Susanne Weigelin-Schwiedrzik Institut für Ostasienwissenschaften Universität Wien Vergangenheitsbewältigung in der VR China: Erkundungen zur Moral des Erinnerns Unter vielen Intellektuellen in der VR China scheint sich die Meinung durchgesetzt zu haben, dass die Auseinandersetzung mit der Kulturrevolution in China nicht aktiv betrieben wird und die jüngere Generation sich in Unkenntnis der Ereignisse desinteressiert von den Jahren 1966 bis 1976 abwendet. Xu Youyu, ein ehemaliges Mitglied der Rotgardisten-Bewegung und heute Professor an der Akademie für Sozialwissenschaften, geht so weit, der chinesischen Öffentlichkeit das Recht abzusprechen, sich über die japanische Regierung und deren Haltung zum 2.Weltkrieg zu beschweren, da „Chinesen nicht gewillt sind, den Tragödien der Menschheit ins Gesicht zu blicken“ (Xu Youyu 2002). Er beklagt, daß die Menschen so damit beschäftigt seien, die vielen Chancen wahrzunehmen, die ihnen die Gegenwart bietet, dass sie sich um die Vergangenheit nicht kümmerten. Viele der ehemaligen Rotgardisten wären für die Entwicklung von Wirtschaft und Gesellschaft in China heute von zentraler Bedeutung, sie wollten sich von der Erinnerung an die Kulturrevolution in ihrer Erfolgskarriere nicht behindern lassen. „Was mich besorgt ist die Tatsache, dass viele aus dieser Generation mehr oder weniger bewusst die Vergangenheit vergessen. Einige vergessen sie total, andere selektiv…Und oft müssen wir zugeben, dass die anderen - die ältere Generation oder die jüngere, besonders die jüngere - keinen Sinn und keine Notwendigkeit darin sehen, sich mit der Vergangenheit auseinanderzusetzen. [Die Generation der Rotgardisten] hat eigentlich nichts vergessen, ihre Erinnerungen sind ihr eine Stütze für ihr Leben und ihre Psyche, aber die Erinnerung ist wie ein geistiges Fossil, das sich nicht mit der Zeit und als Ergebnis von Überlegungen verändert. Sie verweigert die Teilnahme am öffentlichen Diskurs.“ (Xu Youyu 1995) Ein Blick auf den chinesischen Buchmarkt und eine Suche nach chinesischsprachigen Einträgen zur Kulturrevolution im Internet ergibt jedoch ein ganz anderes Bild. Die Zahl der Veröffentlichungen ist wie die Auswahl der behandelten Themen sehr groß. Li Guoxin (Li Guoxin 1996) berichtet von 600 Publikationen, die bis 1996 erschienen sind, und zählt nur die offiziellen, die sich an die Vorgaben der „Resolution zu einigen Fragen der Geschichte seit Gründung des Staates“ (1996, 296-304) halten und in parteinahen Verlagen veröffentlicht sind. Versuchte man, die vielen Biographien und Erinnerungen hinzuzunehmen, die sich zumindest zu einem großen Teil mit den Erfahrungen der Kulturrevolution beschäftigen, käme man auf eine viel größere Zahl. Ganz zu schweigen, von den vielen Einträgen, die man im Internet findet, wenn man das chinesische Äquivalent für „Kulturrevolution“ als Suchwort eingibt. Von einer „öffentlichen Amnesie“ kann keine Rede sein. Was veranlasst chinesische Intellektuelle (und übrigens auch ausländische Beobachter), sich dennoch über den Mangel an öffentlichem Interesse an der Kulturrevolution zu beklagen? 1 Der öffentliche Diskurs über die Kulturrevolution Zunächst einmal zeigt eine kritische Beurteilung der Diskussion um die Kulturrevolution, daß die Auseinandersetzung mit der Kulturrevolution eigentlich schon begann, als diese noch gar nicht zu Ende war. Bis 1976, dem Jahr, in dem Mao Zedong starb und wenig später die sogenannte „Viererbande“ entmachtet wurde, gab es bereits mehrere Diskussionsrunden über Sinn und Unsinn der Kulturrevolution (Xi Xuan und Jin Chunming 1996). Als 1968 die Rotgardisten in die Schulen und Universitäten zurückgeschickt wurden, entbrannte diese Diskussion zum ersten Mal und war auch insofern eine öffentliche, als sie in den damals weit verbreiteten Rotgardisten-Publikationen geführt wurde (Yin Hongbiao 1999). Noch in den letzten Monaten vor dem offiziellen Ende der Kulturrevolution kam es zu einer weiteren Runde der Auseinandersetzung, wobei diese bereits wieder unter den Bedingungen einer parteigelenkten Öffentlichkeit stattfand. 1976 fand nach dem Sturz der „Viererbande“ eine öffentliche Abrechnung statt, in der immer wieder auf Ereignisse aus der Kulturrevolution rekurriert wurde und in der die Öffentlichkeit seitens der siegreichen Fraktion innerhalb der Partei in der Auseinandersetzung mit ihren Gegnern instrumentalisiert wurde. Die Kritik an der „Viererbande“ geriet dabei immer wieder zu einer Kritik an der Kulturrevolution, obwohl der damals als Parteivorsitzende fungierende Hua Guofeng daran festhielt, die Kulturrevolution als sinnvoll und positiv zu bezeichnen (Xi Xuan und Jin Chunming 1996). Die Kampagne, von optisch sehr anregenden Karikaturen begleitet (Erling und v. Graeve 1978), diente vielen als Ventil, sich über Vorgänge in der Kulturrevolution zu beklagen, konnte diese Funktion aber nur erfüllen, soweit die Kritik als Kritik an der „Viererbande“ vorgetragen wurde. Diese frühe Phase der öffentlichen Kritik wird vielfach übersehen oder zumindest unterschätzt (z.B. Dittmer 2002), sie ist aber für den weiteren Verlauf der Auseinandersetzung wichtig im Sinne einer „Anklagephase“, in der viel Belastendes, was in der Jahren der Kulturrevolution geschehen war, ausgesprochen und ursächlich in den Zusammenhang jener Gruppe von „Intriganten“ gestellt werden konnte, die angeblich für alles, was sich an Negativem ereignet hatte, verantwortlich waren. In keiner späteren Phase der Auseinandersetzung hat es je wieder ein so klares Feindbild gegeben, und die Offenheit, mit der über die Dinge gesprochen werden konnte, ist seit dem nie wieder erreicht worden. Im Zuge dieser „Anklagephase“ kommt es zur Rehabilitierung von hundert Tausenden von Kadern, die während der Kulturrevolution entmachtet worden waren. Fast täglich erscheinen in der Presse Berichte über das Schicksal der wieder ins Recht Gesetzten, Trauerfeiern werden für die verstorbenen Opfer durchgeführt und deren Leidensgeschichte vor allem von den Töchtern und Söhnen, bisweilen auch von den Schülern erzählt. Die Kulturrevolution ist somit präsent und in einem ganz alltäglichen und praktischen Sinne als Erinnerung wirksam. Die „Anklagephase“ endete mit dem Gerichtsurteil im Prozeß gegen die „Viererbande“ und ihre Helfershelfer und der Verabschiedung der „Resolution über einige Fragen der Geschichte seit Gründung des Staates“ 1981 (Schoenhals 1996, 296-304). Deng Xiaoping hatte schon vorab deutlich gemacht, dass mit der Verabschiedung der Resolution „die Dinge geklärt sein sollten in der Partei und im Volk….Das Verständnis der Menschen sollte vereinheitlicht und die Diskussion über die wichtigsten Fragen der Geschichte bis dahin zu einem Ende gekommen sein“ (Deng Xiaoping nach Xi Xuan und Jin Chunming 1996, 503). Wenn also von „aufgezwungener Amnesie“ überhaupt die Rede sein kann, so hat diese erst mit der Verabschiedung der Resolution begonnen, zumindest wenn es nach den Wünschen Deng Xiaopings gegangen wäre. Es sollte sich aber herausstellen, dass die Auseinandersetzung mit der Kulturrevolution als Mittel des innerparteilichen Kampfes ihre Auswirkungen auf die Formulierung der Resolution haben sollte und die Resolution in 2 zentralen Fragen der Einschätzung der Kulturrevolution so vage bleiben mußte, dass sie die Diskussion über die Vergangenheit nicht zum Stillstand bringen konnte. Bereits 1984 kommt es zur nächsten Runde der Auseinandersetzung. Diesmal, so zumindest interpretiert es Anita Chan (Chan 1986), geht es um das Problem der „Einheit“. Unter der Parole „Die Kulturrevolution muß total negiert werden“ wird über die Tiefenstrukturen der chinesischen Gesellschaft diskutiert, welche die Kulturrevolution hervorgebracht haben, die Gefahr beschworen, die Kulturrevolution können sich wiederholen, und das damals von der Partei unter Zhao Ziyang heftig propagierte Gegenrezept von Marktwirtschaft und Demokratie als Garant für eine kulturrevolutionsfreie Zukunft hervorgehoben (Qingnian luntan 1986). Was relativ leicht verdaulich daher kommt, verdeckt ein wesentlich schwieriger zu lösendes Problem: Das Problem des Fraktionismus und des Sektierertums. Folgt man Chans Analyse, und einiges spricht dafür, so sind die Fraktionen, die sich während der Kulturrevolution formiert haben, auch 10 Jahre nach deren Ende immer noch nicht überwunden. Eine regelrechte Kampagne zur Überwindung des Fraktionismus wird eingeleitet, verstummt jedoch offenbar mit dem Jahrestag von Anfang und Ende der Kulturrevolution im Jahr 1986. Im Anschluß daran verlagert sich die Diskussion aus dem öffentlichen Raum in die Studierstube und bedient sich indirekter Formen der Artikulation insbesondere in der Literatur, die in vielfältigen Formen das Thema aufgreift. Die Darstellung von Gewalt in der Literatur des Neuhistorismus bei Mo Yan und Yu Hua ist sicherlich auch eine Auseinandersetzung mit dem Problem der Gewalt, welche in der Kulturrevolution die chinesische Gesellschaft ergriffen hatte und bisher in den verschiedenen Diskussionen nie thematisiert worden war. Seite Mitte der neunziger Jahre dringt die Diskussion über die Kulturrevolution auch in direkten Formen der Auseinandersetzung wieder an die Öffentlichkeit. Das Bild, das die Parteigeschichtsschreibung bietet, ist dabei besonders erstaunlich. Viele der Themen, die in der Resolution von 1981 nicht enthalten und damit für die Geschichtsschreibung faktisch Tabu sind, schleichen sich in die offizielle Geschichtsschreibung ein. Zwar stehen immer noch die Erörterungen zu Maos Theorie von der Fortsetzung des Klassenkampfes (Zhang Hua und Su Caiqing 1999) und die Darstellung der Kulturrevolution als Machtkampf im Vordergrund (Gao Mobo), doch wird nun auch die „Massenbewegung“ thematisiert und ein Erklärungsansatz für die Teilnahme der „Massen“ an der Kulturrevolution entwickelt (Yin Hongbiao 1999, 1999a). Schaut man sich einmal im Bereich der Veröffentlichungen um, die sich außerhalb des von der Parteigeschichtsschreibung einzuhaltenden Rahmens bewegen, findet man bald eine Antwort auf die Frage, wie es zu einer solchen „Offenheit“ seitens der offiziellen Historiographie kommen konnte. Offizielle und inoffizielle Historiographie lesen sich dabei wie Text und Gegentext. Im Mittelpunkt stehen Fragen nach der Einschätzung der Rotgardistenbewegung und der antibürokratischen, demokratischen Ausrichtung der ersten Phase der Kulturrevolution. Zheng Yi und Fang Su als zwei prominente Autoren, die ihre Auffassungen zur Kulturrevolution im Internet veröffentlichen, sind sich als ehemalige Mitglieder der sogenannten Rebellenfraktion im Großen und Ganzen in der positiven Bewertung der Massenbeteiligung an der Kulturrevolution einig und betonen, dass die „Massen“ dem Aufruf Mao Zedong folgten, weil sie sich gegen die Allmacht der Bürokratie, die sich in den Jahren seit Gründung der Volksrepublik China entwickelt hatte, zur Wehr setzen wollten (Zheng Yi 1996, Fang Su 1996). Sie legen großen Wert darauf, die „Massen“ als Akteure darzustellen, die ihre eigenen Gründe hatten, an der Kulturrevolution teilzunehmen. Sie sind die Träger demokratischer Forderungen, wissen allerdings nicht, dass Demokratie ohne demokratische Institutionen nicht wirksam werden kann (Zheng Yi 1996). Während Fang Su eine Übereinstimmung zwischen den „Massen“ und Mao Zedong darin erkennt, dass es beiden darum ging, eine Entwicklung des Sozialismus nach sowjetischem Vorbild in China zu verhindern (Fang Su 1996), sieht Zheng Yi eher eine Koinzidenz. Er 3 spricht von zwei Revolutionen, die gleichzeitig vonstatten gingen, wobei die der Massen und die Mao Zedongs unterschiedlich ausgerichtet waren und sich dennoch gegenseitig ergänzten. Für ihn ist die Teilnahme der „Massen“ an der Kulturrevolution im Sinne eines antikommunistischen Aufstands zu werten, während Maos Intentionen dahin gingen, seine Gegner in der Partei auszuschalten. Da die Gegner Maos für das verantwortlich waren, worauf der Haß der „Massen“ zielte, konnten beide Revolutionen sich zunächst im Sinne des Kampfes gegen die Bürokratie gegenseitig ergänzen (Zheng Yi 1996). Xi Xuan und Jin Chunming als Vertreter der Parteigeschichtsschreibung halten dem entgegen, dass Mao nie über die „Machthaber auf dem kapitalistischen Weg“ im Sinne von Bürokraten gesprochen habe und auch die „vier Freiheiten“ nicht wirklich demokratisch waren, weil die Wandzeitungen, Kritikversammlungen und Demonstrationen dazu genutzt wurden, Andersdenkende auszuschalten (Jin Chunming 1996, 361-365). Die populäre Version seiner 1995 (Jin Chunming 1995) erschienenen ausführlichen Version der Geschichte der Kulturrevolution verwendet ein ganzes Kapitel darauf, diese und andere „unsinnige“ Meinungen über die Kulturrevolution zu widerlegen, freilich ohne zu verraten, wo diese eigentlich vertreten werden (Jin Chunming 1996, 361-365). Allerdings vertritt auch er, dass die Jahre vor Beginn der Kulturrevolution Anlaß zu Unzufriedenheit seitens der „Massen“ boten. Eine Einschätzung der Rotgardistenbewegung findet man bei ihm noch nicht. Eine umfassende Stellungnahme zu dieser Frage sollte noch bis 1999auf sich wrten lassen. Yin Hongbiao gibt dabei eine ausführliche Darstellung der Bewegung in ihren verschiedenen Facetten. Er erklärt die unterschiedlichen Fraktionen der Rotgardisten unter Bezug auf den unterschiedlichen „Klassenhintergrund“ der Akteure, betont aber, dass „Mao Zedong die Rotgardisten erfolgreich erschuf, mobilisierte und schließlich fallen ließ. Die Rotgardisten wussten so wenig über Maos Pläne, dass sie ihr eigenes Schicksal nicht bestimmen konnten“ (Yin Hongbiao 1999, 725). Zur Frage der Demokratie in der Kulturrevolution gibt er eine Stellungnahme ab, die wesentlich weitergeht, als das, was Jin Chunming in seiner Zurückweisung des Demokratieanspruches konzidiert. Yin Hongbiao betont: „Ein solches Maß an Demokratie ist bisher noch nie in einem sozialistischen Staat erreicht wurde. Dies war es, was das Interesse der Stundenten an der Partizipation weckte“ (Yin Hongbiao 1999, 717). Auch an Yin Hongbiao scheinen also die Versuche, die Kulturrevolution wieder in einem etwas positiveren Licht erscheinen zu lassen, nicht spurlos vorbeigezogen zu sein. Er kommt sogar auf die Fraktionierungen und die bewaffneten Auseinandersetzungen zwischen den verschiedenen Gruppierungen zu sprechen und betrachtet diese als „selbstmörderische Tragödie“. Seine vergleichsweise positive Haltung zu den Rebellen äußert er aber nie in direkter Form, sondern nur dort, wo er den „alten Rotgardisten“ vorwirft, sich mit ihrer „Theorie der Abstammung“ arrogant und im Sinne der Verteidigung ihrer Privilegien als Nachkommen von Kaderfamilien verhalten zu haben (Yin Hongbiao 1999, 705).Andererseits stellt er die Chronologie der Ereignisse so missverständlich dar, dass dem wenig vorinformierten Leser nicht klar wird, wer eigentlich für die Gewaltexzesse am Anfang der Kulturrevolution verantwortlich war und inwieweit hier im wesentlichen „alte Rotgardisten“ beteiligt waren. Auf die Weise vermeidet er ein allzu negatives Bild dieser Gruppe, wenn auch dem genau Lesenden klar werden muß, dass er hier detaillierter über die Opfer berichtet als im Falle seiner Darstellung der später folgenden Auseinandersetzungen, in denen viele „alte Rotgardisten“, die zuvor andere viktimisiert hatten, selbst zu Opfern wurden. Alles in allem durchbricht Yin Hongbiao seitens der Parteigeschichtsschreibung das Tabu, das seit 1976 die öffentliche Diskussion über die Rotgardistenbewegung unmöglich gemacht hatte. Zugleich ist erstaunlich zu lesen, dass er nicht etwa eine harsche Kritik der 4 Bewegung formuliert und ihre Schandtaten in den Vordergrund stellt, sondern mit „Verständnis“ und Nachsicht an das Thema herangeht. Schließlich bleibt zu bemerken, dass er zwar nicht offen Stellung nimmt, welcher Gruppierung unter den Rotgardisten recht gegeben werden sollte, doch lässt er eine gewissen Vorliebe für die Rebellenfraktion erkennen. Er schließt sich damit nicht den Stimmen an, die bei der Darstellung der Rotgardistenbewegung deren Exzesse und Gewalttaten in den Vordergrund stellen, sondern neigt, wenn natürlich auch in stark abgeschwächter Form, eher in die Richtung, die von ehemaligen Mitglieder der Rotgardistenbewegung außerhalb der offiziellen Kanäle vertreten wird. Demgegenüber fällt auf, dass einige Themen, die in der Frühphase der Diskussion eine Rolle spielten, heute fast nicht mehr auftauchen. Die Rolle der prominenten Intellektuellen, die einmal stark thematisiert wurde, spielt heute in der öffentlichen Diskussion nur noch eine untergeordnete Rolle. Zwar gibt es immer noch viele Artikel und Bücher, die in Erinnerung an Intellektuelle verfasst werden, welche in der Kulturrevolution umgekommen sind oder Gegenstand der Kritik wurden. Die Zeitschrift Yan Huang Chunqiu, die inzwischen auch im Internet präsent ist, veröffentlich nach wie vor entsprechende Manuskripte und ist geradezu als Forum der Intellektuellen und Parteikader der älteren Generation zu betrachten, doch wird andererseits auch davon berichtet, dass öffentliche Formen der Trauerbekundung offenbar nicht zugelassen werden (Mazur 1999). Li Xianlin und andere Kader der Partei, die in der Kulturrevolution verfolgt wurden, haben ihre Erinnerung erst kürzlich veröffentlicht und ihre Zurückhaltung unter Bezug auf den Fraktionismus folgendermaßen begründet: „Der Fraktionalismus hat mehr oder weniger offensichtliche Spuren im Denken der Menschen hinterlassen. Wenn man nicht acht gibt, kommt er sofort wieder an die Oberfläche. Mehr als die Hälfte der Genossen, mit denen ich zusammengearbeitet habe, standen während der zehn desaströsen Jahre auf der anderen Seite. Sie haben mich kritisiert, gegen mich gekämpft, mir übel nachgeredet, Verhöre durchgeführt und sich mir gegenüber unmöglich verhalten. Manche von ihnen bereuen vielleicht, was sie damals taten. Ich glaube, dass sie alle gute Genossen sind. Wie ich waren sie für eine gewisse Zeit ein wenig durcheinander und taten schlechte und sinnlose Dinge. .. Doch wenn diese gutwilligen Menschen herausgefunden hätten, dass ich ein Buch mit dem Titel „Erinnerungen an den Kuhstall“ in meinem Schreibtisch liegen habe, hätten sie bestimmt gedacht, dass ich mit ihnen abrechnen möchte und auf Rache aus bin…Wie hätte ich derart verängstigt an einem Schreibtisch mit ihnen arbeiten können?“ (Li Xianlin 1998, 4) Inzwischen haben er wie andere ihre Memoiren veröffentlicht und damit der Stimme der Opfer wieder deutlicher Ausdruck verliehen. Selbst Nie Yuanzi, die als Autorin der „ersten revolutionären Wandzeitung“ im weiteren Verlauf der Kulturrevolution kaltgestellt wurde und später viele Jahre in Gefängnis und Hausarrest verbrachte, hat inzwischen in Hongkong einen Verlag für ihre Memoiren gefunden (Nie Yuanzi 2005). Ein Mangel an Artikulationsmöglichkeiten kann also nicht der Ursprung jener weit verbreiteten Auffassung sein, in China setze man sich zu wenig mit der Kulturrevolution auseinander. Was ist es dann? Auf der Suche nach einer Antwort: Mitscherlichs „Die Unfähigkeit zu trauern“ wieder gelesen Die Mitscherlichs haben in ihrer berühmten, in letzter Zeit jedoch eher in Vergessenheit geratenen Schrift „Die Unfähigkeit zu trauern“ (Mitscherlich und Mitscherlich 1967) eine 5 interessante Analyse der in Deutschland bis Ende der sechziger Jahre vorherrschen Haltung im Umgang mit der Vergangenheit vorgelegt, die uns mit unserer Frage eventuell weiterhilft. In Deutschland gab es seit Ende des 2.Weltkriegs genauso, wie wir es weiter oben für China beschrieben haben, eine lebhafte Diskussion über die Jahre 1933 bis 1945, und dennoch beklagten Intellektuelle wie die Mitscherlichs genauso einen Mangel an Auseinandersetzung mit dem Dritten Reich, so wie es uns auch aus China entgegenschallt: „Der ‚Staat’ übernahm die Rolle, die Wirtschaft vor Auseinandersetzungen zu bewahren, die aus einer Kritik an unseren bis 1945 gültigen nationalen Zielsetzungen herrühren könnten…Statt einer politischen Durcharbeitung der Vergangenheit als dem geringsten Versuch der Wiedergutmachung vollzog sich die explosive Entwicklung der deutschen Industrie…Vorerst fehlte das Sensorium dafür, dass man sich darum zu bemühen hätte…, die Katastrophen der Vergangenheit in unseren Erfahrungsschatz einzubeziehen, und zwar nicht nur als Warnung, sondern als die spezifisch an unsere nationale Gesellschaft ergehende Herausforderung, mit ihren darin offenbar gewordenen brutal-aggressiven Tendenzen fertig zu werden.“ (Mitscherlich und Mitscherlich 1967, 23) Während der Staat darauf verzichtet, die Öffentlichkeit zu einem Prozeß des „Durcharbeitens“ zu bewegen, wendet sich die Öffentlichkeit zunehmend gegen jene, die wie die Mitscherlichs einen Prozeß der Vergangenheitsbewältigung einfordern. Beklagt wird also zweierlei: zum einen die Unfähigkeit des Staates, einen öffentlichen Prozeß der Anerkennung von Schuld und Verantwortung zu organisieren, zum anderen der Unwillen der breiteren Öffentlichkeit, dem Aufruf von Intellektuellen zu folgen, sich in einen Prozeß der kollektiven Vergangenheitsbewältigung zu begeben. Der Staat verhängt nicht das Vergessen, er verhindert es nicht. Im Grunde kann man sogar einen Schritt weitergehen und im Sinne der Mitscherlichs bezogen auf die Situation in Nachkriegsdeutschland sagen: Das öffentliche Vergessen ist nicht Folge einer staatlich oktroyierten Amnesie (Passerini 2003). Der Staat ist vielmehr Komplize jener Teile der Öffentlichkeit, die sich instinktiv von der Vergangenheit abwenden. Als Grund für dieses instinktive Abwenden sehen die Mitscherlichs die Problematik des Führerkultes. Sie beschreiben, wie die „Deutschen“ sich ihrem Führer unterwarfen und in der Unterwerfung unter den Führer eine so starke Selbstaufwertung erfuhren, dass die von ihm ausgehende „Unterdrückung nicht mehr als Last, sondern als Lust“ (Mitscherlich und Mitscherlich 1967, 33) empfunden wurde. Mit dem Verlust des Führers schlägt diese Selbstaufwertung in ihr Gegenteil um. Das schwache Ich meldet sich wieder, Ratlosigkeit und Orientierungslosigkeit kommen auf. Aus einem Volk von Aktivisten, die in Gehorsam gegenüber dem Führer Taten vollbrachten, zu denen sie ohne ihn nie fähig gewesen wären, wird ein Volk von Opfern. Jeder einzelne empfindet die Verarmung und Entwertung des eigenen Ichs. Die Reaktion darauf ist die Verleugnung der eigenen Verantwortung. „Die Mechanismen, um die es hier geht, sind Notfallreaktionen, Vorgänge, die dem biologischen Schutz des Überlebens sehr nahe, wenn nicht dessen psychischen Korrelate sind. Es ist also sinnlos, aus diesen Reaktionen sofort nach dem Zusammenbruch einen Vorwurf zu konstruieren. Problematisch ist erst die Tatsache, dass … auch später keine adäquate Trauerarbeit um die Mitmenschen erfolgte, die durch unsere Taten in Massen getötet wurden“ (Mitscherlich und Mitscherlich 1967, 35). 6 Die Phase der „Notfallreaktionen“ muß jedoch überwunden werden und in eine Form der Trauerarbeit münden, welche den Rückfall in frühere Verhaltensweisen verhindert. Die Mitscherlichs fordern in diesem Zusammenhang insbesondere die kollektive Bemühung um die Loslösung vom Führer als Objekt der Bewunderung und Unterwerfung, weil erst diese das Selbstmitleid und die Missachtung der Opfer überwinden hilft. An die Stelle des Selbstmitleids könnte dann Empathie treten. „Eine solche Beziehung, die sich Ambivalenz bewusst macht, verarbeitet und erträgt, eine solche reife Beziehung zu uns selbst, zu unseren Mitmenschen und zum Lauf der Welt haben wir im Verhaltensstil unserer Kultur, vor allem in den politischen Affekten, bisher nur in Ansätzen gezeigt.“ (Mitscherlich und Mitscherlich 1967, 80) Die Untersuchung der Mitscherlichs weist uns den Weg zu drei Punkten, an denen sich eine Analyse der chinesischen Verhältnisse lohnen könnte. An erster Stelle steht die Frage, ob die Klage über den Mangel an öffentlichem Diskurs zur Problematik der Kulturrevolution nicht eigentlich an Partei und Staat gerichtet ist. Im Anschluß daran gilt es, sich dem Problem der Öffentlichkeit zu nähern und zu ergründen, ob es denn hier immer noch anhaltende „Notfallreaktionen“ gibt, welche den öffentlichen Diskurs verhindern. Und schließlich wäre der Frage nachzugehen, ob vielleicht der Mangel an Empathie mit einem Mangel an Diskurs gleichgesetzt wird und deshalb allen Publikationen zum Trotz der Eindruck mangelnden Interesses an der Vergangenheitsbewältigung entstanden ist. Die KPCh und das Problem der Einschätzung der Kulturrevolution Die derzeit immer noch gültige öffentlich zugängliche Einschätzung der Kulturrevolution durch die KPCh findet sich in der oben bereits erwähnten Parteiresolution. Diese betrachtet fast ausschließlich das Problem des Machtkampfes innerhalb der Partei und versucht, die Verantwortung für die als linke Fehler bezeichneten Abweichungen zu definieren. Dabei kommt sie zu dem Schluß, dass Mao Zedong als Hauptverantwortlicher zu betrachten sei. Seine Fehler seien von Lin Biao und der sogenannten „Viererbande“ ausgenutzt und von den Mitgliedern des 8.Zentralkomitees nicht verhindert worden. Der „Unsinn“ der Kulturrevolution bestehe darin, ein Feindbild aufgebaut zu haben, das in krassem Widerspruch zur Realität stand. In Wahrheit gab es keine „Machthaber auf dem kapitalistischen Weg“. Ursache für die Fehleinschätzung ist die Annahme Mao Zedongs, dass der Klassenkampf auch unter den Bedingungen des Sozialismus weiterlaufe und die Gefahr der Bildung einer Bourgeoisie in der Partei bestünde (1996, 296-304). Was die Frage der Massenbeteiligung an der Kulturrevolution betrifft, so kommt die Resolution zu einem Urteil, das weit weniger eindeutig ist. Zunächst wären die „Massen“ ihrem Führer Mao Zedong gefolgt, dabei hätten sie sich jedoch mit Ausnahme einiger weniger Extremisten nicht auf gewaltsame Vorgänge eingelassen. Im Laufe der Zeit habe sich das Bewußtsein der Massen erhöht, und sie wären skeptisch geworden. Einige Menschen leisteten Widerstand und wurden dafür verfolgt. „Such a state of affairs could not but provide openings to be exploited by opportunists, careerists and conspirators, not a few of whom were escalated to high or even key positions.” (Schoenhals 1996, 298) Die Resolution schweigt also zur Frage der Fraktionierung in der Rotgardistenbewegung, sie schweigt über die verschiedenen Formen der Gewalt, und sie erwähnt die Zahl der Opfer 7 nicht. Das erstaunliche Ergebnis der Lektüre dieses Parteidokuments ist somit, dass die Partei nicht von ihrer strukturellen Macht Gebrauch gemacht hat, um der Generation der alten Revolutionäre, die mit Ende der Kulturrevolution im Jahr 1976 schrittweise die Macht wieder übernommen hatte, die Hegemonie über die Interpretation der Kulturrevolution zu ermöglichen. Anstelle dessen präsentiert sie sich der Öffentlichkeit mit einer Entschließung, die viel Interpretationsspielraum offenläßt und in allen Fragen, die für die öffentliche Aufarbeitung des Ereignisses von zentraler Bedeutung wären, eine eindeutige Antwort vermeidet. Warum z.B. spricht die Resolution nicht eindeutig von Sieg und Niederlage, von Recht und Unrecht, von Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit? Und das, nachdem in den Jahren seit 1976 hundert Tausende von Parteikadern und Intellektuellen rehabilitiert worden waren. In jedem einzelnen Fall war festgestellt worden, wer Recht und wer Unrecht hatte. Fast jede größere Stadt hatte Komitees eingesetzt, welche Morde und Selbstmorde untersuchten, die während der Kulturrevolution stattgefunden hatten. In jedem Fall war festgestellt worden, ob der Tod in einem ursächlichen Zusammenhang zur Kulturrevolution steht. Überlebenden Opfern der Kulturrevolution waren Entschädigungen ausbezahlt worden. Auch hier war also „richtig“ und „falsch“ von einander geschieden worden. Warum kann das die Parteiresolution nicht? Ganz im Gegensatz zu dem, was die meisten erwartet hätten, ergeht sich das Zentralkomitee im Jahr 1981 in Ambiguitäten. Das beginnt mit der Person Mao Zedongs und setzt sich in der Rolle der Parteimitglieder in führenden und nicht-führenden Stellungen fort. Die Parteiführung, die nach 1976 den Weg zurück an die Macht fand, ist Opfer und Mitläufer, wenn nicht sogar Mittäter der Kulturrevolution, kaum einer kann behaupten, je aktiv und mutig Widerstand geleistet zu haben. Würden die Gewinner der Geschichte das Gegenteil von sich behaupten, wäre es allzu leicht, Dokumente (wie unlängst im Internet geschehen) zu veröffentlichen, in denen man die Selbstkritik Deng Xiaopings nachlesen und erfahren könnte, daß auch er auf dem Höhepunkt der Kampagne gegen ihn nicht in der Lage war, sich außerhalb des von der Kulturrevolution vorgegebenen Weltbildes zu artikulieren (Li Baoqing 2005). Ein weiterer Aspekt ist die Generationszusammensetzung der politischen Elite in der VR China, ein Aspekt, der zwar immer wieder in der Kulturrevolution selbst zur Sprache kommt, in der heutigen Debatte aber kaum eine Rolle spielt. Die Frage, nach welchen Kriterien in die politische Elite der VR China rekrutiert wird, hat bis heute keine institutionelle Antwort gefunden. Nach wie vor stehen zwei mit einander konfligierende Strategien in Konkurrenz zu einander: die meritokratische und die aristokratische Lösung. Daß dies in den Auseinandersetzungen während der Kulturrevolution von großer Bedeutung war, wissen wir aus den bahnbrechenden Forschungen von Chan, Rosen und Unger (Chan, Rosen und Unger 1980). Daß es Auswirkungen auf die Entscheidungen der Parteiführung über die Einscätzung der Kulturrevolution haben sollte, erkennen wir nicht zuletzt aus besagter Resolution. Die Rotgardistenbewegung setzte sich in der Frühphase der Kulturrevolution überwiegend aus den Söhnen und Töchtern der in Peking lebenden führenden Kader der Partei zusammen. Eine ausführliche, wohlmöglich kritische Darstellung ihres Wirkens in der Parteiresolution hätte deren Aufnahme in die Parteiführung, wenn nicht unmöglich gemacht, so doch erheblich erschwert. Nur indem die Parteiresolution sich in dieser Frage zurückhielt und darauf verzichtete, den in der Kulturrevolution schwer angeschlagenen Kadern der älteren Generation eine Genugtuung zu verschaffen, konnte dieses Problem ausgeklammert werden. Andererseits hat die Parteiführung aber auch davon abgesehen, die Fraktion der sogenannten „alten Rotgardisten“, die ihr familiär am nächsten stand, gegenüber der Rebellenfraktion ins Recht zu setzen, obwohl viele Mitglieder dieser frühen Rotgardistenorganisationen sich als Opfer der Rebellen betrachten. Sie hätte damit wohlmöglich Wunden wieder aufgebrochen, die durch die gemeinsame Erfahrung der Landverschickung zumindest teilweise verheilt waren. Zugleich hätte sie aber auch befürchten müssen, dass die Generation der Söhne und 8 Töchter, die dem Aufruf Mao Zedongs mit einem gehörigen Maß an Machthunger gefolgt war, im Zuge der Anerkennung ihres Opferstatus durch die Parteiführung früher an die Hebel der Macht gedrängt hätte, als es den gerade erst wieder rehabilitierten Vertretern der älteren Generation recht sein konnte. In diesem Sinne ist die Resolution von 1981 nicht nur durch Kompromisse zwischen den unterschiedlichen Meinungsgruppen innerhalb der Partei gekennzeichnet, sie stellt auch einen Kompromiß zwischen den Generationen dar und versucht, den Kaderfamilien zumindest die Hoffnung zu erhalten, dass sie trotz der Ereignisse in der Kulturrevolution ihre Position innerhalb der Elite des Landes bewahren können. Die Kompromißhaftigkeit der Entscheidung schwächt aber den normativen Gehalt des Dokuments. Es ist nicht möglich, gleichzeitig ein klares Wort zur Frage von Recht und Unrecht zu sprechen und die oben erwähnten Überlegungen zu verwirklichen. Wer also ein klares Wort seitens der KPCh zur Frage der Einschätzung der Kulturrevolution erwartet und dies als Zeichen einer gelungenen Vergangenheitsbewältigung wertet, muß warten, bis die KPCh eine von Familienherkunft unabhängige Form der Rekrutierung in die führende Elite gefunden hat oder die Zeit die Erinnerung an die Wunden der Vergangenheit hat verblassen lassen. Bis dahin nimmt die Parteiführung in Kauf, dass sie die öffentliche Diskussion über die Kulturrevolution nicht unterbinden kann, tut aber auch nichts, sie zu befördern. Das Interesse der Öffentlichkeit an der Kulturrevolution Die sozialwissenschaftlichen Methoden der Ausforschung des öffentlichen Interesses an der Kulturrevolution können hier nicht Anwendung finden. So müssen wir uns auf andere Dinge verlassen, um Hinweise zur Beantwortung dieser Frage zu finden. Zunächst fällt jedem auf, welcher die zahlreichen Publikationen zur Frage der Kulturrevolution durchsieht, dass es kein einheitliches Diskursfeld gibt. Vielmehr haben unterschiedliche Erinnerungsgruppen (englisch: carrier groups, Eyerman 2001, 1-22) unterschiedliche Foren, auf denen sie ihre Erinnerungen jeweils unabhängig von einander austauschen. So schert sich die Erinnerungsgruppe „Intellektuelle und Kader der älteren Generation“ nicht um die Probleme der Rotgardisten, und die Erinnerungsgruppe „Rotgardisten“ interessiert sich nicht für das Schicksal der alten Kader und Intellektuellen. Die Rotgardisten interessieren sich für die Frage der Massenbeteiligung, die Intellektuellen und Kader für die Frage des innerparteilichen Machtkampfes. Jede Erinnerungsgruppe kämpft mit den Problemen, die sie jeweils in der Kulturrevolution erfahren haben. Innerhalb der großen Erinnerungsgruppen, die sich aus Mitgliedern der Teilnehmergenerationen zusammensetzen, kommt es dann wieder zu Unterscheidungen. So fällt auf, dass es kaum Äußerungen aus dem Lager der „alten Rotgardisten“ gibt, die sich direkt auf das beziehen, was diese während der Kulturrevolution gedacht und getan haben. Ihr Teilnahme an dem Diskurs beschränkt sich im wesentlichen darauf, die Geschichte ihrer Eltern und Professoren in Erinnerung zu rufen. Anders die Gruppe der „Rebellen“. Sie treten als Verwalter ihrer eigenen Interessen auf und kämpfen deutlich um Anerkennung ihrer Position. Viele prominente Mitglieder dieser Gruppe leben heute im Ausland und gelten dort als Vorkämpfer für Demokratie in China. Es wundert also nicht, dass sie Schwierigkeiten haben, ihre Aktivitäten aus Jugendzeiten hochzuhalten, wenn allenthalben ein negatives Bild der Kulturrevolution vorherrscht. Vergleicht man die Gruppe der prominenten Intellektuellen mit denen der Parteikader, so fällt auf, dass sie zwar dieselben Foren nutzen, die Teilnahme an der Diskussion aber deutlich im Zusammenhang mit der Position in der Gesellschaft der Gegenwart steht. Die prominenten Intellektuellen halten sich nach wie vor sehr zurück und überlassen ihren Kindern und Schülern das Wort. Die im Ruhestand befindlichen Kader hingegen engagieren sich in letzter Zeit stärker als früher. Dies mag daran liegen, dass dies von der Partei gewünscht wird (vgl. Wu Guang 2000), es kann aber auch darin seinen Grund haben, dass 9 diese Gruppe jetzt von der Generation ihrer Peiniger aus der Kulturrevolution im Machtgefüge abgelöst wird. Die Teilnahme an der öffentlichen Diskussion könnte als Versuch gewertet werden, die jüngere Generation an ihre Missetaten zu erinnern und das Wissen darüber als Garant für Respekt und Anerkennung einzusetzen. Die Fragmentierung der Diskussion ließe sich im Sinne der Analyse von Mitscherlich als Versuch der Selbstwertfindung erklären. Jede Gruppe erlebt - wie oben beschrieben - einen erheblichen Selbstwertverlust mit dem Verlust des Führers. In der Erinnerung werden Ereignisse aus der Vergangenheit dann so ausgewählt und öffentlich gemacht, dass diese als Ressource für einen Statusgewinn in der Gegenwart genutzt werden können. Mitscherlich und Mitscherlich berichten zum Beispiel über das Phänomen, dass Soldaten, die aus dem 2.Weltkrieg nach Deutschland zurückkehrten, im wesentlichen daran interessiert waren, ihre Erinnerungen über die Härte des soldatischen Lebens auszutauschen, während sie von sich aus nie über Tötungszwang, Aggression, Willkür und Unrecht gesprochen hätten, das sie anderen angetan haben. Die Erinnerungen an die Härte des soldatischen Lebens sind dazu geeignet, der erzählenden Person auch in friedlichen Zeiten mit Respekt zu begegnen, während die in der Erzählung weggelassene Seite des soldatischen Daseins in einer mit der Niederlage des Krieges kämpfenden Nachkriegsgesellschaft eher zu Kontroversen, wenn nicht sogar zu Ablehnung geführt hätte. Xu Youyu spricht in dem oben erwähnten Zitat von Erinnerungen, die wie Fossile erstarrt sind. Vielleicht meint er damit auch, dass die Erinnerungen sich immer noch in Erinnerungsgruppen artikulieren, die den Aktionsgruppen aus der Zeit der Kulturrevolution entsprechen, und dass es noch keine Grenzüberschreitung gegeben hat, geschweige denn einen Diskurs, der jenseits der Erinnerungsgruppen eine gesamtgesellschaftlich akzeptable Narration zur Kulturrevolution hervorgebracht hätte. Betrachten wir also die Öffentlichkeit von dem Standpunkt der ursprünglich an der Kulturrevolution Beteiligten aus, so sind diese nicht darauf bedacht, die Kulturrevolution in toto zu verdrängen, wie die Mitscherlichs dies für Deutschland behaupten. Vielmehr wird der Kampf zwischen den unterschiedlichen gesellschaftlichen Gruppen, so wie er in der Kulturrevolution ausgetragen wurde, auch heute noch in der Erinnerung weitergeführt. Das Schlachtfeld ist die Vergangenheit, und einen Sieg zu erringen bedeutet mit seiner jeweils partikularen Narration Gehör zu finden und dadurch seinen Selbstwert zu erhöhen. Wenn also beklagt wird, dass die Auseinandersetzung über die Kulturrevolution in der VR China nicht das erwünschte Maß erreicht hat, so mag hinter dieser Einschätzung auch eine Kritik daran stecken, dass es keine der Erinnerungsgruppen bisher geschafft hat, ihre jeweils partikulare Narration als gesamtgesellschaftlich akzeptiert durchzusetzen. Die Vergangenheit ist immer noch umstritten, und - wie wir oben gesehen haben - die Partei kann nicht einseitig die Version einer Erinnerungsgruppe für verbindlich erklären, ohne sich selbst damit zu schaden. Die Gesellschaft ist in ihrer Erinnerung an die Kulturrevolution genauso gespalten, wie sie es während der Kulturrevolution gewesen ist. Es gibt keine verbindliche Erzählung zur Kulturrevolution. Ausdruck dieses Mangels an verbindlicher Erinnerung ist die Tatsache, dass Schulbücher in der VR China bis heute nur in knapper Form Auskunft über die Kulturrevolution erteilen. Das heißt, dass der Mangel an eindeutigen Aussagen in der Parteiresolution zusammen mit der Fragmentierung des öffentlichen Diskurses unter den beteiligten Generationen die Vermittlung einer Narration an die nächste Generation erschwert, wenn nicht sogar unmöglich macht. Wenn Xu Youyu also davon spricht, dass die Generation der Rotgardisten sich nicht an der öffentlichen Diskussion beteiligt, dann könnte damit gemeint sein, dass sie mit ihren Diskussionen nicht über den Kreis der ohnehin Gleichgesinnten hinaus Einfluß ausüben kann und die Auffassungen der nächsten Generation zur Kulturrevolution nicht zu prägen in der Lage ist. Im Gegensatz zu Deutschland, wo die Generation der Kriegsteilnehmer durch Schweigen über das, was sie im Krieg erlebt hatte, das Vakuum entstehen ließ, das zu füllen die Generation der Nachgeborenen in den sechziger Jahren antrat, 10 kapselt sich offenbar die Generation der Kulturrevolutionsteilnehmer mit ihren fragmentierten Diskussionen von der jüngeren Generation ab, kommuniziert aber heftig unter einander. In ihrem Wunsch nach Selbstwerterhöhung konzentrieren sie sich auf sich selbst und tragen dazu bei, das Anliegen der Partei zu verwirklichen, wonach die Langzeitnachwirkungen der Kulturrevolution so gering wie möglich zu halten sind. Dabei könnte man durchaus behaupten, dass die KPCh vor einem öffentlichen Diskurs zur Kulturrevolution nichts zu befürchten braucht, solange dieser in fragmentierter Form geführt wird. Ohne zur Klärung der vielen strittigen Probleme beizutragen, kann sie auf den Zeitfaktor setzen. Je weniger in das Bewusstsein der jüngeren Generation eindringt, um so mehr besteht die Chance, dass die Wunden der Kulturrevolution mit den Verwundeten vergehen werden. Partei und Öffentlichkeit sind Komplizen, wenn es darum geht, die jüngere Generation aus dem Diskurs über die Kulturrevolution auszuschließen. Die Erinnerung an die Kulturrevolution als Opferdiskurs Edward Friedman erregt sich in einem Beitrag zur Erinnerung an die Kulturrevolution über das Opferverhalten der „Chinesen“: „Chinese are always victims. When will they learn?“ (Friedman 1996,96) Vor dem Hintergrund seiner persönlichen Erfahrungen als Überlebender des Holocaust warnt er vor der “einfachen” Lösung, sich selbst als Opfer derartig desaströser historischer Ereignisse zu definieren und dabei die eigene Mittäterschaft zu übersehen: „Taking on the role of pure victims turns us into victimizers, too“ (Friedman 1996, 98). Während ihn jedoch die Auswirkung dieser Grundhaltung auf die weitere Entwicklung in China interessiert, ist für uns die Frage wichtig, inwieweit die Selbstdefinition der Überlebenden als Opfer die Auseinandersetzung über die Kulturrevolution behindert und zu dem Eindruck beiträgt, es gäbe darüber keine entwickelte Diskussion in China. Dabei ist zu beachten, dass die Selbstdefinition der Überlebenden als Opfer mit der Erfahrung konfligiert, die immer wieder in den Darstellungen und Memoiren thematisiert wird, die Erfahrung nämlich, dass die aktiv an der Kulturrevolution Beteiligten häufig zunächst Täter und später Opfer wurden, dass sie in der einen Phase andere peinigten, um in der nächsten selbst gepeinigt zu werden. Opfer und Täter sind oft in einer Person vereinigt und schwer von einander zu trennen. Selbst wenn der von den Mitscherlichs für Deutschland beschriebene Rechtfertigungsmechanismus auch in China zu beobachten ist, dass die Täter ihre Verantwortung für die Taten leugnen, indem sie sich darauf berufen, dies als Teil des von Mao Zedong bestimmten politischen Klimas der damaligen Zeit getan zu haben, so konkurriert in dieser Darstellung der Anspruch, als Opfer des Führers betrachtet zu werden, mit der Erinnerung an die Tat selbst. Wenn also, wie von der Partei in der Kampagne zur Kritik an der “Viererbande“ vorgegeben, die Selbstdefinition als Opfer durchgesetzt wird, dann setzt das voraus, dass die Täterseite massiv verdrängt wird. Wie wir aber bereits mehrfach gesehen haben, hatte diese Strategie nur in der „Anklagephase“ Erfolg, seit dem ist der Diskurs nicht durch Verdrängung gekennzeichnet. Dort, wo er öffentlich wird, kämpft er eher mit Ambiguitäten. Nicht die Verdrängung verhindert die öffentliche Auseinandersetzung, sondern die Unfähigkeit, die Ambiguitäten aufzulösen. So schreibt Li Xianlin in der Einleitung zu seinen „Erinnerungen an den Kuhstall“: „Ich kenne Liebe und Haß, Neid und Rache und bin nicht großmütiger als andere. Doch sobald ich an Rache denke, wird mir klar, dass sich alle, egal in welches Lager und zu welcher Fraktion sie gehörten, unter den gegebenen Umständen und in der damals vorherrschenden Atmosphäre in 11 Monster verwandelt hatten, so als hätten sie einen Zaubertrunk zu sich genommen. Selbst als sie mich schon fast zu Tode geschlagen hatten, glaubte ich noch, dass die ‚Kulturrevolution’ richtig sei. Was kann ich da schon von anderen verlangen? Diejenigen, die andere peinigten, und die, welche gepeinigt wurden, sind alle Opfer, nur dass sie ihre Taten aus jeweils unterschiedlichen Positionen vollbrachten.“ (Li Xianlin 1998, 2) Die Tatsache, dass er nach seiner Rehabilitierung mit denjenigen in einem Büro zusammenarbeiten musste, die ihn vorher bekämpft hatten, veranlasste ihn, diese Haltung als Überlebensstrategie einzunehmen. Die Angst vor einem Wiederaufflammen des Fraktionismus hielt ihn davon ab, seine Gedanken zu veröffentlichen. Erst als er in den Ruhestand getreten war, schien ihm die Zeit reif dafür (Li Xianlin 1998, 4). Wenn die Gesellschaft sich als Gemeinschaft der Opfer begreift, dann verzeiht jeder jedem, dass er oder sie auch Täter ist. Das ist nicht gleichzusetzen mit einem Verdrängen der Mittäterschaft, hier wirkt vielmehr eine komplizenhafte Vereinbarung über das Schweigen, deren Grundlage das Wissen darüber ist, dass jeder seine Leichen im Keller hat. Hier wird also die Ambiguität der Situation bewusst aufrecht erhalten, um sich nicht entscheiden zu müssen, wer von den anderen mehr Opfer und wer mehr Täter ist, auch wenn jede und jeder für sich längst entschieden hat, sich selbst als Opfer zu sehen. Folgen wir Li Xianlins Argumentation, weiß jeder, von wem er oder sie gepeinigt wurde. Da man aber im Sinne einer moralischen Anstrengung nicht vergessen hat, dass man selbst auch gefehlt hat, löst man das Verständnis für die Entgleisungen der anderen in der Hoffnung auf Nachsicht für die eigenen Fehler ein. Für die Generation der überlebenden Teilnehmer mag dies eine zumindest zeitweise praktikable Lösung sein. Wir beobachten hier eine „Notfallreaktion“, die bei den Mitscherlichs nicht vorgesehen ist. Diese „chinesische“ „Notfallreaktion“ hat jedoch dieselben Auswirkungen wie die von den Mitscherlichs für Deutschland beschriebene: Sie verhindert Empathie, vor allem wenn es darum geht, die in der Kulturrevolution zu Tode gekommenen Opfer zu betrauern. Es gibt bis heute in China nicht das Museum der Kulturrevolution, das Ba Jin schon 1986 eingefordert hat (Ba Jin 1997). Es gibt keine Gedenkstätte zur Erinnerung an die Opfer, und da, wo während der Kulturrevolution Grabsteine aufgestellt worden waren, sind diese heute nicht mehr zu finden. Zhou Ziren berichtet lediglich von einer Ausnahme in Sichuan, wo offenbar ein Grabstein, der während der bewaffneten Auseinandersetzungen in Chongqing aufgestellt wurde, heute noch steht und von betroffenen Familienmitgliedern als Stätte des Gedenkens besucht wird (Zhou Ziren 2001). Wie schwierig es ist, das Gedenken der zu Tode Gekommenen aktiv zu betreiben, zeigt die Initiative von Wang Youqin, die seit über 25 Jahren Materialien zu in der Anfangsphase der Kulturrevolution erschlagenen Lehrern sammelt. Wang Youqin lebt heute in Chikago und hat unlängst in Hongkong ein Buch mit den Todesberichten von über 600 erschlagenen Lehrern herausgegeben (Wang Youqin 2004). Sie ist selbst die Tochter von Lehrern und durfte deshalb zu Beginn der Kulturrevolution nicht Mitglied der Rotgardistenorganisation an ihrer Mittelschule werden. So kam es, dass sie nicht dabei war, als die stellvertretende Rektorin der Mädchenmittelschule an der Pekinger Pädagogischen Hochschule im August 1966 erschlagen wurde. Nicht die, die dabei waren, haben am heftigsten auf ihre Veröffentlichungen reagiert. Bekannte Dissidenten, die uns als Vorkämpfer für Demokratie und Menschenrechte in China vertraut sind, haben sich zu Wort gemeldet und ihre Arbeit scharf kritisiert. So schreibt Liu Guokai, dessen Geschichte der Kulturrevolution die erste aus inoffizieller Feder ist (Liu Guokai 1986): „Wang Youqins mühevoller Arbeit sollten wir höchsten Respekt zollen. Doch ist ihre Theorie, wonach ‚die Kulturrevolution eine Revolution 12 gewesen ist, in der die Schüler ihre Lehrer erschlugen’, äußerst problematisch…Diese Formulierung kann ganz offensichtlich nicht das Gesamtbild dieses Ereignisses angemessen wiedergeben. Doch was noch wichtiger ist: Die Formulierung kann das Wesen des Ereignisses nicht richtig wiedergeben, im Gegenteil, sie ist dazu geeignet, dieses geradezu zu verschleiern.“ (Liu Guokai 2005) Über das Verhältnis von Phänomen und Wesen einer Sache ist während der Kulturrevolution heftig gestritten worden. Die Umwertung aller Werte fand unter der Ägide eines immer wieder willkürlich umdefinierten Verhältnisses von Wesen und Erscheinungsform statt. Die von den Mitscherlichs auch für Deutschland beschriebene Abwendung von der Realität im Zuge der Unterwerfung unter den Führer wurde in der VR China philosophisch begründet und politisch instrumentalisiert. Wenn immer ein Parteimitglied, das gestern noch in Amt und Würden war, heute zum Verräter an der Sache der Partei erklärt wurde, musste das Verhältnis von Wesen und Erscheinungsform herhalten. Auf die Weise lernte eine ganze Generation, den Erscheinungsformen zu misstrauen und anstelle dessen an ein postuliertes Wesen der Sache zu glauben, das durch nichts überprüft werden konnte. Mit dieser Denkweise aufzuräumen galt übrigens die später von Deng Xiaoping durchgesetzte Kampagne „Praxis ist das einzige Kriterium der Wahrheit“. Noch fast dreißig Jahre nach Ende der Kulturrevolution wehrt sich Liu Guokai gegen Wang Youqins Trauerarbeit, indem er das Wesen als Mittel gegen die Erscheinungsform bemüht. Wang Xizhe, ebenfalls ein bekannter Streiter für Demokratie, geht noch ein Stück weiter in seiner Kritik an Wang Youqin. Er sagt: „Es hat während der Kulturrevolution einfach nichts gegeben, was sich als ‚Schüler erschlagen Lehrer’ beschreiben ließe.“ (Wang Xizhe 2005) Er erklärt diese erstaunliche Aussage, indem er uns vorführt, was es bedeutet, die Erscheinungsform vom Wesen der Sache zu trennen. Die Lehrer, die erschlagen wurden, so Wang Xizhe, waren nämlich gar nicht Lehrer, sondern Klassenfeinde, und die Schüler, die geschlagen haben, waren nicht Schüler, sondern „revolutionäre Soldaten des Proletariats“. Diesen Unterschied nicht gesehen zu haben bringt Wang Youqin den Titel der „Kleinbürgerin“ ein, die mit ein paar „kleinbürgerlichen Tränen versucht, ihren Ruf als Wissenschaftlerin zu begründen“ (Wang Xizhe 2005). Natürlich ist es kleinbürgerlich, über die Toten der Kulturrevolution zu trauern, denn die Trauer über die Toten beinhaltet den Ausbruch aus dem Gefängnis, das diese Revolution offenbar bis zum heutigen Tage selbst für die Teilnehmer darstellt, die sich ansonsten außerhalb des Regimes in der VR China gestellt haben. Nur wer die kleinbürgerlichen Bedenken darüber, was es bedeutet, einen Menschen zu erschlagen, hintanstellt, weiß das wahre Wesen der Kulturrevolution zu erfassen. Auch diese Argumentation ist jedem Kenner der kulturrevolutionären Rhetorik nur allzu bekannt. Sie steht zwischen den Tätern, die sich als Opfer sehen, und den Opfern, die nicht mit dem Finger auf die Täter zeigen können. Es ist kaum möglich, einen noch deutlicheren Nachweis der Unfähigkeit zu trauern zu erbringen. Doch Wang Xizhe erbringt ihn. Er verweist in seiner Einlassung darauf, dass die Lehrer „ihre Leichen im Keller hatten“, sie hätten nämlich die Schüler unterdrückt und damit den Haß auch sich gezogen. Kein Wunder also, dass sie erschlagen wurden, denkt der Leser seiner Streitschrift weiter. Daß Lehrer eine disziplinierende, bisweilen unangenehm einschränkende Wirkung auf Schüler haben, sollte bekannt sein. Daß dies Gewaltausbrüche gegen sie rechtfertigt, wird normalerweise bestritten. Erst die in der Kulturrevolution vorgenommene Umwertung der Werte erlaubte den Schülern, ihre Gewalt als Revolution zu betrachten und 13 sie gegen Autoritäten zu richten, an die sie noch kurz vorher uneingeschränkt geglaubt hatten. Noch vier Jahrzehnte später zeigt diese Logik Folgen. Wenn also ein Mangel an öffentlicher Auseinandersetzung mit der Kulturrevolution beklagt wird, so könnte sich dieser auf die Abwesenheit eines moralischen Diskurses über die Kulturrevolution beziehen. Es wird zwar allenthalben über die Kulturrevolution debattiert, die Debatte zeugt aber davon, dass die Gesellschaft noch nicht zu der Möglichkeit vorgedrungen ist, das eigene Komplizentum anzuerkennen und jenseits der von der Kulturrevolution aufgestellten Normen zu bewerten. Die Mitscherlichs erinnern daran, dass eine solche Form der Auseinandersetzung zu einer kollektiven Melancholie führen kann, welche die Überlebensenergie lähmt. Sowohl in Deutschland als auch in der VR China haben die Menschen sich entschieden, die kollektive Melancholie zu vermeiden und anstelle dessen in Aufbauaktivität zu verfallen. In Deutschland haben insbesondere die Siegermächte, dann aber auch die Intellektuellen die Vergangenheitsbewältigung immer wieder eingefordert. Sie haben es vermocht, in der Nachkriegsgeneration den Wunsch zu wecken, das Vakuum zu füllen, das durch das Schweigen der älteren Generation entstanden war. Die Kinder der Rotgardisten haben bisher diesen Wunsch noch nicht artikuliert. Der moralische Diskurs, der durch Empathie für die Opfer gekennzeichnet ist, hat anstelle dessen eine Form angenommen, in der das Erinnern selbst zum Akt der Moral wird. Indem behauptet wird, die Erinnerung werde nicht aktiv betrieben, können diejenigen, die Erinnerung einfordern, sich als moralisch integer darstellen. Paul Cohen (Cohen 2002) hat in seiner Studie über die Erinnerung an die Demütigung durch die Erfahrungen in Auseinandersetzung mit dem Westen gezeigt, dass chinesische Intellektuelle des frühen 20.Jahrhunderts sich selbst eine Identität gaben, indem sie ihren Willen zur Erinnerung an die „nationale Schmach“ dem Desinteresse der anderen gegenüberstellten. Wer sich der Schmach erinnert, beweist seine Moral, auch wenn die Frage nach Schuld und Verantwortung unbeantwortet bleibt. Je stärker der Unwillen der anderen in den Vordergrund gestellt wird, sich mit der Vergangenheit auseinanderzusetzen, umso mehr ist der Akt des Erinnerns allein schon Beweis genug. Anstatt zu dem Punkt vorzudringen, die eigene Verstrickung in tausendfache Verstöße gegen die Moral anzuerkennen, wird die Moral des Erinnerns gefeiert. Dabei verdeckt die Klage über den Mangel an öffentlichem Diskurs den Blick auf den Mangel an Empathie für die Opfer. 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