Gewerkschaftliche Strategien gegen prekäre Beschäftigung in Deutschland am Beispiel der Gebäudereinigung, der Bauwirtschaft, des Krankenhaussektors und der Leiharbeitsbranche Policy Paper1 Thorsten Schulten and Karin Schulze Buschoff Düsseldorf, Januar 2015 Dieses Papier fasst zentrale Ergebnisse des deutschen Teils des europäischen Forschungsprojekts “Bargaining for Social Rights at Sectoral Level” (BARSORIS) zusammen, das von der Europäischen Kommission finanziert wurde. (No. VS/2013/0403) 1 1 1. Einleitung Dieser Beitrag ist die Zusammenfassung von Ergebnissen einer Studie über Strategien gegen prekäre Beschäftigung in vier Branchen in Deutschland: Bau, Gebäudereinigung, Krankenhäuser und Leiharbeit. In allen vier Branchen ist der Zahl der prekär Beschäftigten in den letzten Jahren als Folge von wirtschaftlichem Druck und Kostensenkungsstrategien gestiegen. Prekäre Beschäftigung ist damit zu einem Kernthema der deutschen Arbeitsbeziehungen geworden. In den letzten Jahren haben die Gewerkschaften, teils mit Unterstützung, teils gegen den Widerstand der Arbeitgeber, verschiedene Initiativen entwickelt, um die Bedingungen der prekärer Beschäftigung zu verbessern bzw. ihre weitere Verbreitung zu begrenzen. Im Kern der Studie werden konkrete Initiativen zur Bekämpfung prekärer Beschäftigung beschrieben. Sie basiert auf einer Auswertung von Daten, Forschungsliteratur und politischen Dokumenten sowie einer Reihe von Interviews mit Experten aus den vier Branchen. Die Studie ist Teil eines größeren europäischen Projekts "Bargaining for Social Rights on Sectoral Level" (BARSORIS), mit Studien aus sieben europäischen Ländern (Dänemark, Deutschland, Italien, den Niederlanden, der Slowakei, Spanien und Großbritannien). Das gesamte Projekt wurde von der EU, Europäische Kommission GD Beschäftigung, Soziales und Integration, Sozialer Dialog und Arbeitsbeziehungen (Vereinbarung Nr. VS / 2013/0403) finanziert. 2. Prekäre Beschäftigung in Deutschland In Deutschland ist in den letzten Dekaden ein kontinuierlicher Anstieg von atypischen Beschäftigungsverhältnissen, d.h. vom „Normalarbeitsverhältnis“ (definiert als unbefristete Vollzeitarbeit) abweichenden Beschäftigungen, zu verzeichnen. Etwa 40 Prozent aller Beschäftigten in Deutschland arbeiten mittlerweile in atypischen Beschäftigungen (Keller und Seifert 2013). Die Zahl der Teilzeitbeschäftigten hat sich von 2.6 Millionen Beschäftigten im Jahr 1991 auf 5 Millionen Beschäftigten im Jahr 2012 beinahe verdoppelt, ebenso die Zahl der Solo-Selbstständigen (von 1.3 Millionen auf 2.3 Millionen). Deutliche Zuwächse sind im gleichen Zeitraum auch bei der Zahl der sogenannten „Minijobber“ zu verzeichnen, d.h. bei Beschäftigten mit einem Verdienst unter 450 Euro, sowie bei der Leiharbeit. Atypische Beschäftigungsverhältnisse sind nicht gleichzusetzen mit prekärer Beschäftigung. Während erstere den formalen Beschäftigungsstatus bezeichnen, erfassen letztere weitere Dimensionen der Teilhabe und Mitbestimmung, wie die Entlohnung, der Zugang zu sozialen Sicherungssystemen, Mitbestimmungsrechte am Arbeitsplatz etc. (Bispinck und Schulten 2 2013). Zwar gibt es große Überlappungen, nicht alle Formen atypischer Beschäftigungen sind jedoch notwendigerweise prekär. Sozialversicherungspflichtige Teilzeitarbeit kann z.B. als Form nicht-prekärer atypischer Beschäftigung betrachtet werden. Auf der anderen Seite kann eine unbefristete Vollzeitbeschäftigung (also eine „typische“ Beschäftigung) prekär sein, wenn diese niedrig entlohnt wird. Vor dem Hintergrund eines im europäischen Vergleich besonders deutlich ausgeprägten Niedriglohnbereichs hat der Aspekt der Entlohnung die aktuelle Debatte um prekäre Beschäftigung in Deutschland dominiert. In 2012 bezogen fast ein Viertel aller Beschäftigten (24,3%) einen Lohn unterhalb der Niedriglohnschwelle von zwei Dritteln des Medianeinkommens. Unter atypisch Beschäftigten war dieser Anteil deutlich höher: Zwei Drittel der Leiharbeitnehmer (67,7%) und über drei Viertel aller Minijobber (78,6 %) erhielten 2012 einen Niedriglohn (Kalina und Weinkopf 2014). Für lange Zeit wurde vor allem von deutschen Mainstream-Ökonomen die These vertreten, dass eine Zunahme atypischer oder gar prekärer Beschäftigung notwendig sei, um mittels Flexibilisierung des Arbeitsmarktes Wettbewerb und Wachstum zu fördern. Insbesondere die „Hartz-Gesetze“ sind Ausdruck dieser Sichtweise und führten zu einer weitreichenden Deregulierung des Arbeitsmarktes. Mittlerweile zweigen jedoch zahlreiche Studien, dass durch die Arbeitsmarktreformen kaum Beschäftigungszuwächse erzielt wurden (z.B. Knuth und Kaps 2014). Auch im öffentlich-politischen Diskurs wird immer häufiger die Position vertreten, dass die Deregulierung zu weit gegriffen hat und dass ein erheblicher Revisionsbedarf besteht – insbesondere mit Blick auf die negativen gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Folgen eines wachsenden Niedriglohnsektors. Das deutlichste Zeichen dafür ist der Beschluss der Einführung eines einheitlichen gesetzlichen Mindestlohnes in Deutschland ab 2015 (Schulten und Bispinck 2013). Vor dem Hintergrund sinkender Arbeitslosenquoten gewinnt die Debatte um „gute Arbeit“ an Bedeutung, die die Qualität der Arbeitsverhältnisse in den Vordergrund stellt. Weiterhin gab es in den letzten Jahren verschiedene Initiativen gegen prekäre Beschäftigung auf nationaler, sektoraler und auf betrieblicher Ebene (Bispinck and Schulten 2013). Insbesondere die Gewerkschaften haben Kampagnen gegen prekäre Beschäftigung und für eine „Neuordnung des Arbeitsmarktes“ initiiert (DGB 2014). 3. Prekäre Beschäftigung und gewerkschaftliche Strategien nach Branchen Im Folgenden werden die Entwicklung prekärer Beschäftigung und die gewerkschaftlichen Strategien für die Branchen Bauwirtschaft, Gebäudereinigung, 3 Krankenhäuser und die Beschäftigungsform Leiharbeit zusammengefasst. In allen betrachteten Sektoren spielt prekäre Beschäftigung eine bedeutende Rolle, jedoch variieren die Verbreitung der einzelnen Formen von Beschäftigung sowie verschiedener Dimensionen von Prekarität beträchtlich. Demzufolge gibt es im Vergleich zwischen den Sektoren Übereinstimmungen, aber häufig auch deutliche Unterschiede im Umgang mit prekärer Beschäftigung. Dies gilt insbesondere dafür, ob der Schwerpunkt der Strategien gegen prekäre Beschäftigung eher auf politischen Veränderungen und arbeitsmarktpolitischen Reformen oder auf eine Regulierung durch sektorale kollektive Vereinbarungen gelegt wird. Deutliche Unterschiede bei der Gewichtung von Tarifverträgen spiegeln die unterschiedlichen Regime von industriellen Beziehungen in den einzelnen Branchen wider. 3.1. Gebäudereinigung Entsprechend der Angaben des Statistischen Bundesamtes arbeiteten Anfang 2014 mehr als 940 000 Beschäftigte in der Gebäudereinigung (Bundesagentur für Arbeit 2014). Die Beschäftigung in diesem Sektor lässt sich durch folgende Merkmale deutlich charakterisieren: Zwei Drittel aller Beschäftigten sind Frauen (66, 8%), knapp ein Drittel sind nicht-deutscher Herkunft (31,3%) und fast drei Viertel sind gering qualifiziert (71,3%). Weiterhin hat mehr als die Hälfte aller Beschäftigten einen Minijob (51,2%), d.h. ein Beschäftigungsverhältnis mit einem Verdienst von bis zu 450 Euro im Monat. Seit den späten 1990er Jahren hat die Zahl der Beschäftigten in diesem Sektor deutlich zugenommen, während das Arbeitsvolumen gemessen an der Stundenzahl relativ stabil geblieben ist (Bosch u.a.2011, 2012). Dies reflektiert die Entwicklung hin zu Teilzeit und geringfügiger Beschäftigung. Die Entwicklung der Gebäudereinigung in Deutschland ist dadurch beeinflusst, dass die Mehrzahl der Unternehmen Reinigungsleistungen fremdvergeben haben (durch Outsourcing). Mitte der 1990er Jahre waren bereits 79% aller Reinigungsarbeiten in Gebäuden und 92% aller Fenster- und Glasreinigungsarbeiten fremdvergeben (Bundesinnungsverband der Gebäudedienstleister 1996). Weil die Gebäudereinigung ein sehr beschäftigungsintensiver Sektor ist, steigt der Druck der Unternehmen Wettbewerbsvorteile durch die Reduzierung von Arbeitskosten zu gewinnen (Weinkopf u.a. 2013). Vor dem Hintergrund einer hohen Zahl von kleinen und mittleren Betrieben und der konkurrenzbetonten Marktstruktur hatten sowohl Arbeitgeber als auch Gewerkschaften ein 4 starkes Interesse an branchenspezifischen Regelungen, um weiteren Wettbewerb um Löhne und Arbeitskosten zu begrenzen. Jahrzehntelang gab es zwischen dem Arbeitgeberverband, dem Bundesinnungsverband des Gebäudereinigungshandwerks (BIV), und der wichtigsten Gewerkschaft in diesem Bereich, der IG Bauen-Agrar-Umwelt (IG BAU) deshalb kollektive Rahmenvereinbarungen. Seit 2007 haben Arbeitgeber und Gewerkschaften branchenspezifische Mindestlöhne vereinbart, die auf der Basis der ArbeitnehmerEntsendegesetzes für allgemein gültig erklärt wurden. Damit sind auch Unternehmen aus anderen EU- Staaten, die Beschäftigte in Deutschland einsetzen verpflichtet, die branchenweiten Mindestlöhne zu zahlen. In der Öffentlichkeit hat die Beschäftigung im Reinigungsgewerbe ein eher schlechtes Image und ist mit geringer sozialer Akzeptanz verbunden. Mit dem Ziel den Wert und die gesellschaftliche Bedeutung von Reinigungsarbeiten zu veranschaulichen und so das Image und die Arbeitsbedingungen zu verbessern, startete die IG BAU Mitte der 2000er Jahre eine Imagekampagne unter dem Slogan „Ich putze Deutschland“ (IG BAU 2007). Die Imagekampagne sollte auch das professionelle Selbstvertrauen der Beschäftigten stärken, nicht zuletzt um sie für politische Aktionen gegen prekäre Beschäftigungsbedingungen zu mobilisieren. Daneben verfolgten die gewerkschaftlichen Strategien gegen prekäre Beschäftigungen in der Gebäudereinigung in den letzten Jahren hauptsächlich folgende Ziele: 1. Die Beibehaltung und Erhöhung der kollektiv vereinbarten sektoralen Mindestlöhne Beispiel: Im Jahr 2009 hat die IG BAU den branchenweiten Mindestlohn durch den ersten nationalen Streik in der Gebäudereinigungsbranche verteidigt (Dribbusch 2009). Nachdem zwischen Arbeitgebern und Gewerkschaften ein Kompromiss ausgehandelt wurde, wurde nach einer bestimmten Periode (September 2009 bis März 2010), in der keine Mindestlohnregelung geltend war, die Praxis der branchenspezifischen Mindestlohnvereinbarung fortgeführt. 2. Die Garantie von Servicequalität und die Einhaltung von Arbeitsstandards Beispiel: Die sogenannten „RAL Gütegemeinschaft Gebäudereinigung“ ist eine Gemeinschaft von Arbeitgebern der Branche, die sich verpflichtet haben, bestimmte Arbeitsstandards einzuhalten. Die IG BAU hat die RAL Gütegemeinschaft Gebäudereinigung haben unter dem Slogan „Sauberkeit braucht ihre Zeit“ eine Kampagne mit dem Ziel betrieben, Standards für Leistungen und Arbeitszeiten zu begünstigen. Beide Parteien haben einen detaillierten Katalog darüber ausgearbeitet, wie viel Arbeitszeit für die Reinigung von bestimmten Flächen in verschiedenen 5 Gebäuden (z.B. Schulen oder Krankenhäusern) nötig ist, um die Qualität der Leistung zu gewährleisten (IG BAU 2010b, RAL Gütegemeinschaft Gebäudereinigung 2011). 3. Die Begrenzung von atypischen Beschäftigungsformen Vor dem Hintergrund der weiten Verbreitung von atypischer Beschäftigung in der Gebäudereinigung ist eines der Hauptziele der IG BAU die Begrenzung des Einsatzes dieser Beschäftigungsformen. Die IG BAU unterstützt insbesondere das Konzept des Deutschen Gewerkschaftsbundes (DGB) für eine umfassende Reform der geringfügigen Beschäftigung (DGB 2012). 4. Die Geltendmachung und Kontrolle der Einhaltung von Kollektivvereinbarungen Ein weiterer wichtiger Baustein zur Verbesserung der Arbeitsbedingungen der Beschäftigten in der Gebäudereinigung ist die Kontrolle der Einhaltung von kollektiven Vereinbarungen. Die dafür zuständige Institution ist die sogenannte Finanzkontrolle Schwarzarbeit (FKS), eine spezielle Einheit des Zolls zur Erfassung illegaler Beschäftigung. In den letzten Jahren haben die regelmäßigen Kontrollen der FKS ergeben, dass etwa 10 % der Unternehmen die geltenden Mindestlohnregelungen umgehen (Schulten u.a 2014: 35). Als Strategie der Umgehung werden häufig Arbeitszeiten ungenau bzw. falsch erfasst. Vor diesem Hintergrund verlangen die Gewerkschaften eine Verpflichtung zur genaueren Aufzeichnung der Arbeitszeiten (Riedel 2012: 65). 6 3.2. Der Krankenhaussektor Von den 5,2 Millionen Beschäftigten, die 2012 in Deutschland im Gesundheitssektor beschäftigt waren, arbeiteten 1,6 Millionen Beschäftigte in Krankenhäusern (Statistisches Bundesamt 2014b). Unter Berücksichtigung der steigenden Anzahl teilzeitbeschäftigter Krankenhausbeschäftigter ergibt sich umgerechnet auf Vollzeitäquivalente eine Anzahl von etwa 876 000 Vollzeitstellen. Seit den 1990er Jahren bis zur zweiten Hälfte der 2000er Jahre ist die Anzahl der Krankenhausbeschäftigten kontinuierlich gesunken und nur in den letzten Jahren wieder etwas gestiegen. Der deutlichste Rückgang ist bei dem nicht-medizinischen Personal zu verzeichnen, das häufig durch Outsourcing bzw. Fremdvergabe durch Personal ersetzt wurde, das nicht zu den Beschäftigten des Krankenhauses zählt. Aber auch beim Pflegepersonal ist ein deutlicher Rückgang erkennbar, während sich bei den Ärzten als einziger Beschäftigtengruppe in den Krankenhäusern ein kontinuierlicher Zuwachs abzeichnet. Während der letzten zwei Dekaden war die Entwicklung im Krankenhaussektor geprägt durch Prozesse der Kommerzialisierung und Privatisierung (Böhlke u.a. 2009, Mosebach 2009; Schulten und Böhlke 2012). Die Kommerzialisierung von Dienstleistungen in Krankenhäusern wurde durch eine grundlegende Änderung der Krankenhausfinanzierung bewirkt. Bis zu den frühen 1990er Jahre wurde nach dem Kostendeckungsprinzip durch die Krankenversicherungen alle tatsächlich anfallenden Kosten finanziert. Seitdem erfolgte eine Reihe von Reformen der Krankenhausfinanzierung, mit der Folge der Umstellung des Systems zur sogenannten DRG-Finanzierung (DRG = Diagnosis Related Group). Die Finanzierung stationärer Krankenhausbehandlungen erfolgt nun je nach Diagnose nach einem pauschalisierten Abrechnungssystem bzw. nach Fallpauschalen, unabhängig von der Verweildauer des Patienten und den tatsächlich anfallenden Kosten. Mit der Einführung des DRG-Systems ist es nun erstmals möglich, dass Krankenhäuser in größerem Umfang Profit oder auch Defizite erwirtschaften können. Damit wurde auch ein neues System des Kostenwettbewerbs zwischen verschiedenen Betreibern von Krankenhaus etabliert und die notwendige Voraussetzung für die einsetzende Welle der Privatisierung von Krankenhäusern und die Entstehung von privaten, gewinnorientierten Krankenhauskooperationen geschaffen. Bis zu den frühen 1990er Jahren war der Krankenhaussektor überwiegend zweigeteilt in einen öffentlichen und einen Non-Profit-Sektor mit nur wenig privat betriebenen Kliniken. Im Vergleich zu den 1990er Jahren ist der Anteil der öffentlich betriebenen Krankenhäuser bis 2013 deutlich zurückgegangen, während sich der Anteil der privat betriebenen Kliniken mehr als verdoppelt hat und inzwischen den Anteil der öffentlich betriebenen Kliniken übersteigt. In keinem anderen europäischen Land war der Prozess der Privatisierung Krankenhaussektors so weitreichend wie in Deutschland(Schulten und Böhlke 2012). 7 des Entsprechend der dreigeteilten Betreiberstruktur sind im Krankenhaussektor drei verschiedene Regime industrieller Beziehungen entstanden (Brandt und Schulten 2008). Öffentlich betriebene Krankenhäuser sind weiterhin an die spezifischen Regulierungen des öffentlichen Dienstes gebunden. Krankenhäuser im Non-Profit-Bereich werden in der Regel von Kirchen betrieben, die als Arbeitgeber einen besonderen Status haben und für deren Beschäftigte das deutsche Arbeitsrecht nur beschränkt Anwendung findet. In den gewinnorientierten privaten Krankenhäusern gelten häufig bundesweite Vereinbarungen für die größeren Krankenhauskooperationen oder auch Betriebsvereinbarungen für einzelne Kliniken. Eine Minderheit der privaten Kliniken hat keine Vereinbarungen geschlossen. Die Gewerkschaften versuchen, die Tarifverhandlungen zwischen allen Krankenhäusern zu koordinieren, mit Krankenhäusern dem zu Ziel die etablieren Bedingungen (Gröschl-Bahr des und öffentlichen Sektors Stumpfögger in allen 2008). Die Kommerzialisierung und Privatisierung des Krankenhaussektors hat deutliche Auswirkungen auf die industriellen Beziehungen bei allen Betreibern (Greer et.al. 2013). Weil die Arbeitskosten etwa 60% der Gesamtkosten der Krankenhäuser ausmachen (Statistisches Bundesamt 2014), steigt der Anreiz durch Restrukturierung die finanzielle Bilanzierung zu verbessern. Insgesamt sind drei grundlegende Strategien mit dem Ziel Arbeitskosten zu sparen zu unterscheiden, die alle mit der Gefahr einer Steigerung prekärer Beschäftigungsbedingungen einhergehen: 1. Fremdvergabe von Dienstleistungen im Krankenhaus (Contracting out) 2. Einsatz von Leiharbeitsbeschäftigten 3. Reduzierung der Kernbelegschaft Der steigende Druck der Krankenhäuser, Kosten zu reduzieren hat nicht nur zu einer Reduzierung des nicht-medizinischen Personals, sondern auch zu einer Reduzierung des medizinischen Pflegepersonals geführt (Simon 2012). Vor dem Hintergrund der steigenden Anforderungen an die Pflege und der reduzierten durchschnittlichen Dauer eines Krankenhausaufenthaltes haben sich die Arbeitsbedingungen des Pflegepersonals deutlich verschlechtert. Entsprechend der Ergebnisse einer kürzlich durchgeführten Studie geben 80% aller Pflegekräfte in Krankenhäusern an, dass sich ihre Arbeitsbedingungen in den letzten fünf Jahren verschlechtert haben (Bräutigam et.al. 2014). Dabei spielen zwei Aspekte eine grundlegende Rolle für die negative Bewertung: zum ersten die Entlohnung und zum zweiten die Arbeitsverdichtung bzw. der Arbeitsdruck. 8 Die Gewerkschaften haben in letzter Zeit gezielt Kampagnen zur Bekämpfung prekärer Beschäftigung im Krankenhaussektor entwickelt. Drei verschiedene Kampagnen lassen sich dabei identifizieren: 1. Die Kampagne für den Abschluss von Kollektivvereinbarungen für in-house Serviceunternehmen, mit dem Ziel bessere Arbeitsbedingungen für die Beschäftigten zu erreichen, 2. Die Kampagne zur Schließung von in-house Leiharbeitsunternehmen in Krankenhäusern, und schließlich 3. Die Kampagne gegen Arbeitsverdichtung und Arbeitsdruck und zur Erhöhung der Beschäftigtenzahlen durch die Einführung von Mindestvoraussetzungen für das Krankenhauspersonal. 9 gesetzlich vorgeschrieben 3.3. Die Leiharbeitsbranche Im Jahr 2013 waren über 839 000 Leiharbeitskräfte bei etwa 17 700 Verleihbetrieben beschäftigt (Bundesagentur für Arbeit 2014a). Seit Mitte der 2000er Jahre ist ein deutlicher Zuwachs an Leiharbeit zu verzeichnen, die Zahl der Leiharbeitsbeschäftigten hat sich seitdem beinahe verdoppelt. Nach einem substanziellen Rückgang der Beschäftigtenzahlen im Krisenjahr 2009 ist die Anzahl der Beschäftigten wieder stark gestiegen und erreichte mit einer Zahl von 878 000 Beschäftigten im Jahr 2012 ihren Höhepunkt. Bezogen auf den gesamten Arbeitsmarkt ist die Bedeutung von Leiharbeit eher begrenzt, nur ein Anteil von 2,5% der sozialversicherungspflichtigen Gesamtbeschäftigung zählt zu diesem Bereich. Zu beachten ist jedoch eine starke Konzentration auf Sektoren. So arbeiten etwa 30 % aller Leiharbeitsbeschäftigten in der Metallindustrie. Insgesamt betrachtet hat die signifikante Zunahme der Leiharbeit seit Mitte der 2000er Jahre – zumindest in einigen Sektoren – zu einem fundamentalen Wandel der Rolle und der Bedeutung der Leiharbeit geführt (Holst u.a. 2009; Holst 2014, IG Metall 2012). Während vormals die Leiharbeit eher als Instrument gehandhabt wurde, um saisonale Fluktuationen auszugleichen, wird sie in letzter Zeit zunehmend als dauerhaftes Instrument eingesetzt, um Arbeitskosten zu sparen. Entsprechend der Ergebnisse einer Studie des IAB haben etwa die Hälfte der neu geschaffenen Leiharbeitsstellen zu einer Ersetzung regulärer Beschäftigung geführt (Jahn und Weber 2013). Weil die Lohndifferenzen zwischen Leiharbeitnehmern und regulär Beschäftigten in den letzten Jahren relativ hoch geblieben sind bzw. sich in einigen Sektoren sogar noch erhöht haben, wurde die Debatte über Leiharbeit zunehmend kritisch geführt, was in der Folge zu bestimmten Re-Regulierung in diesem Sektor beigetragen hat. Drei wichtige Änderungen wurden bereits 2012 eingeführt: Erstens die Einführung eines allgemein verbindlichen Mindestlohnes für Leiharbeit und zweitens die Einführung der sogenannten „Drehtürklausel“, die es innerhalb einer Frist von sechs Monaten verbietet, einen vormals regulär Beschäftigten zu schlechteren Bedingungen als Leiharbeitsbeschäftigten wieder einzustellen. Drittens die Verpflichtung von Entleihbetrieben, Leiharbeitsbeschäftigte über offene Stellen in ihrem Betrieb zu informieren, um deren Chancen auf eine reguläre Beschäftigung zu erhöhen. Weiterhin hat die derzeitige Regierungskoalition der Wiedereinführung einer Höchstüberlassungsdauer von 18 Monaten bereits zugestimmt. Zudem ist die Einführung des Gleichbehandlungsgrundsatzes hinsichtlich des Lohnes und der Arbeitsbedingungen nach einer Überlassungsdauer von neun Monaten im gleichen Betrieb geplant, ohne die Möglichkeit, diesen Grundsatz durch Tarifvereinbarungen zu unterlaufen. 10 Ein wesentlicher Grund dafür, dass Leiharbeit häufig als prekäre Beschäftigung betrachtet wird, ist der hohe Grad an Instabilität und Unsicherheit. Fast die Hälfte aller Leiharbeitsbeschäftigungen haben eine Dauer von unter drei Monaten (Bundesagentur für Arbeit 2014b). Nur ein Fünftel der Leiharbeitsbeschäftigen werden länger als ein Jahr in ein und demselben Enteihbetrieb beschäftigt. Die hohe Fluktuation geht einher mit einem hohen Arbeitslosigkeitsrisiko: Das Risiko, arbeitslos zu werden, ist bei Leiharbeitsbeschäftigten fast fünfmal so hoch wie bei regulär Beschäftigten (Bundesagentur für Arbeit 2014b). Außerdem tragen die nach wie vor eklatanten Lohndifferenzen zwischen Leiharbeitnehmern und regulär Beschäftigten zu einer Erhöhung des Prekaritätsrisikos bei: Entsprechend der Angaben der Bundesagentur für Arbeit betrug der durchschnittliche Lohn eines Leiharbeitsbeschäftigten Ende 2013 nur 57,4% des durchschnittlichen Lohnes eines regulär Beschäftigten (Bundesagentur für Arbeit 2014b). Vor dem Hintergrund eines im Vergleich zu regulärer Beschäftigung erhöhten Prekaritätsrisikos wurden von den Gewerkschaften häufig Forderungen nach stärkeren Restriktionen laut, um zumindest den Einsatz von Leiharbeit als Instrument des Lohndumpings und die Ersetzung regulärer Stellen durch Leiharbeit zu verhindern. Neben der Forderung nach stärkeren Restriktionen haben die Gewerkschaften einen Schwerpunkt auf die Verbesserung der Arbeitsbedingungen der Leiharbeitsbeschäftigten gelegt. Seit 2003 haben alle Gewerkschaften, die dem Deutschen Gewerkschaftsbund (DGB) angehören, gemeinschaftlich Tarifverträge mit den größten Arbeitgeberverbänden der Leiharbeitsbranche, dem Bundesarbeitgeberverband der Personaldienstleister (BAP) und Interessenverband Deutscher Zeitarbeitsunternehmen (iGZ) abgeschlossen. Obwohl die Tarifbindung in der Leiharbeitsbranche mittlerweile über 90% beträgt, wurde 2012 ein sektoraler allgemeinverbindlicher Mindestlohn eingeführt. In 2014 betrug der Mindestlohn in der Leiharbeitsbranche 8,50 Euro pro Stunde im Westen Deutschlands und 7,81 Euro im Osten. Rückblickend haben die seit 2003 mit den Arbeitgebern der Leiharbeitsbranche vereinbarten Tarifverträge nicht Leiharbeitsbeschäftigten dazu und beitragen regulär können, Beschäftigten die Differenzen hinsichtlich von zwischen Löhnen und Arbeitsbedingungen deutlich zu reduzieren. Im Jahr 2008 hat die IG Metall deshalb eine breite Kampagne für die Reaksierung des Gleichbehandlungsgrundsatzes in der Metallindustrie initiiert (Initiative Leiharbeit fair gestalten: Gleiche Arbeit - Gleiches Geld (http://www.gleichearbeit-gleichesgeld.de). Später folgten andere Gewerkschaften wie die Vereinte Dienstleistungsgewerkschaft, ver.di (http://www.hundertprozentich.de/) oder die IG 11 Bergbau, Chemie, Energie, IG BCE (https://www.igbce.de/themen/leiharbeit-werkvertraege/) mit ähnlichen Initiativen. Ein wesentliches Ergebnis dieser Kampagne war, dass die Gewerkschaften in der Metallindustrie mehr als 1200 Vereinbarungen zur Leiharbeit auf der Unternehmensebene für einen Zeitraum von vier Jahren abschließen konnten (Meyer 2013: 294). Diese so genannten “Besser-Vereinbarungen” haben deutlich zur Verbesserung der Arbeitsbedingungen in den Entleihbetrieben beigetragen, indem diese sich verpflichteten, nach einer bestimmten Überlassungsdauer den Leiharbeitsbeschäftigten einen Zuschlag zu zahlen. Diesem Beispiel folgend wurde die Situation der Leiharbeitsbeschäftigten zu einem Kernthema der Tarifverhandlungsrunden ab 2102. Schließlich wurden zwischen November 2012 und Juli 2013 neue Kollektivvereinbarungen zur Leiharbeit in insgesamt elf Sektoren geschlossen. Diese Kollektivvereinbarungen über sektorspezifische Zuschläge für Leiharbeitsbeschäftigte sind für die Gewerkschaften ein wichtiger Schritt zur Verbesserung der Arbeitsbedingungen der Leiharbeitsbeschäftigten. Nach wie vor ist das Ziel der Gleichbehandlung jedoch nicht erreicht. Die geschlossenen Vereinbarungen über Zuschläge sind nur für die Leiharbeitsbeschäftigten in den entsprechenden Sektoren gültig. Deshalb halten die Gewerkschaften ihre Forderung aufrecht, das Arbeitnehmerüberlassungsgesetz so zu ändern, dass eine Gleichbehandlung zwischen Leiharbeitnehmern und regulär Beschäftigten ohne Ausnahme garantiert wird. 3.4. Die Bauwirtschaft Die Bauwirtschaft ist einer der größten Arbeitgeber in Deutschland. Allerdings ist die Zahl der Beschäftigten im Bausektor – entgegen des Trends in der Gesamtwirtschaft - gesunken. Während im Jahr 1995 1,4 Millionen Personen im Jahresdurchschnitt im Bauhauptgewerbe beschäftigt waren, waren es im Jahr 2014 756,000. Im Gegensatz zum branchenweiten Beschäftigungsrückgang steigt die Zahl der Solo-Selbstständigen. Jeder fünfte Beschäftigte in der Bauindustrie ist solo-selbstständig, im Vergleich dazu nur jeder neunte in der Gesamtwirtschaft (Hauptverband der Deutschen Bauindustrie 2014). Das Bauhauptgewerbe wird zunehmend durch kleine Unternehmen dominiert. Während 1995 ungefähr die Hälfte aller Beschäftigten in kleinen Firmen mit 1 - 49 Beschäftigten arbeiteten, waren es 2012 schon zwei Drittel. Das Spardiktat der öffentlichen Hand und die leeren Kassen von Städten und Gemeinden wirken sich unmittelbar auf die Bauindustrie aus: Notwendige Investitionen in die Infrastruktur werden oftmals gekürzt oder gestrichen. Zurückhaltung ist auch bei den privaten Investitionen zu beobachten: Derzeit sind die privaten Investitionen in den Wohnungsbau – 12 gemessen an den Investitionen pro Einwohner Deutschlands in den Wohnungsbau (bei konstanten Preisen) deutlich niedriger als noch in den 1990er Jahren (3270 Euro in 1994 im Vergleich zu 2680 in 2013). Auch nach den Krisenjahren 2008/9 bleibt der ökonomische Druck in der Branche bestehen (Hauptverband der Deutschen Bauindustrie 2014). Die Interessen der Arbeitnehmer der Bauwirtschaft werden durch die IG Bau (Industriegewerkschaft Bauen – Agrar – Umwelt) vertreten, einer Mitgliedsgewerkschaft des Deutschen Gewerkschaftsbundes (DGB). Auf der Arbeitgeberseite gibt es zwei Dachorganisationen, den Zentralverband des deutschen Baugewerbes, der die Interessen des Handwerks vertritt, und den Hauptverband der Deutschen Bauindustrie (HDB). Die Bauwirtschaft stellt hinsichtlich der industriellen Beziehungen eine Besonderheit dar: Schon kurz nach dem zweiten Weltkrieg wurde von den Arbeitgebern und den Arbeitnehmern ein gemeinsamer Sozialfonds (SOKA Bau) eingerichtet. Seit 1949 bietet die SOKA Bau speziell auf die Bauwirtschaft zugeschnittene Dienstleistungen an. Unter dem Dach der SOKA Bau sind eine Urlaubs- und Lohnausgleichskasse und ein zusätzlicher Rentenfond vereint. Eine weitere Besonderheit besteht darin, dass das Bauhauptgewerbe in Deutschland die erste Branche war, für die ein Mindestlohn vereinbart wurde. Seit 1996 gilt auf der Basis des Arbeitnehmerentsendegesetzes ein branchenweiter Mindestlohn, der für allgemein verbindlich erklärt wurde. Ein vergleichsweise hoher Mindestlohn und der Verbot der Leiharbeit in der Baubranche haben dazu beigetragen, dass Werkverträge als Instrument der Flexibilisierung häufig Anwendung finden. Über Werkverträge werden häufig ausländische Arbeitnehmer für die Dauer eines Auftrags in deutschen Unternehmen eingesetzt. Zwischen 1995 und 2010 wurden etwa 50% der deutschen Arbeitnehmer in der Bauwirtschaft durch Arbeitnehmer ersetzt, die bei Firmen mit Sitz im Ausland beschäftigt waren (Bosch et al 2011: 185). Die Arbeit der entsendeten Arbeitnehmer kann als schlecht bezahlt und unsicher beschrieben werden. Zwar gibt es auf der einen Seite ein umfassendes Regelwerk zum Schutz der entsendeten Arbeitnehmer, auf der anderen Seite aber auch weitreichende Strategien der Arbeitgeber, diese Regeln zu umgehen (Wagner 2014: 14). Neben den Mechanismen zur Eindämmung der Risiken prekärer Beschäftigung wie Kollektivvereinbarungen, insbesondere zum Mindestlohn, und speziellen Regelungen für entsendete Arbeitnehmer spielt deshalb die Kontrolle der Einhaltung der Vereinbarungen und Regelungen eine entscheidende Rolle. Entsprechend zielt die Strategie der IG BAU zur Bekämpfung prekärer Beschäftigung auf eine bessere Kontrolle der Einhaltung gesetzlicher Regelungen und tariflicher Standards. Vor dem Hintergrund der häufigen Auslagerung von Dienstleistungen (in Form von Subunternehmen) und differenzierten Produktionsketten auf den Baustellen liegt ein weiterer Fokus auf der Unterstützung des Prinzips der Generalunternehmerhaftung und den 13 gesetzlichen Regelungen von Mindestarbeitsbedingungen bei der öffentlichen Auftragsvergabe. Weiterhin setzt sich die IG BAU für eine Verbesserung der Arbeitsbedingungen der Beschäftigten mit Migrationshintergrund ein. Hinsichtlich der entsendeten Arbeitnehmer werden zwei verschiedene Strategien verfolgt. Erstens hat sie sich deutlich für gesetzliche Regulierungen zur Angleichung der Arbeitsbedingungen eingesetzt, zweitens hat sie versucht, die ausländischen Arbeitnehmer zu organisieren und ihnen spezielle Dienstleistungen anzubieten (Hardy et al 2012: 358). Im Rahmen verschiedener Projekte (z.B. Projekt „Fair Mobility““) werden ausländischen Arbeitnehmern in Zusammenarbeit mit dem Deutschen Gewerkschaftsbund (DGB) in Form von lokalen Beratungsstellen Unterstützung angeboten. Weiterhin fokussiert die IG Bau auf die Bekämpfung von Scheinselbstständigkeit auf den Baustellen. Sie fordert die Wiedereinführung der Meisterqualifikation als Voraussetzung der Gründung eines Unternehmens in bestimmten Handwerksbereichen der Bauwirtschaft und eine bessere Kontrolle der bestehenden Regelungen insbesondere durch eine Aufstockung der Zahl der Inspektoren auf den Baustellen. 4. Fazit Alle vier der hier betrachteten Branchen (Bauwirtschaft, Gebäudereinigung, Krankenhäuser und Leiharbeit) sind arbeitsintensiv, so dass die Arbeitskosten eine wichtige Rolle bei der Wettbewerbsfähigkeit der Unternehmen spielen. Vor dem Hintergrund eines wachsenden Wettbewerbsdruck steigt für die Unternehmen der Anreiz von atypischer Beschäftigung als einer - in der Regel - "weniger teuren" Option. In allen vier Branchen ist der Anteil atypischer Beschäftigung insgesamt gestiegen. Die Verbreitung der verschiedenen atypischen Beschäftigungsformen und der Dimensionen prekärer Arbeit ist jedoch von Branche zu Branche unterschiedlich. Entsprechend dieser Unterschiede und der verschiedenen gewachsenen Strukturen industrieller Beziehungen zeigen sich deutliche Unterschiede hinsichtlich der gewerkschaftlichen Strategien gegen prekäre Beschäftigung in den jeweils betrachteten Branchen (siehe Tabelle 1). Hauptsächlich werden die folgenden fünf strategischen Ansätze zur Bekämpfung prekärer Beschäftigung verfolgt: Erstens die Veränderungen der Gesetzgebung zur Begrenzung, Verhinderung bzw. Verbot bestimmter Formen prekärer Beschäftigung. Zweitens der Abschluss von Tarifverträgen zur Verbesserung der Arbeits- und Einkommensbedingungen bei prekärer Beschäftigung. Drittens die Kontrolle der Einhaltung und Geltendmachung von gesetzlichen Regulierungen und kollektiven Vereinbarungen. Viertens die gewerkschaftliche 14 Organisierung der prekär Beschäftigten und ihre praktische Unterstützung und Beratung. Fünftens schließlich die Entwicklung und Förderung eines gewerkschaftlichen Konzepts „Gute Arbeit“ als Gegenstück zu prekärer Beschäftigung (Bispinck und Schulten 2013). 15 Tabelle 1: Strategien gegen prekäre Beschäftigung in Deutschland Bauwirtschaft Gebäudereinigung Krankenhäuser Leiharbeit Wirtschaftliche Rahmenbedingungen Arbeitsintensiver Sektor Dominanz von KMU Starker Abschwung in den 2000er Jahren Arbeitsintensiver Sektor Dominanz von KMU Starker Druck von Kundenunternehmen Arbeitsintensiver Sektor Aufteilung in öffentliche gemeinnützige und private gewinnorientierte Anbieter Kommerzialisierung und Privatisierung Arbeitsintensiver Sektor Fokus auf die verarbeitende Industrie Re-Regulierung von arbeitsrechtlichen Bestimmungen Industrielle Beziehungen Bundesweit geltende tarifvertragliche Regelungen Allgemeingültiger branchenspezifischer Mindestlohn Bundesweit geltende tarifvertragliche Regelungen Allgemeingültiger branchenspezifischer Mindestlohn Fragmentiertes Tarifsystem Bundesweit geltende tarifvertragliche Regelungen Allgemeingültiger branchenspezifischer Mindestlohn Ursachen für prekäre Beschäftigung Nichteinhaltung von tariflichen Standards Hoher Anteil von Migranten Auslagerung von Dienstleistungen und differenzierte Produktionsketten Scheinselbstständigkeit Nichteinhaltung von Kollektivvereinbarungen Hoher Anteil von geringfügig Beschäftigten (Mini-Jobs) Niedrige Löhne Hoher Arbeitsdruck Unterbesetzung Auslagerung von Dienstleistungen Hoher Arbeitsdruck Unstete und unsichere Beschäftigung Lohngefälle zwischen Leiharbeitnehmern und regulär Beschäftigten Niedrige Löhne Strategien zur Bekämpfung prekärer Beschäftigung Bessere Überwachung und Kontrolle der Arbeitsbedingungen Verbesserung der Arbeitsbedingungen von Migranten (insbesondere Erhöhung des branchenweiten Mindestlohnes) Praktische Unterstützung für Migranten Generalunternehmerhaftung und Vorgaben im Vergaberecht Bessere Überwachung und Kontrolle der SoloSelbstständigen Bessere Überwachung und Kontrolle der Arbeitsbedingungen Verbesserung der Arbeitsbedingungen von Migranten (insbesondere Erhöhung des branchenweiten Mindestlohnes) Standards für Arbeits- und Servicequalität Politische Forderung der Abschaffung von MiniJobs Begrenzung der Vergabe von Dienstleistungen Tarifverträge für ausgelagerte Beschäftigte Gesetzliche Regelungen für die Mindestbesetzung Rechtliche Restriktionen und Grenzen der Nutzung von Leiharbeit Forderung nach der Umsetzung der Gleichbehandlung von Leiharbeitern und regulär Beschäftigten Quelle: Eigene Zusammenstellung der Autoren Im Bausektor bestehen relativ umfassende gesetzliche und tarifvertragliche Regulierungen zum Schutz der Arbeitsbedingungen, allerdings auch Möglichkeiten, diese etwa durch den Einsatz von atypischen Arbeitsverhältnissen vor allem in Form von Solo-(Schein)selbstständigkeit zu umgehen. Die gewerkschaftlichen Strategien fokussieren deshalb deutlich auf der Bekämpfung von Umgehungsstrategien und der Kontrolle der Einhaltung und Geltendmachung von gesetzlichen Regulierungen und kollektiven Vereinbarungen. 16 Im Krankenhausbereich gewinnt vor dem Hintergrund der zunehmenden Privatisierung und Kommerzialisierung und des Kostenwettbewerbs zwischen den Betreibern das Problem der Prekarisierung der Arbeitsbedingungen insbesondere des Pflegepersonals in Form von vergleichsweise geringer Entlohnung und eines steigenden Arbeitsdrucks an Bedeutung. Neben Kampagnen gegen prekäre Beschäftigung in Krankenhäusern besteht die gewerkschaftliche Strategie hier vor allem darin, die tariflichen Bedingungen der öffentlich betriebenen Krankenhäuser als Standards auch für die privaten und kirchlichen Krankenhäuser zu etablieren. Ebenso wie im Krankenhausbereich steigt auch in dem Bereich der Gebäudereinigung der Druck der Unternehmen Wettbewerbsvorteile durch die Reduzierung von Arbeitskosten zu erzielen. In diesem Bereich ist die atypische Beschäftigung die Regel: Mehr als die Hälfte aller zumeist weiblichen Beschäftigten arbeiten in einem Minijob. Vor diesem Hintergrund ist eines der Hauptziele der gewerkschaftlichen Strategien zur Bekämpfung prekärer Beschäftigung die Begrenzung des Einsatzes dieser Beschäftigungsform. Ähnlich wie im Baubereich liegt auch in der Gebäudereinigung ein Schwerpunkt auf der Geltendmachung und Kontrolle der Einhaltung von Kollektivvereinbarungen. Ein weiterer Schwerpunkt liegt – häufig in Kooperation mit den Arbeitgebern – in der Garantie von Servicequalität und der Einhaltung von Arbeitsstandards. In der Leiharbeitet ist in den letzten Jahren vor dem Hintergrund nach wie vor bestehender deutlicher Lohndifferenzen zwischen Leiharbeitnehmern und regulär Beschäftigten angeführt von den Gewerkschaften eine zunehmend kritische Debatte geführt worden. Dies dürfte zu den in den letzten Jahren eingeführten Maßnahmen der Re-Regulierung in diesem Sektor beigetragen haben. Ein wesentlicher Erfolg von gewerkschaftlichen Kampagnen ist weiterhin die Vereinbarung von Zuschlägen für Leiharbeitsbeschäftigte in bestimmten Sektoren. Da nach wie vor das Ziel der Gleichbehandlung jedoch nicht erreicht ist, halten die Gewerkschaften ihre Forderung aufrecht, das Arbeitnehmerüberlassungsgesetz so zu ändern, dass eine Gleichbehandlung zwischen Leiharbeitnehmern und regulär Beschäftigten ohne Ausnahme garantiert wird. Insgesamt lässt sich festhalten, dass die vielfältigen gewerkschaftlichen Aktivitäten und Kampagnen dazu beigetragen haben, das Bewusstsein für die negativen ökonomischen und sozialen Folgen prekärer Beschäftigung zu schärfen. Damit haben sie dazu beigetragen, den Weg für eine sozialere Gestaltung und einer „Neuordnung“ des Arbeitsmarktes zu ebnen. 17 Literatur: Bispinck, Reinhard und Schulten, Thorsten (2013): Trade union strategies against precarious employment in Germany, WSI Diskussionspapier Nr. 178, Düsseldorf. Böhlke, Nils; Gerlinger, Thomas; Mosebach, Kai; Schmucker, Rolf und Schulten, Thorsten (eds.) (2009): Privatisierung von Krankenhäusern. Erfahrungen und Perspektiven aus Sicht der Beschäftigten, Hamburg: VSA. Bosch, Gerhard, Kalina, Thorsten and Weinkopf, Claudia (2012): Wirkungen der Mindestlohnregelungen in der Gebäudereinigung, Journal for Labour Market Research 45 (3/4), S. 209-231. Bosch Gerhard, Weinkopf, Claudia und Worthmann, G. 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