Christliche Anthropologie

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Caritas3kom = neu ab SS 2014
4. Systematische Perspektiven einer theologischen Anthropologie:
Der Mensch - Wesen von Gott her und auf Gott hin
Methodische Vorbemerkungen:
Ich werde theologische Anthropologie in systematischer Weise
vortragen. Als systematisch arbeitende Fächer zählen Dogmatik,
Fundamentaltheologie und Theologische Ethik (früher: Moraltheologie)
Systematisch (griechisch: systema: das Gebilde, das
Zusammengestellte, Verbundene) meint die leitenden theologischen
Konturen auf die Wirklichkeit des Menschseins im Glauben zu bündeln.
Meinen systematischen Aussagen liegen dabei die Aussagen der Bibel,
des Alten und Neuen Testamentes, zugrunde, ohne dass ich auf
spezielle exegetische Problemstellungen eingehe, die für unseren
Zusammenhang nicht von vordringlichem Belang sind. Von daher
werden die Differenzierungen, die die Exegese mit ihren historischen
und kritischen Methoden hinsichtlich der betreffenden biblischen Texte
herausarbeitet, im Hintergrund bleiben. In die systematische
Zusammenschau gehen zugleich die Ergebnisse der theologischen und
lehramtlichen Glaubenseinsicht (intellectus fidei) im Sinne der Tradition
ein. Theologie ist in diesem Sinne konservativ, dass sie in ihrem je
aktuellen Fragehorizont auch die Vorgaben der Tradition kritischkonstruktiv zu Kenntnis nimmt und sie nicht – als von vorgestern –
übergeht (vgl. z.B in der communio-Ekklesiologie). Im Rahmen dieser
Vorlesung kann nicht mehr als eine die essentiellen Konturen einer
theologischen Sicht auf den Menschen geleistet werden. Das christliche
Menschenbild wird gegenwärtig häufig zur viele Vorurteile verdeckt. Ich
1
hoffe, dass sich zeigt, wie falsch diese Vorurteile häufig sind – nichts
aber ist zählebiger als Vorurteile – und wie befreiend die Aussagen
einer theologischen Anthropologie zur conditio humana gerade in Bezug
auf menschenwürdige Lebensgestalten zur Geltungen gebracht werden
können.
4.1. Anthropologie des Alten Testamentes: Der Mensch – zur
Gemeinschaft mit Gott berufen
Im Alten Testament gibt es eine Fülle verschiedener Anthropologien, die
immer von der Entstehungszeit eines Textes und der darin zum
Ausdruck kommenden Theologie abhängen. So zeigt sich etwa in der
sehr späten Weisheitsliteratur des Buches Kohelet bisweilen auch ein
Menschenbild, das sich als existentialistisch und nihilistisch
charakterisieren lässt, wenn sein grundlegendes Thema lautet, dass
menschliches Leben nichtig und sinnlos – „ Windhauch“- sei.
Dennoch findet sich das Gravitationszentrum der atl. Anthropologie in
den beiden Schöpfungserzählungen des Anfangs, die in der
Endredaktion des AT nach dem Exil gerade an den Anfang gestellt
wurden, um in zweifacher Weise dessen leitendes theologisches
Essential festzuzurren. Von daher werden uns im Folgenden die sog, 1.
und 2. Schöpfungserzählung beschäftigen.
4.1.1. Erste Schöpfungserzählung (Gen 1, 1- 2,4a)
4.1.1.1 Exegetisches
Zum Anfang einige kurze exegetische Schlaglichter zum Text. Mit
diesem Textabschnitt (=Perikope/ rings umhauenes Stück, lat. Kapitel)
befinden wir uns paradoxerweise nicht auf der ältesten Schichte das AT,
sondern seiner jüngsten. Die Exegeten nennen sie nach ihren Autoren
2
P/Priesterschrift. Es handelt sich wohl um eine Schöpfungstheologie, die
im Babylonischen Exil ( ca. 580 -530) von jüdischen Priesterkreisen
verfasst wurde. Das „ Priesterliche“ dieses Lehrgedichtes zeigt am
formalen Aufbau und seiner strophenartigen Reihung , wie sie
liturgischen Texten zueigen ist (1. – 7. Tag, Redeformel und
Gutheißung am Ende: „ Gott sprach“…“und Gott sah, dass es gut war“).
In seiner Metaphorik erinnert durchaus an den uralten Babylonischen
Schöpfungsmythos „ enuma elisch“ = „ als oben der Himmel noch nicht
genannt war“. Allerdings bewirkt der atl. Gottesglaube einen
fundamentalen Unterschied: In der 1. Schöpfungserzählung handelt es
sich nicht um eine naturhafte Kosmogonie, in der die Welt durch einen
Götterkampf entstanden ist, mit dem Ergebnis einer von verschieden
numinosen Gottheiten durchsetzten Welt, in der sich der Dualismus des
Anfangs manifestiert. Die Schöpfung bleibt atl. die freie Setzung des
einen souveränen Gottes, der sie aus seiner kreatorischen Vernunft und
Freiheit heraus in einem geistigen Schöpfungsakt (durch das LogosWort) als eine pro-fane, d.h. eine vollkommen endliche Welt an sich
freigibt. Darum sind die Gestirne am Himmel eben keine Gottheiten
mehr, sondern schlicht funktional gedeutete „ Lichter“, die v.a. als
Sonne und Mond dem Rhythmus von Tag und Nacht zugewiesen sind
(vgl. Gen 1. 14-19). Wie kommt es nun dazu, dass diese jüngste
Textschicht, die sich zusammen mit der ältesten, dem sog. Jahwisten –
dazu später mehr – an den Anfang gesetzt ist. Im Grunde bildet diese
redaktionelle Komposition die Konsequenz aus dem
geschichtstheologischen Basissatz atl. und bibl. Theologie überhaupt,
der da lautet: Gott ist als der Herr der Geschichte der Retter seines
Volkes Israel. Weil und insofern er dies ist, so dass ihm alle Wirklichkeit
dient, ist er zugleich ihr Schöpfer (und kann sie – eschatologisch –
auch vollenden). Damit ist die p. Schöpfungserzählung (zusammen mit
3
J) das schöpfungstheologische Vorzeichen für die gesamte
Heilsgeschichte Gottes mit seinem Volk Israel, die sich in der Theologie
der Propheten schließlich auf die gesamte Welt hin universalisiert (vgl.
Jes 2, 3ff). Anders gesagt: Die Schöpfungstheologie steht in
theologischer Ableitung zur Heilsgesichte.
4.1.1.2 Inhaltliche Horizonte
Der Mensch ist in der Logik der 1. Schöpfungserzählung ein Wesen, das
aus den Raum des Kosmos und des Bios aus einer geordneten Struktur
herauswächst (Licht – Gewölbe- Land- Wasser- Pflanzen-Licht-FischeVögel-Tiere des Feldes-Mensch als imago Dei, dabei keine moderne
evolutive Logik, vgl. erst Pflanzen, dann Licht). Der Mensch ist also Bios
und in den Raum der Biologie hineingestellt. Aber er wird in einer – im
Text markierten „ Lasst uns Menschen machen“, Gen 1, 26,
besonderen - Selbstaufforderung Gottes zu seiner
schöpfungstheologischen Bestimmung berufen: Abbild Gottes zu sein.
Das heißt nun bereits, dass der Mensch immer unter sein Niveau fällt,
wo er sich „ zurück zur Natur“ bestimmen will (vgl. Rousseau,
Ökologie). Denn der Mensch ist als dieses Abbild Gottes immer schon in
einen anderen Horizont gestellt, der besagt, dass Menschsein und damit
sein In-der-Welt-sein einer theologischen Kultivierung bedarf. Ohne Gott
verkommt das Menschsein des Menschen auch in seinen naturhaften
Lebensbezügen. Diese besondere Bestimmung des Menschen bringt P
in der Formulierung „ imago Dei“ (Gen 1, 26). Damit wird nicht so sehr
eine äußere Bestimmung des Menschseins benannt, wie etwa sein
aufrechter Gang oder seine Sprache, durch die er sich von den Tieren
absetzt. Vielmehr wird hier eine allen kategorialen Verhältnissen des
4
Menschen zugrundliegende Relationsbestimmung benannt, die die
spezifische Differenz des Menschen markiert: Er ist jenes Wesen, das in
ein derartiges Verhältnis zu Gott gesetzt ist, dass Gott sich in ihm
erkennen kann. Als Abbild Gottes ist es seine Bestimmung das
kreatürliche Spiegelbild Gottes und sein Repräsentant in der Schöpfung
zu sein. Der zugrundeliegende hebräische Begriff „ saelem“ meint
dementsprechend die Statue als Repräsentant des Königs im Land,
damit er in allen Regionen des Reiches präsent ist. Diese Bildtheologie
findet ihren „ Sitz im Leben“ in der altägyptischen Königstheologie.
Demzufolge ist der Pharao – und nur er – der Repräsentant Gott in
seinem Reich. Diese aristokratisch-exklusivistische Anthropologie wird
nun vom Gottesbegriff Israels her „ demokratisiert“: nicht der Pharao
allein ist Repräsentant Gottes, sondern jeder und jede, der und die
Mensch ist und so in einen fundamentalen Beziehung zum Schöpfer
steht. Zwar gilt auch für das AT, dass jedem Mensch für sich Vernunft
und Freiheit und damit das zukommt, was in der europäischen Tradition
(aus seinem theologischen Ursprungsmilieu heraus) „ Person“ heißen
wird im Sinne einer geistigen Selbstzentriertheit“ aus der heraus er ein
Ich zu seiner Um – und Mitwelt verhalten kann. Die Personalität des
Menschen, gründet in seinem unmittelbaren Verhältnis zu Gott. Insofern
kommt jedem Menschen seine unantastbare Würde zu. Aber dieses Ich
in seiner menschliche Vernunft und Freiheit ruht nicht in sich selbst. Sie
ist der Reflex seines Gottesbezugs, in dem dieses Ich nicht nur gründet,
sondern in dem es sich durch sein Selbst- und Weltverhältnis auch
erfüllt. Das eben heißt: Von Gott her steht so der Mensch auch sich
selbst und der Welt gegenüber, um beide zu gestalten. Dass der
Mensch schöpfungstheologisch über die Welt hinausragt, ermöglicht es
ihm so, sich selbst und Welt zu haben, ohne einfach passgenau – und
damit unfrei – in seine „ Umwelt“ eingepasst zu sein. Daher kann
5
Johann Gottfried Herder (+1803) im Zeitalter der Aufklärung in diesem
theologischen Sinn vom Menschen als dem „ ersten Freigelassenen der
Schöpfung“ sprechen. Das aber heißt zugleich, dass die „ Zentriertheit“
des Menschen als freie Vernunft in einem größeren Horizont verortet ist,
nämlich in der freien Vernunft Gottes, der das Maß seines Wirklichseins
ist. Das heißt, der Mensch ergreift sich in seinem Selbst- und
Weltverhältnis erst dort in einer stimmigen Weise, wo er sich als das
Wesen der Transzendenz, d.h. als Wesen des Überstiegs vollzieht und
sich an Gott rückbindet (religere, Religion). Anders gesagt: die
Zentriertheit des Menschen ist durch alle Exzentrizität des
Weltverhaltens zugleich unausweichlich Exzentrizität auf Gott (W.
Pannenberg). Mit anderen Worten: Gott gehört – mit allen
Konsequenzen – in die Wesensbestimmung des Menschen hinein. Mit
dem Ansatz der transzendentalen Theologie Karl Rahners gesagt: Der
Mensch ist „ Geist in Welt“ und „ Hörer des Wortes“, so dass er in allen
Seinsvollzügen „ immer schon“ in einem größeren Horizont steht, auf
den er sich in seiner geschichtlichen Freiheit zu – oder eben
wegbewegt. Letztlich besagt dies, dass der Mensch das Wesen der
Selbstüberschreitung ist, dass er es nicht mit sich selbst und seiner Welt
genug sein lassen kann („ die Welt ist nicht genug“), sondern er in einer
Selbstbescheidung mit dem Endlichen „ unter Niveau bleibt“. Das heißt
zugleich, dass Gott als Schöpfer – so die manifeste Auffassung der
Moderne bis heute – nicht zum Milieu der Selbst-entfremdung des
Menschen wird, sondern zum Ort seiner Selbstidentität. Die klassische
Formel der Theologie hierfür lautet dementsprechend: „ desiderium
naturale in deum“. In Bezug auf die Gottesbeziehung des Menschen, die
sich im Raum seiner geschichtlichen Existenz realisiert, wurde in der
Theologie von Augustin bis heute die Formulierung gen 1, 26 wichtig:
„ als unser Abbild, uns ähnlich“. Die lateinischen Begriffe „ imago“ und
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„ similitudo“, denen hebräisch „ sealem“ und „ demut“ zugrunde
liegen, werden auf eine geschichtliche Spannung ausgelegt, der zufolge
der Mensch seine grundgelegtes Bild (imago/ saelem) auf die
Verähnlichung mit Gott zu gestalten (similitudo/ demut). Damit wird die
imago zum schöpfungstheologischen Datum für das heilsgeschichtliche
Ziel der similitudo. Daraus ergibt sich etwa als Konsequenz für die
Aufklärung, dass in keiner Weise von einem heilen Urzustand, der durch
den Sündenfall verlorengegangen wäre, nicht auszugehen ist. Vielmehr
war und ist der ursprüngliche Index des Menschen hin auf eine
„ werdende Gottesebenbildlichkeit“ (Herder), die er in seinem
geschichtlichen Vollzug einzuholen hat. Dass dies durch den sog.
Sündenfall, d.h. durch die verweigerte Exzentrizität auf Gott hin, nicht
möglich wurde, ändert nichts an diesem grundlegenden
schöpfungstheologischen Verhältnis. Vielmehr ereignet sich dieser
Sündenfall geschichtlich je neu, wo der Mensch seine
Selbsttranszendenz nicht leistet, sondern sich in sich selbst und seiner
eigenen Welt rundet und damit die Spannung von Ich und Gott auf den
Ichpol zurückwendet. Das wird zur wesentlichen Sünde des Menschen,
in der er sich in seinem eigenen Sein verletzt, sofern er Gott als
Bestimmungspol seiner selbst außer Acht lässt. Anders gesagt: indem
er sich selbst absolut setzt.
Gott bildet die schöpfungstheologischen „ Ordnung“ des Menschseins,
so dass er die ins wahre Sein findet, wenn er die Wahrheit Gottes lebt.
Modern formuliert, seine Transzendenz bestimmt so auch seine
kategorialen, geschichtlichen Handlungsfelder. Wenn also Gott selbst
als der Schöpfer der Welt Hingabe an das Andere ist, der es „ am Fest
des Lebens“ teilhaben lässt (Origenes), dann sind Liebe, Kommunialität
und Proexistenz die Formen, wie sich der Mensch in seinem In-der-WeltSein auf Gott beziehen kann, ja Gott tun kann.
7
Diese verdeutlich P in Bezug auf die bestimmenden Horizonte seines
Menschseins: den Bezug zur Mit- und Umwelt.
In Bezug auf die personale Mitwelt hält P daran fest, dass der Mensch
keine absolute Individualität, sondern Sozialität ist, dass der Mensch für
sich allein ein „ halber Mensch“ ist, der in das Sein mit andere
hineingestellt ist, damit er die Transzendenz der Liebe leben kann.
Analog zum Gottesbezug gilt: erst am Du wird der Mensch er selbst.
Diese Wirklichkeit sieht P vor allem im Verhältnis von Mann und Frau,
wenn es in Gen 1, 27 heißt: „ Gott schuf also den Menschen als sein
Abbild, als Abbild Gottes schuf er ihn. Als Mann und Frau schuf er sie.“
Auch hier liegt eine fundamentale Aussage der Anthropologie vor, durch
die sich die biblische Tradition von anderen Kultivierungen des
Menschseins abhebt. Denn es gilt die Positivität von Mann und Frau in
der Transzendenz der Liebe, in der sie in ihre leibhaftige Gemeinschaft
am Geheimnis Gottes partizipieren. In der Zauberflöte von Mozart heißt
es darum: „ Weib und Mann, Mann und Weib rühren an die Gottheit an“.
Gerade weil der Mensch als imago dei zur Liebe berufen ist, lebt er für
P. in der Polarität der Geschlechter. Er ist nur so – in seiner sozialen
Gottebenbildlichkeit – der, in dem Gott sich erkennen kann. Darum wird
in an dieser Stelle in P vom Menschen als eine „ Plurale tantum“
gesprochen. Der Mensch ist der eine Mensch nur im Plural, in dem er
sich als Liebesein verwirklichen, in dem er in seiner kreatürlichen
Existenz am Sein Gottes partizipieren kann (vgl. dazu die Theologie des
Hohen Liedes). Wie sehr sich diese Geschlechterlehre in ihrer Positivität
abhebt von der griechischen Kultur, zeigt sich daran, dass im
Schöpfungsmythos Platons Mann und Frau das Ergebnis eines
kosmischen Unfalls sind, durch den der eine Mensch in zwei Hälften
zerbrochen ist. Mann und Frau stehen nun unter dem Zwang des Eros.
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Sie suchen die ursprüngliche Einheit wiederherzustellen und kommen
doch nie mehr ganz zueinander. Mann und Frau in ihrem Zueinander
sind so ein Fluch. Für das atl. Menschsein ist es eine Positivität, ein
Segen. Zugleich – diese Perspektive ins Allgemeinmenschliche
erweiternd – liegt darin auch die Einheit der Gottes- und Nächstenliebe
als Inhalt des atl. Gebotes und der jesuanischen Verkündigung
begründet. Wer Gott liebt, kann sich in seiner Sozialität nur stimmig auf
Gott beziehen, wo er seine Sozialität als Liebe, zumal als Caritas zum
Nächsten in Not lebt (vgl. das Gleichnis vom barmherzigen Samariter Lk
10, 25-37). Der erste Johannesbrief sagt es kurz und bündig so: „ Wer
sagt, dass er Gott liebt und seinen Bruder hasst, ist ein Lügner.“(1 Joh 4,
20).
Der zweite kategoriale Bereich ist das Verhältnis des Menschen zur
untermenschlichen Schöpfung, also zur Natur. In seiner Herrschaft über
die Tiere der Erde (vgl. Gen 1, 26) soll der Mensch den Schöpfer
repräsentieren. Das aber heißt, es muss sich um ein Herrschen handeln,
das die lebensvermehrende Wirkung des Segens Gottes in der Welt
vergegenwärtigt. Es ist nun die Aufgabe des Menschen die
Lebensfreundlichkeit des Schöpfers durch sein Tun in und an der Welt
präsent zu halten. Nach E. Zenger (vgl. Gottes Bogen in den Wolken.
Untersuchungen zur Komposition und Theologie der priesterschriftlichen
Urgeschichte, Stuttgart 1983 SBS 112) drückt dies die erste
Schöpfungserzählung dadurch aus, dass sie dieses herrscherliche Tun
des Menschen mit dem hebräischen Verb radah kennzeichnet. Radah
meint nun nicht ein Herrschen im Sinne von Unterwerfen, sondern ein
Handeln im expliziten Sinne von Hüten und Hegen. Radah wurzelt daher
in der Welt der Hirten. Dieses Bild hat ja Jesus im Blick auf Gott und sich
selbst aufgegriffen. Der gute Hirt, der sich um das Wohl seiner Schafe
sorgt und sich für sie einsetzt, damit sie gut leben können. Darin wird
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radah zu einem explizit schöpferkonformen Tun sofern Gott selbst sich
atl. als der „ gute Hirt“ der Schöpfung kundgibt (Ez 34, 11-22) bzw. ntl.
von Jesus selbst als dieser „ gute Hirt“ verkörpert wird (vgl. Joh 10,
11ff). Solches „ Herrschen“ ist gemeint, wenn der Mensch in seinem
Weltbezug seine Gottebenbildlichkeit umsetzen soll: eine proexistente
Haltung in der Sorge um das Leben-können der anderen Geschöpfe. An
der Stelle Gottes soll der Mensch das Haus des Lebens für alle
bewohnbar und im Frieden halten. Von daher ist in der Perspektive des
AT der Unfriede zwischen Mensch und Kreatur eine Folge der Sünde
des Menschen. Wo er sich zum Herrscher der Welt aufschwang,
pervertiert er die Ordnung des friedlichen Miteinanders. Zeichen dieses
Unfriedens ist der gestörte Schöpfungsfriede zwischen Mensch und Tier
bis hin zum Töten der Tiere, das von Gott nur als Konsequenz der
Sündigkeit des Menschen in der Geschichte toleriert wird (Gen 9, 1ff).
Von daher ist es die Vision der endgültigen Heilszeit, die ein versöhntes
Miteinander von Mensch und Tier sowie der Tiere untereinander in
einem universalen Frieden anzielt (vgl. Jes 11, 5-9).
Aus dieser grundlegenden Qualifizierung des Gott repräsentierenden
Tuns des Menschen lässt sich nicht nur eine ökologische Theologie
herleiten, die sich etwa gegenwärtig auf unseren Umgang mit Tieren im
Sinne der Massentierhaltung fokussiert (vgl. Rainer Hagencord: Gott und
die Tiere; „ Kein Rohling für die Fleischindustrie“). Die angemahnte
Umkehr findet ihren Grund in der schöpfungstheologischen
Geschwisterlichkeit von Mensch und Tier, sofern in ihnen Blut fließt, das
„ göttliche Fluidum“ des Lebens (vgl. Gen 9, 4f). Zum anderen – und
darauf wird in diesem Kontext explizit Bezug genommen – ist der
Mensch „ Abbild Gottes“ (Gen 9, 6), als er für die Mitgeschöpfe Sorge
trägt. In dieser Perspektive kommt etwa das Menschsein eines Franz
von Assisi zu liegen oder - im evangelischen Bereich - Albert Schweitzer
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und seiner Forderung einer „ Liebe zu allem, was lebt“. Von Gott her ist
der Mensch also in seiner Aufgabe der Repräsentanz zu einer
lebendförderlichen Kultur bestimmt. Denn – und dies ist ein weiteres
Argument – nicht er ist die „ Krone der Schöpfung“, sondern die
Vollendung der gesamten Schöpfung am 7. Tag im Sabbat Gottes (Gen
2, 3). Das aber heißt, dass nicht allein der Mensch, sondern mit ihm die
Schöpfung als ganze zur Gemeinschaft mit Gott berufen ist. Die
besondere Rolle des Menschen liegt darin, im Namen Gottes die
Schöpfung selbst zu befrieden.
4.1.2. Die zweite Schöpfungserzählung ( Gen 2, 4b – 2, 25)
4.1.2.1. „ Exegetisches“
Auch zu dieser zentralen schöpfungstheologischen Perikope
nur kurze Anmerkungen aus dem Raum der historisch-kritischen
Exegese. Mit dieser Stelle haben wir die ältere Schöpfungstheologie vor
uns. Sie stammt wohl aus dem Jerusalem der Zeit zwischen 1000 und
900 v. Chr. Israel ist von einem Nomadenvolk zu einem Volk von
ansässigen Bauern und Handwerkern geworden. Mit dem Kultheiligtum
in Jerusalem (950 v. Chr.) bildet sich ein Mittelpunkt eines Reiches ab,
das wie ein Kreis um das erwählte Volk aufgezirkelt ist. Diese
unterschiedliche kulturelle Situation schlägt sich in dieser
Schöpfungstheologie in einer ganz eigenen Bildwelt nieder, die – nach
dem verwendeten Gottesnamen – JHWH- dem sog. Jahwisten als
Verfasser(gruppe) zugeschrieben wird. Das erstaunliche dabei ist, dass
diese unterschiedliche Bildwelt letztlich von derselben anthropologischen
Überzeugung getragen ist wie P. Insofern können wir uns hier kürzer
fassen. Hinzugefügt sei nur noch, dass auch hier menschheitsalte
Traditionen theologisch verarbeitet wurden.
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4.1.2.2. Inhaltliche Horizonte
Als erstes zeigt sich, dass Gott für den Menschen einen Garten, ein
Paradies (vgl. Islam) anlegte, in den er den Menschen hineinsetzte (Gen
2, 8 u 15). Gott baut eine menschenförmige Welt um ihn herum – wie
ein großer Gärtner. Der evangel. Alttestamentler G. von Rad spricht
daher zurecht davon, dass der Mensch als Mitte in einen kosmischen
Zirkel gesetzt wird, der ganz und gar dem Menschen zugestaltet ist,
Schöpfung also als ein anthropozentrischer Kosmos.
Zugleich teilt der Mensch eine fundamentale Bestimmung dieser ganzen
Wirklichkeit. Er ist – wie alles Lebendige – aus adamah, aus feuchtem
Lehmboden gemacht. Und Gott agiert hier ganz archaisch wie ein
Toepfer (= Koran). Dementsprechend lautet der Gattungsname des
Menschen in der 2. Schöpfungserzählung auch „ Adam“, d.h.: der von
der Erde genommene. Damit wird zugleich der Spielraum des Menschen
vor Gott benannt: er ist endlich, er ist gemacht, er ist ens ab alio. Er
gründet nicht in sich selbst, er ist nicht autonom. Sein Ort vor Gott ist die
Erde, seine Geschöpflichkeit. Mit aller anderen lebendigen Kreatur teilt
der Mensch es, ein atmendes Wesen zu sein, eine nephesh haya, eine
lebendige Seele. Allerdings wird hier der Begriff nephesh nicht in
unserem abendländischen Sinn als Seele bezeichnet, also nicht im
Sinne einer vom Leib getrennten Substanz. Darauf ist gleich in einem
kurzen Exkurs zurückzukommen. Nephesh haya meint im semitischen
Denken vielmehr „ ein lebendiges Wesen“, das durch die Gurgel atmet.
So meint nephesh vor allem das Lebendige, für das pars pro toto die
Kehle steht. Diese Charakteristik teilt der Mensch auch mit den Tieren,
die ebenso nephesh haya sind. Die spezifische Differenz zu ihnen liegt
nun darin, dass der Mensch seinen Lebensatem unmittelbar von Gott
bekommt: Gott „ blies in seine Nase den Lebensatem. So wurde der
12
Mensch zu einer nephesh haya – zu einem lebendigen Wesen.“ (Gen
2, 7). In dieser wunderbaren Metaphorik wird letztendlich ausgedrückt,
was P im Begriff der imago dei zu fassen suchte: die Unmittelbarkeit des
geschöpflichen Menschen aus Gott, der buchstäblich sein göttliches
Milieu ausmacht, in dem der Mensch allererst lebendig wird. Zugleich
wird damit auch die bleibende Relationalität markiert, in die die
menschliche Kreatur eingewiesen ist: Sein auf Gott zu, weil radikal Sein
von Gott her. Im eindrücklichen Bild des Atems wird so die radikale
Paradox des Menschen ausgesagt. Er ist zwar von der Erde und lebt als
Endlicher auf der Erde, aber in alle dem ist er bezogen auf Gott, der als
sein Ursprung auch sein Ziel ist. Erst aus der Gottesbeziehung heraus
wird der Mensch in sein Wesen freigesetzt. Auch hier gilt also wieder,
dass Gott unauslöschlich in die Definition kreatürlichen Menschseins
eingeschrieben ist, dass der Mensch ohne Gott nicht in seine
Bestimmung hineinfindet, eben weil er ontologisch eine auf
Unendlichkeit bezogene Endlichkeit ist.
Zudem wird auch hier in der 2. Schöpfungserzählung der Mensch in
seine Hütefunktion gegenüber der übrigen Schöpfung eingewiesen –
„ damit er den Garten bebaue und behüte“ (Gen 2, 15). Und dies unter
der normierenden Vorgabe Gottes, die das (menschheitsalte) Tabu
Gottes markiert, vom Baum der Erkenntnis zu essen (Gen 2, 17). Auch
hier zeigt sich der Mensch eingewiesen in seine wesenhafte
Exzentrizität, die es ihm verbietet, nach seinem eigenen Willen zu leben.
Und auch die Sozialität des Menschen ist J wichtig. Der Mensch findet in
den Tieren, die er benennen darf, die also auf seine Identität bezogen
sind, nicht das adäquate Gegenüber (Gen 2, 19.20). Erst in der Frau
wird der Mensch Adam ganz. Eva – die Mutter alles Lebendigen – ist
Fleisch von seinem Fleisch (Gen 2, 23). Und eben dies – die absolute
Gleichwertigkeit von Frau und Mann - wird im Bild von der Rippe
13
veranschaulicht, sofern diese aus der Herznähe des Mannes genommen
wird. Letztlich wird hier auf die erotische Unruhe des Mannes angespielt,
der in sich eine Leerstelle der Sehnsucht fühlt, die er nicht durch sich
selbst, sondern durch die Frau stillen kann. Dies gilt natürlich umgekehrt
ebenso. Aber entscheidend ist für J hier die Ergänzungsbedürftigkeit der
Geschlechter und nicht die Unterordnung der Frau unter den Mann. In
diesem Zusammenhang ist es bemerkenswert, dass in der
männerdominierten Gesellschaft der Semiten dezidiert davon die Rede
ist, dass der Mann Vater und Mutter verlässt, um sich an seine Frau zu
binden, um mit ihr ein Fleisch zu werden (vgl. Gen 2, 24). Der Mann
gerät in der Werbung um die Frau quasi unter sein Niveau. Es geht also
nicht um Ehe auf der Ebene des „ Sachenrechts“, sondern um
gleichberechtigte Liebe, also nicht um Unterordnung. Es geht –
biblisch- um die Einheit des Einander-Erkennens, um die gegenseitige
Einheit in der Liebe, in der Mann und Frau zugleich in der Gegenwart
Gottes stehen. Darum brauchen sie sich nicht zu schämen (vgl. Gen 2,
25).
Wir sehen, wie auch hier J noch einmal – wie auch P - die drei
Grundachsen des Menschseins vor Gott auszieht: Die ontologische
Transzendenz des Menschen zu Gott, in dem er als Mensch erst zu sich
selbst kommt. Und die dementsprechende innerweltlich-kategorialen
Realisierung dieser Seinsachse in seiner Beziehung zur Um- und
Mitwelt. Das heißt, wo der Mensch sein In-der-Weltsein in all seinen
Facetten von Gott her als dem Pol seiner Wahrheit übernimmt, wird er
selbst seinsgerecht und wahr. Anders gesagt: „ Glauben ist Sein“. (S.
Kierkegaard, Krankheit zum Tode). In onto-logische Sprache übersetzt
heißt dies: In seiner Geschöpflichkeit ist der Mensch schon immer das
ens relationale. Von Gott her – der sich in seiner Freiheit zum Anderen
der Welt bestimmt hat – ist er nicht ein Individuum, das dazu noch in
14
Beziehungen steht. Er ist Individuum von diesen Beziehungen und in
ihnen. Diese sind und bleiben für sein Selbstwerden konstitutiv.
Praktisch heißt dies: Der Mensch übernimmt sein Wesen dort, wo er sich
in Liebe auf den und das Andere seines selbst übersteigt und dort in
seiner menschlichen Freiheit Gottes Proexistenz mitvollzieht. Er
affirmiert so in seinem Tun Gottes Praxis als eine lebensfördernde
Beziehungskultur als den theonomen Grund für gelingendes
Menschsein. Von Gott her trägt Menschsein die Dimension des
Relationalen. Für eine theologische Anthropologie heißt dies umgekehrt:
wo der Mensch sich dieser theonomen Bestimmung als Wesen der
Gemeinschaft und der Hingabe verweigert, schädigt er zugleich sich
selbst. Wo er sie als bestimmenden Grund seiner Freiheit übernimmt,
übernimmt er seine Wesensbestimmung im Sinne der
Gottebenbildlichkeit (vgl. Bischof Kamphaus: „ Mach´s wie Gott, werde
Mensch!“). Zugleich wird sein Tun zur sakramentalen
Vergegenwärtigung Gottes in der Welt, wie Benedikt XVI in seiner
Antrittsenzyklika „ Deus caritas est“ formuliert hat: „ Wo absichtslos die
Liebe getan wird, wird Gott getan.“ Von daher erschließt sich auch der
innere Zusammenhang des biblischen Doppelgebotes (wie es im
Dekalog formuliert ist), das Jesus als die Mitte seiner Verkündigung
übernimmt: „ Du sollst Gott lieben aus ganzem Herzen. Und du sollst
deinen Nächsten lieben wie dich selbst“ (vgl. Mk 12, 29ff par). In der
selbstlosen Nächstenliebe tut der Mensch „ was Gott ist“ und bejaht
insofern Gott als Wahrheit für sich selbst.
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4.1.2.3 Exkurs zur Leib-Seele-Problematik:
An dieser Stelle ist eine Anmerkung zu einer „ gängigen“ christlichen
Sicht des Menschen als einem Doppelwesen mit Leib und Seele fällig. In
dieser Perspektive wird der Mensch traditionell in diese beiden Teile
(Leib und Seele) zerlegt. Dem Leib kommt dabei die niedere animalische - Natur zu. Der Seele wurden die höheren und reineren und
daher auch die „ theologischen“ Qualitäten zugesprochen.
Diese Sicht auf den Menschen, wie sie als sog. Platonismus vor allem
von Augustinus auf her für westliche Theologie prägend wurde, hat
letztlich zu einer Halbierung des Heiles des Menschen im Sinne einer
Entweltlichung der Gottesbeziehung geführt. Christliche Praxis wurde
über lange Zeiten als Spiritualität der Entleiblichung wirksam, wo doch
gerade in der Eucharistie der Leib des Herrn im Mittelpunkt stand wie
auch christliche Auferstehungshoffnung nicht ohne die Dimension der
verklärten Leiblichkeit auskommt. Aber der prägende Platonismus und
Augustinismus konnte das Ineinander beider Dimensionen für das
Menschseins nicht zusammenhalten, bis eben dahin, dass der
geschöpfliche Leib für den Gottesbezug des Menschen kaum mehr
relevant war. Er war nur äußerliches Instrument, während in der
Vernunftseele des Menschen das geistige Prinzip der Gottesbeziehung
gesehen wurde. Christsein gestaltete sich so als ein Komplex vielfacher
Verdrängungen und Abspaltungen bis in die noch nicht lange
zurückliegende Vergangenheit. Diese Entleiblichung christlichen Heiles
provozierte dann als (über)kompensatorische Nachholvorgänge die leibund lustbezogenen Lebensgestalten der Moderne.
Es ist nun durchaus theologisch aufregend zu sehen, dass das
Menschenbild des Alten Testamentes diese Trennung des Menschen in
einen sinnlich-sündhaften Leib und eine gute, geistige und darin
gottfähige Seele nicht kennt. Für das AT ist der Körper nicht das
16
Gefängnis der Seele (soma saema), aus dem diese wieder zu befreien
wäre. Diese unheilvolle Sicht steuert erst die griechischen Philosophie
bei, die dann vor allem in der Zeit der Kirchenväter in einer
verhängnisvollen Weise in die Spiritualität des Christentums
eingegangen ist und für die paradigmatisch – wie schon gesagt – der
Name Augustinus steht.
In der Sicht der hebräischen Bibel ist der ganze Mensch in seiner
leibhaftigen Verfasstheit geschenktes Leben von Gott her: eben
nephesh haya, wie wir in der zweiten Schöpfungserzählung hörten. Und
darum ist alles am Menschen und die ihn umgebende geschöpfliche
Wirklichkeit gut, ja sehr gut (vgl. erste Schöpfungserzählung). Darum hat
der gläubige Jude des AT keinen Anlass seinem Leib, seiner Sexualität
und allem Geschöpflichen gegenüber misstrauisch zu sein und sie mit
dem Makel des Nicht-sein-Sollenden zu belegen. Er darf und muss
seine Gottesbeziehung im Horizont seiner Geschöpflichkeit leben und
ihm dafür danken. Denn der Mensch ist kein reiner Geist, er ist
verleiblichter Geist. So zeigt sich der Glaubende des At dankbar für die
Gabe des Lebens und der Schöpfung als ganzer. Gutes Leben ist ein
Segen von Gott her. Insofern sieht sich der atl. Mensch von seinem
Schöpfer zu einer freudigen Diesseitigkeit ermächtigt, in der ihm auch
der Wein von Gott vergönnt ist, der „ das Menschenherz erfreut“ (Psalm
104, 14). Der jüdische Mensch weiß sich von Gott als ganzer zum Fest
des Lebens berufen. So ist auch die erotische Beziehung zwischen
Mann und Frau die geschöpfliche Teilhabe am Liebesein Gottes (vgl.
das Hohelied der Liebe). Es ist für den Gläubigen im Raum des AT ein
Zeichen der Gnade vor Gott, lebenssatt zu sterben, also das Leben als
gute Gabe Gottes verkostet zu haben. Kurzes Leben gilt daher als Fluch
(vgl. Jes 65, 16c-25). Dieses Bewusstsein, als ganzer Mensch
zusammen mit anderen im Heilsraum Gottes zu stehen, spiegelt sich
17
auch im Verhalten Jesu. Er war offensichtlich kein Asket wie Johannes
der Täufer, war Gast bei Festen und Hochzeiten, was ihm sogar den
Vorwurf einbrachte, „ ein Fresser und Säufer“ (Mt 11,19) zu sein.
Der Mensch muss daher in der Logik des AT und NT nicht aus sich
selbst und seiner Welt auswandern, um seine Gottesbeziehung leben zu
können. Worum es geht ist lediglich, dass er sich in seinem In-derWeltsein und in seinem Selbstverhältnis von Gott her bestimmt. Denn
sein geschöpfliches Sein ruht nicht in ihm auf, sondern in seiner
Gottesbeziehung. Als ein Sein von Gott her trägt er die Wahrheit seines
selbst nicht in sich, sie vermittelt sich ihm in seinem Gottesverhältnis.
Auch hier gilt wieder: Sein wächst aus dem Glauben, Zentralität steht
immer schon im Horizont der Exzentrizität. Von Gott her wird der
Mensch als Mensch wahr.
Vor dieser Logik des atl. Glaubens, wie sie auch das NT durchzieht, gilt
aber auch: wo der Mensch die Gabe mit dem Geber verwechselt, wo er
also die Dimensionen seiner endlichen Existenz absolut setzt und sie
idolisiert, weil er Gott als Fluchtpunkt der Wirklichkeit ausblendet,
pervertiert er seine seinsbegründende Relation: Er vergöttlicht das
Endliche und verkennt, dass der göttliche Gott allein es ist, in dem sich
seine geschöpfliche Existenz vollenden kann. Für das AT gilt: der
Mensch darf sich in seiner Existenz unbedingt bejahen. Er ist sich selbst
von Gott als gute Gabe geschenkt. Aber er kann diese Gabe nur dort
wirklich annehmen, wo er sich selbst als ein Versprechen auf mehr
anerkennt. Wo er seine onto-logische Relation verkehrt und sich selbst
zum Absolutpol der Wirklichkeit macht, wird ihm das Leben – biblisch
gesprochen – zum Fluch. Der sich absolut gebärdende Mensch kann
die Grundströmungen seiner Existenz nicht mehr auf den Pol Gottes hin
kultivieren, in dem sie sich allein beruhigen könnten. Er wird immer mehr
zum in sich verkrampften Mensch, dem homo in se incurvatus, von dem
18
– gut augustinisch - Martin Luther gesprochen hat. Der Mensch also,
der sich seine eigene Welt baut, als ob es Gott nicht gäbe – „ quasi
deus non daretur.“ Damit sind wir theologisch beim Menschen als
Sünder und Erbsünder angekommen.
4.2. Menschsein konkret - die verweigerte Transzendenz oder:
Der Mensch in der Sünde
Aus den bisherigen Daten der atl. Anthropologie zeigte sich: Der Mensch
kann die Wahrheit seines Seins als Geschöpf vor Gott nicht anders
vollziehen als in seinem freien Überstieg zu Gott, der sein gesamtes
Selbst- und Weltverhalten bestimmt.
Auf dem Hintergrund dieser grundlegenden Seinsordnung des
Menschen entfaltet das AT das Drama des Menschen vor und mit Gott
als Perspektive der verweigerten Transzendenz. Was heißt dies? Der
Mensch will sich in der Logik des AT gerade nicht in verdankender
Weise auf Gott beziehen und darin Gott als den maßgebenden Ursprung
seiner Existenz anerkennen. Er – so die zentrale Aussage der sog.
Sündenfallerzählung - will selbst sein „ wie Gott“ (Gen 3,5), ohne sich
auf dessen Wahrheit zu beziehen. Anders gesagt: Der Mensch setzt
seine eigene Zentralität absolut und blendet seine Exzentrizität aus. Mit
Kierkegaard: er will verzweifelt nicht er selbst sein, also nicht Geschöpf
sein. Er beansprucht eine Autonomie ohne Gott, aus theonomer
Autonomie wird eine „ autonom sein wollende Autonomie“
Dies ist der freiheitstheologische Sinngehalt der sog.
Sündenfallgeschichte in Gen 3 mit ihren mythenhaften Zügen, die in
ihrer Metaphorik auf die faktische Wirklichkeit des Menschen von Anfang
an hinweisen (Gen 3, 1-24), der versucht, sich in absoluter Weise aus
sich selbst zu bestimmen und sich zum alleinigen Maßstab der
19
Wirklichkeit zu erheben. Anders formuliert: Der Mensch gerät in den
Selbstwiderspruch, weil er sich dem Angebot Gottes verweigert sich als
endliche Freiheit im Raum dessen unendlichen Freiheit vollziehen zu
können, insofern er sich von Gott bestimmen lässt. Damit ist Sünde als
ein Datum menschlicher Freiheit markiert, als das „ Verbleiben im
Eigenen“ (J. Ratzinger), wo der Mensch sich dem freien Angebot der
Gottesbeziehung (= Gnade: Gott, der sich in Freiheit schenkt)
verweigert, um sich von seiner eigenen endlichen
Wirklichkeit her zu bestimmen (der Mensch strandet in seiner sinnlichen
Wahrnehmung, aus der heraus er nicht zur Anerkennung der Wahrheit
Gottes findet. Das wird die theologische Tradition in verschiedenen
Gewichtungen zwischen reformatorischer und katholischer Theologie –
als die menschliche Konkupiszenz identifizieren, d.h. seine dominante
Sinnlichkeit, die letztlich die Wahrnehmung des Menschen gefangen
nimmt. In dieser Hinsicht ist die Sündenfallgeschichte von Gen 3
keineswegs als ein historischer Bericht mißzuverstehen. Es handelt sich
ja um eine theologische Deutung der Gegenwart durch einen fiktiven
Rückblick in die geschichtlichen Ursprünge (= Ätiologie, ta aitia: die
Ursprünge). Darin findet die Erfahrung des Menschen ihren Ausdruck,
dass etwas in ihrem In-der-Welt- und Menschsein „ nicht in Ordnung ist.
Dazu gleich Genaueres. Man kann also sagen: Wie die ersten
Schöpfungserzählungen ein Bild vom Menschen entworfen haben, wie
Gott ihn sich erträumt hat (positiver Mythos), so beschreibt die sog.
Sündenfallgeschichte den Menschen, der von Anfang an faktisch
Sünder war, sofern er sich aus sich selbst heraus bestimmen und die
Norm seiner Wahrheit (auto – nom) sein wollte. Wir brauchen also keine
Historizität annehmen, auch nicht den Monogenismus eines ersten
Menschenpaares, sondern schlicht unsere Anthropologie zugrunde
legen, wonach der Mensch erst in der Transzendenz, im Sprung des
20
Glaubens, in die Wahrheit Gottes und seiner selbst hineinfindet – und
sich dies nicht zu leisten traut, weil er – gnadentheologisch gesprochen
– dem Angebot Gottes misstraut und sich seine eigene Welt und
Wahrheit baut, als bei seinem Ich und seiner Welt, letztendlich bei seiner
eigenen Wahrheit verbleibt. Wo der Mensch onto-logisch in die
Beziehung zu Gott eingewiesen ist, so dass er sich erst in Gott ergreift,
ist dieses Moment in eine prekäre Freiheit gelegt, die sich in ihre
Selbstzentrierung und der Absolutsetzung der Wirklichkeit ihre
relationalen Bestimmung zu Gott hin verweigert. Dies ist die konkrete
conditio humana, die er in seiner Vorfindlichkeit zeigt. Der Mensch ist –
so W. Pannenberg – peccator in re – er ist faktisch immer schon
Sünder, lebt in seiner Selbst- und Weltzentriertheit faktisch seine reale
Gottesferne. Paulus beschreibt diese Phänomen eindringlich in seinem
Römerbrief: „ Sie verfielen in ihrem Denken der Nichtigkeit, und ihr
unverständiges Herz wurde verfinstert. Sie behaupteten weise zu sein,
und wurden zu Toren. Sie vertauschten die Herrlichkeit des
unvergänglichen Gottes mit Bildern… Sie vertauschten die Wahrheit
Gottes mit der Lüge, sie beteten das Geschöpf an und verehrten es
anstelle des Schöpfers.“ (Röm, 1, 21ff). Theologisch wird diese
paulinische Aussage – mit unterschiedlichen Nuancen zwischen
katholischer und evangelischer Anthropologie – in den Begriff der
Konkupiszenz (Begehrlichkeit) gefasst. Gemeint ist damit, dass der
Mensch sich in seinem Selbstbewusstsein, das wesentlich von seinem
Ich ausgeht, im Raum des Endlichen verfängt (dem Raum des „ uti“,
während er auf den Raum des „ frui“hingeordnet ist. Sünde ist so die
Wahl des Menschen gegen den Gottesglauben, gegen Gott als das
erfüllende Ziel endlicher Freiheit. Und daraus zieht Paulus die
Konsequenz: „ so kam durch die Sünde der Tod in die Welt, weil alle
sündigten“. (vgl. Röm 5, 12). Nebenbei: Auch für Kant ist dies in seinem
21
vernunftorientierten Denken das unauslotbare Geheimnis des
Menschen, wie er angesichts der Wahrheit bewusst und entschieden
aus der Wahrheit fallen kann, so dass es die Schuld – religiös
gesprochen – die Sünde des Menschen ist, die ihm selbst zuzurechnen
bleibt im Sinne der Ursünde (paccatum originale originans).
In den folgenden Kapiteln Gen 4-11 entfaltet die Genesiserzählung –
wiederum im Sinne einer mythologisch gefärbten Ätiologie („ das was
niemals war und immer ist“) die Folge dieser Lebens im Schatten
Gottes. Es zeigt sich das Böse, die Egoismen der Menschheit, die aus
der Ursünde hervorgehen, weil jeder Einzelne sich nun absolut setzt. Wo
der Mensch nicht mehr zur Transzendenz auf Gott hin fähig ist, wird
auch seine soziale Transzendenz korrumpiert: Kain erschlägt Abel,
menschlicher Gigantismus greift um sich (Göttersöhne vermischen sich
mit Menschenfrauen, Gen 6, 1ff), bis dahin, dass die Menschheit im
Turmbau zu Babel die Grenze zwischen Erde und Himmel überbrücken
will (Gen 11, 1ff). Und so verfallen sie der Strafe ihres Tuns, sie
verstehen sie eine Sprache des Seins nicht mehr, sind aus der Einheit
gefallen in die Zerstreuung des Menschseins (vgl. Gen 11, 7ff). Zugleich
wirft dieses Leben in der Entfremdung zur göttlichen „ Quelle des
Lebens“ seine Schatten auch auf die menschliche Existenz überhaupt:
das Leben – arbeiten und gebären – wird mühsam (Gen 3, 16ff), die
Liebe zwischen Mann und Frau vergiftet, (ebd). Mit der Entfernung von
Gott als der Quelle des Lebens mindert sich die Lebenskraft des
Menschen, so dass der Tod als Sold der Sünde, wie Paulus dann sagen
wird (vgl. Röm 5, 12), zur Wirklichkeit seines Lebens wird (vgl. Gen 3,
20). Anders und freiheitstheologisch formuliert: Der Mensch erlebt sich
in einem vielfach verstellten Freiheitsraum, aus dem er selbst nicht
wieder einfach aussteigen kann. Er hat sich zum Sündersein bestimmt.
Sein Ort ist so „ Jenseits von Eden“. Er lügt sich darin zugleich in seine
22
eigene Wahrheit hinein, versucht so das „ Nicht-in-Ordnung“ in ein „ Inder-Ordnung“ zu verändern – und verstrickt so umso mehr in seiner
„ Sünde“ – in einem falschen, unrechten Sein. Darauf zielt die
scholastische Bestimmung des malum morale als einem Mangel an
Gutsein. Sündersein ist defizientes Menschsein, ist darin
Selbstschädigung, sofern der Mensch sich „ unter sein Seinkönnen“
begeben hat. Von daher liegt im Moment des falschen Seins der
theologische Anknüpfungspunkt für die (paulinische) Gnadentheologie
und Soteriologie als Eröffnung zum erlösten Menschseins in der neuen
Gemeinschaft mit Gott von Gott her. Hier wären dann die verschiedenen
Perspektiven der Christologie zur Geltung zu bringen.
Im Kontext der Sünde ist auch der Begriff der Erbsünde - Augustin
spricht vom peccatum haereditarium - der in seiner Eindeutschung so
wohl auf Martin Luther zurückgeht von Bedeutung. In ihm wird – gegen
die unterstellte augustinische Sicht einer quasi-biologischen Realität der
Erbsünde - die soziale Dimension menschlicher Sündigkeit benannt. Die
Reichweite menschlicher Schuld ist nie auf das Private beschränkt,
sondern tangiert notwendig immer auch andere (vgl. dazu Pröpper II
699). Zwar ist es so, dass Sünde im eigentlichen Sinn jeweils ein Akt
aus unvertretbarer personaler Freiheit ist. Dennoch ergibt sich aus dem
Miteinander menschlicher Freiheitsräume eine Situiertheit der Freiheiten,
in der diese sich positiv, aber eben auch negativ beeinflussen. Dies
bedeutet, dass menschliche Freiheiten als Folge menschlicher Sünde in
Konstellationen des Irrtums, der Verschattung und falschen Handelns
geraten, das ihr eigenen Handeln in einer dramatischen Weise
mitbestimmt, so dass sie Dimensionen fehlgeleiteter Freiheit in den
eigenen Akt übernehmen. Diese soziale Situiertheit, die den Menschen
daran hindert, auf Gott hin und so seinsgerecht – in Bezug auf sich und
den anderen - zu leben, trägt eine eigene Dynamik in sich, die im
23
Extremfall die Frage aufwerfen kann, ob jemand im subjektiven Sinn
Sünder ist, wenn ihm nicht etwa die Möglichkeit genommen ist, ein
eigenes Gewissen auszubilden. Vielleicht ist diese Möglichkeit in vielen
Bereichen unserer Gesellschaft längst wirklich geworden. Im
Zusammenhang der Situiertheit menschlicher Freiheit kommt dann auch
die Taufe als Befreiung von der Erbsünde zu liegen. Von Gott her wird
dem Menschen eine neue Situation, ein neuer Anfang inmitten der
Menschheit möglich gemacht (Gnade), der in der unverstellten
Gottesbeziehung des Getauften besteht, von dem her er zu einer neuen
Existenz im Sinne eines Vermögens zum Guten befähigt wird. Letztlich
steht so die Beichte in der Verlängerung der Taufe, in der dieser neue
Anfang in der Geschichte eines Menschen immer neu eingeholt werden
kann. Wie schon betont: in diesem Verständnis von Erbsünde braucht
nicht mehr das augustinische Modell des sog. Monogenismus sowie der
Vererbung der Ursünde Adams (Konkupiszenz) mittels des sexuellen
Aktes herangezogen werden. Auch wenn das Konzil von Trient (15451563) in seinem Dekret zur Erbsünde gegen Pelagius festhält
“propagatione, non imitatione“ (DH1513), ist damit nicht der sexuelle Akt
gemeint, sondern die Einheit des Menschengeschlechts in der Sünde,
unsere „ Brüderlichkeit in der Sünde“(D. Bonhoeffer). In einer
freiheitstheologischen Sicht (Hermeneutik) ist diese Wirklichkeit wohl
plausibler einzuholen als auf der Ebene einer quasi-genetischen Logik,
auf die das Konzil von Trient auch nicht anspielen wollte. Es geht um
eine geschichtlich- kollektive Seinsbestimmung des Menschen vor Gott
ohne Gott. Diese lässt sich nur als freiheitliche wirklich als Schuld bzw.
Sünde bestimmen, ansonsten wäre sie lediglich Schicksal und so
Notwendigkeit, damit aber keine Schuld.
Paulus formuliert dies Ankommen der erbsündlichen Tendenz in der
personalen Sünde des Einzelnen so (vgl. Röm 7,19): „ Denn ich tue
24
nicht das Gute, das ich will, sondern das Böse, das ich nicht will.“ In
jeder aktuellen Sünde wird letztlich die Ablehnung Gottes aktuell, das
grundsätzlich in der Menschheit als ganzer „ da“ ist. Der Mensch
weigert sich sowohl einzeln wie kollektiv, der zu sein, der er sein kann
und sein soll: Mensch als imago dei, um so dem Willen Gottes zu
entsprechen. Theologische Anthropologie ist so: Modalanthropologie,
eine Anthropologie die eine neue „ Art und Weise“ (modus), ein neues
Können des Menschseins von Gott her (in der Gnade) aufzeigt. Die
theologische Rede von der Erbsünde macht deutlich, wie sehr der
einzelne Mensch, aber auch ganze Institutionen gegen die Wahrheit
Gottes und so gegen die eigene Humanität anleben – und wie schwer
die Umkehr fällt, die dazu gefordert ist, auch dies sowohl im einzelnen
Leben wie auf der Ebene von Institutionen und Strukturen (vgl. die
Rede von der „ strukturellen Sünde“).
4.3. Beten als geschöpflicher Grundakt (F. Ullrich)
Ich hatte bereits im Zusammenhang der Leib-Seele-Problematik darauf
hingewiesen, dass sich die geschaffene endliche Freiheit in der Logik
des AT nur stimmig vollzieht, wenn sie sich selbst auf Gott als Ursprung
und Ziel ihres Daseins bezieht – und damit den Mehrwert von Welt und
Mensch erkennt. Eben diesen Grundakt des Menschen benennt der
Begriff des „ Transzendierens“, den Überstieg aus dem Zentrum des
eigenen Ich auf den Pol des Schöpfers, von dem her er sich selbst
geschenkt und an sich frei gegeben ist. Für das gelingende Menschsein
des Menschen heißt dies zunächst, dass er sich in seiner
geschöpflichen Endlichkeit positiv bejahen darf als eine Existenz, die
von Gott gewollt ist und von Gott zur Teilhabe an seinem Leben gerufen
ist – und zwar als endliche Freiheit. D.h. zunächst: Mein Dasein ist so
25
ein Gut und kein Unsinn. Der endliche Mensch ist von Gott als Geschöpf
– so Origenes – zum Fest des Lebens gerufen. Dieses SichGegebensein führt aber notwendigerweise zum Akt der Verdankung Gott
gegenüber, von dem her alles - inklusive meines selbst - wesentlich
Gabe ist. In diesem Gegebensein erweist sich die Wirklichkeit als
herkünftig vom Schöpfergott selbst, der sich zum Ziel seiner Schöpfung
bestimmt hat. Das aber heißt, wo der Mensch sein Gabesein und damit
die Gabe der Welt anerkennt, erschließt sich ihm sein Dasein als
Beziehung zu einem Größeren, von dem her an sich freigegeben ist, um
sich in ihm zu vollenden. Anders formuliert: Im Bewusstsein meiner
Geschöpflichkeit ist bereits das onto- logische Moment der
Transzendenz auf Gott gegeben, in der sich die Wahrheit meiner selbst
und meiner Welt erschließt als eine Vorlauf auf Gott, sofern ich das
geschöpfliche Echo seines Rufes im endlichen Sein bin. Mit meiner
Geschöpflichkeit ist damit zugleich die radikale Vorläufigkeit alles
Endlichen gegeben. Dies aber nicht so, dass das Endliche nichts wäre.
Vielmehr trägt es in sich eine Verheißung auf jenes „ Mehr“, das sich in
Gott erfüllen kann (vgl. negativ: den Mythos von Sysiphos, der von sich
aus das Endliche auf das Absolute hin überwinden will.) Anders
formuliert, der Mensch steht nur dann in einer stimmigen Weise bei sich
selbst und seiner Welt, wo er sich in seine ihm geschenkte
Gottesrelation hineinstellt, die das unhintergehbare Paradox des
Menschen ausmacht, sich als endlicher nur in Gott erfüllen zu können,
dies aber auch zu dürfen, sich so von Gott an sich selbst gegeben zu
sein, dass Gott sich ihm schenken kann. Nikolaus Cusanus, einer der
bedeutendsten Mystiker an der Schwelle zur Neuzeit (15. Jh.), formuliert
dies in einem Gebet so: „ Wie könntest du dich mir geben, wenn du
nicht zuvor mich mir gegeben hättest? Wenn ich in der Stille der
Beschauung ruhe, antwortest du, Herr, in meinem innersten Herzen: Sei
26
du dein, so bin ich dein.“ (De visione die, Kap VII). Darum, so der Beter
weiter: „ O Herr, Du hast es in meine Freiheit gelegt, dass ich mein sein
kann, wenn ich es nur will. Gehöre ich darum nicht mir selbst, so gehörst
auch Du nicht mir. Du machst die Freiheit notwendig, da Du nicht mein
sein kannst, wenn ich nicht mein bin. Und weil Du es in meine freie
Entscheidung gelegt hast, zwingst Du mich nicht, sondern erwartest,
dass ich mein eigenes Sein erwähle.“ (ebd.) Mit anderen Worten: Erst
wo wir uns in unserem geschöpflichen Selbstsein autonom als Sein zu
Gott übernehmen, und uns frei für Gott entscheiden, kann Gott der
erfüllende Gehalt meines Selbst sein. Dies hat – nebenbei –
erhebliche Konsequenzen für die Art und Weise der
Glaubensvermittlung. Entweder wird sie relevant für den Vollzug des
Menschen, oder aber sie schwebt über ihm und wird menschlich
bedeutungslos.
Es kann daher letztlich nur darum gehen, dem denkerisch und
lebenspraktisch auf den Grund zu gehen, dass mit der Erfahrung meiner
eigenen – endlichen Freiheit – zugleich eine Dynamik des Überstiegs
mitgegeben ist, die mich in meinem gesamten Existenzvollzug auf jene
unendlichen Gott hin in Bewegung setzt, in dem dieses Freiheitsstreben
sich erfüllen darf – noch einmal: durch alle Endlichkeit hindurch und als
Erfüllung dieses konkreten Endlichkeit. Dies aber bedeutet, dass der
Mensch zu einer distanzierten Gelassenheit ermächtigt wird, die sich
weder positiv noch negativ im Raum des Endlichen festmachen muss,
sondern es auf Gott hin auch lassen kann. Anders gesagt: Im
Transzendenzvollzug wird er frei aus der Angst um sich selbst in einer
gelassenen Annahme des Lebensgeschickes als seines Weges zu Gott
als sein Vor-lauf in die Vollendung. Ihren leibhaftig-geschichtlichen
Ausdruck findet die geschöpfliche Transzendenzbewegung im Gebet. In
Formen des Lobes und des Dankes wie auch in Formen des Bitte und
27
Fürbitte vollzieht sich der Mensch als eine verdankte Existenz, die sich
nicht aus sich selbst heraus setzt, sondern immer schon von einem
Anderen her ist, eben jener „ Quelle des Lebens“, von der die Beter des
Psalmes sprechen, wenn sie Gott für das Geschenk des Lebens danken
und loben, ihn aber auch in Gefahr, Sünde und Todesnot um diese
Gabe des Lebens bitten, die darin besteht, dass Gott sich dem Beter
wieder zuwendet.
Beispiele dazu Ps 33 (Ein Loblied auf den mächtigen und gütigen Gott),
Ps 38 (Die Klage eines Kranken) Ps 46 (Gott, unsere Burg), Ps 57
(Geborgenheit im Schutz Gottes)
Ich möchte in diesem Zusammenhang auf eine paradoxe Form
menschlichen Gottvertrauens hinweisen: Vertrauen des Menschen zu
Gott in der Form von Klage und Anklage. Wo das AT vom Vertrauen des
Menschen zu Gott spricht, geht es nicht um eine zahme und blutleere
Spiritualität. Es geht um ein Vertrauen, in dem der ganze Mensch in
allen Facetten des Leidens mit Gott ringt. Das AT hält dafür sogar eine
eigene Gattung bereit: Die Klagelieder.
Der Protagonist aller menschlichen Klage vor Gott ist aber Hiob. Hiob
begibt sich in einen Rechtsstreit mit Gott auf Leben und Tod. Es wird
hier im AT das Ringen eines Menschen mit Gott beschrieben, in dem
Gott selbst auf die Anklagebank des Leidenden gezerrt wird.
Dieser fromme Hiob schleudert Gott alles entgegen, was ein leidender
Mensch Gott entgegenschleudern kann. Und er definiert Gott dabei als
Un-Gott, als Monster. Das Überraschende an diesem Buch ist, dass
Gott gerade diesem klagenden Hiob antwortet. Er antwortet nicht dem
Theologenfreunden des Hiob, die unbedingt darauf festhalten, dass
Hiobs Leiden sein muss, was es theologisch sein soll, Leiden und Strafe
für irgendeine Schuld. Genau dagegen protestiert Hiob und hält daran
fest, dass er ein schuldloser Mensch ist. Nicht den Theologenfreunden
28
Hiobs antwortet Gott. Vielmehr beschuldigt er sie, dass sie nicht recht
von ihm gesprochen haben. Aber Hiob, so die letzte Perspektive dieser
Legende, hat recht von Gott gesprochen, weil er in seiner Klage am Gott
des Lebens festhalten wollte gegen den Gott des Unheils. Das Buch
Hiob stellt den Menschen hinein in die Unerklärlichkeit des Leidens.
Aber es stellt ihn zugleich vor einen Gott, der zwar geheimnisvoll ist wie
das Leben selbst, aber auch im Leiden anrufbar ist für den Menschen –
als der Freund des Lebens. Mit Hiob bekommt der leidende Mensch sein
gottverbrieftes Klagerecht vor Gott selbst. Gott anerkennt, dass
manchmal nur die Form der Klage und Anklage die einzige Weise ist, in
der der Mensch an Gott festhalten kann. Das Buch Hiob löst die Frage
nicht, warum es Leiden gibt. Es gibt als Lösungshorizont nur an, dass
der Mensch sein Leiden nur bestehen und überstehen darf, auch in der
Form der Klage und Anklage des Menschen, die zum paradoxen
Ausdruck seines Glaubens wird. Gott ist in der Klage anrufbar als der,
der einen Weg durch das Leid ermöglicht (vgl. Buch SchwienhorstSchönberger). Von daher schließt das Buch Hiob in folgender Weise:
„ Vom Hörensagen nur hatte ich von dir vernommen (sagt Hiob); jetzt
aber hat mein Auge dich geschaut. Darum widerrufe ich und atme auf, in
Staub und Asche. Die Hand leg ich mir auf den Mund... Ich habe dich
erkannt“ (Hiob 42,2.5.6). Gott stellt sich dem Menschen als Klagemauer
seines Lebens zur Verfügung. Der alttestamentliche Mensch hat daher
ein gottverbrieftes Recht auf Klage und Anklage vor Gott. Gott ist Gott
gerade auch des „ homo patiens“ Das Buch Hiob steht daher gegen
jede halbierte Spiritualität, die nur Lob und Preis als Form des Betens
zulässt, Klage und Anklage aber als unfromm und als unschicklich
zurückweist.
Dann aber kann Beten schnell zu einem vertrösteten Zynismus werden,
der den Menschen in seinem konkreten Leiden nicht ernst nimmt. Der
29
Mensch will und darf als Ganzer vor Gott vorkommen, in seinem Glück
und in seinem Leid. Dies gehört zur Leidenspastoral Gottes selbst.
Klage ist oft die einzige Weise, wie der Mensch manchmal noch an
einem Sinn festhalten kann. Eine therapeutische Pastoral im Namen
Gottes muss dies aushalten können ohne spirituell zu beschwichtigen.
Das bedeutet aber auch, dass es eine Kultur der Klage auch in unseren
Liturgien geben müsse. Dass es sie kaum gibt, zeigt, dass unsere sog.
Leidenspastoral auch häufig von Verdrängung durchsetzt ist. Alfred Delp
hat dies einmal so gesagt: Der große Wert des Hiob-Buches ist es, die
Schattenseite des Lebens in den Gottesbezug hineinzustellen und zu
einem Weg mit Gott zu machen. Vielleicht gilt gerade hier am meisten,
was Johann Baptist Metz als Qualität jedes Betens benannt hat:
Unterbrechung. Unterbrechung des Alltags. Unterbrechung der sog.
Normalität. Aber auch Unterbrechung des Leidens, wenn auch nur für
einen kurzen Moment.
Gerade die Perspektive des leidenden Menschen in seinem Verhältnis
zu Gott schlägt den Bogen zur neutestamentlichen Anthropologie, sofern
im Blick auf den Gekreuzigten Gott selbst zur Antwort auf das Leiden
des Menschen wird. Den verschiedenen Perspektiven der
neutestamentlichen Anthropologie wenden wir uns in einem nächsten
Hauptpunkt zu.
30
5. Neutestamentliche Perspektiven auf das Menschsein
Das NT stellt im Blick auf die theologische Gestalt Jesus Christus die
anthropologischen Perspektiven, die das AT auf das Menschsein
angelegt hat. Von ihm her wird erst sichtbar was in Wahrheit Sünde –
Leben ohne Gott – und was befreites, erlöstes und darin wahres
Menschseins vor und mit Gott ist. Mit Karl Rahner könnte man so sagen,
dass die Christologie die Erfüllung und Vollendung der Anthropologie
wie auch deren Gericht ist, in dem die Sünde im Menschsein offenbar
wird. Christologisch wird so das Wesen des Menschseins in ein helleres
Licht gestellt wird. Das Vatikanum II sagt dies so: „ Tatsächlich klärt
sich nur im Geheimnis des fleischgewordenen Wortes das Geheimnis
des Menschen wahrhaft auf. Denn Adam, der erste Mensch, ist das
Vorausbild des künftigen, nämlich Christus, des Herrn. Christus, der
neue Adam, macht eben in der Offenbarung des Geheimnisses des
Vaters und seiner Liebe dem Menschen den Menschen selbst voll kund
und erschließt ihm seine höchste Berufung. Es ist also nicht
verwunderlich, dass in ihm die eben genannten Wahrheiten ihren
Ursprung haben und ihren Gipfelpunkt erreichen.“(GS 22). – Gemeint
sind darin die dramatischen Spannungen des Menschen, SozialitätWesen des Menschen und Sünde, Vernunfterkenntnis, Sittlichkeit und
Gewissen, Endlichkeit und Tod: erst in Christus lässt sich das Rätsel
des Menschen, das vor allem im Tod aufbricht, auf - werden die
Spannungen der Endlichkeit im Endlichen auf Gott hin ausgespannt und
darin entspannt (vgl. GS 12-21). Von Christus her wird greifbar, wie
Menschsein glückt als Menschseins vor und mit Gott. Auch hier zeigt
sich, Glaube ist Sein, sofern sich die größere Möglichkeit des
Menschseins in die religiösen Vernunft zu erkennen gibt: Der Mensch
findet seine Identität nicht aus sich selbst, er ist soteriologisch von Gott
31
her bestimmt (vgl. Die scholastische Lehre vom desiderium naturale in
Deum). Der Mensch kann sich in seiner Endlichkeit nur im Unendlichen
beruhigen. In diesem Zusammenhang möchte ich vor allem die
christologischen Spitzenaussagen des NT angehen und anthropologisch
auswerten.
Als erstes und fundamentales Datum ist hier der Begriff Inkarnation, die
Menschwerdung Gottes zu nennen.
5.1. Inkarnation – christologische Vertiefung der Menschenwürde
In der Inkarnation wird der atl. Begriff der Gott-ebenbildlichkeit in einer
bedeutsamen Weise eingetieft. Sofern – johanneisch gesprochen - in
der Inkarnation Gott selbst in die Existenz des Fleisches des Menschen,
zumal des Sünders, eingeht, ist endliches Menschsein Chiffre und Spur
Gottes. Der Mensch gehört in die Gottesgemeinschaft hinein, ja ist
schon in Gott, weil er in seinem geschöpflichen Sein in Gott gründet. Die
Gabe, die dem Menschen zuteil wird, ist nicht einfach er selbst und dann
Gott, sondern er selbst in Gott, sofern Christus der Seinsgrund allen
Menschseins ist. Wo Menschsein bestimmungsmäßig in die Wirklichkeit
Gottes gehört, sind alle anders und doch jeder gleich.
Eine erste Spur zeigt sich in der Demokratisierung der Menschenwürde,
wie sie etwa Paulus im Zusammenhang seiner Tauftheologie formuliert,
wenn er sagt: „ Denn ihr alle, die ihr auf Christus getauft seid, habt
Christus (als Gewand) angelegt. Es gibt nicht mehr Juden und Griechen,
nicht Sklaven und Freie, nicht Mann und Frau; denn ihre alle seid
>einer< in Christus Jesus.“ (Gal 3,26ff). Damit werden alle sozialen,
kulturellen und geschlechtsspezifischen Rollenzusammenhänge
vorläufig. Die essentielle Bestimmung des Menschen ist es, „ en
Christo“ – und zwar „ einer“ zu sein.
32
Von daher ist das Potential eines biblischen „ Kommunitarismus bzw.
Sozialismus“ gerade in den politischen Utopien der Moderne nicht zu
überschätzen (vgl. Karl Marx, Lenin, Fidel Castro), auch wenn es im
Raum der Kirche selbst oft ungenützt blieb.
Kirchliche Strukturen hätten sich von der Tauftheologie her durch ein
Ethos der Gemeinschaftlichkeit, durch communial-dialogische Praxis
auszuweisen.
5.2. Die christo- logische Wahrheit als der Weg zum menschlichen
Menschsein
In der Sicht neutestamentlicher Theologie lässt sich formulieren, dass
Christus als der Weg zum Menschsein des Menschen vorgestellt wird.
Er ist darin „ Weg, Wahrheit und Leben“ (vgl. Joh 14,6). Christus ist
nach dem Evangelium der menschliche Mensch, weil er sich ganz vom
Willen Gottes her entwirft, so dass in ihm Zentralität und Exzentrizität zur
Deckung kommen. Er wird zum wahren Menschen, weil er Gott in
seinem Leben ganz da ist. Dem entspricht die christologische
Lehraussage von Chalkedon (451) von Christus als „ wahrer Gott und
wahrer Mensch“. Was hier auf der Ebene von göttlicher und
menschlicher Natur gesagt wird, lässt sich auf im Horizont von
lebendiger Beziehung im Sinne des vorher gesagten plausibel machen:
In Jesus lebt eine menschliche Freiheit – in der Person des Sohnes –
ganz auf den Vater hin. Es geht um die gesamte Existenz, sein Leben,
sein Sterben, Freud und Leid, Alltäglichkeit und Fest, sein gesamtes Ich
lebt im Horizont Gottes – und eröffnet dem Menschen in seiner eigenen
Freiheit ein neues Menschseins auf Gott hin. Und das meint Gnade: Von
Gott her wird dem Menschen eine neue Möglichkeit seiner
33
Gottesbeziehung eröffnet, die er aus sich selbst heraus als Sünder nicht
mehr finden und leisten kann. Die patristische Soteriologie
(Erlösungslehre) spricht in diesem Zusammenhang vom „ admirabile
commercium“, dem wunderbaren Tausch, der sich in Christus vollzieht:
Gott nimmt unsere endliche Freiheit auf sich, damit er uns mit der seinen
beschenken kann. Der Festgesang zu Weihnachten sagt dies so:
„ Denn einen wunderbaren Tausch hast Du vollzogen, Dein göttliches
Wort wurde ein sterblicher Mensch und wir Menschen empfangen dein
göttliches Leben in Christus“
Darin wird Christus zum neuen Spielraum für die Freiheit des Menschen
aus Gott heraus. In seiner Nachfolge eröffnet sich für den gläubigen
Menschen eine neue Kultur des Menschseins. Insofern lässt sich im
Anklang an ein Wort von Bischof Kamphaus sagen: „ Mach’s wie Gott werde Mensch“- oder mit Gregor von Nyssa: „ Unser Spiel spielt in
seinem Spiel“ Christus selbst ist so die Gnade Gottes, ist Ausdruck und
Realisierung der Menschenfreundlichkeit und Güte Gottes (vgl. Tit 3,4),
die dem Menschen umsonst – gratis – geschenkt wird, um ihn so in
einen neuen Handlungsraum seines Menschseins zu heben, der
grundsätzlich – auch im Raum der Endlichkeit schon „ in Christus“
spielt, und so schon über den Tod der Sünde hinaus ist, also sein Leben
„ in, durch und mit“ Gott lebt. Christliche Existenz wird so transparent
als Ermöglichung eines neuen Menschseins in Christus (vgl. 2 Kor 5,17:
„ nova creatura). Insofern ist Christus in seiner Praxis der Gnade Gottes
in Person, die zu einem neuen Lebensstil befreit, in der der Mensch
nicht mehr ängstlich um sich selber kreisen braucht (vgl. Gal 5,1:
Erlösung ist: „ zur Freiheit befreit sein“).
Indem sich der Mensch daher innerlich zu Christus entschließt und ihn
zu seinem Wirkprinzip macht, eröffnet sich ihm eine neue
Existenzfähigkeit. Es geht um ein „ Gehen in den Fußstapfen Jesu“, um
34
ein absolutes Vertrauen auf einen gütigen Vater. (vgl. Mt 6,25f.; Lk
12,22f.).
Und es geht von da her um ein neues Menschsein aus dieser Bindung
an den Vater, das den Menschen auch in ein neues Weltethos
hineinstellt. Es geht dabei in der Perspektive Jesu um mehr als um die
natürlichen Bindungen und die geschöpfliche Beheimatung des
Menschen. Es geht um ein Leben im Horizont des göttlichen Willens
(wie im Himmel, so auf Erden) und darum um eine radikale Hinwendung
zum Du, zumal dem beschädigten Du. Wir kennen dazu ja die
entsprechende Stelle des Evangeliums wie etwa das Gleichnis vom
barmherzigen Samariter (Lk 10,25-37) und Jesu eindringliche Rede vom
Weltgericht (Mt 25,31-46). Hierin liegt ja die theologische Begründung
für jedes caritative Tun in der Kirche: Wenn in jedem Menschen Gott
gegenwärtig ist, kann sich menschliches Tun nicht am Menschen vorbei
auf Gott beziehen (was ihr einem meiner Geringsten Brüder getan habt,
ihr habt es mir getan, heißt es in der Weltgerichtsrede Jesu). Und zum
anderen: der Mensch kann seine Menschlichkeit nur leben, indem er
nach den Worten des Johannesevangeliums die Wahrheit Gottes tut, der
Liebe ist. (Joh 3,21). Das bedeutet – johanneisch gesprochen - eine
Kultur der Fußwaschung (vgl. Joh 13) und eine Koinzidenz von Kultus
und Ethos. Der christo - logische Fundamentalsatz dazu lautet bei
Markus: „ Denn der Menschensohn kam nicht, bedient zu werden,
sondern zu dienen und zu geben sein Leben als Lösegeld für die vielen“.
(Mk 10,42-45). – Und eben darin ist Christus der Zusammenfall von
Gottesdienst und Liebesdienst.
Dass solche Praxis einer echt selbst-losen Humanität dem Menschen
nicht einfach nur aus sich heraus möglich ist, zeigt sich an unserer
Selbsterfahrung. Wir geraten darin sehr schnell an unsere Grenzen (vgl.
das Beispiel des Franziskus mit dem Aussätzigen).
35
Darüber hinaus spüren wir, dass wir eine neue menschliche Praxis
benötigen. Unsere tagtägliche Erfahrung ist es, dass wir durch das
Ausgrenzen anderer uns selbst schädigen. Wo andere draußen bleiben
müssen, werden sie ihre Rechte anmelden und es kommt zu Konflikten
im Großen und im Kleinen, in denen mit der Freiheit der Anderen immer
auch die eigene Freiheit beschädigt wird.
Theologisch heißt dies: Wo der Mensch – aus Gnade - in Gott zu
wohnen anfängt, macht er das Leben selbst bewohnbar. Wo der Mensch
in der Lebenspraxis Gottes zu Hause ist, rettet er das eigene
Menschsein und das Menschsein der anderen – und rührt an die
Erfahrung vom „ auferstandenen Leben“.
Das Gemeinte drückt das NT so aus: In Christus wird uns der Ausstieg
aus einer inhumanen, „ einer sinnlosen, von den Vätern ererbten
Lebensweise“ (1 Petr 1,18) von Gott her – aus Gnade - ermöglicht.
Gemeint ist: Christo – logisch finden wir einen Einstieg in eine sinnvolle
Humanität, sofern wir in die Praxis seiner Liebe einsteigen: „ Wir
wissen, dass wir aus dem Tod in das Leben hinübergegangen sind, weil
wir einander lieben. Wer nicht liebt, bleibt im Tod.“ (1 Joh 3,14). Und das
heißt: im Tod der Beziehungslosigkeit, im Tod der Anonymität, dem
zerstörerischen Kreislauf von Gewalt und Gegengewalt, von kollektiver
und individueller Einsamkeit und Isolation. Der Raum der Praxis Jesu
wird darin plausibel als Umkehr vom sozialen Tod in all seinen Formen
als Ausdruck des ent-fremdeten Lebens. In Christus wird der Mensch
zur Humanität des Lebens befreit, weil er zur Humanität Gottes
ermächtigt wird. In Christus können wir beginnen zu tun, was und wie
Gott ist – und geraten so schon jetzt in die Möglichkeit des Himmels
(„ das Heil in der Geschichte“).
36
5.3. Durchkreuzte Endlichkeit – zur anthropologischen Bedeutung
des Kreuzes
Nach wie vor gilt mit Georg Büchner: das Leiden und Sterben des
Menschen ist der Fels des Atheismus. Die Negativ-Erfahrungen
menschlichen Lebens gehen mit dem Glauben an einen gütigen Gott
nicht zusammen. Von daher gilt vielen Menschen die Botschaft vom
Kreuz durchaus als ein theologischer Zynismus und als eine
Provokation.
Wie lässt sich das Kreuz anthropologisch im Sinne eines lebens- und
leidensgedeihlichen Menschenbildes auswerten und verstehen?
Zunächst einmal ist festzuhalten: Sicher nicht im Sinne einer Leidensund Todessehnsucht, die sich dem Leben verweigert. Alle Formen von
Nekrophilie sind Ausdruck psychischer Krankheit. Theologisch gilt: Der
Mensch ist für das Glück des Lebens geschaffen, nicht für das Leid,
oder – beide Dimensionen übersteigend: er ist für Gott und sein Heil
geschaffen.
Von daher bleibt theologisch im Blick auf das Kreuz zu betonen:
Es ist das eindringliche Zeichen des Protests Gottes gegen alle Tode
des Menschen. Im Kreuz durchkreuzt Gott diese radikale Endlichkeit
des Menschen. Diese setzt sich zusammen aus den vielen individuellen
und sozialen Toden, die in den großen Tod am Ende der Tage
einmünden.
In diese anthropologische Wirklichkeit ist das Kreuz hineingestellt. Es ist
die Praxis der Leid-Durchkreuzung Gottes im Namen des Lebens.
Insofern ist der Resonanzboden auf das Kreuz der endliche Mensch, der
an seiner Endlichkeit zuletzt nur scheitern kann. Vor diesem Hintergrund
erschließt sich das Kreuz nicht als Wirklichkeit jenes Opfers, das Gott
angesichts der Sünde des Menschen fordert, um in seinem beleidigten
37
Zorn besänftigt zu werden, wie eine durchschnittliche Interpretation der
Satisfaktionslehre des Anselm von Canterbury im Blick auf das sog.
„ übergebührliche Opfer“ Jesu Christi sagt. Am Kreuz zeigt sich
vielmehr eine Freiheit der Liebe, die bis ins Letzte geht (Benedikt XVI.),
weil sie um das Lebenkönnen ihres Geschöpfes kämpft. „ Stark wie der
Tod ist die Liebe“ heißt es im atl. Hohenlied der Liebe. Und die
Christologie des NT fügt hinzu. „ und sie ist stärker wie er“. So ist das
Kreuz der Ausdruck der letztmöglichen Entschiedenheit Gottes für
seinen Menschen. Im Kreuz geht Gott in Leiden und Tod in das Seinsund Sinnwidrige ein. So werden wir nicht einfach vom Leiden und vom
Tod erlöst. Aber wir werden in ihnen erlöst. Weil Leiden und Tod nicht
mehr gott- und darin sinnlos sind, sondern ein Weg mit und zu Gott sind.
Wo Gott im Tod (als Tod der Gott-losigkeit) anwesend ist, erfährt dieser
Tod eine existenzielle Umdeutung. Er ist nicht mehr ein Letztes, sondern
ein Vorletztes und wird ein Weg der Gleichzeitigkeit mit Gott – auf das
Leben hin.
Was heißt dies: In der Perspektive des Kreuzes als Weg hinein in das
Leben wird der Mensch befreit zu einer gelassenen Endlichkeit und
Abschiedlichkeit, die auf seine irdische „ Auslöschung“(Thomas
Bernhard) zuläuft. Denn er weiß diese Abschiedlichkeit unterfangen von
der je größeren Reichweite göttlichen Lebens, an dem er in allen seinen
Existenzialen partizipiert: „ nicht mehr ich lebe, sondern Christus lebt in
mir“, so sagt es Paulus Gal 2, 20.
Für eine Anthropologie der Zeitlichkeit und Endlichkeit heißt dies: Unser
„ Spiel“ spielt bereits in „ seinem Spiel“(Gregor von Nyssa), in dem
auch der Tod Ausdruck seiner je-größeren Freiheit ist, die uns im
Existenzraum Jesu Christi als. „ Licht und Leben“ (vgl. Joh 1,1-16)
schon jetzt offen steht.
38
Vom Kreuz her wird der Mensch befreit zu einer Auferstehung, schon
jetzt als Antizipation der großen Auferstehung am Ende der Tage. Der
Mensch wird darin ermächtigt „ über den Tod hinweg“ zu leben und
seine Abschiedlichkeit in einer erlöst-gelassenen Weise zu tragen und
zu ertragen. Er wird befreit, sich mit seiner Endlichkeit auszusöhnen und
an seiner kleinen Alltäglichkeit abzuarbeiten, weil er darin dennoch jung
bleiben darf bis in den Tod (Hans Urs von Balthasar). Und er wird darin
zugleich frei von seiner Sorge um sich selbst, weil er sein Leben bereits
in Gott gesichert weiß. Gerade in einem Gott, der mir mein Leben auch
noch im Tod garantiert, werde ich frei zur Proexistenz – und partizipiere
eben so am Sein Gottes, das mich immer schon über den Tod
hinaushebt („ von guten Mächten wunderbar geborgen erwarten wir
getrost, was kommen mag“, D. Bonhoeffer). So ist das Kreuz nicht das
Zeichen, das für einen zynischen oder gar bösartigen Gott steht. Es
steht für eine Liebe, wie sie größer nicht gedacht werden kann, weil sie
auch noch das Nichts des Todes umfängt – und gerade so die
österliche Seinsmacht der Liebe erweist: „ stark wie der Tod ist die
Liebe. Und sie ist stärker wie er.“
Der Gekreuzigt- Auferstandene ist so – nach Karl Rahner - der neue
Mensch, der durch den Tod hindurch den Weg ins Leben gefunden hat.
Christo-logisches Menschsein heißt so, sich auch im Leiden und Sterben
von Gott finden und retten lassen.
39
6. Christo- logische Praxis geglückten Menschseins: Ein neues KreaturSein vor Gott (vgl. 2 Kor 5,17)
Paulus formuliert in seinem zweiten Brief an die Korinther: „ Wenn also
jemand in Christus ist, dann ist er eine neue Schöpfung: Das Alte ist
vergangen, Neues ist geworden“….
6.1. Leben von der (U-topie) der Auferstehung her - Wider die
Ermäßigung des Menschseins
Unsere anthropologische Analyse hat uns einen Menschen vor Augen
gestellt, dessen Sehnsucht nach Leben maßlos ist. Wir sind ständig
unterwegs auf der Suche nach dem „ Leben in Fülle“(Joh 10, 10). Und
es hat uns einen Menschen gezeigt, der in seinen Maßlosigkeiten
notwendig an der Endlichkeit des Lebens selbst scheitert.
Im Blick auf das AT sowie auf das NT öffnete sich ein Raum für den
endlichen Menschen, indem er sich in seinem endlichen Leben und in
seinem Sterben auf Gott hin überschreiten konnte. Die Bibel des Alten
und Neuen Testamentes nimmt dem Menschen dabei gerade seine
Maßlosigkeiten nicht. Sie fordert ihn nicht zu einer Form von
menschlicher Selbstbescheidung auf, in der er sich mit seiner
Endlichkeit einfach abfinden soll. Dies ist der Weg, den vor allem die
Psychologie gegangen ist und immer noch geht: Menschsein als
Versöhnung mit der Endlichkeit als Endlichkeit. Die Bibel des AT und
des NT sagt dem Menschen vielmehr im Gegenteil: Er soll nicht
vorschnell zufrieden sein. Er soll maß-los sein, weil er gerade im
Endlichen nicht zufrieden sein kann. Der Glaube will gerade diese
Maßlosigkeiten des Menschen in bewusster Weise wachhalten, damit
der Mensch nicht vergesse, wer er wirklich ist. Der Glaube widersteht
40
darin einer Reduzierung und Ermäßigung des Menschseins. Er optiert
für eine Maßlosigkeit, die in der Gottesbeziehung des Menschen aufruht,
christologisch formuliert: In seiner Verheißung auf Leben über den Tod
hinaus. Das biblische Menschenbild spricht von dem Menschen, der sich
mit nicht weniger als mit „ Leben in Fülle“ selbst zufrieden geben darf
(vgl. Marie Luise Kaschnitz: Ein Leben nach dem Tod: „ Glauben sie,
fragte man mich, an ein Leben nach dem Tode und ich antwortete: Ja....
Mehr also, fragen die Frager erwarten sie nicht nach dem Tode? Und ich
antwortete: Weniger nicht“.)
Diese christliche Utopie des Menschseins, in der die Ursehnsüchte des
Menschen in einer positiven Weise in Gott verankert und verwurzelt
sind, führen zu einer ganz neuen Praxis des Menschseins im Glauben.
Wo ich mein Leben in Gott verwurzeln kann, wo ich mein Leben aus der
Wirklichkeit der Zukunft her übernehmen kann, wo ich leben kann von
den Verheißungen Gottes her, kann ich in Jesus Christus die U-topie
maßlosen Menschseins wagen, d.h. ich kann das Risiko eingehen, mehr
zu wollen als die „ Abfindungen“, die mir die Gesellschaft zubilligen will.
Im Glauben ist es mir möglich, meine menschlichen Sehnsüchte in Gott
zu verorten - schon jetzt. Sofern ich im Glauben meine Sehnsüchte in
Gott bereits vorweggenommen, versichert, weiß, werde ich frei zu einer
gelassenen Endlichkeit. Glaube heißt dann Umkehr aus den billigen
Sicherungen hinein in die Sicherheit Gottes. In diesem Widerstand
gegen die billigen Abfindungen der Gesellschaft ist Religion und Glaube
gerade nicht Opium für das Volk. Die U-topie der Hoffnung in Christus
führt mich vielmehr in eine kritische Distanz zu den endlichen
Verheißungsgestalten und stellt mich in einen Horizont, der mir erlaubt,
mich von Gott her mit der radikalen Fragmenthaftigkeit meiner Existenz
auszusöhnen in einer Kultur der Ge-lassenheit, die alles – positiv wie
negativ – auf Gott hin übersteigen kann. Das Biotop seines
41
Lebenkönnens ist Gott selbst, weil allein Gott die „ Fülle meines
Lebens“ (vgl. Joh 10, 10) ist.
Dies wird eindringlich deutlich in der sog. Versuchungsgeschichte Jesu,
wie sie in den synoptischen Evangelien in Mt 4,1-11 vorgestellt wird. In
dieser Versuchungsgeschichte finden wir im Grunde eine theologische
Kultur, wie der Mensch mit seinen Lebensheiligtümern - Name, Macht,
Heimat und Besitz - in einer humanisierenden und für ihn entlastenden
Weise umgehen kann. Auf eine genauere Exegese kann hier verzichtet
werden. Nur so viel: Diese – wohl legendenhafte – Erzählung vor dem
eigentlichen Beginn des messianischen Sendung Jesu will darauf
verweisen, dass die Messianität Jesu in seinem radikalen
Sohnesgehorsam (er ist ja der Sohn) liegt, in dem er leistet, was das
Volk Israel in seinen Versuchungen in der Wüste nicht leisten konnte.
Darum ist er das paradigmatische Vorbild für die Christen in seiner
Nachfolge. Sie sollen im christo-logischen Gehorsam gegenüber Gott in
ihre geschöpfliche Bestimmung hineinfinden.
„ Dann wurde Jesus vom Geist in die Wüste geführt; dort sollte er vom
Teufel in Versuchung geführt werden. Als er 40 Tage und 40 Nächte
gefastet hatte, bekam er Hunger. Da trat der Versucher an ihn heran
und sagte: Wenn du Gottes Sohn bist, so befiehl, dass aus diesen
Steinen Brot wird. Er aber antwortete: In der Schrift heißt es: Der
Mensch lebt nicht nur vom Brot, sondern von jedem Wort, das aus
Gottes Mund kommt.
Darauf nahm ihn der Teufel mit sich in die Heilige Stadt, stellte ihn oben
auf den Tempel und sagte zu ihm: Wenn du Gottes Sohn bist, so stürz
dich herab; denn es heißt in der Schrift: Seinen Engeln befiehlt er, dich
auf ihren Händen zu tragen, damit dein Fuß nicht an einen Stein stößt.
42
Jesus antwortete ihm: In der Schrift heißt es auch: Du sollst den Herrn
deinen Gott nicht auf die Probe stellen.
Wieder nahm ihn der Teufel mit sich und führte ihn auf einen sehr hohen
Berg; er zeigte ihm alle Reiche der Welt mit ihrer Pracht und sagte zu
ihm: Das alles will ich dir geben, wenn du dich vor mir niederwirfst und
mich anbetest. Da sagte Jesus zu ihm: Weg mit dir, Satan. Denn in der
Schrift steht: Vor dem Herrn, deinen Gott, sollst du dich niederwerfen
und ihm allein dienen. Darauf ließ der Teufel von ihm ab, und es kamen
Engel und dienten ihm.“
In dieser biblischen Erzählung zeigt sich, in welch positive bzw. negative
Kontexte die menschliche Sehnsucht geraten kann. Es wird dabei vor
allem die Versuchung des Menschen durchbuchstabiert, sich in seinen
Maßlosigkeiten auf den Raum der Endlichkeit zu verkürzen. Darin aber
wird die Kraft menschlicher Urwünsche in einer diabolisch-teuflischen
Weise zersetzt, so dass sein Menschseins verkommt. Die verendlichten
Wünsche des Menschen wenden sich schließlich gegen ihn. Von daher
widersetzt sich Jesus der teuflischen Versuchung, aus Steinen Brot zu
machen. Mit Brot kann der Mensch im Hier und Jetzt leben. Brot steht
damit für eine Beheimatung in der Endlichkeit. Brot besitzen heißt: nur
auf dieser Welt zu Hause sein. Dagegen setzt Jesus die theologische
Kultivierung von Heimat: Das Brot der Endlichkeit macht den Menschen
nicht satt. Die eigentliche Heimat des Menschen ist Gott. Dorothee Sölle
sagt daher einmal zurecht: „ Der Mensch lebt nicht nur vom Brot allein,
er stirbt auch den Tod am Brot allein.“
Im zweiten Fall ist ausdrücklich die Versuchung benannt, sich auf
Kosten Gottes einen Namen zu machen, Gott zum Vollzugsgehilfen der
eigenen Größenphantasien, zuletzt der eigenen Vorstellung von Freiheit
zu machen. Die Versuchung zum menschlichen Größenwahn mit Hilfe
43
Gottes, der das Gabesein der Existenz hinter sich gelassen hat. Die
Alternative Jesu lautet daher: Der Mensch findet zu seinem Namen
gerade in Gott. Er muss in sich nicht selber machen und besorgen,
sondern darf ihn sich von Gott schenken lassen. Dies ist die Versuchung
der Gegenwart. In der Logik Jesu hat Gott selbst den Namen des
Menschen, seine Identität und Würde, bereits in seine Hände
eingeschrieben hat (vgl. Jes 43,1: „ Ich habe dich beim Namen gerufen,
du bist mein.“). In der dritten Versuchung geht es um das
Gegengöttliche weltlicher Macht. Hier sagt sich der Mensch in einer
absoluten Weise von Gott los. Letztlich integriert diese Perspektive auf
die erste Versuchung: Der Mensch will sich den göttlichen Absolutpol
einverleiben in seiner eigenen, ins unendliche gesteigerten Macht.
Gerade hier aber strandet er am Ufer einer „ schlechten Unendlichkeit“,
die seiner maßlosen Sehnsucht gerade nicht entspricht. Er wird wie ein
Fisch auf dem Trocknen, der in immer mehr Zuckungen verfällt, weil er
aus dem Meer der Unendlichkeit ans Ufer der Endlichkeit gesprungen
ist. Anders gesagt: Wo der Mensch seine Sehnsucht nach Unendlichkeit
immer nur mit Endlichem füttern kann, wird er nicht satt, verfällt seine
Sehnsucht der Un-Kultur seiner Süchte, die alleine der Logik „ Mehr
desselben“ folgen. Die Versuchungsgeschichte Jesu verkennt oder
verbietet dabei gerade nicht das Positive der menschlichen Urwünsche.
Sie insistiert auf ihrer messianischen – auf Gott bezogenen Qualität.
Oder anders: Dass die Welt dem Menschen nicht genug ist.
Dies führt zu einer veränderten Kultivierung der menschlichen
Urwünsche, auf die ich nun abschließend eingehen will. Ich möchte
dabei - in Anlehnung an Paul-Michael Zulehner - die sogenannten
evangelischen Räte auf diese Kultur menschlicher Urwünsche hin
auslegen. Diese evangelischen Räte bündeln sich in der Trias von:
Jungfräulichkeit, Gehorsam, Armut. Als diese sind sie in der Regel den
44
religiösen „ Hochseilakrobaten“ und den theologischen „ Virtuosen “ in
der Kirche zugeordnet. Ich bin der Meinung, dass sich darin – es sind ja
Räte des Evangeliums für alle - eine erlösende Kultur gelingenden,
endlichen Menschseins vor Gott formulieren lässt. Ich möchte dies im
Folgenden noch kurz andeuten. Ich optiere dabei für eine christliche
Kultur menschlicher Urwünsche. Menschlichkeit muss maßlos sein, soll
der Mensch nicht zu einem reinen Bedürfniswesen verkommen. Der
Mensch ist nur dort bei sich, wo er immer wieder neu über sich hinaus
ist, darum ist der Glaube ein Weg in das menschliche Menschsein, in
dem sich die Spannungen und Sehnsüchte des Menschen in Gott
ausspannen und beruhigen können.
6. 2. Die evangelischen Räte als Kultur menschlicher Urwünsche im
Glauben
6.2.1 Jungfräulichkeit: Kultur der Erwartung - die Existenz in der
Hoffnung als Einspruch gegen ein Leben im „ Jetzt“
Der evangelische Rat der „ Jungfräulichkeit“ bezieht sich dabei auf das
bekannte Gleichnis von den klugen und törichten Jungfrauen (Mt 25,113). Jungfräulichkeit meint im Kontext des Evangeliums nicht einfach
eine zölibatäre Existenz. Der Fokus der Jungfräulichkeit liegt im Kontext
des Evangeliums in dessen Schlusssatz: „ Seid also wachsam! Denn
ihr wisst weder den Tag noch die Stunde.“ Jungfräulichkeit meint hier
also vor allem die Fähigkeit der Weitsicht, die aus einem jungfräulichen,
reinen Blick erwächst. Es geht in der Jungfräulichkeit um die Weitsicht
eines klaren und ungetrübten Sicht des Glaubens auf die Wirklichkeit:
„ Selig, die ein reines Herz haben, sie werden Gott schauen“ (Mt 5, 8).
Also darum, sein Leben nicht einfach nur im Hier und Jetzt
45
festzumachen, sondern darüber hinaus offen zu sein, wach zu bleiben
für das Aus-ständige, das Kommende von Gott her. Jungfräulichkeit
meint eine Haltung der Erwartung, die darin immer schon über die
vorfindliche Gegenwart hinaus ist und gerade so die Gegenwart – in
ihrer Vorläufigkeit – ernst nimmt, ohne sie „ überspringen“ zu müssen.
Aber in ihr kultiviert sich das Wissen um den Mehrwert des Lebens, der
nicht im „ Jetzt – und zwar sofort“ aufgeht. Solche Jungfräulichkeit wird
in zwei Lebenshaltungen konkret: Die eine ist die Verweigerung einer
bürgerlichen Sattheit, die es sich irgendwie mit dem Leben hier und jetzt
genug sein lässt. Es geht um ein Unterwegssein in der Erwartung auf
das Je-Mehr. Und die zweite ist eine Kultur des Neuanfangs, der sich
eine letzten Depression widersetzt. Dabei kann dieser Neuanfang auch
in der Versöhnung mit meinem Leben, wie es konkret geworden oder
auch nicht geworden ist, liegen.
Wo ich die volle Erfüllung meines kleinen Lebens von und in Gott
erwarten darf, werde ich ermächtigt zu meiner Endlichkeit. Wo ich mich
in meiner Erwartung auf Gott verlassen darf, kann ich frei werden zu
einer Kultur der Ge-lassenheit, zu einem Lebensstil der Losigkeiten.
6.2.2. Kultur des Ge-horsams: Haltung der Hingabe - gegen die Diktatur
des Ich
Der zweite evangelische Rat wendet sich im Gehorsam vor allem gegen
den Zwang zu dominieren wollender Macht. Was heißt dies? Zunächst
ist Macht grundsätzlich positiv. Nur wer Macht hat, kann auch etwas
machen. Das heißt: Der evangelische Rat wendet sich nicht gegen
Macht an sich, sofern sie dem Guten dient. Er wendet sich gegen einen
speziellen Umgang mit Macht. Es geht um den autoritären Umgang.
Solche Macht hat nur, wer sie braucht und missbrauchen will. Es geht
46
um Macht im Sinne von Überlegenheit und Stärke. Damit kommt diesem
evangelischen Rat des Gehorsams eine eminent kriteriologische
Funktion für unser gegenwärtiges Menschenbild zu.
Gutes - gelingendes - Menschsein wird bei uns in Verbindung gebracht
mit Mächtigsein. Und Mächtigsein ist die Macht des Stärkeren, die
Macht die sich einer nehmen kann. Unsere gesellschaftliche Unkultur
der Macht ist kämpferisch und ausbeuterisch. Sie wendet sich immer
gegen die Macht des anderen, der zugleich immer Rivale ist. Ein solches
Spiel der Macht ist nicht nur in einem unmittelbaren Visavis von
Menschen gegeben. Solche Macht inkarniert sich vor allem auch in
Strukturen und Institutionen. Gerade als solche anonymisierte Macht
wirkt sie lebenszersetzend auf die Freiheit des Menschen ein. Der
evangelische Rat gegen diesen destruktiven Umgang mit Macht ist
letztlich Hingabe. Gehorsam meint dabei nun, seine Macht, seine
Fähigkeit etwas machen zu können, ins Spiel zu bringen im Gehorsam
auf den anderen. Das heißt: Macht als Gehorsam meint eine Praxis des
Hinhörens, des Wertschätzens und Anerkennens und eines Sichbestimmen-lassens vom anderen her - und dabei vor allem vom
schwächeren Anderen her.
Gerade vom anderen Schwächeren her wird die Umkehr unseres
gängigen Machtverständnisses auf Gehorsam hin sichtbar. In seinem
berühmten Buch „ Die hilflosen Helfer“ hat der Psychotherapeut
Wolfgang Schmidbauer schon vor Jahren darauf hingewiesen, dass
viele Menschen gerade aus ihrer eigenen Schwäche heraus in helfende
Berufe einsteigen, damit sie es mit noch Schwächeren zu tun
bekommen. Sie beziehen ihre Stärke also nicht aus sich selber, sondern
vom Schwächeren her. Die Schwächeren sind sozusagen die geheimen
Vollzugsgehilfen des eigenen Traums von Macht über andere. Hier wird
nun der Unterschied von Macht im Sinne von Gehorsam deutlich: Macht
47
inszeniert sich – und darin ist sie christo-logisch also ein „ Machen“
und Tun in der Autorität des Schwächeren. Der Andere, der Schwache,
wird zur Maßgabe meines Tuns. Ihm habe ich zu gehorchen, damit mein
Tun ein menschliches Tun wird im Horizont des Anderen. Auch
Institutionen sind umkehrbedürftig in Bezug auf solchen Gehorsam dem
Schwächeren gegenüber. Das heißt: Es ist grundsätzlich die Frage zu
stellen, ob ein Machen im Bereich caritativen Handelns an seiner
Primärmotivation orientiert ist, im Dienst des schwachen Menschen zu
stehen oder ob sich nicht im Grunde Sekundärmotivationen nach vorne
schieben, in denen der Schwache selbst in den Dienst einer bestimmten
institutionellen Option genommen wird.
Kontext eines solchen gehorsamen Machens ist letztlich die Praxis Jesu.
Wo sein Leben im Gehorsam an den Vater verortet ist, wird er frei - wie
Karl Rahner gesagt hat - der Rettungsschwimmer Gottes für die
Menschen zu werden. Das heißt: Wo ich mich nicht permanent um mich
selber sorgen muss, weil ich darauf vertrauen kann, dass sich Gott in
einer letzten Weise um mein Leben sorgt, kann ich mein Leben aus der
Hand geben, kann ich mein Leben für den anderen hergeben. Von hier
aus wird das christliche Menschenbild ein not-wendender Einspruch
gegen die Diktatur des Ich, sofern es den Menschen im Hören in eine
gemeinsame Würde einsetzt, die sich im Miteinander der
Geschwisterlichkeit konkretisiert, die den anderen in seiner Bedürftigkeit
wahrnimmt.
Ich finde diese Wirklichkeit des Menschseins sehr zutreffend formuliert
in dem Wort: „ Der Mensch ist zerbrechlich wie Brot.“ Dieses Wort ist
bezogen auf die Praxis des Heiligen Franziskus, der sich in einer
buchstäblichen Weise den Ins-Aus-Gesetzten (den Aussätzigen)
zugewendet hat. Der Ausgesetzte, das ist der leidende und der
48
zerbrechliche Mensch. Der Ausgesetzte, das ist der, dessen Leben
zerkrümelt wie Brot.
Aber dieses Wort: „ Der Mensch ist zerbrechlich wie Brot“ hat auch
noch eine andere Richtung. Der Mensch kann sich für andere hingeben.
Er kann gerade für die Zerbrechlichen wie gutes, wie lebensspendendes
Brot sein. Von daher ist das Zerbrechen des Brotes im Grunde die
christologische Formel für gelingendes Menschsein: Der Mensch
vollzieht sein Wesen in einer gelingenden Weise im Dasein für andere.
Er partizipiert darin nach dem existentiellen Verständnis eines
Franziskus in der Seinsform Jesu Christi selbst. Er betritt daher den
Raum eines Lebens und einer Liebe, die nach dem Zeugnis der Bibel
erst Leben ist, Leben mit der Verheißung, stärker zu sein als der Tod. In
seinem eigenen Zerbrechlichsein ist ein jeder von uns darauf
angewiesen, dass ein anderer ihm das Brot der Menschlichkeit reicht.
Franz von Baader hat dies einmal so formuliert: Die Menschen sind
Anthropophagen, d.h.: die Menschen sind Menschen-esser. Menschen
können nur leben und überleben, indem sie sich gegenseitig zur
Nahrung werden. Dies eignet den Mensch seiner substantiellen Weise
an. (Franz von Baader: „ Alle Menschen sind im seelischen, guten oder
schlimmen Sinn unter sich: Anthropophagen. Werke IV (1853) 223-242).
Der Weg in dieses nährende Miteinander ist der Gehorsam dem
anderen gegenüber.
6.2.3. Armut – Welt und Leben miteinander teilen
Wie sich die christliche Utopie des neuen Menschseins sich auch einer
humanisierend auf den Urwunsch des Besitzen-wollens auswirkt, lässt
sich noch am evangelischen Rat der Armut zeigen. Wer in seiner
Sehnsucht nach „ Leben in Fülle“ (Joh. 10, 10) über den Horizont der
49
Endlichkeit hinausblickt, und den Reichtum des Lebens in Gott fest
macht, wird frei vom Zwang, alles haben zu müssen. Letztlich wird er zu
einer neuen Kultur des Habens ermächtigt, die nicht alles für sich allein
haben muss, sondern sein Haben in den Dienst aller stellen kann. Der
eindimensionale, horizontale Mensch wird so der Mensch des Habenmüssens, der das Glück des Lebens mit dem Haben selbst identifiziert:
„ mein Haus, mein Auto, meine Frau…“. Dabei macht der Mensch im
Sog der Statussymbole die frustrierende Erfahrung, dass sie einsam
machen und letzten, tragenden Lebenssinn nicht ermöglichen. Von
daher wird es für eine humane Kultivierung des Menschseins im Bereich
des Habens notwendig sein, dass Menschen wieder fähig werden, ihr
wesentliches Menschsein in einem Füreinander in einer neuen Kultur
der Geschwisterlichkeit jenseits von Leisten und Haben zu erlernen. Wo
im dreieinigen Gott der Reichtum seines Seins im Zueinander, in der
Armut des Sich-Hergebens liegt, wo keiner in Gott etwas für sich
behalten will, liegt der Reichtum des Menschseins – als Vorahnung des
Himmels – nicht im Habenmüssen, sondern im Miteinander-Teilen des
Lebens, im Armwerden zugunsten des Anderen. Armut im Sinne des
gemeinsamen Habens, Miteinander jenseits allen Egoismus wäre so die
Kultur eines neuen Reichtums, der aus dem Gottesglauben ermöglicht
wird, weil Gott selbst seinen Reichtum schon längst mit uns geteilt hat,
und arm wurde um des Lebens willen. In Gott wird der Mensch frei, dass
es ein Leben jenseits der Dinge gibt. Martin Luther hat einmal gesagt,
„ woran dein Herz hängt, dort ist in Wahrheit dein Gott.“ Wo der Mensch
die endlichen Dinge vergötzt, wird er eben zum Sklaven seiner Götzen.
Sein Habenmüssen begrenzt sein Sein.
Viele Menschen spüren heute bereits diese Zwänge und Unfreiheiten. In
Amerika macht sich seit längerem eine neue Kultur „ Kultur der
Bescheidenheit“ breit. Hier lernen Menschen wieder in einer neuen
50
Weise, dass sie die Dinge so haben sollen, dass nicht die Dinge den
Menschen haben und versklaven. Nach dem christlichen Verständnis
des Menschen ist eine solche Kultur des Verzichtes, d.h. eine Kultur des
gelassenen Haben-könnens (nicht Haben-müssens) im Gottesverhältnis
des Menschen begründet. Eine Kultur der „ Losigkeiten“, wo Menschen
darauf verzichten können etwas einmal nicht zu haben, wo Menschen
auch geduldig ertragen können, Dinge und Lebensziele zu verlieren, ein
Handlungsstil der nicht einfach in privatistischer Weise alles für sich
haben will, sondern in solidarischer Weise auf ein gemeinsames
Besitzen der Güter der Erde offen ist, ist in einer letzten Weise nur dort
möglich, wo der Mensch sein Lebensrecht in einer unbedingten Weise in
Gott selbst verwurzelt weiß. Das heißt: der Gottesglaube ist der Garant
für eine menschliche Kultur solidarischen Menschseins, in der sich der
Mensch den neuen Luxus leisten kann, sich nicht mehr alles leisten zu
müssen. Dort findet der Mensch wieder Zeit für das Leben, für Muse,
echte Begegnung, für Leben, das gerade als geteiltes Leben eine
Ahnung vom Leben in Fülle ist.
Es zeigt sich also im Blick auf die heilsamen Räte des Evangeliums: Wo
im Glauben Gott die utopische Verortung der menschlichen
Maßlosigkeiten und Lebensheiligtümer ist (Theologie des ewigen
Lebens), wird der Mensch zu einer gläubig-humanen Stilisierung seines
Lebens frei gesetzt. Er ist ermächtigt, seine Sehnsucht im Glauben zu
bejahen und ernst zu nehmen. Er darf sich darauf einlassen, alle
positiven Spuren gelingenden Lebens und gelingenden Miteinanders als
eine positive Verheißung auf das je mehr des Menschseins in Gott
anzunehmen.
Das christliche Bild vom Menschen spricht daher so von ihm, dass er
seinen großen Hoffnungen treu bleiben kann, weil Gott der Utopie des
Menschseins treu bleibt. Gerade darin wird der Mensch frei, seine
51
Endlichkeit zu bejahen und er wird darin frei zu einer
Geschwisterlichkeit, in der er jenseits von Macht und Habenmüssen das
Leben mit den anderen teilen kann – als eine Vorahnung vom „ Leben
in Fülle.“(Joh 10, 10). So erweist sich das christliche Menschenbild als
Real-Utopie erlösten und gelingenden Menschseins.
52
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