Gymnasium Melle Grönenberger Str. 41 49324 Melle Jahrgang 12 Abiturjahrgang 2000 Facharbeit im Leistungskurs Politik Volksentscheide in der Schweiz – Lehren für Deutschland Fachlehrer: Herr Westphal Bearbeitungszeit: sechs Wochen Abgabetermin: 24.03.1999 Note: _____________ Punktzahl: _____________ (Unterschrift des Kursleiters) Inhaltsverzeichnis 1. Einleitung Seite 01 2. Das politische System der Schweiz Seite 01 2.1 Der Überbau 2.1.1 Die Legislative 2.1.1.1 Der Nationalrat 2.1.1.2 Der Ständerat 2.1.2 Die Regierung 2.1.2.1 Aufgaben der Regierung 2.2 Der Unterbau 3. Das Referendum – Merkmal direkter Demokratie Seite 05 3.1 Das obligatorische Referendum 3.2 Das Notrecht 3.3 Das fakultative Referendum 3.4 Die Volksinitiative 4. Plebiszitäre und direktdemokratische Möglichkeiten in Seite 08 Deutschland 5. Der parlamentarische Weg Seite 09 5.1 Politische Aktivität beim Transplantationsartikel 6. Abstimmungsverhalten und Wahlverhalten Seite 11 in der Schweiz 7. Situation der Schweiz – 7.1 Seite 12 Zersetzung der plebiszitären Demokratie Funktioniert die plebiszitäre Demokratie der Schweiz 8. Lehren für Deutschland? Seite 17 Auf dem Weg zur Teilnehmerdemokratie? 8.1 Das Plebiszit in der Verfassung (Stellungnahme) 1. Einleitung „Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus.“1 Mit dieser Zeile weist das Grundgesetz der Bevölkerung ausdrücklich die mächtigste Position im deutschen System zu. Aber wie sieht es in der Verfassungsrealität aus? In Deutschland haben die Parteien die Macht auf sich vereint. Der Bürger besitzt lediglich die Möglichkeit zur Wahl einer Partei, um seinem Willen Ausdruck zu verleihen. Diese Mittel werden von Teilen der Bevölkerung als unzureichend bezeichnet. In der Aktivbürgerschaft wächst der Wunsch nach plebiszitärer Demokratie, wie sie in der Schweiz seit über 120 Jahren praktiziert wird. Doch was ist das Besondere an diesem politischen System im Alpenstaat? Auf diese Frage soll der erste Teil der Facharbeit eine ausführliche Antwort bieten. Die Beschreibung und Erklärung des politischen Alltags in der Schweiz dient dem Verständnis von Handlungsabläufen und zeigt die politische Kräfteverteilung zwischen Volk und Parlament. Die weitläufigen Eingriffsmöglichkeiten der Aktivbürger sind in der Form in keiner anderen Verfassung der Welt bekannt. Der zweite Teil der Facharbeit beschäftigt sich mit der Frage, welche Probleme die Referendumspolitik in der Schweiz und auf der Landesebene in Deutschland aufwerfen. Hier stellt sich die Frage nach der Funktionalität des politischen Systems. Zur Zeit wird im Schweizer Parlament über eine Verfassungsrevision diskutiert, um die besondere Problematik der sinkenden Wahlbeteiligung und der steigenden Flut von Referenden und Volksinitiativen zu überdenken. Neben der Kritik am Schweizer System soll abschließend geprüft werden, inwieweit eine Übertragung oder Erweiterung der Partizipationsmöglichkeiten auf Deutschland möglich ist. Im Mittelpunkt steht die Diskussion, ob das Plebiszit eine Machterweiterung des Volkes oder eine Ergänzung der Parteienpolitik darstellt. 2. Das politische System der Schweiz Zur Beschreibung des politischen Systems der Schweiz dient die Einteilung in drei Elemente der staatlichen Aktivität, und zwar dem Überbau, dem Zwischenbau und dem Unterbau. Der Überbau vereinigt das Parlament, die Regierung, die Verwaltung und die Justiz. Diese Behörden werden auch als offizielle Institutionen bezeichnet. Im Zwischenbau werden die weniger offiziellen Institutionen wie das gesamte Medienwesen und die Verbände, aber auch das gesamte Parteienspektrum zusammengefaßt. Den Unterbau und somit die Basis stellt auch hier dem Demokratieprinzip entsprechend das Volk dar. Die Zusammenfassung der politischen Akteure bildet das politische System. 2.1 Der Überbau Die Schweiz praktiziert ebenfalls wie die Bundesrepublik Deutschland die Gewaltenteilung in Legislative (Gesetzgebung), Exekutive (Vollzugsbehörde) und Judikative (Gerichtsbarkeit). Neben dieser horizontalen Gewaltenteilung existiert zusätzlich eine von föderalistischen Ideen geprägte vertikale Gewaltenteilung. Diese bietet dem Bürger die Möglichkeit, auf Kommunal, Kantonal- und Bundesangelegenheiten differenziert Einfluß auszuüben. Volksvertretungen gibt es auf allen politischen Stufen außer auf der Ebene der Gemeindeversammlungen und Landsgemeinden. Hier gestalten die Aktivbürger2 direkt und 1 2 Artikel 20 (2) Grundgesetz. Definition: Die Aktivbürgerschaft will nicht nur gelenkt werden, sondern aktiv mitlenken. Sie entwickelt ein persönliches Interesse, das Allgemeininteresse mitzubestimmen. unmittelbar die Politik der Gemeinde, womit eine Versammlung von Vertretern des Volkes überflüssig wird. Diese politische Aktivität wird nur durch die Grösse der Gemeinden mit weniger als 10.000 Einwohnern möglich und effektiv. In fünf Kantonen, nämlich Ob- und Nidwalden, in Alpenzeller-Außerrhoden und in Alpenzeller-Innerrhoden, sowie in Glarus wird diese praktizierte Form der direkten Demokratie in der Landsgemeinde unter freiem Himmel und mit einer feierlichen Zeremonie begangen. Neben der Wahl der kantonalen Regierung und der Richter werden vom Volk auch die wichtigsten Angelegenheiten des Kantons beschlossen. Da diese Form der direkten Demokratie in bevölkerungsstärkeren und weitläufigeren Kantonen, sowie im Bund nicht durchführbar ist, wird auf andere Partizipationsformen zurückgegriffen. 2.1.1 Die Legislative Der Aufbau der Volksvertretungen wird in Städten und Kantonen nach dem Einkammersystem verwirklicht, das heißt, es gibt nur eine Kammer, welche für die Gesetzgebung zuständig ist. Auf Bundesebene herrscht das Zweikammersystem, das heißt die Legislative, die sogenannte Bundesversammlung, besteht aus zwei völlig gleichgestellten Kammern, dem Nationalrat und dem Ständerat. Dieses Zweikammersystem ist vergleichbar mit dem deutschen Bundestag und dem Bundesrat, da ebenfalls eine Aufspaltung der Legislative vorliegt. In der Schweiz spiegeln sich durch diese Teilung der Parlamentsgewalt zwei Ideen wider. Zum einen soll eine Vertretung der Nation als Ganzes im Nationalrat und eine kantonsspezifische Vertretung im Ständerat3 geschaffen werden. Zum anderen stellt der Ständerat ein Gegengewicht zum Nationalrat dar. Diese Funktion des Ständerates soll später genauer ausgeführt werden. 2.1.1.1 Der Aufbau des Nationalrats Der Nationalrat der Schweiz hat 200 Mitglieder, die von den stimm- und wahlberechtigten Bürgern nach den Prinzipien des allgemeinen, gleichen, geheimen und direkten Wahlrechts gewählt werden. Die Verteilung der Nationalratssitze auf die Kantone erfolgt nach deren Bevölkerungsstärke. Somit kommt es zu einer gleichmäßigen Verteilung der 200 Sitze auf die Bevölkerung, dies entspricht ungefähr einem Sitz auf 35.000 Einwohner. Durch den Umfang des Nationalrates ist es nur schwer möglich, rationell und leistungsfähig zu arbeiten, zu diesem Zweck wurden Unterorganisationen des Parlaments einberufen, die sogenannten Kommissionen. Ihre Aufgabe besteht in der Ausarbeitung und Vorberatung des Rates in Sachfragen. Häufig trifft eine Kommission sogar Entscheidungen selbständig und es kommt dann zu keiner weiteren Prüfung durch das Plenum. Jedoch kann es in bestimmten Fällen zu Abstimmungen über Kommissionsentscheide kommen, diese können allerdings zu großen Debatten führen, wodurch sie eher selten sind. Zwischen den Kommissionen wird unterschieden in ständige und nichtständige Kommissionen. Zu den ständigen Kommissionen des Nationalrats gehören unter anderem die Finanzkommission (FK), die Außenpolitische Kommission (APK), die Kommission für Rechtsfragen (RK) und die Kommission für Wirtschaft, Bildung und Kultur. Da die Kommissionen nur aus kleinen Gruppen von Parlamentariern bestehen und große politische Macht vereinen, sind die Sitze in den wichtigen Kommissionen sehr begehrt. Jürg Martin 3 Der Ständerat repräsentiert jedoch nicht die Interessen der Kantonsregierungen! Gabriel behauptet diesbezüglich, „Der Einfluß eines Parlamentariers ist immer an der Natur seiner Kommissionssitze abzulesen.“ 2.1.1.2 Aufbau des Ständerats In den Ständerat, der auch als föderative Kammer bezeichnet wird, entsendet jeder Kanton zwei Repräsentanten und jeder Halbkanton4 ein Mitglied. 39 Mitglieder werden gleichzeitig mit dem Nationalrat gewählt, die übrigen werden von den Volksversammlungen zu unterschiedlichen Zeiten direkt in den Ständerat entsendet. Die Notwendigkeit des Ständerates wird deutlich, wenn man die Verteilungsverhältnisse der Sitze im Nationalrat betrachtet: Die fünf bevölkerungsstärksten Kantone vereinnahmen 105 der 200 Sitze. Somit könnten die oben genannten Kantone die restlichen 21 Kantone ohne Schwierigkeiten überstimmen. Dieses würde zu einem Machtkonzentration zugunsten der grossen Kantone führen. Entgegen der ungleichen Verteilung der Sitze im Nationalrat herrscht im Ständerat ein umgekehrtes Verhältnis, denn bei den kleineren Kantonen gibt es eine Überbewertung. 11½ bevölkerungsarme Kantone besitzen 23 Stimmen der 46 Gesamtstimmen, somit kann jegliche Mehrheit der großen Kantone gebrochen werden. Vielmehr haben bereits die 12 kleinsten Kantone, mit einer Bevölkerungspräsenz von 20% der Gesamtbevölkerung eine Mehrheit im Ständerat und können so ihre kantonsspezifischen Themen in die Bundespolitik einbringen. Die Bundesversammlung (Stände- und Nationalrat) erfüllt die Aufgaben der Legislative, das heißt der Gesetzgebung. Die nachfolgend aufgezählten Geschäfte werden von beiden Räten behandelt und verabschiedet: - Beschluß der Gesetze (vorbehalten bleibt das fakultative Referendum) Beschluß von Verfassungsänderungen (obligatorisches Referendum) Abnahme der jährlichen Staatsrechnung Oberaufsicht über die Verwaltung Genehmigung der Verträge mit ausländischen Staaten Garantie der Verfassungen und der Gebiete der Kantone Verfügung über Bundesheer, Kriegserklärung und Friedensschlüsse und Behauptung der Unabhängigkeit und Neutralität der Schweiz. Der Ablauf der Geschäfte wird im Abschnitt das parlamentarische Verfahren ausführlich beschrieben. Unter besonderen Umständen, zum Beispiel bei Wahlen, bei der Ausübung des Begnadigungsrechtes und bei Kompetenzstreitigkeiten zwischen Bundesbehörden vereinigen sich beide Räte unter der Leitung des Nationalratspräsidenten zu einer gemeinschaftlichen Verhandlung. 2.1.2 Die Regierung Die Exekutive auf der Bundesebene wird als Bundesrat bezeichnet. Sie wird von der Bundesversammlung für vier Jahre gewählt und ist nach dem Grundsatz der Kollegialität organisiert. Dies bedeutet, daß die verschiedenen Ratsmitglieder die Aufgabe des Regierens gemeinsam übernehmen. 4 Halbkantone sind Appenzell-Außerrhoden und Appenzell-Innerrhoden, Basel-Stadt und Basel-Land, sowie Obwalden und Nidwalden. Sie entsenden je einen Abgeordneten in den Ständerat. Zu den Aufgaben des Bundesrats gehört die gemeinsame Beratung und Entscheidung, einheitliche Vertretung des Entscheids nach aussen und Haftung für die Folgen des Entscheids. Doch zunächst soll der Aufbau des Bundesrats aufgezeigt werden. Der Bundesrat besteht aus sieben Ratsmitgliedern, deren parteipolitische Zusammensetzung nach der sogenannten „Zauberformel“ erfolgt. Die Zauberformel gibt die Zusammensetzung des Bundesrates nach der landesweiten Stärke der Parteien wieder. Nach diesem Schlüssel verteilen sich seit 1959 die sieben Sitze konstant auf die vier grossen Parteien. Zwei Sitze erhalten die Sozialdemokraten, die Christlichdemokraten und die Freisinnig-Demokraten. Den letzten Sitz belegt die Schweiz. Volkspartei. Diese Verteilung der sieben Sitze in der Regierung nach der Stärke der Partei bezeichnet man auch als Regierungsproporz (von proportionaler Verteilung der Regierungssitze). Im Nationalrat verfügen diese vier Regierungsparteien seit 1996 über 167 von 200 Sitzen und im Ständerat über 43 der 46 Sitze. Somit stützt sich die Regierung auf eine breite Basis im Parlament, weshalb auch von einer „permanente[n] ‚große[n] Koalition‘ “5 spricht. Da es sich in der Schweiz um eine Kollegialregierung handelt, gibt es keinen Regierungschef. Die Räteregierungen auf allen Ebenen kennen nur einen Vorsitzenden6, der sich durch Kompetenzerweiterungen auszeichnet, zum Beispiel übernimmt der Vorsitzende die Leitung der Sitzung des Rates und ist Repräsentant des Rates in der Öffentlichkeit. Jedoch bleibt er Erster unter Gleichen („primus inter pares“7). Der Bundespräsident wird nach einem Rotationsprinzip gewählt, in welchem die Vereinigte Bundesversammlung (National- und Ständerat) ein Bundesratmitglied für die Dauer eines Jahres zum Bundespräsidenten ernennt. Ein Kandidat ist gewählt, sobald er mehr als die Hälfte der Stimmen erreicht (absolutes Mehr). 2.1.2.1 Die Aufgabe der Regierung im System Die ursprüngliche Aufgabe der Regierung war die Ausführung von parlamentarischen Beschlüssen und Gesetzen8. Dies ist auch noch heutzutage die wichtigste Aufgabe der Regierung in der Schweiz geblieben. Ihre Entscheidungsfähigkeit wird auch als Vollzugskompetenz bezeichnet, zu diesen Angelegenheiten gehören unter anderem die Geschwindigkeitsbegrenzung auf Straßen. In der Schweiz werden die Vollzugsangelegenheiten auf die einzelnen Bundesräte direkt verteilt in sogenannte Departements, ohne dafür weitläufige Ministerien aufzubauen wie in Deutschland. Die Sekretariatsaufgaben (Sitzungsvorbereitungen, Protokollführung, Zeitplanung und Folgearbeiten) einer Regierung werden von der Kanzlei erledigt. Diese Kanzlei existiert auf allen politischen Ebenen. Der Bund hat eine Bundeskanzlei mit einem Bundeskanzler und zwei Vizekanzlern. In der Schweiz ist es wie in der Bundesrepublik Deutschland zu einer Gewaltenvermischung zwischen Legislative und Exekutive gekommen. So erarbeitet die Regierung Vorschläge für Gesetz und Beschlüsse, damit sie bei auftauchenden Fragen und Schwierigkeiten mit Vorschlägen bereitsteht. In der Schweiz steht dem Bundesrat keine Opposition entgegen, da die Regierung im Parlament die überwiegende Mehrheit besitzt. Die Rolle der Opposition übernehmen in der 5 6 7 8 Schulbuch, Schroedel-Verlag, S. 39 (Titel wird nachgereicht) Die Vorsitzenden werden auch als Gemeinde-, Stadt-, Regierungsrats- und Bundespräsidenten betitelt. Gabriel, Jürg Martin. Das politische System der Schweiz, Bern: Haupt, 1997; Seite 74. vgl. Schweizer Verfassung Art. 102. Bundesrepublik Deutschland die Parlamentarier, die nicht an der Regierung teilnehmen (Konkurrenzdemokratie). In der Schweiz ist die Rolle der Opposition eindeutig dem Aktivbürger zugeschrieben. Diese Art der Überwachung der Regierung durch den Bürger nennt man Konkordanzdemokratie9. 2.2 Der Unterbau – Kontrollorgan des Parlaments Bei der Beschreibung des Überbaus, der die meiste politische Aktivität ausübt, ist deutlich geworden, daß der Exekutive ein Kontrollorgan fehlt, welche die Vorhaben des Bundesrates überwacht. Beim Vergleich der deutschen Konkurrenzdemokratie mit der Schweizer Konkordanzdemokratie stellt man fest, daß die Rolle der Opposition auf unterschiedliche Weise verwirklicht wurde. In Deutschland liegt die Opposition im Parlament zwischen den politischen Blöcken, also auf der gleichen Ebene (horizontal). Dagegen herrscht in der Schweiz eine vertikale Opposition, die resultiert aus der Großkoalition in der Bundesversammlung und der mit politischen Interventionsmöglichkeiten ausgestatteten Aktivbürgerschaft. Diese Volksrechte sind in der Verfassung garantiert. Die Schweiz kennt drei Formen der politischen Beteiligung des Volkes in Sachfragen. 3. Das Referendum – Merkmal direkter Demokratie Ein Referendum ist eine andere Bezeichnung für den Volksentscheid. Darunter versteht man Einsprachen der Aktivbürgerschaft oder anderer Interessensgruppen gegen Gesetzesvorlagen auf alle staatlichen Ebenen. Das Volk besitzt die Möglichkeit, direkt in die Politik der Bundesversammlung und des Bundesrates einzugreifen. Diese Eingriffsmöglichkeiten sind auf allen politischen Ebenen der Schweiz bekannt. Das Referendum stellt somit einen wichtigen Punkt im parlamentarischen Verfahren10 dar und wird deshalb oft als Souverän bezeichnet. 3.1 Das „obligatorische Referendum“ Im Gegensatz zum „fakultativen Referendum“ muß bei dem obligatorischen Referendum, dem Volk das Gesetz ohne Zulassungsbedingungen wie eine Unterschriftensammlung zur Abstimmung überlassen werden. Dem obligatorischen Referendum ist im Bund in erster Linie jede Verfassungsänderung unterstellt. Notwendig macht diese Hürde für das Inkrafttreten von derartigen Veränderungen die Wichtigkeit sowie die grundsätzlichen Bestimmungen über Aufbau und Zweck des Schweizer Staates. Die Schweizer Verfassung schreibt das obligatorische Referendum für eine weitere politische Maßnahme vor, denn nach Artikel 89 (5) untersteht „Der Beitritt zu Organisationen für kollektive Sicherheit oder zu supranationalen Gemeinschaften [...] der Abstimmung des Volkes und der Stände.“ In diesem Verfassungsausschnitt wird ein Sicherheitssystem erwähnt, welches zum Schutz der kleineren Kantone gedacht ist. So ist neben der Abstimmung des Volkes auch die Abstimmung der Kantone vorgeschrieben. Um eine Verfassungsänderung oder einen Beitritt zu einer internationalen Sicherheitsorganisation per Referendum durchzusetzen, genügt es nicht, daß die stimmberechtigte Bevölkerung mehrheitlich „ja“ sagt; sondern zusätzlich wird 9 Definition: Die überwiegende Mehrheit des Parlaments ist in der Regierung vertreten (Großkoalition), weshalb eine klare Opposition oder ein Machtwechsel unmöglich ist. 10 siehe Kapitel 5 ebenfalls eine zustimmende Mehrheit der Kantone verlangt. Die mehrheitliche Zustimmung des Volkes wird als „Volksmehr“ und die der Kantone als „Ständemehr“ bezeichnet. In der Schweiz ist die Zahl und das Interesse des Volkes an obligatorischen Referenden stark zurückgegangen, da es sich oft um komplizierte und komplexe Gesetzesmaterie handelt. Dies ist besonders in der Höhe der Wahlbeteiligungen sichtbar. 3.2 Das Notrecht Bei dem Notrecht handelt es sich um Bundesbeschlüsse, die dem Volk wie bei dem obligatorischen Referendum zur Abstimmung gestellt werden müssen. Jedoch kann die Bundesversammlung in Notlagen Gesetze erlassen, „[...], welche sich nicht auf die Verfassung stützen, [...]“11. Solche Entscheidungen tragen auch den Titel „allgemeinverbindliche dringliche Bundesbeschlüsse ohne Verfassungsgrundlage“12. Sie müssen innerhalb eines Jahres vom Volk und den Ständen genehmigt werden, ansonsten treten sie ohne Erneuerungsmöglichkeit ausser Kraft. Ein Beispiel für die Anwendung des Notrechts ist der Eingriff des Bundesrates in die überhitzte Wirtschaft in den 70er Jahren mit der Verhängung von Baustopps und einer Preisüberwachung der Wirtschaft. 3.3 Das „fakultative Referendum“ – wichtiges Instrument der Bevölkerung Auch das fakultative Referendum stellt ein politisches Werkzeug für die Aktivbürger dar, um die plebiszitäre Demokratie der Schweiz mitzugestalten. Im Gegensatz zum obligatorischen Referendum gibt es beim fakultativen Referendum nicht die Vorschrift der Verfassung, eine Abstimmung herbeizuführen. Das politisch aktive Volk oder Interessensgruppen haben die Möglichkeit, über sämtliche „gewöhnlichen Gesetze“, das heißt alle Gesetze, die nicht Verfassungsgesetze und nicht Notrecht sind, eine Abstimmung zu veranlassen. Zu diesen Gesetzen gehören zum Beispiel die Bundesgesetze wie das Strafrecht, das Zivilschutzgesetz oder das Strassenverkehrsgesetz. Aber auch bestimmte internationale Verträge und der Beitritt des Landes zu internationalen Organisationen können vom Volk erzwungen werden. Das fakultative Referendum ermöglicht also den Eingriff der Bevölkerung in die Hauptaufgaben des National- und Ständerates. Nach der Schweizer Verfassung sind „Bundesgesetze sowie allgemeinverbindliche Bundesbeschlüsse [...] dem Volke zur Annahme oder Verwerfung vorzulegen, wenn es von 50.000 stimmberechtigten Schweizer Bürgern oder von acht Kantonen verlangt wird.“13 Zusammenfassend gibt es eine Bedingung für die Zulassung eines fakultativen Referendums: innerhalb von 90 Tagen nach der Veröffentlichung im Bundesblatt müssen 50.000 Unterschriften der stimmberechtigten Bevölkerung vorgelegt werden. Kritik oder geplante Veränderungen an den Zulassungsbedingungen für das fakultative Referendum oder die mögliche Gefahr eines Mißbrauches durch politische Splittergruppen werden an späterer Stelle genauer ausgeführt. 3.4 Die Volksinitiative - Anregung zur Diskussion Die dritte Möglichkeit der politischen Beteiligung des Volkes oder von Interessengruppen stellt die Volksinitiative (Volksbegehren) dar. Da die Referenden nur bestätigende beziehungsweise verhindernde Wirkung haben, wurde mit der Initiative dem Volk ein Mittel zur Hand gegeben, konstruktiv und selbständig eigene Interessen und Belange in Sachfragen 11 12 13 Schweizer Verfassung Artikel 89 (3) Gabriel, Jürg Martin. Das politische System der Schweiz, Wien: Haupt, 1997; Seite 116. Schweizer Verfassung Artikel 89 (2). in das Parlament14 einzubringen. Sie existiert wie die Referenden auf allen politischen Ebenen der Schweiz. Es gibt zwei Arten von Initiativen. Zum einen können allgemeine Anregungen oder vollständig ausgearbeitete Entwürfe eingereicht werden. Die letztere Variante führt zu einem deutlich schnelleren Entscheidungsprozeß und wird deshalb bevorzugt verwendet. In den Artikeln 120 bis 123 der Schweizer Verfassung werden die Zulassungsbedingungen für eine Volksinitiative aufgeführt: „Die Volksanregung umfasst das von 100.000 stimmberechtigten Schweizer Bürgern gestellte Begehren auf Erlass, Aufhebung oder Abänderung bestimmter Artikel der Bundesverfassung.“15 Kurz gesagt, fordert die Verfassung für eine Volksinitiative, die eine Änderung, Neuformulierung eines bestehenden Artikels oder die Einfügung eines neuen Artikels in der Bundesverfassung möglich macht, die Einreichung von 100.000 Unterschriften von stimmberechtigten Schweizern innerhalb von 18 Monaten. Nach der Einreichung einer Volksinitiative16 auf Kantonsebene werden die Unterschriften von der Staatskanzlei überprüft und an den Kantons- und Regierungsrat weitergeleitet, der nun einen Gegenvorschlag17 der Initiative entgegenstellen kann. In der folgenden Abstimmung stehen beide Möglichkeiten zur Wahl und nicht die Entscheidung über Zustimmung oder Ablehnung. Auf der Bundesebene sind Initiativen formell nur für Verfassungsrevisionen nutzbar. In Artikel 120 der Schweizer Verfassung heißt es, „[...] wenn 100.000 stimmberechtigte Schweizer Bürger die Totalrevision der Verfassung verlangen, [...]“, so hat das Volk über diese Revision zu entscheiden. Bei einer Annahme der Revision sind beide Räte neu zu wählen, um die Totalrevision vorzunehmen. Die Erfolgschancen einer Initiative sind nicht groß, zumal sie häufig nicht die Interessen der Allgemeinheit widerspiegeln. 4. Plebiszitäre und direktdemokratische Möglichkeiten in Deutschland Die Bundesrepublik Deutschland ist eine repräsentative parlamentarische Demokratie. Aus diesem Grund enthält das Grundgesetz keinerlei plebiszitäre Elemente. Eine Ausnahme bildet der Artikel 29 (2) des Grundgesetzes, in dem ein Volksentscheid für eine Neugliederung beziehungsweise ein Zusammenschluß von Bundesländern vorgeschrieben ist. Insofern sollen an dieser Stelle die politischen Beteiligungsformen der Bevölkerung auf der Landesebene (Niedersachsen) dargestellt werden. In den Artikeln 47, 48, 49 und 50 der Niedersächsischen Verfassung, sowie im Volksabstimmungsgesetz vom 23. Juni 1994 werden die Richtlinien für das Plebiszit aufgeführt. Mit einer Volksinitiative können alle wahlberechtigten Bürger Niedersachsens den Landtag zwingen, sich im „im Rahmen seiner verfassungsmäßigen Zuständigkeit mit bestimmten Gegenständen der politischen Willensbildung18“ zu befassen. Für die Zulassung des Volksentscheides sind 70.000 Unterschriften innerhalb eines Jahres einzureichen. Binnen sechs Wochen befaßt sich das Parlament mit der Volksinitiative. 14 Der Initiativweg wird häufig von kleinen Gruppen verwendet, da sie den parlamentarischen Weg aufgrund ihrer dortigen Unterrepräsentanz umgehen. Meistens sind Initiativen nur als Anregungen gedacht. 15 Schweizer Verfassung Artikel 121 (2) 16 Auf der Kantonsebene gelten niedrigere Zulassungsbedingungen. Zum Beispiel für Zürich: 10.000 Unterschriften. Vgl. Art. 29 Kantonsverfassung 17 Schweizer Verfassung Art. 121 (1) 18 § 3 NVAbstG und Artikel 3 Niedersächsische Verfassung. Das Volksbegehren ermöglicht den Aktivbürgern, daß der Landtag aufgrund eines ausgearbeiteten Gesetzentwurfes bestimmte Gesetze erläßt, ändert oder aufhebt. Ausnahmen bilden Gesetzesentwürfe über den Landeshaushalt, öffentliche Ausgaben und Versorgungsbezüge. Für ein Volksbegehren sind Unterschriften von zehn Prozent der Bevölkerung notwendig. Nach der Einreichung des Gesetzesentwurfs in den Landtag entscheidet dieser über die Zulässigkeit. Der durch das Volksbegehren eingereichte Gesetzentwurf wird vom Landtag geprüft und bei einer Ablehnung des Entwurfs oder aber spätestens nach sechs Monaten einem Volksentscheid unterzogen. Ein Gesetz ist durch Mehrheit angenommen, wenn mindestens 25% der Wahlberechtigten (bei Verfassungsänderungen mindestens 50% der Wahlberechtigten) dem Antrag zugestimmt haben. Im Vergleich zur Schweiz zeigt sich deutlich, daß in Deutschland die Bevölkerung durchaus Einfluß auf politische Entscheide nehmen kann. Allerdings erfolgt diese Beteiligung nicht konkret und vorgeschrieben im Vergleich zu den Referenden in der Schweiz. 5. Der parlamentarische Weg in der Schweiz Der parlamentarische Weg läßt sich in drei Stufen einteilen. Er beginnt bei der Regierung und endet nicht selten nach dem Parlament bei der Bevölkerung. Der erste Teil wird als vorparlamentarischer Weg bezeichnet. Die Volksvertreter haben drei Möglichkeiten19 den Bundesrat mit der Ausarbeitung eines Gesetzentwurfes zu beauftragen. Eine vom Bundesrat eingesetzte Expertenkommission erarbeitet den neuen Gesetzentwurf und leitet diesen anschließend an den Bundesrat weiter. Im folgenden parlamentarischen Teil erhalten beide Räte (National- und Ständerat) den Entwurf. In eigenen Kommissionen wird der Gesetzentwurf verändert im Sinne der Kammer. Diese Abänderung in bestimmten Artikeln ist die einzige Möglichkeit des Parlaments auf das Gesetz parlamentarisch Einfluß auszuüben. Im Anschluß empfiehlt der Kommissionspräsident, bei einer vorherigen Mehrheit der Kommissionsmitglieder für den Antrag, die Annahme des Entwurfes im Plenum. Mit dem Beginn der Eintretensdebatte und Detailberatung in den Räten kommt es zu einer erneuten Diskussion und Bearbeitung des Gesetzentwurfs. In der Schlußabstimmung endet die Debatte über den Inhalt des ganzen Gesetzes. Sollten nun in beiden Räten unterschiedliche Änderungen beziehungsweise Fassungen des Gesetzentwurfes vorliegen, kommt es zu einem Differenzbereinigungsverfahren, in dem beide Vorschläge durch Kompromisse vereinheitlicht und festgelegt werden. Im letzten Teil, dem nachparlamentarischen Weg, hat nun das Volk durch seine Partizipationsmöglichkeiten (Referendum) die Möglichkeit, nach den bekannten Bedingungen in der Rolle der Opposition über das Gesetz eine Abstimmung einzuleiten. 5.1 Politische Aktivität beim Transplantationsartikel Als Beispiel für das Handlungsprinzip des Gesetzweges soll der Transplantationsartikel herangezogen werden, über den am 7. Februar dieses Jahres das Schweizer Volk in einem Volksentscheid auf der Bundesebene abgestimmt hat und eine Verfassungsänderung bewirkte. Die gesetzliche Ausgangssituation für die Transplantationsmedizin ist sehr komplex und unzureichend geregelt gewesen. Weder in der Verfassung noch auf der Kantonsebene gab es einheitliche Gesetze. 19 1.) Eine nichtverpflichtende Aufforderung (Postulat) durch die Parlamentarier 2.) Verbindliche Aufforderung durch Mehrheit der Parlamentarier an die Regierung. 3.) Ein Parlamentarier fordert mit Zustimmung beider Räte die Ausarbeitung des Gesetzes. Durch eine einsetzende Diskussion und steigende Aktualität des Themas wurde der Bundesrat mit der Ausarbeitung eines Gesetzentwurfes beauftragt. Im Anschluß erhielt die Bundesversammlung die Gesetzesentwürfe zur weiteren Bearbeitung. Es kommt zu mehreren Vorlagen über die Transplantationsmedizin, in denen die Parlamentarier sich mit einem möglichen Verfassungsentwurf auseinandersetzen. Die besondere Problematik dieses Transplantationsartikels liegt in dem Umfang und Weitläufigkeit des Gesetzes, denn die Verpflanzung von Organen wirft viele Fragen medizinischer, rechtlicher, ethischer und wirtschaftlicher Natur auf. Hauptkritikpunkt in dem vorliegenden Verfassungsartikel ist die Xenotransplantation, welche nach Meinung von Ruth Gonseth20 „im Verfassungstext verschwiegen, jedoch mitgemeint ist“21. Mit der Annahme des Artikels erhielte der Bund die Kompetenz über die Transplantationsmedizin, das heißt über die Transplantation von menschlichen Organen, aber auch über die kritisierte Organverpflanzung von tierischen Organen, Geweben und Zellen auf den Menschen (Xenotransplantation). Weitere Argumente sind die bereits existierenden Regelungen, wie der Schutz der Menschenwürde in der Verfassung und der Verbot des Handels mit Organen. Die aktiven Gesetze bieten nach Ruth Gonseth ausreichend Schutz und politische Regelung. Anhand des Beispiels von der Nationalrätin Ruth Gonseth ist zu sehen, wie die Parlamentarier zum einen im Plenum aber auch in der Öffentlichkeit für jeden zugänglich über die Probleme der Politik diskutieren. Zur weiteren Unterrichtung des Volkes geben die Bundesversammlung und der Bundesrat Stellungnahmen aus, in denen die Probleme und Inhalte des Gesetzentwurfes dargestellt werden. In diesem Fall erklärt das Parlament die Notwendigkeit des Verfassungsentwurfes und verweist auf die spätere Einführung eines Bundesgesetzes, welches die genauere Ausführung, sowie das Problem der Xenotransplantation einheitlich regelt. Abschließend sind in der Stellungnahme die Abstimmungsergebnisse für die Vorlage des Nationalrates und des Ständerates angeführt. Aber auch einzelne Unternehmen und Stiftungen wie Swisstransplant22 publizieren ihre Meinung zu dem Entwurf in der Zeitung, um eine möglichst sachliche Expertenmeinung für das Volk zu geben. Da es sich beim Transplantationsartikel um eine Verfassungsänderung handelt, unterliegt der Abschlußentscheid der Bundesversammlung automatisch der Abstimmung durch die Aktivbürger. Die Ergebnisse der Abstimmungen des Volkes entsprechen den Ergebnissen des National- und Ständerates, welche den Entwurf nur mit wenig Opposition beschließen. Der Souverän stimmte mit 87,8 % für die Annahme des Verfassungsartikels über die Transplantationsmedizin, womit die „Volksmehr“ erreicht wurde. Im Vergleich zu den drei anderen Volksentscheiden vom 7. Februar erzielte der Verfassungsartikel die höchste Zustimmung. In allen Kantonen erhielt der Verfassungsartikel wie auf der Bundesebene eine vergleichbar hohe Zustimmung, womit auch die Bedingung der Ständemehr erfüllt ist. Im Kanton Zürich zum Beispiel betrug die Zustimmung 87,5 % der Stimmen. Neben der Einfassung des Artikels 24 decies in die Verfassung als Grundlage, erarbeitet nun der Bundesrat ein Bundesgesetz zur genaueren Regelung und Ausführung der Bestimmungen. Zusammenfassend verdeutlicht der Transplantationsartikel den Verlauf der Gesetzgebung von der Idee und dem daraus resultierenden Antrag an den Bundesrat mit der Erarbeitung für die abschließende Abstimmung durch das Volk. Das Referendum gibt der Aktivbürgerschaft nach einer ausführlichen Diskussion in der Öffentlichkeit die Möglichkeit, am Ende des parlamentarischen Entscheidungsweges als Opposition einzugreifen. Eine Zustimmung hat 20 Ruth Gonseth ist Ärztin und grüne Baselbieter Nationalrätin. Zeitungsdossier Neue Zürcher Zeitung, 19. Januar 1999 22 Swisstransplant ist eine nationale Stiftung für Organspenden und Transplantationen, die vor dem Verfassungsartikel die Regelung in der Transplantationsmedizin nach internationalen Kriterien formuliert haben. 21 eine bestätigende Wirkung, vermittelt dem Volk aber ansonsten kein politisches Gewicht. Die Ablehnung eines Artikels erzielt eine verhindernde Wirkung, wodurch sich die Aktivbürgerschaft in die Rolle der Opposition zum Parlament und der Regierung stellt. 6. Abstimmungsverhalten und Wahlbeteiligung in der Schweiz Im Verlauf dieser Facharbeit fiel häufiger der Begriff „Aktivbürger“, dessen Definition vom politischen Volk spricht, das nicht gelenkt werden, sondern aktiv bei der Bildung des Allgemeininteresses mitbestimmen will. In der Schweiz sind diese Möglichkeiten der politischen Aktivität konkret in der Verfassung festgelegt und übergeben dem Aktivbürger die Kontrolle des Parlaments und der Regierung. Diese Form der Opposition wird auch als Konkordanzdemokratie bezeichnet. Wenn dem Volk von der Verfassung eine derart große Macht in Gestalt von Referenden zugeschrieben wird, stellt sich nun auch die Frage, inwieweit das Volk diese Möglichkeiten nutzt. Zur Beantwortung dieser Frage soll die Entwicklung der Volksentscheide und die Wahlbeteiligung bei Volksinitiativen betrachtet werden. Die Grafik zeigt eindeutig, daß bei den Nationalratswahlen¹ und bei den eidgenössischen Abstimmungen² ein abfallender Trend vorhanden ist. 1925 lag die Wahlbeteiligung der Aktivbürgerschaft bei 75% bei Nationalratswahlen. Im Gegensatz dazu gehen 1995 nur noch 40% der Bevölkerung zu den Nationalratswahlen. Für dieses Verhalten gibt es unterschiedliche Gründe. Zum einen werden durch die Wahlen in der Schweiz keine entscheidenden Änderungen und Regierungswechsel vollzogen, da es keine Konkurrenz unter den Parteien gibt. Zum anderen schreibt das Volk den Parteien eine geringere Macht zu als in Deutschland. Vielmehr liegt die Macht in bestimmten Sachfragen beim Volk durch die Interventionsmöglichkeiten des Referendums. Das wird in einer Analyse der Parteilandschaft offensichtlich. Seit über 50 Jahren bewegen sich die Stimmenanteile der Parteien auf einem gleichen Niveau, so daß die Bundesratsparteien seit 1959 die Bundesratssitze konstant unter sich aufteilen (Zauberformel). In Vergleich zu Deutschland besitzen die Parteien eine große politische Macht, die sie durch gegenseitige Konkurrenz verteidigen oder erlangen. Bei den eidgenössischen Abstimmungen herrscht ebenfalls ein drastischer Abfall der Stimmbeteiligung, der jedoch deutlich unruhiger verläuft als die Entwicklung bei den Nationalratswahlen. Gründe hierfür sind wie bei den Nationalratswahlen sichtbar, die in den beiden letzten Jahrzehnten einsetzende Politikverdrossenheit. Der Rückgang bei den Abstimmungen ist mit dem steigenden Wohlstand der Bevölkerung zu erklären. Viele Referenden und Volksinitiativen betreffen nur noch eine Minderheit in der Bevölkerung, so daß die restliche Aktivbürgerschaft sich von der Initiative nicht berührt sieht und der Abstimmung fern bleibt. Wenn sich dieser Trend fortsetzt, nimmt das Gewicht der Opposition in der Schweiz weiter ab, da immer weniger Aktivbürger, sich für die Politik und Entscheidungen des Parlaments und des Bundesrats interessieren. 7. Situation der Schweiz – Zersetzung der plebiszitären Demokratie? In der letzten Zeit ist es in der Schweiz immer häufiger zu Diskussionen über das Referendum gekommen. Im Mittelpunkt der Kritik steht vor allem das fakultative Referendum, doch die beiden anderen Interventionsmöglichkeiten der Bevölkerung unterliegen ebenfalls dem Wunsch der Nachbesserung oder Verbesserung. Für das fakultative Referendum wird eine Erhöhung des Quorums23 von 50.000 auf 100.000 Unterschriften gefordert, um zum Beispiel konservativen Gruppen das Referendum als Blockadeinstrument gegen eine generelle oder zu weitläufige Reformpolitik zu nehmen. Ein weiteres Argument für die Erhöhung der benötigten Unterschriften ist die Einbringung von privaten Themen auf alle Ebenen der Politik. Mit dieser Maßnahme soll die Vielzahl der Referenden und Volksinitiativen gebremst und die politische Teilnahme des Volkes auf wichtige und grundlegende Themen gerichtet werden. Grund hierfür sind Plebiszite wie eine Regelung über die Hundekotentfernung24 auf öffentlichem Grund oder Initiativen zur „Deregulierung: Mehr Freiheit – weniger Gesetze!“ Prinzipiell sind 50.000 Unterschriften für das fakultative Referendum dem Basler Nationalökonom Silvio Borner „einfach zu billig geworden“25. Das Quorum hätte an das Bevölkerungswachstum angepaßt werden müssen, um ein gleichbleibendes Verhältnis zwischen der Aktivbürgerschaft und den 50.000 Unterschriften von 1874 zu gewährleisten. Andere Reformer unterbreiten dagegen die Alternative, daß eine Gesetzesvorlage dem Referendum entzogen wird, wenn die Bundesversammlung das Gesetz mit einer 2/3 Mehrheit verabschiedet. Die Volksinitiative erfährt unter den Kritikern und Teilen der Schweizer Bevölkerung eine deutlich positivere Einschätzung, da diesen Weg meistens progressive Minderheiten beschreiten, um eine politische Diskussion auszulösen. Selbst bei einem Scheitern der Initiative ist das Ziel dieser Gruppierungen, das Volk für ein bestimmtes Thema zu sensibilisieren, erreicht. Aus diesem Grund besteht die Forderung in der Öffentlichkeit, die Volksinitiative auf die einfache Gesetzgebung auszuweiten und nicht für Verfassungsänderungen an bestimmten Artikeln bestehen zu lassen. Der Ständerat kritisiert dieses Vorhaben und fordert, das Quorum auf 200.000 Unterschriften zu verdoppeln. Argumente der Bundesversammlung für die Erhöhung der benötigten Unterschriften sind die steigende Belastung der Politik mit Referenden und Volks- initiativen und die Stärkung des Parlaments im Staatswesen. Zusammenfassend zeigt sich, daß in der Schweiz zur Zeit eine schwierige Diskussion herrscht, denn auf der einen Seite versucht das Parlament, sich vor der steigenden Zahl der Interventionen durch die Aktivbürger zu schützen. Zum anderen erringen mächtige Interessenverbände steigenden Einfluß auf die Bevölkerung. Generelle Probleme und die Zukunft des Referendums in der Schweiz sollen im folgenden Kapitel dargestellt werden. 7.1 Funktioniert die plebiszitäre Demokratie der Schweiz? Seit der Verabschiedung der Schweizer Verfassung im Jahr 1874 besitzt das Volk die Möglichkeit in die Politik der Bundesversammlung direkt einzugreifen. Die Schweizer prägten ihre Eingriffsmöglichkeiten mit dem Begriff Konkordanzdemokratie. Nach über 120 Jahren Verfassungstradition stellt sich aber die Frage, ob die Schweiz mit ihrer plebiszitären Demokratie auch für das nächste Jahrtausend gerüstet ist. 23 Das Quorum: Für die Gültigkeit eines Beschlusses nötige Mindestanzahl abgegebener Stimmen. 24 Volksinitiative vom 26. Januar 1988 25 Schulbuch, Schroedel-Verlag, S.43 Material M8 (Titel wird nachgetragen) Zur Zeit herrscht in der Schweiz eine umfassende Diskussion über den Gebrauch des Plebiszits. Zum einen steht die Schweiz unter großem Anpassungsdruck durch die versuchte Eingliederung in die Europäische Union und in weitere sogenannte supranationale Staatenbündnisse. Jedoch lehnte die Aktivbürgerschaft bereits zweimal diese Einfassung in diese Organisationen ab (1986 Beitritt zur UN und 1992 Beitritt zum Europäischen Wirtschaftsraum). Als Begründung wird der Zwang zur Kompetenzabgabe der Bundesversammlung und des Volkes angeführt, welche nicht mit dem Demokratieverständnis der Schweiz vereinbar ist. Obwohl die Parlamentarier eine steigende Zahl von Referenden und Volksinitiativen auf allen politischen Ebenen verzeichnen. Diese Entwicklung steht im Kontrast zu der konstant fallenden Abstimmungsbeteiligung26 in den letzten Jahrzehnten. Gründe für die sinkende Wahlbeteiligung liegen gerade in der steigenden Zahl der Referenden, denn durch die zunehmende Anzahl der Abstimmungen wird der Bürger überfordert, wodurch folglich bei ihm ein Desinteresse oder die sogenannte Politikverdrossenheit ausgelöst wird. Für den Aktivbürger ist es unmöglich, sich über mehrere Volksabstimmungen an einem Tag gründlich und umfassend zu informieren und sich ein Urteil zu bilden. Ein Beispiel für diese Überforderung ist die letzte Abstimmung vom 7. Februar 1999. An diesem Tag mußte das politisch aktive Volk vier Entscheide treffen. Unter den Entscheiden waren „die Abschaffung der Bundesratswahlen, die Verfassungsbestimmungen zur Transplantationsmedizin, ,Wohneigentum für alle‘ und das geänderte Raumplanungsgesetz (RPG).“27 Anhand dieser Aufzählung wird deutlich, daß der Aktivbürger sich mit einer Verfassungsänderung, zwei Bundesgesetzen und einer Initiative gleichzeitig beschäftigen muß, um sachlich und informiert entscheiden zu können. Der erforderliche Zeitaufwand gliche einem Arbeitstag eines Parlamentsmitglieds. Die Versorgung mit Informationen hinsichtlich der einzelnen Entscheide wird durch die Medien ausgiebig gedeckt, jedoch hat auch hier der Wähler zu selektieren zwischen den einzelnen Meinungen und Kommentaren. Insgesamt zeigt sich, daß die Vorschläge der Bundesversammlung zur Erhöhung des Zulassungsquorums für Referenden und Volksinitiativen keine Beschneidung des Volksrechte ist, sondern eine Maßnahme zur Steigerung der politischen Aktivität in der breiten Bevölkerung. Erst wenn die Anzahl der politischen Entscheidungen sinkt, kann sich beim Bürger wieder ein Vertrauen in die Politik entwickeln und dadurch das politische Interesse steigen. Ludwig Hasler28 sieht in dem Schweizer System vier grundlegende Fehler oder Kritikpunkte: Die erste Beanstandung liegt in der Tatsache, daß das Plebiszit zum Geschäft geworden sei. In der Schweiz werden die Unterschriften nicht mehr von politisch Interessierten gesammelt, sondern von Firmen, die von großen Interessenverbänden und Unternehmern beauftragt werden. Somit werden „Volksrechte ein Instrument zur politischen Durchsetzung vorwiegend ökonomischer Partikularinteressen“29 mißbraucht. Auf der einen Seite lehnt es das Volk ab, den Parlamentariern die gesamte Macht zu geben. Andererseits übergibt es seine Stimme und die damit verbundene Macht aber an außerpolitische Kräfte, deren Kontrolle deutlich schwieriger und nicht konkret festgelegt ist. Anhand der Genschutzinitiative in den neunziger Jahren läßt sich verdeutlichen, wie enorm der Einfluß der Wirtschaft auf die Politik ist. Ausgangssituation war der Verfassungsentwurf zum Verbot der Gentechnik. Da ein Schweizer Pharmakonzern große Gewinneinbußen befürchtete, investierte der Konzern mehr als vierzig Millionen Mark in eine Kampagne 26 siehe Grafik im Kapitel 6 auf der Seite 12. Volksabstimmung vom 7. Februar, Parolen für die Abstimmung; aus dem NZZ Dossier (Internet) 28 Hasler, Ludwig: Das überschätzte Plebiszit vom 15. Januar 1999 aus „Die Woche“. 29 siehe Fußnote 1. 27 gegen die Vorlage, während die Befürworter nur einen Bruchteil des Geldes zur Verfügung hatten. Im späteren Verlauf der Diskussion und Abstimmung wurde die Initiative abgelehnt. Welche umfangreichen Möglichkeiten die Wirtschaft besitzt in die Politik einzugreifen, werden im Beispiel deutlich. Als Gegenargument wird darauf hingewiesen, daß auch in der repräsentativen Demokratie die Wirtschaft einen großen Einfluß besitzt. In Deutschland besitzen die Unternehmen das Druckmittel der Rationalisierung von Arbeitsplätzen, welches aufgrund der derzeitigen hohen Arbeitslosigkeit für ein großes Aufsehen sorgen würde. Neben diesem Druckmittel werden die Politiker als Vorstandsmitglieder berufen, um eine Chance zu wahren, die politischen Interessen durchzusetzen. Als zweiten Punkt führt Hasler die Überforderung des Staates an. Durch die ständigen Urnengänge werde nicht das Wissen beziehungsweise das Interesse des Bürgers gesteigert, sondern dazu motiviert, seine privaten Probleme und Konflikte in die Politik miteinzubringen. Diese Motivation erhält er aus der Vielfalt der Abstimmungen, die teilweise sehr themenspezifisch und gruppenbezogen sind. Als Folge wird der Staat als „Agentur für Kompensation aller Übel des modernen Lebens“30 betrachtet. Diese Einstellung macht anschaulich, daß der Bürger eine ständige Korrektur und Antwort in Fragen über die Globalisierung oder Rationalisierung von Arbeitsplätzen fordert. Auffällig ist, daß die Korrektur nur durch den Staat aber nicht durch den Bürger in parteipolitischem Engagement erfolgen kann, denn durch die Bemühungen der Bevölkerung entstünde eine „pragmatische Klugheit“31 und keine Sehnsucht und Hilfsbedürftigkeit. Der dritte Kritikpunkt liegt beim Volk, welches sich selbst überfordert. Der enorme Anstieg der Plebiszite hat zur Folge, daß der Bürger den Überblick verliert und somit von zwei Seiten beeinflußbar ist. So konnte mit der Äußerung von zwei Nobelpreisträgern und der Wirtschaft, daß ein Verbot der Gentechnik das Ende des Wohlstandes sei, ein Stimmungswandel zur Genschutzinitiative bewirkt werden: die Initiative wurde abgelehnt. Zwar beschloß die Bundesversammlung nach einiger Zeit trotzdem Gesetze zum Verbot der Gentechnik, für die allein die öffentliche Diskussion verantwortlich war. Doch zeigt sich eindeutig, daß die Bevölkerung zum einen auf dem emotionalen Wege (Angst) oder auf dem Umwege (Wohlstandswahrung) durch Aussenstehende beeinflußbar ist. Als vierten und letzten Punkt sieht Hasler in dem Plebiszit eine Lähmung des Parlaments und der Regierung. „Je stärker die Volksrechte, desto schwächer die repräsentativen Kräfte.“32 Die Wahlbeteiligungen zu den Nationalratswahlen (Kap. 6) zeigen, daß die Wahlen nicht den hohen Stellenwert haben wie in Deutschland. Jederzeit hat das Volk die Möglichkeit hat, in die Politik direkt einzugreifen. Dies bedeutet wiederum für das Parlament, daß eine „Kompromiß- statt Konsenspolitik, eine Taktik, die weniger den Notwendigkeiten als den latenten Stimmungen gehorcht“33 geschaffen werden muß. Auf die politische Realität übertragen, haben die Politiker sich nach dem Willen der Bevölkerung zu orientieren, und müssen grundsätzlich eine für die Öffentlichkeit einheitliche Meinung vertreten. Diese einheitliche Vertretung ist zwingend notwendig, um in der Bevölkerung keine Zweifel an der Entscheidung aufkommen zu lassen. Letztendlich bedeutet dies, daß das Parlament immer der Gefahr eines Referendums (Referendumsdrohung) ausgesetzt ist und somit nur eingeschränkt handeln kann. Aus diesem Grund fordert die Bundesversammlung die in einem vorherigen Kapitel beschriebene Erhöhung des Quorums. Ein weiteres Argument, welches bereits angedeutet wurde, ist der Dauerzustand, in dem sich die Bürger und das Parlament befinden. Beide sind immer aktiv und beobachten die politische Entwicklung - eine beachtliche Leistung beider Seiten. Die Ermüdungserscheinungen zeigen 30 31 32 33 siehe Fußnote 1. siehe Fußnote 1. Hasler, Ludwig: Das überschätzte Plebiszit vom 15. Januar 1999 aus „Die Woche“. Hasler, Ludwig: Das überschätzte Plebiszit vom 15. Januar 1999 aus „Die Woche“. sich erneut in den sinkenden Wahlbeteiligungen, jedoch nicht in der Anzahl der Plebiszite. So hat sich das Parlament mit 47 Volkbegehren zu beschäftigen, was mit einem erheblichen Zeitaufwand einhergeht. Ein Aspekt, der nur beim Plebiszit in den Vordergrund tritt, ist die Verankerung der Gesetze in der Bevölkerung. Wenn die Aktivbürgerschaft selbstständig ein Gesetz einbringt oder es zumindest bestätigen muß, steht die Bevölkerung automatisch auch hinter dem Gesetz. Durch die Möglichkeit des Plebiszits können neue Gesetze entstehen oder zumindest zu neuem Verständnis. Ein Beispiel für dieses Argument ist ein Gesetz, welches die Einbürgerung von jungen Ausländern erleichtert. Das Volk bestätigte dieses Gesetz und übernahm die Entscheidungskompetenz der Politiker. Dieses zeigt, wie einfach teilweise Gesetze entstehen können ohne eine lange Vorarbeit oder Diskussion im Parlament vergleichsweise zur Problematik der doppelten Staatsbürgerschaft in Deutschland. Allerdings führen die Vielzahl der Gesetze zu einer undurchsichtigen Verfassung und Gesetzbüchern. Entgegen aller Argumente, die die Fähigkeit und Schwachpunkte des Schweizer Systems kritisieren, zeigt sich, daß die Demokratie in der Schweiz funktioniert. Eine Demokratie darf nie als etwas endgültiges verstanden werden. Somit erklärt sich auch, daß die Schweizer Politiker und die Bevölkerung Lösungsvorschläge für die oben genannten Kritikpunkte finden müssen, denn „Direkte Demokratie ist ein ewiges Experiment; perfekte Institutionen gibt es nicht, alle Seiten müssen wachbleiben und das System weiterentwickeln.“34 8. Lehren für Deutschland? Auf Weg zur Teilnehmerdemokratie? In der repräsentativen Demokratie sind alle Bereiche des staatlichen Lebens von der direkten Beteiligung der Bevölkerung ausgeschlossen. Die Position der Aktivbürgerschaft wird als Zuschauerdemokratie bezeichnet. Kritiker der parlamentarischen Demokratie berufen sich auf Rousseau: „Der Mensch ist freigeboren, ist frei und liegt doch überall in Ketten“35, um zu verdeutlichen, daß in der heutigen Zeit die Aussage der These weiterhin existiere. Große Organisationen, Parteien und Medien beeinflussen den Bürger und den Staat, die Wirtschaft entmündigt die Bevölkerung. Aus diesem Grund fordern die Kritiker des parlamentarischen Systems die Einbindung plebiszitärer Elemente in die Verfassung, um eine Verbindung zwischen Regiertem und Regierendem zu schaffen. In Artikel 20 (2) des Grundgesetzes erhält das Volk „alle Staatsgewalt“ 36, die „in Wahlen und Abstimmungen“37 ausgeübt wird. Die Verwendung und Richtlinien für das Plebiszit sind bereits in Kapitel 4 beschrieben worden. Jedoch ist diese zugeschriebene Macht der Bevölkerung in Form von Volksentscheide auf der Bundesebene nicht vorhanden, bis auf den in Artikel 29 (2)38 des Grundgesetzes genannte Fall. Die Möglichkeiten, auf die Landes- und Kommunalpolitik Einfluß auszuüben und die Politik aktiv mitzugestalten, werden immer häufiger genutzt. Aus diesem Grund stellt sich die Frage, ob in Deutschland nicht die Zeit reif ist, der Bevölkerung mehr Rechte und Möglichkeiten an die Hand zu geben. Die Erfahrungen der Schweizer Bevölkerung und des Parlaments können als Vorbild oder Richtschnur für ein neues Demokratieverständnis in Deutschland verwendet werden. Die Ausweitung von plebiszitären Elementen auf Landesebene, sowie die Einführung des Volksentscheids für Sachfragen auf Bundesebene würde, das zur Zeit herrschende Parteienmonopol brechen. Als Folge könnte, ein steigendes Interesse an der Politik zu 34 35 36 37 38 „Überall fordern die Bürger Volksabstimmungen“, U. Heuser, aus der ZEIT Nr.16 (Internet) Schulbuch, Schroedel-Verlag, S.80 (Titel wird nachgetragen) Artikel 20 (2) Grundgesetz Artikel 20(2) Grundgesetz Neugliederung von Bundesländern sind dem Volksentscheid zu unterstellen. verzeichnen sein. Ein Volksentscheid in der Frage der Ausländerpolitik würde die stellenweise sichtbare Unfähigkeit der Parteien zum Kompromiß ablösen. Diese Maßnahme führt auch zu einem weiteren Durchbrechen der Vorrangstellung der Parteien im Prozeß der Willensbildung, denn bei einer öffentlichen Diskussion können alle Standpunkte mit Hilfe der Medien verbreitet werden. Es ist das erklärte Ziel der Medien, zu informieren und aufzuklären, also auf gesellschaftliche Themen und Diskussionen aufmerksam zu machen. Die Gefahr der Falschdarstellung von Entscheidungsfragen in den Medien müßte die Bundesregierung oder eine unabhängige Kommission kontrollieren. Das Argument, das die direkte Demokratie umständlich sei, läßt sich anhand von zwei Standpunkten widerlegen. Erstens hätte ein Volksentscheid die deutsche Steuerblockade im Bundestag 1998 beenden können und zweitens ist „Demokratie überhaupt umständlich“39. Weiterhin bringen Volksentscheide auch unpopuläre Themen in die Politik, wie die Entscheidung über den Standort und Bau einer Müllverbrennungsanlage. Das wichtigste Argument für die Kompentenzerweiterung der Bevölkerung, ist der enorm hohe Bildungsstand der deutschen Bevölkerung. Die heutige Aktivbürgerschaft besitzt die Zeit und umfangreiche Möglichkeiten, sich differenziert und unabhängig zu informieren und eine Meinung zu einer Abstimmungsfrage abzugeben. Gerade für die große Mittelschicht der Bevölkerung dürfte die politische Beteiligung einen großen Anreiz darstellen, wenn die kommunale oder überregionale Politik beeinflußbar und vor allem greifbar wird. Eine weiter Folge wäre, daß die zur Zeit vorherrschende Ansicht unter der Aktivbürgerschaft, daß die Politiker das Volk nur alle vier Jahre zu den Wahlen benötigen und nach der Wahl als politisch unantastbar im Parlament sitzen, abnehmen würde. Da Volksentscheide nur eine Ablehnung oder Zustimmung zulassen, wird von Kritikern oft angeführt, das umfangreiche politische Entscheidungen allen politischen Ebenen sich nicht auf <ja> oder <nein> vereinfachen lassen. Jedoch besitzt der Bundestagsabgeordnete bei der Schlußabstimmung auch nur zwei Antwortmöglichkeiten. Zusammenfassend zeigt sich, daß neben den genannten Argumenten eine Vielzahl von Argumenten für die Einfassung und Ausweitung der plebiszitären Elemente sprechen. Nichtsdestoweniger zeigt das Schweizer Demokratiemodell allerhand Fehler oder Probleme des Referendums auf, die in der repräsentativen Demokratie Deutschlands nicht existieren. Einerseits besteht die Möglichkeit der Fehlbarkeit der Referenden. Beispiele auf der Kommunalebene zeigen, daß aufgrund von Formfehlern einige Initiativen für ungültig erklärt werden mußten. Eine weitere Problematik ist die Tatsache, daß eine Verfassungsänderung per Volksbegehren in Niedersachsen deutlich leichter ist, da nur 10% der Wahlberechtigten ihre Unterschrift leisten müssen, um einen Volksentscheid (beim anschließenden Volksentscheid reicht dann sogar die einfache Mehrheit zur Annahme der Vorlage) einzuleiten. Das Parlament benötigt für eine Verfassungsänderung dagegen eine 2/3 Mehrheit im Landtag. Eines der Hauptargumente der Befürworter des Repräsentativmodells ist, daß in der plebiszitären Demokratie die Medien und die Wirtschaft einen großen Einflußbereich besitzen und es zur Demagogie kommen kann. In Deutschland existiert dieser Einfluß ebenfalls, aber in der Schweiz besitzt die Wirtschaft zu jeder Zeit die Möglichkeit, durch die Beauftragung von Unterschriftensammlungen verbindlich und konkret in die Politik einzugreifen. Eine Befürchtung der Kritiker ist die „Aufblähung“ der Verfassung, wie es in der Verfassung der Schweiz zu beobachten ist. Dieses verhindere eine klare und verständliche Auslegung der Rechte. Desweiteren gehören nicht alle vom Volk gewünschten Entschlüsse in eine Landesverfassung. Auch stellt sich die Frage nach der Umsetzung beziehungsweise Übertragung auf Deutschland. Die deutsche Verfassung ist in einer Zeit entstanden, die geprägt war vom Zweiten Weltkrieg und dem Scheitern der Weimarer Verfassung. In der Weimarer Verfassung sollten ein 39 „Überall fordern die Bürger Volksabstimmungen“ von Uwe Jean Heuser. aus der ZEIT Nr.16 (Internet) ausgewogenes Kräfteverhältnis und eine Verbindung zwischen den Abgeordneten und dem Volk herrschen. Jedoch erzielten die Volksbegehren und Volksentscheide in der damaligen Realität der Weimarer Verfassung eine ständige Aufputschung der öffentlichen Meinung und begünstigten öffentliche Unruhen und parteipolitische Demagogie. Die Erfahrungen der Weimarer Verfassung und die nationalsozialistische Praxis führten zu einem Grundgesetz ohne Elemente direkter Demokratie. Vereinzelt wird behauptet: „Volksabstimmungen sind die Plattform für Populisten, für linksund rechtsradikale Menschenfänger.“40 8.1 Das Plebiszit in der Verfassung (Stellungnahme) Auf die offengebliebene Erörterung soll im diesem Kapitel eingegangen werden. Da jedoch die Lösungs- beziehungsweise Kompromißvorschläge sehr differenziert sind, werden sie in der Stellungnahme eingefaßt. Insgesamt zeigt sich in der Bevölkerung der große Wunsch, an der Politik aktiv teilzunehmen. Diese Teilnahme soll aber nicht in starren Parteihierarchien stattfinden. Vielmehr wird eine freie und ungebundene Möglichkeit der Intervention gesucht. Jene Forderungen können nur die plebiszitären Elemente erfüllen, die jedem Bürger die Möglichkeit geben, auf die Straße zu gehen und für sein Anliegen Unterschriften zu sammeln. Bei der Erfüllung des Quorums kommt es dann zu einer Beratung im Parlament. Bis zu diesem Punkt sehe ich persönlich noch keine Ansatzmöglichkeit für Kritik, denn der Aktivbürger ist politisch aktiv, was eine Voraussetzung für eine funktionsfähige Demokratie ist. Bei einer Volksabstimmung über den Zusammenschluß der ehemaligen DDR und der Bundesrepublik Deutschland hätte das Volk meiner Meinung nach auf jeden Fall zugestimmt. Durch die Bestätigung des Volkes in beiden Teilen Deutschlands wäre jedoch die Nationalverbundenheit in jedem Bürger stärker hervorgetreten, da die Entscheidung jedem selber überlassen gewesen wäre. Dies hätte auch zu einer größeren Solidarität geführt, als der politisch vollzogene Zusammenschluß durch die Regierung und das Parlament. Die Vorarbeit muß allerdings von den Politikern geleistet werden. Mit der Einführung vom plebiszitären Möglichkeiten kann das fehlende Nationalgefühl in Deutschland gesteigert werden, denn in der heutigen Zeit braucht sich niemand mehr für den Nationalsozialismus zu rechtfertigen. Die Frage nach den Lehren aus dem Schweizer Demokratiemodell und möglichen Folgen für das Deutsche System muß ausgewogen betrachtet werden. Das System der Schweiz gründet auf einer 120 Jahre alte Verfassung. Zusätzlich herrscht in der Schweiz eine große Verbundenheit mit dem politischen System. Die Schweizer sind Stolz auf die Einzigartigkeit ihres Modells, denn kein anderes Land auf der Welt besitzt diese Kompetenzabgabe der politischen Macht an das Volk. Diese Einzigartigkeit drückt sich in einem Nationalgefühl, das durch die Einbindung in Bündnissen eine Kompetenzabgabe der Volksrechte fürchtet. In Deutschland kann sich erst seit der Wende 1989 erst wieder ein Nationalgefühl entwickeln, welches nun einen Punkt erreicht hat, an dem die Politik dem Volk mehr Beteiligungsrechte zusichern muß, um Erscheinungen wie Politikverdrossenheit zu bekämpfen. Wenn das Plebiszit als Ergänzung der repräsentativen Demokratie verstanden wird, sehe ich in der Einführung und Ausweitung des Plebiszits auf alle politischen Ebenen in Deutschland eine Möglichkeit das Vertrauen in die Fähigkeit der Politik und das Funktionieren der Demokratie zu stärken. Es müssen jedoch feste Regelungen getroffen werden, die dann vom Bundesverfassungsgericht unabhängig überwacht werden. Dies gilt sowohl für Beschlüsse des Parlaments, als auch für zu radikale oder zu weitgreifende Initiativen der Bevölkerung. In diesen Regelungen ist eine bedingte Unantastbarkeit und Unveränderbarkeit der Verfassung 40 „Sind Plebiszite immer schlecht?“; Fuhrer, Armin; Die Welt vom 7.1.1999. festzusetzen, sowie ein Verbot, Referenden über die Staatsausgaben und Entscheidungen in internationalen Bündnissen41 durchzuführen. Teile der Politik müssen in den Händen der Berufspolitiker bleiben, während bestimmte Bereiche der Politik von Volksentscheiden ergänzt werden. Ein weiterer Vorschlag wäre die Einführung von unterschiedlichen Quorumsgrenzen. Je wichtiger und weitreichender ein Referendum ist, desto höher liegt das Quorum für die Einreichung in das Parlament. Sinnvoll wäre dies zum Beispiel, um in der Schweiz aber auch auf der Landesebene in Deutschland die Möglichkeiten für die Volksinitiative zu erschweren. Dies hätte zur Folge, daß die zunehmende Ausweitung der Schweizer Verfassung verlangsamt wird. Auf diese Weise würde auch die Kritik in den Bundesländern über zu hohe Zulassungsbedingungen erlöschen, da für Plebiszite, die allein zur Diskussion anregen sollen, weniger Unterschriften erforderlich wären. Abschließend zeigt sich, daß die Einführung von Plebisziten auf die Bevölkerung und die Politik einen positiven Einfluß haben kann. Die überwiegende Bevölkerung besitzt die nötige Erfahrung und Bildung, um an der Politik ausser in Form von Wahlen zu partizipieren. Die Notwendigkeit einer Veränderung in Richtung der plebiszitären Demokratie zeigt sich in einem Zitat von Richard von Weizsäcker: „ ‚Alle Gewalt geht vom Volke aus‘, aber was heißt denn das, wenn diese Gewalt darauf beschränkt bleibt, bei großen Wahlen Listen anzukreuzen.“42 41 42 Zum Beispiel: supranationale Organisationen wie die UN oder EU. Interview mit Richard von Weizsäcker, aus: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung vom 13.3.1994 Literatur- und Quellenverzeichnis Diehl, Elke; Pötzsch, Horst. Demokratie (165) Informationen zur politischen Bildung, Neudruck 1992, Franzis-Druck GmbH. Diehl, Elke; Faulenbach, Jürgen. Parteiendemokratie (207) Informationen zur politischen Bildung, Überarbeitete Neuauflage 1996, Franzis-Druck GmbH. Garbriel, Jürg Martin. Das politische System der Schweiz Eine Staatsbürgerkunde, 5. Auflage, Bern; Stuttgart; Wien: Haupt, 1997 Greiffenhagen, Martin Politische Legitimität in Deutschland Lizenzausgabe für die Bundeszentrale für politische Bildung, Bonn 1998 Nohlen, Dieter. Wörterbuch Staat und Politik 5. Auflage November 1998, Piper GmbH & Co. KG, München, 1991 (Originalausgabe). Zeitungsartikel: Burger, Hannes. Volksbegehren als neuer Breitensport?, Die Welt vom 8. Juni 1998. Fuhrer, Armin. Sind Plebsizite immer schlecht?, Die Welt vom 7.1.1999. Gustedt, Volker. Volksentscheid, Focus Nr. 3, vom 18. Januar 1999, 68 – 69. Hasler, Ludwig. Das überschätzte Plebiszit, Die Woche vom 15. Januar 1999. Heuser, Uwe Jean; von Randow, Gero. Überall fordern die Bürger Volksabstimmungen, Die Zeit Nr. 16,1998 Internet: http://www.admin.ch http://www.diezeit.de http://www.diewoche.de http://www.nzz.ch (Dossier) http://www.parlament.ch Grundgesetz Deutschlands Schweizer Verfassung Niedersächsische Landesverfassung