschein des Lebens. Es handelt sich nicht mehr um
den Tod als das Jenseits des Lebens, sondern um den Tod im Leben, um den Tod
der Lebenssubstanz. Der Mensch ist tot, und das Leben nur noch Zelebration des
Kapitals. Die Jungen haben noch die Kraft, den Tod zurückzuweisen. Sie
rebellieren gegen die Zähmung; sie sind das Verlangen nach Leben. Diese
Forderung ist natürlich für diejenigen, welche Dreck im Mund und Phantome in
den Augen haben, irrational oder gleich einem definitionsgemäss unerreichbaren
Paradies.
Die Jugend ist ein Übel für das Kapital, denn sie ist noch nicht gezähmt. Die
Mittelschüler haben gleichermassen gegen die Armee, die Schule, die Universität
und die Familie demonstriert. Die Schule ist die Organisation der Passivität, auch
wenn Methoden der Befreiung und aktiven Beteiligung angewandt werden. Die
Schule befreien hiesse, die Bedrückung befreien. Im Namen der Geschichte, der
Wissenschaft und der Philosophie wird das Individuum durch einen Schacht der
Passivität geschleust, ein Labyrinth voller Mauern; Theorien und Kenntnisse bilden
unüberwindliche Mauern, welche verhindern, die andern zu sehen und mit ihnen zu
sprechen, wozu einige Kanäle genügen. Am Ende des Schachtes aber erwartet die
Jungen die Zähmungsfabrik: die Armee. Sie beruht auf dem Willen, den andern zu
töten; sie prägt ihnen die weltliche Moral der Unterscheidung zwischen Vaterland
und allen andern, potenziellen Feinden ein. Menschen werden dazu erzogen und
abgerichtet, ein nie zu rechtfertigendes Verhalten zu rechtfertigen: Menschen zu
töten.
In den Unruhen von vor Ostern ist auch ein reformistisches Element
aufgetreten, worauf sich die Rekuperation stützen kann. Das interessiert uns hier
aber nicht, denn es lehrt uns nichts über den wirklichen Kampf der Gattung gegen
das Kapital. Die reformistisch-oberflächliche Strömung in der Bewegung, die nur
durch die radikale Aufwühlung an die Oberfläche kommen konnte, wird dem
Kapital seine Restrukturierung, also die Modernisierung des Despotismus, zu
verwirklichen ermöglichen.
Universität und Schule sind für den globalen Prozess des Kapitals zu starre
Strukturen; das gilt auch für die Armee. Hinsichtlich dieser muss übrigens der
Betrug der Argumentation aufgedeckt werden, welche die nationale Armee in
„Die revolutionäre Bewegung wird der gewaltigen Revolte der heutigen Jugend einen Sinn geben und
daraus das Ferment der gesellschaftlichen Wandlung machen, wenn sie die wahre und neue Sprache
findet, welche diese Revolte sucht, und ihr ein Aktionsfeld gegen die Welt zuweisen kann, welche sie
ablehnt.“ („Socialisme ou Barbarie“, Nr. 35, Seite 35)
9
Gegensatz zur Berufsarmee stellt und ganz erpresserisch argumentiert: Wenn man
den Militärdienst abschafft, erhält man dafür eine prätorianische Garde. Also
Achtung auf den Faschismus! Heute besteht die Kombination: Die Berufsarmee
erzieht und dressiert die Bürgerarmee. Wie war das übrigens mit dieser von Jaurès
so gerühmten Nationalen Armee? 11
Die Heilige Union von 1914, also die heilige Abschlachtung, die man heute
noch verehrt, ist dabei herausgekommen.
Die schnelle Hinfälligkeit jedes Wissens und die Entwicklung der Massenmedien
haben die Schule zerstört. Lehrer und der Professoren werden für das Kapital
unnütze Posten. Es tendiert darauf, sie durch programmierten, maschinell verteilten
Unterricht zu ersetzen. Das gilt ebenso für die Bürokratie, welches die
Übermittlung von Information und damit die Mobilität des Kapitals behindert. Das
Missverständnis besteht darin, dass viele, welche für das Leben kämpfen, bereit
sind, Lösungen anzunehmen, welche das menschliche Leben beseitigen, da sie den
Unterricht Maschinen anvertrauen. Ganz allgemein proklamieren diejenigen,
welche die Modernisierung befürworten, ihren eigenen Untergang als Wesen mit
noch gewisser Funktion in der Gesellschaft; sie fordern ihre eigene Entäusserung.
Diejenigen aber, welche zum Autoritarismus von vor Mai 68 zurückkehren
möchten, werden dasselbe Schicksal erleiden, denn zur Durchsetzung ihrer
Forderung müssen sie sich notgedrungen auf das Kapital stützen. Dieses profitiert
folglich von der Linken wie von der Rechten!
Der Despotismus des Kapitals erlegt den Menschen durch die neuen
Verhältnisse neue Verhaltensweisen auf. Beispielsweise Mobilität, Kurzlebigkeit,
Wechsel und, am wenigsten ersichtlich, Bedeutungslosigkeit. Sie treten
zwangsläufig in Gegensatz zu den alten Verhaltensweisen, Gewohnheiten und
Denkensarten. Die Dinge sind die wahren Subjekte. Sie zwingen den Menschen
ihren Rhythmus, ihren auf ihre einzelne Existenz beschränkten Sinn auf. Die Dinge
aber selbst werden vom Kapital manövriert. Diese neue Bedrückung könnte eine
Aufstandsbewegung gegen das Kapital auslösen. Aber auch diese subversive
Bewegung könnte vom Kapital zur Konsolidierung seiner Macht benutzt werden,
wie es schon die auf die Fabriken beschränkte Revolte der Proletarier in den ersten
Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts zur Durchsetzung der realen Herrschaft benutzt
hatte: die Eliminierung der für seinen Prozess unnützen Schichten, Sieg der
Vollbeschäftigung, Aufgabe der alten liberalen Schemata usw.
Siehe „L’armée nouvelle“. Bei der Lektüre dieses Buches wird klar, dass der « Faschismus » seine
Theorie nicht selbst finden musste, da sie ihm schon von der internationalen Sozialdemokratie vorgegeben
worden ist. Schon Jaurès wollte die Armee mit der Nation versöhnen (was anderes wollte und
verwirklichte Hitler?). 1914 war es soweit und die braven Franzosen zogen fröhlich zur Abschlachtung.
Worin unterscheidet sich Jaurès, wenn er schreibt: „Das Vaterland greift mit seinen Wurzeln zu den
Grundlagen des menschlichen Lebens, ja der Physiologie des Menschen selbst.“ (Edition 19/128, Seite
268)
Jenseits des Rheines verkündigte Bebel ungefähr dasselbe.
11
10
Wir wollen damit nicht sagen, eine Revolution könnte direkt aus diesem
Konflikt entspringen, auch nicht, es wären die konservativsten Kreise ihre Träger.
Es soll nur unterstrichen werden, dass das Kapital alle Menschen beherrschen muss
und es sich nicht mehr einfach auf die alten Gesellschaftsschichten stützen kann,
weil diese ebenfalls bedroht sind. Borkenau hatte das im Wesentlichen schon
begriffen: „Der gewaltige Unterschied zu den vorangegangen Revolutionen
übersetzt eine neue Tatsache. Bis zu den letzten Jahren stützte sich die
Konterrevolution im allgemeinen auf die reaktionären, technisch und intellektuell
den Kräften der Revolution unterlegenen Kräften Die Situation hat sich mit dem
Aufkommen des Faschismus geändert. Nunmehr wird jede Revolution wohl dem
Angriff des modernsten, wirksamsten und erbarmungslosesten Apparates
ausgesetzt sein. Das bedeutet das Ende des Zeitalter, in dem die Revolutionen sich
frei nach ihren eigenen Gesetzen entwickelten.“ 12
Man darf nicht vergessen, dass das Kapital, indem es ständig die Lebensweise
verändert, selbst Revolution ist. Damit stellt sich die Frage nach ihrer Natur neu;
das Kapital kann die auf den Sturz der vom Kapital beherrschten Gesellschaft
gerichtete aufständische Energie umlenken. 13 Mehr denn je ist eine klare Vision,
ein tiefes Verständnis erfordert. Jede Teil-Revolte ist nur Antrieb für die Bewegung
des Kapitals. Andrerseits ist es aber gerade ein Ergebnis des Zähmungsprozesses
der Menschen, dass sie nicht mehr fähig sind, theoretisch zu denken und der
Wirklichkeit in ihrer geschichtlichen Entwicklung entgegenzutreten. Die
Unfähigkeit, dieses theoretische Denken mit der materiellen Entwicklung des
Planeten und der menschlichen Gattung zu verbinden, ist auf die Trennung von
Sinnen und Gehirn und auf die alte Trennung von manueller und intellektueller
Arbeit zurückzuführen, wobei letzteres vom Kapital durch die Automation
überwunden wird.
Die Revolution ist nicht mehr streng gleichbedeutend mit der Zerstörung des
Alten, des Konservativen. Das hat das Kapital schon besorgt. Die Revolution
erscheint als ein Zurück zu etwas (Revolution gemäss mathematischer Theorie):
zum Gemeinwesen; nicht zu einer besonderen Form desselben, die schon
bestanden hätte. Die Revolution wird durch die Zerstörung dessen in Erscheinung
treten, was am modernsten, am fortschrittlichsten ist, denn Wissenschaft ist
Kapital. Das wird gleichzeitig die Wiederaneignung alles dessen sein, was sich
schon als menschliches Sein gezeigt hat oder zeigen wollte. Man braucht keinen
manichäischen Diskurs wieder zu erwecken, um diese Tendenz zu begreifen, denn
es ist dieselbe, welche der Verselbständigungsbewegung des Wertes hinderlich war.
Wenn mit dem Kommunismus die Menschheit geschaffen wird, dann muss im
Verlauf der Jahrhunderte der Wunsch nach dem Kommunismus sich schon
Zitiert von N. Chomsky in „L’Amérique et ses nouveaux mandarins“, Ed. du Seuil, Seite 196.
Die Asiatische Produktionsweise (APW) kennt ebenfalls Aufstandsbewegungen zur Regeneration.
Mitunter wurden sie sogar, gemäss verschiedenen Historikern, vom Staat selbst ausgelöst. Ein Beispiel ist
die Grosse maoistische Kulturrevolution. In diesem Fall wird die von uns behauptete Konvergenz
zwischen APW und KPW unterstrichen.
12
13
11
geäussert haben. Aber auch hier ist nichts leicht, nichts klar und zweifelsfrei. Nach
der Erfahrung des Kolonialismus, des Nazismus und wiederum des Kolonialismus,
der sich trotz der Revolte der unterdrückten Länder zu behaupten sucht – man
denke an die Quälereien der Engländer in Kenia, der Franzosen in Algerien und
der US-Amerikaner in Vietnam -, angesichts der endemischen, täglich wütenden
Gewalt könnte man daran zweifeln, was menschlich ist. Ist die Menschheit nicht zu
weit vom Weg abgekommen, zu sehr in ihren „bösen“ Irrsinn verbohrt, um sich
noch retten zu können?
Die Bewegung der Mittelschüler trägt den Charakter der kommunistischen
Revolution: die Revolution mit menschlichem Titel. In der Tat griff sie, wenn auch
nicht in der ganzen Tragweite, die Frage der Gewalt auf: Ablehnung der Armee,
des Militärdienstes, der Lizenz zum Töten für alle. Ausser den Anarchisten
predigen alle Gruppen und Grüppchen der (extremen) Linken die Notwendigkeit,
zu töten, damit man den Tod gegen das Kapital umkehren könne. Vor allem aber
die zum Äussersten Bereiten legen sich dabei aber nicht Rechenschaft ab, dass
damit von Anfang an die Notwendigkeit gefordert wird, zur Vollendung der
Revolution Menschenleben zu vernichten. Wie kann man eine Revolution aus dem
Gewehrlauf preisen? Eine Armee zu welchem Zweck auch immer fordern, heisst,
Unterdrückungsstrukturen auf allen Ebenen beibehalten wollen. Auch hier haben
wir das repressive Bewusstsein: Du sollst die Unlust, zu töten, überwinden, denn
eines Tages wird das notwendig sein (einige betonen sogar diese Notwendigkeit).
Das (repressive) Bewusstsein zwingt mich, unmenschlich zu sein, bis von einem
theoretischen Geschick der Tag dekretiert wird, an dem ich mich in ein
menschliches Wesen verwandeln darf.
„Ihre (der verschiedenen linken Gruppen) Sorge hinsichtlich des Militärs
besteht darin, dass zwischen der „bürgerlichen“ Absicht, den Militärdienst
abzuschaffen und dem libertären Pazifismus der Ablehnung des Militärdienstes aus
Gewissensgründen, der bei den Jungen mehr oder weniger latent ist, keine
Konvergenz eintrete.“ (T. Pfister, „Le Monde“ vom 27. 3. 1973).
Die Gewalt ist in der gegenwärtigen Gesellschaft eine gegebene Tatsache. Die
Revolution ist die Entfesselung von Gewalt, wobei sie beherrscht werden muss und
nicht blind wüten oder gar gefeiert werden darf. Das ist richtig, aber ungenügend,
denn die Natur der Gewalt wird von ihrem Ziel bestimmt. Die nie zu hoch
anzusetzende Gewalt ist diejenige gegen das kapitalistische System, nicht gegen die
Menschen. Das System wird aber von Menschen gebildet, weshalb das System
häufig nur über diese getroffen werden kann. Hierin besteht die Frage der
Einschränkung der Gewalt, oder man bleibt auf der Ebene des Kapitals.
Despotismus des Kapitals heisst Verallgemeinerung der Gewalt gegen die
Menschen. Das Kapital kann nur noch herrschen, indem es Menschen
gegeneinander stellt. Dazu kleidet es sie in verschiedene Rollen. Andrerseits stellt
im Konflikt jedes der beiden Lager das andere als von Nicht-Menschen gebildet dar
(siehe die US-Amerikaner gegenüber den Vietnamesen). Man kann Menschen nur
vernichten, wenn man sie zuvor ihrer Menschlichkeit entäussert. Hiesse es nicht
12
einfach, kapitalistische Methoden kopieren, ginge man im revolutionären Kampf
ebenso vor? Was anderes machen aber die Linken, wenn sie von der Zerstörung
der herrschenden Klasse oder der Polizisten (nur ein toten Polizist ist ein guter
Polizist)sprechen, statt von der Zerstörung der sie tragenden Struktur sprechen?
Die Gleichung CRS=SS im Slogan mag die Rolle der Polizei richtig wiedergeben;
die Liquidation der Polizei ist damit nicht gerechtfertigt. 1. Jede Unterminierung
der Polizei-Corps wird durch die Darstellung als Untermenschen verunmöglicht.
Im Gegenzug revoltieren die Polizisten dagegen und behaupten ihr Menschsein
gegenüber den Jungen gerade als die mörderische Maschinen, als welche sie
dargestellt werden. 2. Jeder Polizist oder CRS ist auch ein Mensch, ein Mensch mit
bestimmter Rolle in der Gesellschaft, wie wir alla auch. Man darf nicht jede
Unmenschlichkeit einem Teil der Menschheit, alles Menschliche einem andern
zusprechen. Es geht hier nicht um Gewaltlosigkeit 14, sondern darum, den Zweck
der Gewalt zu bezeichnen und sie streng zu begrenzen. Wir dürfen nicht die
Masken und Rollen übernehmen, welche uns das Kapital verpassen will. Nicht wer
das Kapital verteidigt, sondern das Kapital soll vernichtet werden. Andrerseits
lehnen wir die Theorie ab, die Verteidiger des Kapitals seien nicht frei; das System
produziere Polizisten ebenso wie Revolutionäre. Daraus lässt sich Gewaltlosigkeit
ableiten oder jede Gewalt; die Repressionsorgane wären ja nichts als Automaten.
Den Polizisten soll man als menschlichen Wesen begegnen. Wenn von Anfang an
diesen Menschen ihr Menschsein abgesprochen wird, wie soll es dann je post
festum erscheinen können? In Wirklichkeit denken die meisten an eine radikale
Lösung: die andern unterdrücken – was noch eine Methode der Klassengesellschaft
ist. Wir aber haben gesagt: eine Revolution mit menschlichem Titel, auch in diesem
Belang. Im – unvermeidlichen – Zusammenstoss mit Menschen, welche die KPW
verteidigen, dürfen diese Gegner nicht auf Bestien oder Mechanismen reduziert
werden; im Gegenteil, die Gegner sollen in ihrer Menschlichkeit, diejenige, die sie
zu besitzen glauben oder diejenige, welche sie wiederfinden können, bestätigt
werden. Der Kampf hat also auch eine spirituelle-bewusstseinsmässige Dimension.
Man muss versuchen, diese Individuen mit ihrer Mystifikation zu konfrontieren,
welche sie das Kapital verteidigen lässt, muss versuchen, in ihnen Zweifel zu
erwecken.
Die Frage des Terrorismus ist unter diesem Lichte zu stellen. Seine Schädlichkeit
ist schon aufgewiesen worden, was aber nicht genügt. Den Terrorismus
akzeptieren, heisst, vor der Macht des Kapitals kapitulieren. Der Terrorismus
appelliert an den Tod, um eine hypothetische Rebellion zu erwecken. Man kann
den Terrorismus indifferent zur Kenntnis nehmen, ihn aber nicht als
Handlungsweise vorschlagen.
Terrorismus heisst: die Mauer wird als unüberwindlich und unzerstörbar
wahrgenommen. Terrorismus ist das Eingeständnis der Niederlage. Alle jüngeren
Beispiele beweisen das zur Genüge.
Der Pazifismus ist im übrigen nur eine scheinheilige, maskierte Gewalt und beweist nichts als die
Unfähigkeit, zu sein.
14
13
Wenn man die vernichtende Herrschaft des Kapitals erkennt, muss man auch
anerkennen, dass es auf alle seinen Einfluss ausübt. Keine menschliche Gruppe
wäre davon nicht betroffen. Umgekehrt muss demnach im gegnerischen Andern
auch sein mögliches Menschliches anerkannt werden. Die Gewalt soll gegen sich
selbst gehen: die Zähmung durch das Kapital, die versichernden und aufwertenden
Erklärungen, und gegen die Aussenwelt: die Rackets der politischen Gruppen, die
„Kapitalisten“, die verschiedenen Polizeien. . .
Das alles gewinnt nur seine ganze Tragweite, wenn gleichzeitig die alten
Methoden des Kampfes aufgegeben werden. Die Bedeutung der
Mittelschülerbewegung liegt auch darin, dass sie, wie schon die Bewegung vom Mai
1968, deutlich macht, dass die alten, gewohnten Methoden unausweichlich zur
Niederlage führen. Die Demonstrationen, Paraden, Spaziergänge und Feste führen
zu nichts. Plakate, Spruchbänder, Flugblätter, Zusammenstoss mit der Polizei: all
das ist zu einem Ritual geworden, worin die Polizei die Rolle der ewigen
Gewinnerin spielt. Diese Kampfformen müssen grundsätzlich kritisiert werden, da
sie für die Entwicklung neuer Kampfformen hinderlich sind. Das gilt natürlich
auch für die alten Kampfplätze: den Arbeitsplatz, die Strasse. Solange die
Revolution sich nicht auf ihrem Boden bewegt, bleibt sie auf demjenigen des
Kapitals, solange ist kein qualitativer Sprung möglich. Und um diesen geht es ganz
genau, oder die Revolution stagniert, versickert und wirft uns für Jahre zurück. Um
die alten Kampfplätze aufzugeben müssen gleichzeitig neue Lebensformen
geschaffen werden. Wozu nützt eine Fabrikbesetzung, diejenige einer Autofabrik z.
B., wo doch die Autoproduktion gestoppt werden muss? Besetzung zur
Selbstverwaltung? Ebenso könnten die Gefangenen des Systems sich ihrer
Gefängnisse bemächtigen, um ihre Gefangenschaft besser zu organisieren! Eine
neue Gesellschaftsform baut sich nicht auf der alten auf. Schicht auf Schicht sich
folgende Zivilisationen sind selten. Das Bürgertum errang seinen Sieg auf seinem
Terrain, der Stadt. Das ist für den Kommunismus noch vermehrt gültig, der weder
eine neue Produktionsweise, noch eine neue Gesellschaft ist. Heute kann die
Menschheit ihren Kampf gegen das Kapital weder in der Stadt, noch auf dem Land
15
austragen, sondern muss ausserhalb gehen. Aus diesem Grunde drängt sich die
Schaffung kommunistischer Formen auf, welche dem Kapital wahrhaft
entgegengesetzt sind und wo sich die revolutionären Kräfte vereinen können. Mit
dem Mai 1968 ist die Notwendigkeit der Revolution wieder auf der Tagesordnung.
Darauf müssen Kapital und Konterrevolution Rücksicht nehmen. Letztere versucht
die Entwicklung der Revolution zu beschränken, allerdings mit wenig Erfolg, denn
die Revolution ist irrational. Die Irrationalität ist der Grundzug der Revolution.
Natürlich gibt es heute die alte Dichotomie Stadt – Land nicht mehr. Das Kapital verstädtert den
Planeten. Das Kapital veranstaltet die Mineralisierung der Natur. Es gibt aber noch Konflikte, wo in
ländlicher Region einige Bauern überleben, etwa wegen des wachsenden Wasserbedarfs der Städte. So
werden Staudämme erbaut, bis 200 Kilometer von den Zentren entfernt. Mit diesen geht gutes Land für
Landwirtschaft und Jagd, gehen Fischgründe verloren. Aber auch Quellen werden gekappt, welche für die
Landwirtschaft wichtig sind. Das kann aber auch Leute aus der Stadt treffen, welche auf dem Land ein
Ferienhaus haben. Die Konfrontation verläuft also kaum mehr entlang der traditionellen Front zwischen
Bauernschaft und Stadtherrschaft. Es geht um die globale Beziehung des Menschen zur Natur.
15
14
Alles, was für die herrschende Ordnung rational ist, ist vom System einverleibbar.
Die Revolution kann aber dennoch gehemmt werden, wenn sie auf dem Boden
ihres Feindes bleibt. Sie kann ihre Ketten nur zerstören und dabei ihren
uneinholbaren Aufschwung nehmen, indem sie ihren authentischen Grund erobert.
Ziel der Revolution ist das menschliche Gemeinwesen. Dabei soll sich dieses
Ziel schon in der Bewegung auf dieses Ziel hin zeigen. Die Benutzung der Mittel
der herrschenden unmenschlichen Klassengesellschaft ist also ausgeschlossen.
Somit ist es absurd, den langen Marsch durch die Institutionen zu fordern, um sie
in den Dienst der revolutionären Bewegung zu nehmen. Man bleibt dabei in der
Mystifikation befangen, dass der historische Prozess mit dem Kapital seine
Vollendung gefunden habe. Es entspricht auch durchaus der Mystifikation des
Kapitals, den Menschen als unwesentlich, nicht bestimmend, ja unnütz
hinzustellen. Im kapitalistischen System ist das allerdings wahr: Der Mensch wird
überflüssig, es ist aber auch eine Tatsache, dass der Mensch seit seinem Auftauchen
invariant geblieben und nicht zerstört worden ist – oder ihm käme nicht einmal die
Idee einer Revolte, und solange die Jugend von der Zähmung nicht in einen Käfig
eingeschlossen wird, ist alles möglich. Daher muss im Kampf versucht werden, das
in jedem Menschen weiterbestehende Menschliche wieder aufwachen zu lassen,
weswegen man nicht verleitet werden darf, die Menschen nur von ihrem
verdinglichten Äussern her zu beurteilen. Auch ein dermassen verhärtetes
Individuum, dass es zum organischen Automaten des Kapitals wird, kann seine
Konstrukte aufsprengen. Hier soll man den alten Ratschlag von Marx befolgen: die
Ketten nicht nur sichtbar, sondern zur Schmach machen. Jedes Wesen soll in Krise
geraten. In der Konfrontation mit der Polizei geht es nicht nur darum,
Repressionskräfte zu beseitigen, sondern auch darum, in ihnen das Menschliche
aufbrechen zu lassen.
Dazu taugen die alten Methoden der direkten Konfrontation wenig, umso mehr
neue, wie etwa das Lächerlichmachen von Institutionen16, was nichts anderes heisst,
als sie in ihre eigene Falle setzen.
Es wäre absurd, eine solche Methode theoretisieren und verallgemeinern zu
wollen. Gewiss ist aber, dass sie wirkungsvoll ist. Es gibt aber eine Menge weiterer
Methoden. Der springende Punkt ist: die Einsicht, dass Kampfplatz und Mittel
gewechselt werden müssen. Einige haben diese Notwendigkeit bis zu einem
gewissen Punkt begriffen und ziehen daraus ihren – negativen – Schluss, indem sie
alles liegen lassen und sich auf die Reise begeben. Ja, man muss aus dem
Teufelskreis der gegenwärtigen Kämpfe herauskommen.
Die Linken dagegen bleiben innerhalb dieses Teufelskreises von Provokation,
Repression und Subversion, woraus die Revolution entspringen soll. Damit wird
aber in Kauf genommen, dass Menschen geopfert werden, damit andere in
So haben sich US-amerikanische Psychiater in Psychiatrien einweisen lassen, um zu zeigen, dass
Wahnsinn nicht wissenschaftlich zu definieren ist. Fügen wir noch bei, dass der gegenwärtige Wahnsinn
eine notwendige Produktion des Kapitals ist.
16
15
Bewegung kommen. Die kommunistische Revolution verlangt keine Martyrer und
braucht auch keine. Der Martyrer ist ein Lockvogel. Doch was taugt eine
Revolution, welche den Tod als Lockvogel benutzt. Der Tod wird zu einem
wesentlichen Element zur Bildung des Bewusstseins, was sicher eine langwieriger
Weg des Innewerdens ist. Dafür gibt es aber Abkürzungen und Notstege: Irgend
jemand stirbt wie gerufen (was seinen Hinschied leichter macht) und man schwenkt
diesen Leichnam, um die revolutionären Fliegen anzuziehen.
Die kommunistische Revolution ist der Sieg des Lebens. Sie darf keinesfalls den
Tod glorifizieren oder ihn gar benutzen wollen, was sich noch mehr auf das Terrain
der Klassengesellschaft zu begeben hiesse. Den auf dem Feld der Ehre für das
Kapital gestorbenen Helden möchten einige die für die Revolution gestorbenen
gegenüberstellen – was auf denselben Karneval der Leichenfledderei hinausläuft!
Diese schwere Verirrung ist Folge der Tatsache, dass die Revolution nie als ein
notwendiges Phänomen erkannt worden ist, das die
Bedeutung eines
Naturphänomens hat. Dagegen wird allgemein angenommen, eine Revolution
hänge von irgendeiner Gruppe ab, welche die Explosion des Bewusstseins
veranstalte. Gegenwärtig stehen wir aber vor folgender Alternative: Entweder es
findet wirklich eine Revolution statt (Übergang von der Bildung von
Revolutionären zur Zerstörung der KPW) oder die menschliche Gattung wird auf
die eine oder andere Weise vernichtet. Etwas Drittes gibt es nicht. Sobald die
Revolution einmal losbricht, rechtfertigt man nichts mehr und es kann nur noch
darum gehen, Exzesse zu vermeiden. Dazu bedarf es aber autonomer Menschen,
die von keinem Chef mehr abhängen und ihre Revolte selber steuern können.
Natürlich geht es hier um die Tendenz. Vor allem aber muss der kannibalische
Diskurs der Abrechnung, der physischen Beseitigung einer herrschenden Klasse
oder Gruppe von Menschen, aufhören. Wenn der Kommunismus für die Gattung
wirklich eine Notwendigkeit darstellt, stellen sich solche Fragen nicht.
Ganz allgemein zweifelt die Mehrzahl der Revolutionäre am Kommen der
Revolution; um ihren Zweifel zu beschwichtigen flüchten sie in verbale Gewalt. Ihr
Zweifel äussert sich auch im Bedürfnis, die Revolution zu legitimieren, erkennen sie
doch die gegenwärtigen Zeichen der Revolution nicht als solche. Dann stürzen sie
sich, zur weiteren Selbstvergewisserung in die Gewinnung von Anhängern: jeder
„Neue“ lindert ihren bohrenden Zweifel, „beweist“ er doch die Nähe des günstigen
Zeitpunkts... Also: noch mehr Agitation und so weiter. Agitation ist
Bewusstseinsexport, ist Revolutionieren.... . Diese Leute begreifen nicht, dass am
Tag der Revolution niemand mehr die alte Ordnung verteidigt. Das bedeutet
natürlich nicht, dass die Leute von einem auf den andern Tag sich ihres Krams
entledigt hätten, nein, es geht nur um die Feststellung, dass die Revolution sowohl
von Menschen der Rechten wie der Linken gemacht wird. Natürlich tauchen nach
Beseitigung des kapitalistischen Überbaus und der Hemmung der kapitalistischen
Dynamik die alten Verhalten und Schemata wieder auf, da die Voraussetzungen des
Kapitals noch bestehen. In der Tat kleidet sich die Revolution in alte Kleider. Das
wird auch für die kommunistische Revolution gelten, sowenig sie mit früheren
16
Revolutionen gemein hat. Die Nachrevolution wird also auch alte Elemente
reaktivieren, um damit die verschiedensten Dimensionen des menschlichen
Gemeinwesens zu betätigen. In schwierigen Situationen können aber auch die alten
institutionellen Schemata wieder auftauchen, ja gewisse Elemente könnten
versteckterweise ihre einstigen Privilegierten wieder einbringen wollen. Andere
werden die Selbstverwaltung propagieren ohne realisiert zu haben, dass der
Kommunismus keine neue Produktionsweise, sondern eine neue Lebensform ist.
Im übrigen darf man nicht vergessen, dass etwas Neues in altem Gewand
erscheinen kann. Sich auf die passeistischen Elemente versteifen, ist total verkehrt.
Die Nachrevolution ist nicht der hehre Augenblick der vollständigen und
sofortigen Versöhnung und der wunderbaren Überwindung der ganzen
unterdrückerischen Vergangenheit. Man wird dafür zu kämpfen haben, dass die
neue Lebensweise sich durchsetzt. Die Frage ist aber, welcher Art dieser Kampf
sein wird. Jeder sektiererische und inquisitorische Geist ist Gift für jede Revolution.
Auf jeden Fall kann auf keine klassische Diktatur zurückgegriffen werden, womit
nur eine Seinsform der Klassengesellschaft reaktiviert würde. Nur durch die
Befreiungsäusserungen der Individuen ist die Überwindung dieser kritischen
Übergangssituation möglich. Der kommunistische Druck, der Druck der immensen
Überzahl der Menschen schafft das menschliche Gemeinwesen und wird helfen,
die Hindernisse zu beseitigen. Dank einer Bekräftigung des Lebens oder: „wenn du
den Menschen als Menschen und seinen Bezug zur Welt als einen menschlichen
Bezug annimmst, kannst du Liebe nur gegen Liebe, Vertrauen nur gegen Vertrauen
tauschen“ (Marx). Der Fall gewaltsamer Zusammenstösse wird eine Ausnahme
darstellen.
Mit der Annahme, eine Diktatur sei notwendig, gibt man zu, dass man die
Menschheit nie für reif hält, zum Kommunismus überzugehen. Hingegen ist der
Weg zu diesem einzigartigen Augenblick lang, schmerzhaft und schwierig, wo die
Mystifikation offensichtlich wird und die Verirrung der Menschheit erkannt wird:
ihre eigene Zerstörung, in die sie sich eingelassen hat und die zu einem grossen Teil
darin besteht, dass sie ihr Geschick dem ungeheuerlichen, automatischen System
des Kapitals überlassen hat, der „Prothese“, wie G. Ceserano und G. Collu das
nennen 17. Der besagte Moment lässt die Menschen klar darüber werden, dass sie
Siehe „Apocalisse e rivoluzione“ , Ed. Dedalo, 1973. Dieses Buch versteht sich als Manifest der
biologischen Revolution. Es ist von einem Inhaltsreichtum, der hier nicht wiedergegeben werden kann.
Auch diese Autoren behandeln Vorstellung und Symbolik in den gesellschaftlichen Beziehungen. Hier
zwei Zitate, welche zeigen, in welche Richtung ihre Auffassungen gehen:
„Die fortschrittlichen Kommentatoren des MIT-Berichtes und der Vorschläge von Mansholt haben
falsch, wenn sie behaupten, dass das Kapital nur weiterbestehen könne, wenn es fortwährend die
Produktion von Waren, Substrat des zu verwertenden Wertes, steigere, wenn sie unter Ware nur „Dinge“
verstehen. Die Natur der Ware hat aber geringe Bedeutung. Sie kann „Ding“ oder „Person“ sein. Damit
das Kapital sein Wachstum fortsetzen kann, genügt es, dass innerhalb der Zirkulation ein Moment
bestehe, worin irgendeine Ware die Aufgabe übernimmt, sich gegen A zu tauschen, um sich anschliessend
gegen A’ zu tauschen. Das ist theoretisch vollständig möglich, wenn sich das konstante Kapital statt zum
Grossteil in Anlagen zur Produktion von Gegenständen in Einrichtungen investiert wird, welche
„gesellschaftliche Personen“ (gesellschaftliche und persönliche Dienste) erzeugen können.“ (Seite 82)
17
17
die bestimmenden Elemente sind und dass sie auf ihre Macht nicht zugunsten der
Maschinerie verzichten dürfen, nicht hoffen dürfen, durch diese Entäusserung ihr
Glück zu erreichen.
Dieser Punkt einmal erreicht, ist die Sache gelaufen. Es wird kein Retour mehr
geben. Die ganze Vorstellung des Kapitals wird wie ein Kartenhaus in sich
zusammenfallen. Der Mensch wird nicht mehr das Kapital in seinem Kopf haben,
er wird sich und seinesgleichen erkennen. Damit steht der Schaffung eines
menschlichen Gemeinwesens nichts mehr im Weg.
Die Ideologien, die Wissenschaften, die Kunst etc. versuchen mittels ihrer
Tätigkeiten und Organisationen dem Menschen einzureden, dass er absolut
unwesentlich sei, dass er nichts machen könne (nicht dieser oder jener einzelne
Mensch dieser oder jener Epoche sondern der Mensch als invariantes Wesen
überhaupt), dass das gegenwärtige Stadium unausweichlich eintreten musste, sobald
wir begonnen hätten, die Technik zu benutzen. Es bestände also eine mit der
Technik verbundene Fatalität: ohne sie kein Fortschritt Man könnte also, dieser
Ideologie gemäss, nur gewissen Übeln abhelfen, nicht aber der ganzen Maschinerie
dieser Gesellschaft selbst entkommen.
Die Menschen stecken in der Falle dieser Ideologie können sich nicht mehr
bewegen. Es ist die Repräsentation des Kapitals. Sie besteht darin, dass ein
vernünftiger gesellschaftlicher Prozess nur noch als derjenige des Kapitals gedacht
werden kann, womit das ganze System nicht mehr als Unterdrückung durchschaut
werden kann. Zur Erklärung der negativen Aspekte wird auf
Fakten
18
zurückgegriffen, welche als ausserkapitalistisch bezeichnet werden .
„Die höchste Kohärenz des Fiktiven besteht darin, sich als vollkommene Repräsentation zu zeigen, also
als Organisation vollständig irrealer Erscheinungen. Dem entspricht die endgültige Trennung vom
Konkreten, das Verschwinden des Sinnlichen (das Fiktive ist das Wesen der Religion). Die Gattung kann
sich aber von den Prothesen, dem Fiktiven und von der Religion nur emanzipieren, wenn sie sich als
konsubstantielle Subjektivität der organischen Naturbewegung (movimente organico naturante) und der
globalen, prozessierenden Kapazität beweist. Die biologische Revolution besteht in der definitiven
Umkehr der Beziehung, welche während der ganzen Vorgeschichte [die der kommunistischen Revolution
vorhergehende Epoche; Anmerkung des Übersetzers] die Körperlichkeit der Gattung der Herrschaft der
gesellschaftlichen Maschinerie unterworfen sah.; sie besteht in der Befreiung der organischen
Subjektivität und in der unumkehrbaren „Zähmung“ der Maschine, wie immer sie erscheint.“ (Seite 153)
18 Hier ein interessantes Beispiel:
„Wir schliessen also, dass die Finanzierung des Wachstums durch die dem Kapitalismus eigenen
Mechanismen fast nicht gewährleistet ist. Diese Mechanismen erforderten nämlich, dass die Einzelnen
bereit erklärten, wären, sich zu verschulden, um zu Liquiditäten zu gelangen, welche sie nichtliquid in
diesen oder jenen Unternehmen platzierten und somit deren Wachstum ermöglichten. Das frische Geld
dränge so über die Börse in die Wirtschaft ein. Und die Unternehmen wären von der Börse finanziert,
müssten sich also nicht selbst finanzieren. Bei abwesender Inflation wäre die Höhe der Verschuldung der
Einzelnen gleich der Höhe der für das Wachstum notwendigen Liquiditäten und nicht höher.
Um sein Wachstum zu finanzieren muss es nämlich Spekulanten (Wettende) geben, die bereit sind,
ihren Geldeinsatz nominal zu verlieren, falls sie sich etwa in diesem oder jenem Unternehmen getäuscht
haben. Ist die Höhe dieses Einsatzes ungenügend, so müssen sich die Unternehmen direkt bei
Finanzinstituten verschulden... Diesen Mechanismus gibt es im nichtkapitalistischen System.
Letztlich finanziert mit der Existenz der Zinsrate, dem Preis des nichtgeliehenen Geldes (im Fall der
Platzierung in Liquiditäten) oder des praktisch risikolos in Obligationen geliehenen Geldes das
kapitalistische System nur in geringem Masse das Wachstum und erzeugt eine kumulative Inflation.“
(„Analyse de l’inflation“, J. Fau, in “Le Monde“ , vom 5. Dezember 1972)
18
Es geht darum, ein Verhalten zu zerschlagen, welches der Repräsentation des
Kapitals erlaubt, am menschlichen Hirn zu schmarotzen. Weg mit der gezähmten
Haltung, worin das Kapital der Herr ist! Das ist umso dringender, als heutzutage
die alte Dialektik von Herr und Knecht infolge der Unwesentlichkeit des Knechts,
des Menschen, am verschwinden ist.
Der Kampf gegen die Zähmung versteht sich als weltweiter Kampf. Auch in
dieser Hinsicht haben sich Stimmen erhoben. Sie stellen das eingleisige Schema der
menschlichen Evolution in Frage und protestieren dagegen, dass die KPW für alle
Länder ein Fortschritt gewesen sei. Damit entmythifizieren sie die universelle a
priori-Rationalität des kapitalistischen Systems.
Die in den Augen der Propheten des ökonomischen Wachstums und Take off
zurückgebliebenen oder Entwicklungsländer sind in Tat und Wahrheit Länder, wo
es der KPW nicht gelingt, sich festzusetzen. In Asien, in Südamerika und in Afrika
können Millionen von Menschen nicht unter das Joch des Kapitals gezwungen
werden. Ihr Widerstand ist zumeist negativ, d. h. sie vermögen kein anderes
Gemeinwesen zu setzen. Er ist aber wichtig, um im Weltmassstab einen Pol des
menschlichen Protestes aufrecht zu erhalten, den allein die kommunistische
Revolution in eine Bewegung der Bildung eines neuen Gemeinwesens verwandeln
kann. Dieser Pol wird auch beim Ausbruch der Revolution eine entscheidende
Rolle für die Zerstörung des Kapitals bilden.
In den sogenannten zurückgebliebenen Ländern hat sich die Jugend unter
verschiedenen Parolen erhoben (in Ceylon, Madagaskar 1972, in geringerem Masse
aber auch in Senegal, Tunesien und in Zaire). Die Forderungen gehen aber in
dieselbe Richtung wie im Westen. Seit zehn Jahren nun schon bezeugt der
Aufstand der Jugend seinen Grundzug: die Verweigerung der Zähmung. Ohne
Prophet spielen zu wollen, versuchen wir ihre Aussicht abzuschätzen. Im Mai 1968
erinnerten wir an die Vorhersage von Bordiga, dass 1968 die revolutionäre
Bewegung wieder einsetzen werde und eine Revolution 1975 – 1980 zu erwarten
sei. Wir halten diese Prophezeiung aufrecht. Jüngere politisch-gesellschaftlichökonomische Ereignisse bestätigen diese Voraussage und auch andere Autoren
gelangen zu diesem Schluss. Die KPW befindet sich in einer Krise, welche sie
vollständig erschüttert. Sie ist nicht vom Stil 1929, wenn sich auch ähnliche
Elemente finden lassen. Es geht um eine Restrukturierung: Diese ist dringend
erforderlich, wenn das Kapital die zerstörerischen Konsequenzen seines globalen
Prozesses eindämmen will. Die ganze Debatte um das Wachstum bezeugt das; die
Protagonisten glauben aber, die Bewegung noch einmal eindämmen zu können und
empfehlen Verlangsamung... Um des Widerstandes der Menschen Herr zu werden,
kann das Kapital nur versuchen, sie absolut zu beherrschen. Dagegen, gegen diese
deutlich sich abzeichnende Tendenz unserer Tage, erhebt sich die Jugend und viele
Erwachsene beginnen sie zu begreifen.
19
Fast überall findet man diesen Wiederanstieg der revolutionären Wellen, ausser
in der Sowjetunion, einem riesigen Land, das ein grosses Hindernis darstellen und
die Revolution um Jahre zurückwerfen könnte, wodurch unsere Voraussage zu
einem frommen Wunsch würde. Doch die Ereignisse in der Tschechoslowakei, in
Polen und der wachsende Despotismus in den Sowjetrepubliken zeigen, wenn auch
in negativer Form, dass dort die Subversion ebenfalls nicht abwesend ist. Die
Unterdrückung ist umso despotischer, je umfassender eine Erhebung zu werden
droht. Andrerseits spielt die Bewegung der Entstalinisierung eine ähnliche Rolle wie
die Adelsrevolte 1825 in Russland. Diese wurde in der Folge von der Intelligentsia,
darauf von der Bewegung der Narodniki abgelöst. Es wird also in Russland wohl
eine Subversion bestehen, welche über den Widerstand des Demokraten Sacharow
von der Akademie der Wissenschaften hinausgeht. Es bestehen da historische
Konstanten: In Frankreich und Russland sind Revolutionen radikale Wirklichkeit
geworden, deren Keime aus andern Ländern stammten. Die französische
Revolution verallgemeinerte die bürgerliche Revolution über ganz Europa. Die
russische Revolution war eine doppelte Revolution, worin sich letztlich nur die
kapitalistische Revolution durchsetzte. Die Studentenrevolte entstand nicht in
Frankreich, erreichte dort aber ihre grösste Heftigkeit und führte zu einer
nachhaltigen Erschütterung der Gesellschaft. In der Sowjetunion kann keine
ähnliche Erschütterung eintreten, solange die Folgen der Revolution von 1917
nicht ausgeschöpft sind: die antikolonialen Revolutionen. Dies ist nun insofern der
Fall, als die wichtigste antikoloniale Bewegung, die chinesische, an ihr Ziel gelangt
ist.
Zwischen der französischen und der russischen Revolution bestand eine
beträchtliche Phasenverschiebung. Das gilt nun auch für den neuen revolutionären
Zyklus. In unserer Epoche ist der Despotismus des Kapitals mächtiger als der
damalige des Zaren; die heilige Allianz zwischen der UdSSR und den USA erweist
sich als wirkungsvoller als die damalige zwischen Russland und England. Eine
Phasenverschiebung stellt aber keine Aussetzung des Phänomens dar. Wir können
voraussagen, dass die Dimension „Gemeinwesen“ der Revolution deutlicher als im
Westen in Erscheinung treten wird und diese in Riesenschritten fortschreiten lassen
wird.
Bordiga vermochte in einer Periode der totalen Konterrevolution ihrem
zerrüttenden Einfluss nur widerstehen, indem er die künftige Revolution im Auge
behielt, sich also nicht nur mit einer Vergangenheit abgab, welche in solchen
Perioden nur noch totes, von der bestehenden Ordnung bestimmtes Gewicht ist.
Die Überlegungen des Kampfes waren also auf die Zukunft gerichtet: „Wir sind die
einzigen, welche unser Handeln auf die Zukunft abstützen.“ Oder 1952: „Wir sind
stärker in der Wissenschaft der Zukunft, als in derjenigen der Vergangenheit und
Gegenwart.“ („Esploratori del futuro“, in Battaglia comunista, Nr. 6)
Indem Bordiga die Zukunft im Auge behielt, vermochte er die revolutionäre
Bewegung zu durchschauen und liess er sich nicht von gegebenen Fakten blenden.
Nun, seither hat die Futurologie einen beträchtlichen Aufschwung genommen. Das
20
Kapital dringt in dieses neue Gebiet ein und versucht es auszubeuten. Es
projektiert dabei die künftige Enteignung und Zähmung des Menschen. Ja man
kann sagen, dass die KPW sich von andern Produktionsweisen durch
Zukunftsplanung unterscheidet. Von Anfang an erwies sich für das Kapital die
Beziehung zur Vergangenheit und zur Gegenwart als weniger wichtig als die
Beziehung zur Zukunft. Das ist schon seinem Gesamtprozess eingeschrieben: Der
Mehrwert, das potenzielle Kapital, kann sich nur realisieren und wirkliches Kapital
werden, indem er sich gegen künftige Arbeit tauscht. Vom Moment der Erzeugung
des Mehrwertes an hat dieser seine Wirklichkeit erst in einer Zukunft. Diese
Zukunft ist nur hypothetisch und nicht unbedingt nahe und erfordert die künftige
Aktivierung von Arbeitskraft. Tritt diese nicht ein, so vermag sich dieser potenzielle
Mehrwert nicht zu realisieren, womit ein Substanzverlust schon in der Gegenwart
eintritt. Es liegt also im Wesen des Kapitals, die Zukunft zu beherrschen, um seine
Produktions-Zyklen vollenden zu können. Das Kreditsystem erlaubt ihm diese
Eroberung der Zukunft. Das Kapital hat sich die Zeit angeeignet und modelliert sie
nach seinem Modell. Die Zeit wird quantitativ 19.
Mit der Entwicklung der Zukunfts-Industrie (Futurologie) wird die
Programmierung der Zeit wissenschaftlich; die Entwicklung der Industrie wird
kapitalisiert. Nunmehr produziert das Kapital die Zeit 20. Wo sollten die Menschen
von nun an ihre Utopien und Uchronien verwirklichen können?
In den früheren Stadien beherrschte die herrschende Gesellschaft die
Gegenwart und in einem geringerem Masse die Vergangenheit, während die
Revolution die Zukunft für sich hatte. Die bürgerlichen und proletarischen
Revolutionen sollten den Fortschritt sichern, der nicht nur die Existenz einer
verwerteten Zukunft im Hinblick auf die Gegenwart und die Abschaffung der
Vergangenheit war, wenn auch die Vergangenheit im Verhältnis zur Zukunft wie
das Reich der Finsternis im Verhältnis zum Reich des Lichtes erschien. Jetzt aber
hat das Kapital die Zukunft erobert. Es fürchtet die Utopien, ja versucht selbst, sie
zu erzeugen. Die Zukunft ist rentabel. Produktion der Zukunft heisst, die
Menschen hinsichtlich einer bestimmten Produktion konditionieren. Das ist die
absolute Programmierung. Der Mensch als Gerippe der Zeit (Marx) ist aus der Zeit
ausgeschlossen. Die Herrschaft der Vergangenheit, der Gegenwart und der
Zukunft mit Ausschluss des Menschen erlaubt die strukturale Vorstellung, worin
Es ist nicht sosehr das Quantitative bzw. die Negation des Qualitativen, welches das Kapital
charakterisiert, sondern ein grundsätzlicher Widerspruch zwischen qualitativ und quantitativ, worin das
Quantitative das Qualitative bestimmt.
Man kann nicht die Qualität ohne die Quanität oder den Gebrauchswert ohne den Tauschwert wollen.
Dagegen braucht es eine totale Veränderung, worin jede Logik der Herrschaft ausgelöscht ist. Qualität
und Quantität sind eng mit dem Mass, dieses mit dem Wert verknüpft. Mass gibt es aber sowohl im
Tausch-, wie im Gebrauchswert. Im Falle des Gebrauchswertes besteht persönliche Herrschaftsbeziehung:
die Gebrauchswerte messen den sozialen Status und das Prestige. Es gibt ebenso einen Despotismus des
Gebrauchswertes wie einen des Tauschwertes (heute des Kapitals) In seinen Notizen kritisiert Marx James
Mill, den Philosophen, dessen Utilitarismus den Menschen zu einem Gebrauchsding reduziert, wobei sich
gleichzeitig der Tauschwert verselbständigt.
20 Sternberg hat das gut in „Futur sans avenir“ ausgedrückt.
19
21
alles nur noch Kombination von Gesellschaftsbeziehungen, Produktivkräften und
Mythemen ist . . .Die Struktur in ihrer Vollendung beseitigt die Geschichte.
Die Geschichte ist aber, was die Menschen getan haben.
Man versteht nun, dass die kommunistische Revolution nicht nur eine andere
Zeit setzen muss, sondern auch einen neuen Raum. Beides geschieht gleichzeitig,
wo die Menschen in ein neues Verhältnis zur Natur eintreten und sich mit der
Natur versöhnen. Wir haben gesagt, dass alles partikuläre Beute der
Konterrevolution ist. Wir müssen nicht nur einfach die Totalität fordern, sondern
vor allem die Vereinigung dessen, was getrennt, vermittelt worden ist. Wir müssen
die integrale Zukunft mit Individualität und Gemeinwesen fordern. Dieses
zukünftige Wesen existiert schon als vollständige Forderung. Es charakterisiert den
revolutionären Charakter der Bewegung vom Mai 1968 und der Mittelschüler
dieses Frühlings 1973 am besten.
Der revolutionäre Kampf ist Kampf gegen die Herrschaft allerorten, aller
Zeiten, aller Aspekte des Lebens. Seit 5 Jahren überflutet der Protest alle Gebiete
des Lebens im Kapital. Jetzt erreicht die Revolution ihren Kampfplatz, dessen
Zentrum überall und dessen Oberfläche nirgends ist 21; ihre Aufgabe ist unendlich:
Zerstörung der Beherrschung, Setzung der unendlichen Äusserung des
kommenden Menschenwesens. Doch kein Optimismus raunt uns zu, dass in fünf
Jahren die wirkliche Revolution beginnt: die Zerstörung der KPW!
(Aus „Invariance“ Serie II, Nr. 3, 1973. übersetzt von A. Loepfe)
**************
Dies ist die Definition des Unendlichen von Blanqui, der dabei den berühmten Satz von Pascal
verändert. Siehe: „L’Eternité par les astres“, Ed. La Tête de Feuille, S. 119.
21
22
„Gegen die Zähmung“, von Jacques Camatte,
wiedergelesen
Andres Loepfe
Die Übersetzung und Herausgabe der Schrift „Contre la domestication“
von Jacques Camatte ist Gelegenheit zu ihrer Befragung. „Contre la
domestication“ ist in Nummer 3 der Serie II von „Invariance“ erschienen
und bildet mit „Errance de l’humanité“ und „Déclin du mode de
production capitaliste“ eine Einheit (wie J. Camatte heute betont).
„Contre la domestication“ nimmt zur Bewegung der Mittelschüler im
Frühling 1973 Stellung.
Es folgt jeweils eine Passage aus der besagten Schrift, woran sich
Überlegungen knüpfen. Die Zitate stammen aus „Gegen die Zähmung“ in
Exitus Nr. ????
(Seite 1) „Die kapitalistische Gesellschaft hat nie eine so kritische
Periode wie die gegenwärtige gekannt. Alle Elemente einer klassischen
Krise existieren im Dauerzustand, ausser der Produktionsverminderung,
die nur gewisse Länder in beschränktem Umfang betrifft“
Nach marxistischer Krisentheorie ist eine Krise Krise des Kapitalzyklus,
welche den Gesellschaftskörper erschüttert. Eine solche Krise beinhaltet
den Zerfall des Marktes, da sich Wert und Mehrwert nicht mehr
realisieren lassen etc. Das war 1973 nicht der Fall. Jacques Camatte
stimmt hier offensichtlich nicht mit der marxistischen Theorie überein,
geht darüber aber stillschweigend hinweg.
(S. 1) „Die Gewalt und die Qualen, welche die Menschen empöre und
bewegen sollten, blühen und sind weltweit endemisch; gegenüber der
heute praktizierten Tortur erscheint die „Barbarei“ der Nazi als
handwerklich-archaische Methode.“
Eine Macht bedarf nur insofern der Gewalt und Folter, als sie bedroht ist.
Der kapitalistische Staat besteht im Vertrag der Bürger. Dieser ist die
ÜBEREINKUNFT FREIER Individuen, auf Gewalt und Übergriffe zu
verzichten. Es geht um den Frieden des freien Marktes. Die Macht bleibt
23
in einer Zentralgewalt konzentriert. Jeder Demokrat respektiert diesen
Frieden. Gewalt darf im Rechtsstaat nur von Seiten des Rechtes und
seines Polizei-Apparates ausgeübt werden, um den Frieden und die
allgemeine Abwesenheit von Gewaltakten zu garantieren. Ausserdem
verbürgt im Falle inneren und äusseren Krieges der bewaffnete
Souverän (die Armee), den freien Markt freier Bürger wiederherzustellen.
Natürlich ist diese Theorie des Gesellschaftsvertrages eine (vielfach
durchaus zugegebene) Konstruktion; wirksam ist sie nichts desto
weniger: Das Leben der demokratischen Gesellschaft beruht auf einer
stillschweigenden Übereinkunft.
1973 gab es noch den Krieg in Vietnam. Dieser Krieg sollte aber den
Grundstein zu einer künftigen Demokratie in diesem Land legen, d. h. er
sollte sich dereinst legitimieren. (und in der Tat ist Vietnam auf dem Weg
zu einer demokratischen Gesellschaft).
Wie sollten Grausamkeiten die Menschen dazu bringen, die Revolution
zu machen? Humanitäre und humanistische Organisationen
beschäftigen sich mit Grausamkeiten; diese sind aber weit davon
entfernt, die kommunistische Revolution zu fordern.
(S. 1) „Es ist die Zähmung. Sie ist eingetreten, als sich das Kapital als
materielles Gemeinwesen installierte und dabei den Menschen
fragmentierte und zerstörte. Das Kapital hat ihn nach seinem Bilde als
kapitalisiertes Wesen zur Ergänzung seiner eigenen Anthropomorphose
neu zusammengesetzt.“
Es tritt Kapitalisierung des Menschen und Anthropomorphose des
Kapitals ein, eine Doppelbewegung, welche die Menschen zähmt und
beherrscht: dies die Theorie von Jacques Camatte. Das Kapital
autonomisiert (verselbständigt) sich also und wird „automatisches
Subjekt“ (Marx). Die Menschen werden Opfer der strukturellen Dynamik,
der Ökonomie, des Kapitals. Früher wurden die Völker Opfer ihrer
Mythen, Sitten, Verwandtschaftsstrukturen, der Struktur ihrer Grammatik
oder Semantik ihrer Sprache: alles Abspaltungen der Dialektik zwischen
Produktivkräften und Produktionsverhältnissen.
Diese Denkweise scheint mir strukturalistisch zu sein. Ich komme darauf
zurück.
(S. 2)Wer etwas unternehmen will, muss sich also Rechenschaft darüber
ablegen, dass eine wirkliche Einflussnahme fehlt
Also Ohnmacht! Man vergleiche diese Aussage mit der Verwerfung
jeden Zweifels weiter unten.
[Zur Fussnote 3: Meiner Ansicht nach einer der Höhepunkte der hier
vorliegenden Schrift: die Ablehnung der alten Dichotomie von links und
rechts. Damals und auch heute noch ist die Nichtrespektierung dieser
24
Frontlinie (aus
opportun.]
revolutionärer
bürgerlicher
Vergangenheit)
wenig
(Seite 3/Fussnote 3) „Die Probleme in ihrer Dringlichkeit bestehen für
alle. An verschiedenen politischen Ecken wird an Lösungen gearbeitet.
Revolutionäre und Konterrrevolutionäre unterscheiden sich in den
vorgeschlagenen Lösungen, nicht in den Problemen an sich“
Die Auffassung von Erkenntnis, die hier J. Camatte zum Ausdruck bringt
ist realistisch-naif. Dieser Auffassung gemäss besteht auf der einen
Seite die Welt mit ihren Problemen, auf der andern Seite ihre Vorstellung
(représentation; er kommt anschliessend auf diese zu sprechen), die
mehr oder weniger korrekt sein kann. Das setzt aber etwas wie
Repräsentanten voraus, die objektiv beschreibbar sind. Die Menschen
sind aber nicht beschreibbar wie Ameisen, welche Teil ihrer Umwelt sind
und diese mehr oder weniger treffend wiederspiegeln (und sogar diese
Ameisen...). Die Welt mit ihren Problemen ist nicht für alle Menschen
dieselbe, weil die Subjekte ihre kognitive Welt produzieren, die integraler
Bestandteil der „objektiven“ Welt ist. Ein Humanist beispielsweise
betrachtet die Welt mit humanistischen Augen; er ist blind für die Hybris
seiner Forderungen. Selbst auf der Ebene des Biologischen stellt man
fest, dass es z. B. nicht einfach das Problem des Hungers gibt, das alle
Menschen gleichermassen berührte. Zivilisierte Menschen können
Hungers sterben, wo primitive Menschen sich den Magen vollschlagen
könnten!
Das Denken von J. Camatte leidet an Naturalismus-Szientismus..
(S.3) „Marx ist eine Überwindung: Er bejaht die Entwicklung der
Produktivkräfte als Notwendigkeit (und damit der Wissenschaft und
Technik), denunziert aber die unmittelbare Auswirkung der
Produktivkräfte auf die Menschen; für ihn stellt sich der Widerspruch so
dar, dass die Entwicklung der Produktivkräfte erst mit der Zerstörung der
KPW möglich wird, dann nämlich, wenn die Menschen diese Entwicklung
lenken würden; dann sollte es keine Entfremdung mehr geben. Das
setzte aber voraus, dass sich das Kapital nicht wirklich verselbständigen
(...) könnte“.
Ich sehe nicht, wie Marx etwa einem Carlyle bezüglich der Frage der
Technologie und des Industrialismus überlegen wäre. J. Camatte will
Marx retten, wo er nicht zu retten ist. Er vertuscht hier. Es sind gerade
Reaktionäre wie Carlyle, welche die Zerstörung wahrgenommen haben,
welche die Technologie brachte.
In der Tat besteht Affinität zwischen Kapital und Technologie, die Frage
der Technologie (Technologie spezifiziert die Technik der Herstellung
von „commodities“ nach Albert Borgmann) kann aber nicht der Frage
nach dem Kapital unterordnet werden.
25
(S. 3) „Das Kapital vermochte sich aber in Bezug auf seine Grundlage zu
verselbständigen, indem es sie einfach vereinnahmte – und damit
entkam es besagten Widersprüchen.“
Wieder stehen wir vor der berühmten „Verselbständigung des Kapitals“,
eine fast formelhaft gewordene Wendung in der camattschen Theorie.
Eine Beziehung (der ökonomische Wert), ein prozessierendes Verhältnis
(das Kapital) unterwirft sich die Individuen und die menschlichen
Gesellschaften. Das Kapital wird die Umwelt und determiniert, formt und
konditioniert die menschlichen Wesen seinen Ansprüchen gemäss
(Erziehung und Ausbildung kapitalkonformer Arbeitskraft; Verwertung
dieser menschlichen Ware deren Produktion nichts desto weniger
ausserökonomisch, ausserindustriell bleibt (die Aufzucht von
Arbeitskräften
bleibt
von
der
kapitalistischen
Produktion
ausgeschlossen)).
Diese Theorie erklärt alles, ausser die Entstehung des Kapitals, das
heisst: Die Theorie von der Verinnerlichung des Kapitals und der
Zähmung durch das Kapital erklärt nicht sehr viel. Ist das Kapital nicht
letztlich vom Menschen produziert? Der magische Mensch schafft eine
magische Welt, der mythische eine mythische Welt und vice versa. Und
der rationalistische, techno-kapitalistische Mensch bringt seine
kapitalistische, freie und demokratische Welt hervor, die beste von allen
möglichen, et vice versa. Der techno-kapitalistische Mensch entledigt
sich nicht des Kapitals und der Technologie, und nichts legt uns nahe,
die Zeichen zu sehen, dass sich das ändert.
Es ist wahr, es hat historisch gesehen Fortschritt und Revolutionen in
Moral und Zustand menschlicher Vereinigungen gegeben, Resultate der
Widersprüche in diesen Vereinigungen gemäss marxistischer Theorie.
Ob das allerdings auch für die kapitalistische Welt gilt, ist noch nicht
erwiesen.
Wie auch immer, die Theorie der Entwicklung, welche J. Camatte hier
präsentiert, ist wissenschaftlich-materialistisch und vernachlässigt die
subjektive Seite. Die Subjekte werden objektiviert („verdinglicht“, S. ???/
Zeile ???); das ist die marxistische Methode, das Subjekt-ObjektProblem zu lösen. Die subjektive Seit negieren heisst aber: Freiheit,
Spontaneität, Geist und Moral beim Menschen ableugnen.
(S. 4) „Zähmung und repressives Bewusstsein haben uns in
Jahrhunderte altem Verhalten versteinert, haben unsere Gesten ebenso
starr werden lassen, wie unsere Gedanken stereotyp. Entstanden ist
daraus eine Armee von Salzfiguren, die auf die Vergangenheit gerichtet
sind, selbst dort, wo sie in die Zukunft zu blicken glauben. Aber das
Leben ist eingebrochen und hat wieder Bewegung gebracht, die
Bewegung des Kommunismus.“
26
Nach J. Camatte ist die ganze Phase nach einem bestimmten Datum,
einem katastrophalen Ereignis eine einzige Verirrung: die Verdrängung
„des Lebens“. Dieses Datum ist verschiebbar: es kann der Moment des
Auftauchens des Kapitals, des ökonomischen Wertes oder der
Sesshaftwerdung/neolithischen Revolution sein. Die Entwicklung der
camattschen Theorie legt die Vermutung nahe, die Radikalisierung
bestände in der Vordatierung dieses Datums des Bruchs mit dem
biologischen Phylum.
Diese Darstellung der Dinge ist unannehmbar. Camatte schwimmt im
Vitalismus. Die Bewegung des Vitalismus ist Antipode, Gegenmittel und
Ergänzung der Bewegung des Szientismus. Berührungspunkt zwischen
Vitalismus und Szientismus ist die Definition des Menschen als animal
rationale, ein sprach-und vernunftbegabtes Lebewesen, sicher, vor allem
aber ein Lebewesen, Tier mit Sinnen und Instinkten. Seine
intellektuellen, vor allem aber spirituellen (d. h. moralischen!) Fähigkeiten
sind dagegen eher verdächtig. Das Übel kommt von oben: von den
herrschenden Klassen, von den „Vorstellungen“, welche für das einfache
und reine Leben als gefährliche „Abstraktionen“ eingestuft werden.
In der hier vorliegenden Schrift greift J. Camatte das repressive
Bewusstsein an. Er meint damit die materialistische Theorie des
Algorithmus des Prozesses, welche besagt, dass die Revolution dann
eintreten werde, wenn die Situation reif ist. Stellen wir hier ein erstes Mal
fest, dass J. Camatte sich hierbei selbst widerspricht: Einerseits
akzeptiert er die materialistische Konzeption der historischen
Entwicklung, andrerseits aber verteidigt er hier ein nicht-repressives
Bewusstsein: den Willen der revolutionären Subjekte, die Revolution zu
machen, statt eine weitere Drehung des geschichtlichen Weltlaufes mitzuvollziehen. (in den späteren Schriften von J. Camatte trägt der
Objektivismus-Materialismus aber doch den Sieg über die Subjektivität
davon: In einer weiteren Drehung der Radikalisierung erklärt er, dass
das Bewusstsein an sich repressiv sei! Somit bleibt vom Menschen nur
noch ein lebendiges Bündel physiologischer Reflexe.
Der Enthusiasmus des Vitalismus ist an einem Auge blind: Ist das Leben
nicht auch die Nahrungskette mit Räubern und Opfern? Heisst Leben
nicht auch strenge Rangordnung (z. B. bei den höheren Säugetieren)?
Zudem darf man nicht vergessen, dass „das Leben“ nicht die
„Grundlage“ ist. Die vor-biologische Welt ist viel älter. Mit dem Leben
wird Gestalt Subjekt (Helmut Plessner). Leben bedeutet die relative
Trennung von der Welt der Mineralien und von der subatomaren Welt!
(S.4) „Es ist also keine neue Theorie, keine neue Aktionsform
beigebracht worden.
Man weiss nicht, ob das J. Camatte freut oder nicht: Einerseits verteidigt
er die Invarianz der marxschen Doktrin, die keiner Modernisierung bedarf
27
– ein altes Postulat von A. Bordiga, der jeden Revisionismus des
Marxismus verwarf; andrerseits kreidet er die alten Kampfformen an: die
Demonstrationen, Flugblätter, die Agitation auf den Strassen, die
Besetzungen, die Zusammenstösse mit den Ordnungskräften etc. an.
(S. 4) „Dagegen setzte sich die Forderung nach Leben gleichzeitig
gegen diese Gesellschaft und darüber hinaus: gegen die vom Kapital
auferlegte Passivität, für die wiedergefundene Kommunikation zwischen
den Menschen, für eine befreite Kreativität, für eine schrankenlose
Phantasie in der menschlichen Entwicklung.“
Der zweite Teil dieses Satzes könnte einer „Einführung in die Public
Relation“ entstammen; nur der Zusammenhang erweist den Bezug zu
einer Schrift, die gegen die Zähmung durch das Kapital Stellung nimmt.
J. Camatte hat diesen situationistisch-linksradikalen Jargon aber schon
lange aufgegeben. Jedermann liess sich in den Jahren nach 68 von der
Welle des Enthusiasmus über die Befreiung davontragen, von der wir
heute wissen, dass sie die Nach-Kriegs-Sklerose durchbrach, welche
den freien Fluss des Kapitals behinderte.
(S. 5) „Das Ablaufschema zeigt im übrigen, dass keine Revolution
reinen Klassencharakter hat. Für die kommunistische Revolution wird
das noch viel ausgeprägter sein, denn sie ist nicht nur das Werk einer
Klasse, sondern der ganzen Menschheit.“
Es kündigt sich hier die Revolution mit menschlichem Titel an. J.
Camatte wird davon noch sprechen. Mit dem Konzept der „universellen
Klasse“, welche diese Revolution mit menschlichem Titel tragen soll,
enthüllt sich J. Camatte als Humanist. Er glaubt an die beschwörbare
Kraft des menschlichen Wesens, der menschlichen Natur. Es ist kein
Zufall, dass er sich hier auf die Schriften des jungen Marx bezieht,
welche noch den idealistischen und voluntaristischen Geist der
Revolution von 1848 atmen. Der moderne Humanismus hat die Maxime:
Wir sind grundsätzlich Meister unserer Seins. Dieser Voluntarismus ist
das pure Gegenteil der Theorie von der Verselbständigung des Kapitals,
die Fatalismus nahe legt und geschichtliche Gnade erhofft. Eine
subjektivistische Korrektur dieses Objektivismus?
Auf jeden Fall stossen wir auf den schon erwähnten Widerspruch. Ich
greife dabei nicht den Widerspruch an sich an, nur die Verwischung von
Widersprüchen. Antinomische Thesen müssen erklärt werden. In der
Theorie kann man nicht nach eigenem Gutdünken basteln
(„Verwilderung“ des Denkens“).
(S. 6) „Die Besinnung kann den Ausgangspunkt für die Suche des
Momentes bilden, wo die Verirrung der Menschheit begonnen hat, also
einen erster Versuch, der Fatalität zu entkommen, welche die
28
Menschheit aus der menschlichen Bahn in die produktivistische Hölle
geworfen hat“
Gemäss Camatte verlief die Geschichte ungefähr so: Am Anfang lebte
die Menschheit ihr Gattungsleben. Ein ausserordentliches Ereignis warf
sie aus ihrem Geleise. Die kommunistische Revolution ist die
Wiederherstellung des menschlichen Wesens. Es handelt sich daher
darum, den Grund, den Ursprung dieses Unfalls, dieses desaströsen
Ereignisses zu finden. In der hier vorliegenden Schrift findet J. Camatte
diesen Grund im Kapital, in einem dynamischen menschlichen
Verhältnis, welches sich vom ganzen gesellschaftlichen Zusammenhang
des menschlichen Lebens abgespalten hätte. In späteren Schriften
beginnt die Suche nach den Wurzeln der Entwicklung des Wertes, des
Kapitals, des Staates, der Nation etc. in der neolithischen Revolution. In
den letzten 10 Jahren hat J. Camatte die Suche nach dem Faktor der
menschlichen Verirrung ins Innere, in die Psyche des Menschen verlegt
und es geht um die Auswirkungen der elterlichen Repression. Die
Psyche des Menschen ist von den Eindrücken der Repression infolge
der Dysfunktion der Aufeinanderfolge der Generationen traumatisiert und
verwüstet.
Allgemein stellt man fest, dass, dass Camatte alle seine Forschungen
auf die Suche eines objektiven Faktors des „Übels“ richtet. Er bleibt
dabei im rein Wissenschaftlichen, wo man die objektiven Gründe einer
Wirkung (in der unendlichen Kausalkette) identifiziert . Diese Suche
schliesst das Subjekt aus, seine Spontaneität und Freiheit (die potenziell
schon in biologischen und vorbiologischen Formen angelegt sind)
(Fussnote 6, S. 6) „Der Mensch ist nicht immer in die Natur eingelassen,
das Dasein ist nicht immer mit dem Sosein, das Sein mit dem
Bewusstsein identisch. Aus dieser Trennung entspringt die Vorstellung
(représentation).“
„Die Frage der Vorstellung ist bedeutungsvoll. Vom Moment an, wo die
unmittelbare Einheit Mensch-Natur nicht mehr besteht (wenn sie
überhaupt je bestanden hat), wird die Vorstellung notwendig. Sie ist
Aneignung der Wirklichkeit und Mittel der Kommunikation zwischen den
Menschen. In diesem Sinne kann sie nicht abgeschafft werden, denn der
Mensch kann nicht in ununterschiedener Einheit mit der Natur leben. Er
hat sich also von ihr verselbständigt-entfremdet. Diese Tendenz muss
gebremst werden.“
Die „Vorstellung“, in gewisser Hinsicht „Abbild der Wirklichkeit“, wäre
also ein Behelfsmittel, eine notwendige Prothese, etwas, wie ein
notwendiges Übel, von dem zu wünschen wäre, man könnte sich seiner
entledigen ...
In den Schriften von J. Camatte findet man ein tiefes Verlangen nach
vollständiger Harmonie, gänzlichem Heil, absoluter Heiterkeit. Und so
29
erstaunt man nicht, auf der andern Seite den eingefleischten Willen zu
finden, das Böse ein für alle Mal auszutreiben, ja zu exorzieren.
Woher dieser Unwille, den Widerspruch und die damit verbundene
Unruhe auszuhalten? Ist dieser Wille, mit den Übeln Schluss zu machen,
nicht wesentliche Eigenart des modernen Subjektivismus, welcher zum
allgemeinen Narzissmus von heute geführt hat?
(Seite 7) „Hier zeigt sich nicht nur die Angst vor dem Alleinsein und damit
die Einsicht der notwendigen Vereinigung, um die Macht zu entwickeln,
die KPW niederzuschlagen, nein, es zeigt sich auch die Angst vor der
Individualität22, die Unfähigkeit, „autonom“ die grundsätzlichen Fragen
unserer Epoche anzugehen: ein weitere Ausdruck der Zähmung der
Menschen, die am Übel der Abhängigkeit leiden.“
Man staunt in verschiedener Hinsicht. Erstens, es schient mir
unbestreitbar, dass die Entwicklung des Kapitals, zumindest im Westen,
von der Entfaltung der Individualität und des Individualismus begleitet
wird. Möglich, dass seit 100 oder 150 Jahren diesbezügliche eine
Regression stattgefunden hat; die „Angst vor der Individualität“ ist aber
sicher nicht das Produkt der „kapitalistischen Kultur“. Zweitens, bezüglich
des „Übels der Abhängigkeit“: Ist es nicht ein herausragender Zug der
Dynamik des aktuellen Systems, Autonomie, Autarkie und
Unabhängigkeit hochzujubeln ? Welcher Kult des Ich, des Selbst! In der
aktuellen Un-Welt will jedermann, jede Frau alles sein haben und
kontrollieren, zumindest in seiner, ihrer (virtuellen) Sphäre. Welch Traum
von Allmacht und Allgegenwart in diesen Köpfen! Jede glaubt sich
unabhängig und ohne Schuld (man schuldet nichts irgendwem, nichts
der Natur, nichts den Vorfahren und Ahnen, nichts der Zukunft und
kommenden Generationen). Aber gleichzeitig schafft man mit diesem
autonomistischen Verhalten ein komplexes System totaler Abhängigkeit
und Über-Gesellschaftlichkeit.
(Seite 7/Fussnote 7) „Offensichtlich sind die gesellschaftlichen
Organisationen zu labil, dass sie die freie Entwicklung menschlicher
Möglichkeiten erlauben könnten.“
In der Zwischenzeit ist die Frage nach den „menschlichen Möglichkeiten“
Sache der „human ressources“ geworden....
Möchten wir nicht lieber mit dem ganzen Wahnsinn der Entfaltung der
eigenen Fähigkeiten aufhören? Nun, „Selbstverwirklichung“ (Ausdruck
seines Wesens, der Ursprünglichkeit, Eigenheiten ... Thema der
Romantik und von Herder) könnte man noch durchlassen, nicht aber den
Konsum der „commodities“: Apparate, Installationen, Programme und
Organismen zur Aktualisierung dieser Potenzen der Subjekte. Genug!
30
(Seite 9) „Die Jungen haben noch die Kraft, den Tod zurückzuweisen.“
Der Vitalismus ist gleichbedeutend mit der Betonung der Jugend, deren
Leben noch nicht verhärtet ist, wie die geronnene Natur der natura
naturata.
Wir müssen endlich anerkennen, dass Technologie und Kapital
Potentialitäten des Menschen sind, der aus dem Kosmos (Einheit der
Pole Geist und Drang) hervorgegangen ist. Das Lebens des Kapitals
weist viele Eigenheiten des Lebens der Arten auf (man kann durchaus
von der Ökologie des Kapitals sprechen). Damit will ich sagen: Mann
kann nicht das Lob der Natur, des Lebens und der Spontaneität des
Kosmos singen, ohne die Möglichkeit ihrer Verirrungen zu bedenken.
Die Jungen „rebellieren gegen die Zähmung“? Ganz im Gegenteil. Die
Jugend ist die der techno-kapitalistisch-demokratischen Gesellschaft am
besten angepasste Fraktion. Sie trägt sie und bringt sie vorwärts.
(S. 9) „Die Jugend ist ein Übel für das Kapital“.
Der Kampf der Jungen (im Frühjahr 1973) „gegen die (schulische,
familiäre, militärische) Unterdrückung“ berührte kaum den Nerv der
Sache. Schon die Kritik von Marx am Kapitalfetisch geht viel weiter als
jeder Kampf gegen die Repression oder gegen die gesellschaftliche
Dressur. J. Camatte wusste schon damals sehr gut, dass „born to be
wild“ die definitive Entfesselung der Konsumkräfte der Menschen
bedeutete.
Was ist diese Jugend 1968 nicht geschmäht; wie ist der 68er-Jugend
geschmeichelt worden!
(S. 9) „Sie (die Armee) organisiert die Abrichtung des Willens auf die
Tötung des andern.“
Absurd! Die Armee ist eine durch ihre Natur als ultima ratio rigide
Organisation. Ihr Ziel ist die Beseitigung des Feindes, der Sieg über den
Feind, nicht die Abschlachtung des Feindes. Dies ist auf jeden Fall die
technisch-strategische
Vision
einer
modernen
Armee.
Unglücklicherweise vollzieht sich diese Beseitigung des Feindes noch
nicht so human, wie man möchte; immer noch fliesst Blut – der Horror für
alle Zivilisierten. Aus diesem Grunde muss jede heutige moderne Armee
(die mehr als eine martiale und patriarchale Folklore wie das
schweizerische Milizsystem ist; es wird übrigens gegenwärtig aufgelöst)
die Rekruten auf eine Gewalt vorbereiten, an die sie nicht gewohnt sind.
Ich bin gegen den Pazifismus, den J. Camatte nur verbal zurückweist
(siehe Fussnote 13; Camatte schützt sich gern gegen mögliche Angriffe
durch kleine Anmerkungen, welche aber an der allgemeinen Tendenz
der Darstellung nichts ändern). Die verschiedenen Pazifismen haben
wesentlich zur allgemeinen Verweiblichung beigetragen, von der
31
niemand zu sprechen wagt. Das gilt auch für die vegetarischveganistische Ideologie. Die zivilisierte Menschheit verliert den Kontakt
mit der Wirklichkeit, mit allem, was den Wünschen widerstrebt. Mit der
Verstädterung wird die „Gewalt“ (= puissance-force; „violence“ ist nicht
gleich „Gewalt“, sondern meint Durchdringung, Vergewaltigung,
Unterwerfung) extra muris, extra societatibus
ausgeschlossen.
Gegenwärtig wird die Gewalt, wird Kampf vollständig marginalisiert. Ziel
der Gesellschaft ist die Ausmerzung jeder Kraftäusserung, jeder
Äusserung eines leidenschaftlichen und begeisternden Lebens.
J. Camatte beendet diesen Abschnitt mit „(...) um zu rechtfertigen, was
nicht zu rechtfertigen ist: Männer und Frauen zu töten.“ Er folgt offenbar
einer deontischen Ethik: „Du sollst nicht töten“, „non nocere“. Das sind in
der Theorie schöner Seelen gültige Maximen. Jedes Leben beruht aber
auf dem „vita mea mors tua“. Möchten die Verteidiger der erwähnten
edlen Leitsätze soweit gehen, Katastrophen anzunehmen („fiat iustitia
pereat mundus“)? Wir müssen nicht alle Prinzipien fallen lassen („Der
Zweck heiligt die Mittel“), um einen gewissen Pragmatismus
anzunehmen (denjenigen der utilitaristisch-konsequenzialistschen Ethik),
welcher besagt: Es gibt Situationen, in denen man eine gewisse Zeit
lang gegen unsern starken Instinkt „pro vita“ handeln muss. Das kann
darauf hinauslaufen, Männer und Frauen zu töten.
Allgemeine Bemerkung: Es ist sehr wichtig, in den strittigen Fragen (hier:
bezüglich der Armee) den Standpunkt des Gegners zu beachten und ihm
die ehrenvollsten Argumente zuzugestehen.
(S. 10) „Die Schule ist die Organisation der Passivität.“
Die 35 vergangenen Jahre sah man Alternativschulen, „Nicht-Schulen“,
„keine Erziehung, keine Bildung, keine Repression - Schulen“, integrale
Verschulung und Verkindlichung ... mit niederschmetternden Resultaten.
(S. 10) „(...) programmierter, von Maschinen verteilter Unterricht“
Ich möchte hier auf etwas Nebensächliches weisen.
Die Kritik greift zumeist die Maschinen, nicht die Geräte an. Die
Computer sind aber Geräte ( „devices“ = „commodities“) Von Maschinen
zu sprechen legt das Gewicht zu sehr auf die physisch-energetische
Seite; die Geräte machen aber keinen Lärm, im besten Fall brauchen sie
wenig Energie und sogar wenig Material. Sie sind aber „black boxes“,
was das Wissen anbelangt, das in ihnen steckt. Dieses Wissen entlastet
denjenigen, der diese Geräte benutzt, und dient zur Entfaltung seiner
Wünsche. Der „user“ ist ein desangagiertes, freies Wesen. Man fordert
es auf, sich überhaupt nicht um das innere Funktionieren zu kümmen,
ebenso die gesellschaftliche und ökologische Auswirkung des „userfriendly“ Gerätes ganz ausser Acht zu lassen.
32
Mit dem Computer hat man die Auflösung der alten Schule, d. h. das
Ende einer repressiven Struktur: Die Forderungen der Rebellen der
Mittelschule von 1973 verwirklichen sich.
(S. 11) „Die Revolution ist nicht mehr strikt gleichbedeutend mit der
Zerstörung des Alten.“
Die Theorie des Proletariates ist Teil des Programmes der
Modernisierung der alten Welt. Jacques Camatte bemerkt das wohl,
wagt aber nicht, den glatten Bruch mit dieser Theorie expressis verbis zu
vollziehen.; er laviert. Im zitierten Satz lässt er einen annehmen, der
revolutionäre Wille, das Alte zu zerstören, sei einst legitim gewesen und
das sei erst heute nicht mehr der Fall.
(S. 12) „Man kann die Menschen nur töten, indem man sie zuvor ihrer
Menschlichkeit beraubt.“
Es gibt zweifellos Situationen, wo man einen oder mehrere Menschen
eliminieren, vielleicht sogar töten muss. Ich denke dabei nicht nur an
revolutionäre Situationen, sondern auch an kriminelle Handlungen. Der
Marxismus hat sich nie ernsthaft mit der Kriminalität befasst. Er glaubt
oder tut dergleichen zu glauben, dass die Kriminalität ein Phänomen der
Klassengesellschaften
ist,
welche
Privateigentum,
elterliche
Unterdrückung kennen oder von Gesellschaften, welche vom
Tauschwert oder vom Kapital durchdrungen sind, etc. Die Kriminalität
stellt aber eine dauerhaft Bedrohung jedes Gemeinwesens und jeder
menschlichen Lebensgemeinschaft dar. Sie besteht in schweren
Übergriffen von Personen ( Individuen und Kollektiven; „schwer“ im
Sinne einer Bedrohung des Lebensvollzuges). Solange sich Leben
äussert und in einzelnen und besonderen Wesen konkretisiert, kann es
Übergriffe geben. Es ist aber keine unbedingt notwendige Bedingung,
die Wesen, die man beseitigt oder tötet, ihres Wesens (z. B. der
Menschlichkeit) zu berauben. Man muss schändliche Handlungen
verachten, aber nie diejenigen, welche sie begehen. Der Hass ist ein
wesentliches Element im Zustand eines Wesens, das kämpft-negiert.
Der Hass auf den Gegner/Feind darf das Verhalten aber nie bestimmen.
(S. 12) „Man soll ihnen (den Polizisten) im Gegenteil als Menschen
gegenübertreten.“
Das ist sehr richtig, das schliesst aber nicht aus, diese Leute unter
Umständen zu hassen und sie, wenn nötig, physisch und moralisch
anzugreifen. In der Situation des Kampfes gibt es nur ein Ziel: siegen.
Natürlich versucht man nach dem Sieg den vorherigen Feind zu
überzeugen (vaincre – convaincre). Jede Rache, jede Grausamkeit ist
ausgeschlossen. Man darf sich aber keine Illusionen machen. In der
33
Regel ändern sich Sitten, Verhalten und Auffassungen erst mit dem
Aussterben der Leute, welche ihre Träger sind.
J. Camatte ist Opfer der linken, humanistischen Einstellung, die
annimmt, der Mensch sei von Natur aus gut und das Böse komme von
der verdorbenen Gesellschaft, von ihren Institutionen, Aberglauben und
falschen Überzeugungen, oder von repressiven Strukturen. Es ist keine
individuelle oder “historische“ Erfahrung , die mich zur
Gesinnungsänderung bewegt! Die eben dargestellte Einstellung ist eine
reine Behauptung ohne Beweis. Ein „logischer“ Beweis müsste aber
erklären, wie das Böse auf den Menschen und ihre Institutionen Einfluss
haben und sie schlecht machen kann.
(S. 13) „Den Terrorismus akzeptieren heisst vor der Macht des Kapitals
kapitulieren. (...) Er (der Terrorismus) appelliert an den Tod, um eine
hypothetische Rebellion zu erwecken.“
J. Camatte entwickelt im Folgenden etwas wie eine anti-terroristische
Theorie. Hier meine Antwort.
1 Man kann für die Sache mit transzendentem Wert sterben. Das heisst:
im Angriff auf das System (und seine Träger) das Risiko auf sich
nehmen zu sterben. Das heisst auch: Verweigerung, am System
teilzunehmen – was ebenfalls zum Tod führen kann.
2 Das Leben, das die einzelnen und kollektiven Personen führen, ist
nicht der oberste Wert, das absolute Gut. Es kann Gründe geben, auf
das Leben, darauf, „sein Leben“ weiter zu führen und es (in der
Zeugung) weiterzugeben, zu verzichten.
3 das demokratische System nennt die Bewegungen und Handlungen
von Einzelnen und von Gruppen, die Gewalt anwenden, „terroristisch“.
Von Terrorismus im Falle von gewaltsamen Handlungen, von
Revolutionären begangen, zu sprechen, heisst, die Sprache des
Systems annehmen. Das Problem solcher Handlungen besteht in ihrer
klandestinen Natur. Wer legitimiert diese isolierten Gruppierungen,
solche Akte zu begehen, welche das System und diejenigen, welche mit
ihm konform sind, schädigen und provozieren? Die Entscheidung, solche
Methoden anzuwenden, darf nur von einer Partei gefällt werden, welche
der antizipative Pol eines andern In-der-Welt-Seins der ganzen
Menschheit, der Pol des Bruches mit der Technologie und dem Kapital
ist. (Diese Partei, formal oder informal, fehlt.)
4 Die Frage des Opfers: Es ist pathologisch, leiden oder sterben zu
wollen. Man kann nicht „für eine bessere Welt sterben wollen“. Hingegen
kann man sein persönliches Leben zur Rettung einer Bewegung,
anderer Personen oder einer „Idee“ hingeben. Man kann solche
Handlungen heroisch nennen. Der Heroismus kann aber nicht Teil einer
Strategie sein. Eine politische Gruppe, welche mit dem
34
(selbstmörderischen oder nicht selbstmörderischen) Tod
Militanten rechnet, spielt das klassische Spiel der Rackets.
seiner
(S. 14) „Seit dieser Epoche hat man begriffen, dass die Demos und
Paraden, Spektakel und Feste zu nichts führen. Spruchbänder tragen,
Plakate kleben, Flugblätter verteilen, sich mit der Polizei schlagen ist ein
Ritual, worin die Polizei ewige Siegerin ist.“
Das ist durchaus wahr. Nun, heute haben wir das Internet! Die Dinge
und Kampfplätze sind also sehr verschieden geworden.
Wenige Zeit nach „Contre la domestication“ zieht Camatte den Schluss
aus seiner Kritik an den Kämpfen klassischen und klassistischen Typs
und verkündet: Die Welt verlassen! Die Welt des Kapitals und der
Protest- und Widerstandsbewegung aufgeben! Die Städte, die
Zivilisation verlassen und das Gemeinwesen ausserhalb der gegebenen
Strukturen neu begründen.
Diese Parole: „Die Welt verlassen!“ ist von den verschiedenen Wellen
der Gründung von Gemeinschaften, Öko-Dörfern und Zurück-aufs-LandBewegung realisiert worden. Die Bilanz der Gesamtbewegung ist
zwiespältig und es wäre zu einfach, die Niederlage (meines Erachtens ist
die Bilanz eher negativ) sei ganz dem Mangel an Radikalität anzulasten.
Es scheint mir aber, „Quitter le monde“ hat einen Quitesmus sanktioniert.
Es ist wahr, dass der Kampf gegen das System das System stärken
kann; andrerseits kann man das System nicht (mehr) fliehen. Nicht nur
auf der Ebene des Raumes-Bodens ist dieses Unterfangen zur
Niederlage verurteilt. Wir stehen im alltäglichen Kleinkrieg mit dem
System; man kann nicht gegen das System nicht-kämpfen wollen oder
man ergibt sich ihm. Aus der Scheiss herauskommen heisst Scheisse
durchqueren. . . Man kommt nicht darum herum, gegen das System zu
kämpfen – und da der Angriff die beste Verteidigung ist, geht man dabei
soweit wie möglich.
Ich kann mich des Eindrucks nicht erwehren, dass J. Camatte Angst hat,
die Herausforderung anzunehmen. Steckt hinter seinem Vertrauen in die
grundsätzliche Güte der Menschen ein Mangel an Realismus? Ist es gar
Feigheit?
(S. 15) „Die Irrationalität ist der grundsätzliche Charakter der Revolution.“
In einem gewissen Sinne ist das, was für das techno-kapitalistische
System rational ist, für ein anderes In-der-Welt-Sein irrational. Man kann
aber die Verrücktheiten und Exzesse der Antibürgerlichkeit nicht
anpreisen. Das weiss und wusste J. Camatte sehr wohl
Es scheint mir wirklich so, dass er sich von der Jugendbewegung der 60
und 70er-Jahre hat verführen lassen.
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(S. 15) „Man kann die Mittel der unmenschlichen Klassengesellschaft
nicht anwenden.“
Man ist dazu aber gezwungen (ich wiederhole mich)! Das Gegenteil
behaupten zeugt von reinem gutem Willen und läuft Gefahr, sich selbst
zu belügen. “Die Welt verlassen“ ist nicht ein individueller Aufruf; diese
Parole hat aber nicht in Betracht gezogen, dass die gegenwärtigen
Bedingungen nur eine individuelle Befolgung offen lassen. Das gemahnt
etwas an die Parole des Mittelalters: „Stadtluft macht frei“. Die Flucht der
Leibeigenen in die Städte war eine unpolitische Bewegung, welche die
bürgerliche Revolution vorbereitete. Glaubt J. Camatte, eine Bewegung,
welche zum Blutverlust des Sozialkörpers der kapitalistischen
Gesellschaften führt, könnte zu einer friedlichen Revolution in den
verschiedenen Ländern führen?
(S. 15) „Im kapitalistischen System wird der Mensch in der Tat
überflüssig, es ist aber klar, dass der Mensch als Invariante seit seinem
Auftauchen noch nicht zerstört worden ist (...).“
Diese Textstelle schneidet verschiedene Themen an:
1
Strukturalismus.
Für
die
verschiedenen
Strukturalismen
verselbständigen sich die kollektiven Elaborate der Subjekte und
werden materiell oder quasi-materiell (die linguistischen, kulturellen,
ökonomischen
Strukturen).
Die
(marxistische)
Theorie
des
verselbständigten Kapitals scheint mir dem Strukturalismus sehr nahe zu
sein. Auf Seite 10 liest man: „Die Dinge sind die wirklichen Subjekte
welche den Menschen ihren Lebensrhythmus aufzwingen (...) Die
Objekte, die Dinge aber sind ihrerseits von der Kapitalbewegung bewegt
(...).“ Der Strukturalismus ist die objektive Wissenschaft, welche den
Einfluss der Menschen auf Null reduziert (als Methode und in seinen
Ergebnissen). Folglich bleibt die Produktion von Revolutionären, also
von historisch bewussten Subjekten, rätselhaft.
2. In der kapitalistischen Produktionsweise wird der Mensch überflüssig
(das Verhältnis von v nimmt in der Gesamtformel des unmittelbaren
Gesamtprozesses von Mehrwert gegenüber c kontinuierlich ab);
gleichzeitig aber lebt das Kapital vom Menschen, ja: Der Mensch trägt
das Kapital. Das Kapital ist sichtlich mit dem menschlichen Wesen
kompatibel, zumindest mit einem gewissen menschlichen Wesen!
3 Spricht man vom Menschen als „Invarianten seit seinem Auftauchen“
zielt man doch auf eine Definition des Menschen ab, was den nicht rein
naturalistischen Charakter des Menschen glatt verneint. Stellt man denn
nicht grosse Unterschiede zwischen den verschiedenen menschlichen
Kulturen fest? Die Verhaltensweisen, Bedürfnisstrukturen, die Ethiken
und Metaphysiken: haben sie nicht in der Geschichte und Vorgeschichte
der Menschheit grundsätzliche Wandel erlebt? Der anthropologische
Naturalismus unterstellt etwas wie ein biologisches Modell, dem gemäss
36
man einen Kern oder eine Mitte hätte, worum eine Cuticula und ganz zu
äusserst eine Epicuticula läge Beim Menschen bildete der Körper mit
seinen Trieben den natürlichen Kern. Darauf käme die Seele: die
Emotionen. Ganz aussen befänden sich Vernunft, Moral und die ganze
spirituelle Superstruktur. Der Kern des Menschen würde aber von dieser
Superstruktur nicht wesentlich berührt ... Das ist eine vollständig
mechanische, irre Vorstellung vom Menschen. Wenn der wesentliche
Unterschied das Wesen von etwas gegenüber einem Andern ausmacht,
so müsste wohl am ehesten der Geist für das Menschliche schlechthin
gelten; die Schimpansen haben einige Intelligenz, aber keinen Geist.
(S. 8) „(...) mit Hilfe von (...) neuen Methoden wie z. B. derjenigen, die
Institutionen lächerlich zu machen (...).“
Eine neue Methode? Das „c’est le ridicule qui tue“ ist doch
sprichwörtlich. Die Menschen identifizieren sich mit ihren Institutionen,
Mythen und Glaubensvorstellungen.
Zudem scheint mir, man macht lächerlich, was heilig ist, was Autorität
hat. Die materialistische libertine Bewegung hat sich immer schon einen
Sport daraus gemacht, sich über heilige Gegenstände lächerlich zu
machen . . . Nun, wir finden uns vor den Trümmern dieser
Dekonstruktion. Die techno-kapitalistische Welt ist die absolute
Libertinage, worin nichts mehr heilig ist. Sie macht sich grausam sogar
über sich selbst lustig. Da das Verhängnis in diesem System aber
vollständig ist, bringt dieses Sich-selbst lächerlich-Machen das Systems
aber auch nicht mehr in Gefahr.
(S. 16) „Die kommunistische Revolution ist der Sieg des Lebens..........
eines Naturphänomens.“
Die Aussage, dass die Revolution ein quasi-natürliches Phänomen ist, ist
mit dem Fatalismus der Entwicklung der Produktivkräfte (d. h. mit der
Theorie eines E. Bernsteins von der deutschen Sozialdemokratie) 100%
verträglich. Wozu dann noch das repressive Bewusstsein bekämpfen?
Wenn in einer revolutionären Bewegung heroische Menschen im Kampf
sterben, sehe ich nicht ein, warum man ihre Akte der SelbstTranszendenz nicht in Erinnerung behalten soll. Diese Handlungen sind
nicht beispielhaft, weil sie zum Tod (zur Einkerkerung, Folterung und
zum elenden Leben) derer geführt haben, welche sie begangen haben,
sondern weil sie die Aspiration auf ein integrales Leben und Sein
ausdrücken. Solange die Kluft zwischen gutem und richtigem Leben so
gross bleibt, kämpft man mit allen Mitteln gegen das System, welches
diese Kluft aufrecht erhält. Natürlich widerspricht diese Auffassung der
Dinge jedem Hedonismus.
37
(S. 16) „Im allgemeinen zweifelt der Grossteil der Revolutionäre am
Kommen der Revolution (...).“
Möglicherweise glauben diese Leute nicht, dass das Kommen der
Revolution so sicher ist wie das Eintreten eines Naturphänomens
aufgrund eines Naturgesetzes. Offenbar fehlt ihnen der gute Glaube von
J. Camatte. Oder ... wollen sie im Grunde ihres Herzens gar nicht
wirklich die Revolution?!? (Das hiesse dann, am guten Glauben dieser
Menschen Zweifel zu hegen!)
Für J. Camatte (und die bordigistische Schule) ist die marxsche Lehre
eine Wissenschaft der Geschichte, welche den Mechanismus ihres
Funktionierens kennt. Daraus entspringt für die in diese Wissenschaft
Eingeweihten die Möglichkeit zu Prognosen. Der Prognostiker rechnet
mit den sozialen, ökonomischen, natürlichen, psychischen etc. Faktoren
und verkündet: Es wird eine Revolution geben ...
(S. 16) „Das ist der Druck des Kommunismus, d. h. der Druck der
immensen Mehrheit der Menschen der menschlichen Gemeinschaft (...).
Unglaublich: Der Kommunismus wäre also die Sache der immensen
Mehrheit?
Doch schauen wir genauer.
Warum weiss diese Mehrheit offenbar nicht, dass sie den Kommunismus
will?
Und die Minderheit? Was hätte sie im Kommunismus zu verlieren?
„Privilegien“?
Welches ist der argumentative Wert von „Mehrheit“, d. h. einer Quantität
von Argumentierenden? Ist eine Wahrheit wahrer, wenn sie von der
Mehrheit geteilt wird? Was kann „Mehrheit der Menschen“ anderes
bedeuten als eine Aussage bezüglich des Kräfteverhältnisses im Kampf
der Wahrheit? „Mehrheit der Menschheit“ hiesse demnach: Die Macht
der Verwirklichung einer Forderung, von der man behauptet, dass sie
richtig ist.
Von „Mehrheit“ bezüglich des wahrhaften In-der-Welt-Seins sprechen –
heisst das nicht, den demokratischen Diskurs aufnehmen, der seine
Legitimität auf die Mehrheit der Meinung der Bürger abstellt?
Zudem, was heisst „menschliche Gemeinschaft“? Es gibt
Gemeinschaften
von
Kriminellen,
von
Automobilisten,
von
Fernsehzuschauern, von Klassen- und Volksgenossen; das sind
menschliche Wesen. „Gemeinschaftlich“ ist ein Adjektiv wie rot, ohne
Wert an sich.
Ein Wechsel der Orientierung, des In-der-Welt-Seins ist ein Bruch. Einen
Bruch vorschlagen heisst, Menschen, die an ein bestimmtes Regime
gewohnt sind, verunsichern; man macht sich damit im allgemeinen zu
ihrem Feind.
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Das Wort „Revolution“ mit seinem geschichtlichen Inhalt hat heute
keinen Sinn mehr. Doch wenn es heute keine Bewegung, Gruppen oder
sogar Programme gibt, die eine Revolution fordern, so weist das nur
teilweise in Richtung der eben geäusserten Einsicht. Zur Hauptsache
haben diese Leute jedes Ziel verloren. Der Kapitalismus und vor allem
die Technologie befriedigen die revolutionären Forderungen von
einstmals. Die gegenwärtige Linke hat sich auf liberale und
reformistische Standpunkte zurückgezogen (die sie übrigens schon
früher nur teilweise hinter sich gelassen hat).
Zu Fussnote 18. Es ist zumindest übertrieben, Marx als Anti-Utilitaristen
darzustellen. Seine Sicht des Kommunismus, der auf einer industriellen
Überfluss produzierenden und maximal automatisierten Produktion
beruht (die Produktivität der Industrie sollte die Fruchtbarkeit der Natur
ersetzen), fördert eher eine technokratische, also produktivistischutilitaristische Auffassung der Dinge.
Der Sozialismus beseitigt den kapitalistischen Markt, auf dem die
einzelnen Produkte sich als gesellschaftliche Güter verifizieren müssen,
indem sie die Form des Tauschwertes annehmen. Dieser Sozialismus
verlangt dafür die umfängliche Organisation aller Ressourcen: Rohstoffe,
Energie, Wissen, Arbeitskapazitäten. Dies gilt auf jeden Fall solange, als
die totale Automation der Produktion, Verteilung und des Verkehrs
überhaupt nicht erreicht ist... ein unendliches Ziel. Gilt nicht für diesen
Sozialismus: „Eine Zukunft produzieren heisst die Menschen nunmehr in
Funktion einer gewissen Produktion konditionieren, was die absolute
Programmierung bedeutet“ (S. 21)?
Die marxistische Lehre vom Wert der Arbeit bzw. des Kapitals auf
Grundlage der wissenschaftlichen Produktion stellt ein totales Handicap
für jede „Versöhnung mit der Natur“ (S. 7) dar. Der Marxismus schlägt
die maximale Vernutzung der Natur, ihre Instrumentalisierung, vor. Der
„universelle Gesamtarbeiter“ (nach Marx), beansprucht für sich die
schöpferische Spontaneität der Natur, die zum Steinbruch degradiert
wird. J. Camatte hat versucht, den Marxismus zu retten, indem er den
Klassenkampf über Bord warf. Die Theorie vom Klassenkampf ist aber
engstens mit der Arbeits-Wert-Theorie von Marx verknüpft, welche einige
für das Hauptstück der marxschen Lehre halten. Heute erleben wir das
Ende der menschlichen Arbeit. Während 400-500 Jahren drehte sich
eine wichtige Strömung des europäischen Denkens um die „Arbeit“:
Protestantismus,
klassische
Physik,
Eigentumsund
Gerechtigkeitstheorien, die englische klassische Ökonomie, Hegel, Marx.
In der Theorie vom Ressentiment von Nietzsche und Scheler wird die
Arbeit als (zugegebenes oder heimliches) Zentralmotiv der kritischen und
praktischen Philosophie angegriffen.
39
**********
In den späteren Schriften von J. Camatte wird die Frage nach der
Zähmung von Pflanzen und Tieren im Gefolge der neolithischen
Revolution aufgegriffen. Dort wird meines Erachtens der Begriff der
Zähmung sehr wichtig. „Zähmung“ bleibt aber als durch das Kapital bzw.
das repressive Bewusstsein bewirkte problematisch: Wie sollte da
Zähmung möglich sein, wo Zähmende und Gezähmte identisch sind?
Jacques Camatte hat auf meine Vorbehalte in einem langen Brief
geantwortet. Interessierten stelle ich gerne eine Kopie zu.
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