Freie Universität Berlin Fachbereich Politik- und Sozialwissenschaften Otto-Suhr-Institut für Politikwissenschaft Wintersemester 2005/2006 K-HS Demokratietheorien Seminarleiter: Prof. Göhler Partizipatorische Demokratietheorie Arbeitsgruppe: Später Habermas: Dorothea Gädeke, Jenny Kühl, Jeannine Kloor, Esther Motullo, Bruno Quelennec Früher Habermas: Nina Butzke, Hannah Noessselt, Max Luber Feministische Demokratietheorie: Esther Seha, Yvonne ???, ??? Gliederung 1. Einleitung 2. Jürgen Habermas 2.1. Leben und Werk 2.2. Der „frühe“ Habermas 2.2. Der „frühe“ Habermas 2.2.1. Vom liberalen Rechtsstaat zum Sozialstaat 2.2.1.1. Der liberale Rechtsstaat 2.2.1.2. Die Verflechtung von Staat und Gesellschaft im Sozialstaat 2.2.1.2. Die Alternative: Autoritäre Demokratie oder Soziale Demokratie 2.2.2. Demokratieverständnis 2.2.2.1. Normativer Demokratiebegriff 2.2.2.2. Empirische Überprüfung 2.2.3. Strukturwandel der Öffentlichkeit 2.2.3.1 Entstehung der Öffentlichkeit 2.2.3.2 Zerfall der Öffentlichkeit 2.2.3.3 Idealisierter Öffentlichkeitsbegriff 2.2.3.4 Widersprüchliche Institutionalisierung 2.3. Der „späte“ Habermas: Drei normative Modelle der Demokratie 2.3.1. Gegenüberstellung republikanisches Modell – liberales Modell 2.3.1.1. Die Rolle des demokratischen Prozesses 2.3.1.2. Das Konzept des Staatsbürgers 2.3.1.3. Die Natur des politischen Prozesses 2.3.1.4. Tabellarischer Vergleich 2.3.2. Das Modell der deliberativen Demokratie 2.3.2.1. Deliberative Politik 2.3.2.2. Das 2-Säulen-Modell deliberativer Demokratie 2.3.2.3. Der normativ aufgeladene Verfahrensbegriff 2.3.2.4. Öffentlichkeit und Zivilgesellschaft 2.4. Zusammenfassender Vergleich 2.5. Sieben systematischen Fragestellungen im Vergleich 3. Feministische Demokratietheorie 3.1. Einleitung zum Feminismus 3.2. Zu den drei Autorinnen 3.3. Staatsbürgerschaft 3.4. Individuum und Gruppe 3.5. Demokratiekonzept – Repräsentation und Partizipation 3.6. Sieben systematischen Fragestellungen im Vergleich 4. Gemeinsame Verortung in der Demokratietheorie 5. Literatur 1.Einleitung Das zentrale Anliegen der partizipatorischen Demokratietheorie ist die politische Beteiligung aller Bürger. Dabei ist es ihr erklärtes Ziel, die Demokratie auf gesellschaftliche und wirtschaftliche Sphären auszuweiten. Darüber hinaus betont sie die Wichtigkeit aktiver Mitwirkung der Bürger sowie die Bedeutung des Diskurses als Mittel zur Beilegung von Konflikten. Sowohl die demokratietheoretischen Ansätze des frühen und späten Habermas als auch die klassische, liberale und postmoderne feministische Demokratietheorie können unter dem Oberbegriff der partizipatorischen Demokratietheorie zusammengefasst werden, da sowohl Habermas’ Modell der deliberativen Demokratie als auch die verschiedenen feministischen Ansätze eine Ausweitung der Partizipation verwirklicht sehen wollen. Beiden demokratietheoretischen Ansätzen dient die Partizipation als Mittel zur Sicherung des Gemeinwohls in pluralistischen Gesellschaften, wobei bei den Feministen dem Geschlecht sowie der Problematik der Unterordnung der Frau zentrale Bedeutung zukommt. Habermas’ Modell der deliberativen Politik hebt hervor, dass Meinungs- und Willensbildungsprozesse, die Ursprung konkreter Entscheidungen sind, so konzipiert werden müssen, dass alle Beteiligten gleichberechtigt ihre Argumente und Gründe einbringen können und somit ein vernünftiges Ergebnis erzeugt werden kann. Die Entwicklung vom frühen zum späten Habermas wird dabei in der Beschränkung der Partizipationsforderung auf die Lebenswelt deutlich. Die feministische demokratietheoretische Debatte zeichnet sich durch starke Heterogenität aus, hat jedoch nicht den Anspruch eine vollständig neue Demokratietheorie zu etablieren. Allen feministischen Ansätzen ist die Kritik am dualistischen Modell geschlechtlicher Differenzen gemein, da es trotz der rechtlichen Gleichstellung dazu geführt habe, Frauen weitestgehend vom öffentlichen Bereich der Politik auszuschließen. Das Modell der Gruppenrepräsentation von Young (klassisch), Phillips Rekurs auf die liberale Vorstellung universaler Gleichheit sowie der liberalen Repräsentativdemokratie (liberal) und Chantal Mouffes Konzept der radikalen Demokratie (postmodern), stellen jeweils unterschiedliche Wege vor, um eine größere Repräsentation der Frauen zu erreichen. 2.Jürgen Habermas 2.1. Leben und Werk Jürgen Habermas wird 1929 in Düsseldorf geboren und wächst in einem durch Anpassung an die politischen Verhältnisse geprägten Elternhaus auf. Die Einsicht in den nationalsozialistischen Zivilisationsbruch und die Befürchtung, dass ein echter Bruch im politischen Denken des Nachkriegsdeutschlands nicht stattgefunden habe, beeinflussen sein Werk. Sein Studium der Deutschen Literatur, der Ökonomie, der Psychologie sowie der Philosophie in Göttingen, Zürich und Bonn beendet Habermas 1954. Er beginnt sich u.a. mit Marx, Lukács, Bloch Horkheimer, Marcuse und Adorno zu beschäftigen, und wendet sich der Frage zu, wie und wieweit in einer politischen Lage wissenschaftlich geklärt werden kann, was zugleich praktisch notwendig und objektiv möglich ist. Dazu versucht er einen Vernunftbegriff zu begründen, der sich nicht auf das Moment technisch-instrumenteller Rationalität beschränkt, sondern eine Bewertung der Zwecke selbst erlaubt. Ab 1956 arbeitet er als Assistent von Adorno am Institut für Sozialforschung in Frankfurt a.M. Im Vorwort zu seiner Studie über das demokratische Bewusstsein Frankfurter Studenten (Student und Politik, 1961) entwickelt er erste demokratietheoretische Motive, v.a. zum Zusammenhang von Demokratie und Rechtsstaat und zum normativen Begriff demokratischer Selbstbestimmung. In seiner Habilitationsschrift (Strukturwandel der Öffentlichkeit, 1962) zeichnet er ein pessimistisches Bild der bundesdeutschen Öffentlichkeit, die seinem normativen Begriff von Öffentlichkeit, in der interessenfrei, vernunftgeleitet und fair argumentiert wird, nicht entspräche.1 Unmittelbar nach Beendigung seiner Habilitation wird Habermas Professor für Philosophie in Heidelberg, 1964 übernimmt er die Nachfolge von Horkheimer in Frankfurt a. M. Nachdem er sich zunächst auf Seiten der Studierenden für eine Hochschul- und Gesellschaftsreform engagiert - sein öffentliches Engagement betreibt er seinem Selbstverständnis nach als Intellektueller und Bürger, nicht als Wissenschaftler wechselt er nach Konflikten mit der Studentenschaft 1971 zum Max-Planck-Institut zur Erforschung der Lebensbedingungen in der wissenschaftlich-technischen Welt in Starnberg, das er gemeinsam mit Carl Friedrich von Weizsäcker leitet. Erst 1983 kehrt er an die Universität Frankfurt zurück, wo er bis zu seiner Emeritierung 1994 Philosophie lehrt. Während seiner Zeit in Starnberg erarbeitet Habermas die Theorie des kommunikativen Handelns, die 1981 erscheint, und vielfach als sein Hauptwerk betrachtet wird. In ihm legt er die philosophischen, gesellschafts- und demokratietheoretischen Grundlagen einer eigenständigen Kritischen Theorie. Zugleich manifestiert sich mit diesem Werk ein Wandel seiner Theorie, der als universalpragmatische Wende bezeichnet wird und die Einteilung seines Werkes in einen „frühen“ und einen „späten“ Habermas begründet: In der Universalpragmatik, die die Bedingungen der Möglichkeit sprachlicher Verständigung überhaupt erfasst, d.h. in den vorraussetzungsvollen Bedingungen idealer Kommunikation2, glaubt Habermas das Fundament eines hinreichenden Vernunftbegriffs gefunden zu haben.3 Diese handlungstheoretische Überlegung sucht er gesellschaftstheoretisch anschlussfähig zu machen, indem er die Entfaltung der kommunikativen Vernunft als elementaren Bestandteil gesellschaftlicher Entwicklung begreift. Während der frühe Habermas das Prinzip der diskursiven Entscheidungsfindung jedoch in jeglichen gesellschaftlichen Prozessen angewandt sehen will, beschränkt der späte Habermas dessen Geltung auf bestimmte Bereiche (die Lebenswelt) und akzeptiert die notwendigerweise zweckrationale Eigenlogik der administrativen und ökonomischen Systeme. Zugleich wandelt sich Habermas zunehmend von einem skeptischen Kritiker der westdeutschen Nachkriegsdemokratie hin zu einem optimistischen Kritiker des etablierten demokratischen Rechtsstaates. Neben den Anpassungen seiner Theorie führt er selbst dies auch auf positive Veränderungen der politischen Kultur der Bundesrepublik zurück. Dies drückt sich u.a. in seiner Schrift Faktizität und Geltung (1992) aus, in der er sich ausführlich mit dem demokratischen Rechtsstaat und seinen Voraussetzungen auseinandersetzt. Habermas gilt als gegenwärtig wichtigster Vertreter der 2. Generation der Kritischen Theorie der Frankfurter Schule, einer Denkrichtung in der Sozialwissenschaft, die auf Horkheimer (1895-1973) und Adorno (1903-1969) zurückgeht und deren Beginn mit der Antrittsvorlesung Horkheimers am Institut für Sozialforschung in Frankfurt 1930 anzusetzen ist (daher die Bezeichnung Frankfurter Schule). Sie vertrat in der Weimarer Republik, der amerikanischen Emigration und der jungen Bundesrepublik eine Gesellschafts- und Kulturkritik, die aus einer eigenständigen Mischung westlichem Marxismus, Psychoanalyse, Philosophie, Ökonomie und empirischer Sozialwissenschaft bestand und stellte den Anspruch 1 Da Adorno sich weigerte, seine Habilitationsschrift anzunehmen, habilitierte sich Habermas bei Abendroth. Mit Abendroht teilt er die Zweifel an der Vereinbarkeit von Demokratie und Kapitalismus, und dem Gedanken, dass sich die liberale Demokratie zur sozialen wandeln müsse. 2 Näheres zur Universalpragmatik siehe unter 4. Gemeinsame Verortung in der Demokratietheorie. 3 Vgl. Strecker, David / Schaal, Gary S.: Die politische Theorie der Deliberation: Jürgen Habermas. In: Brodocz, Andre / Schaal, Gary S. (Hrsg.): Die politischen Theorien der Gegenwart. Band II, Opladen 2001, S. 93f. - anders als die dem wissenschaftlichen Objektivitätsideal verpflichtete traditionelle Gesellschaftstheorie - ihr normatives Telos (die herrschaftsfreie Gesellschaft) explizit offen zu legen.4 Habermas steht neben der Tatsache, dass er selbst länger am Frankfurter Institut für Sozialforschung wirkte, v.a. hinsichtlich seiner Zielsetzungen in dieser Tradition. Von der geschichtsphilosophischen Grundannahme der gesellschaftlichen Arbeit als Grundfaktor gesellschaftlicher Reproduktion, die für die 1. Generation dieser Schule (der neben Horkheimer und Adorno v.a. Marcuse zuzurechnen ist) bestimmend war, löst er sich jedoch. Für ihn ist nicht die Bearbeitung der Natur, sondern die sprachliche Intersubjektivität sozialen Handelns die fundamentale Bedingung gesellschaftlicher Entwicklung. Den Pessimismus der Dialektik der Aufklärung, in der Horkheimer und Adorno die These eines internen Zusammenhangs zwischen Sprache / Aufklärung und sozialer Vermachtung vertreten, löst er zudem auf, indem er in der Kommunikationsfunktion der Sprache Potentiale und Maßstäbe gesellschaftlicher Befreiung identifiziert. Mit der Ablösung der Sphäre der Rationalität des kommunikativen Handelns von den zweckrational organisierten Sphären der Verwaltung und Ökonomie vollzieht er endgültig die Begründung einer 2. Generation der Kritischen Theorie der Frankfurter Schule.5 2.2. Der frühe Habermas In der von ihm verfassten Einleitung in die Studie Student und Politik, bleibt er zum einen der geschichtsphilosophischen Tradition der Kritischen Theorie treu und skizziert sozialgeschichtlich die Entwicklung des liberalen Rechtstaates. Zum anderen folgt er auch der Maxime der Kritischen Theorie, dass Kritik immer immanente Kritik sein sollte. Demnach misst er die liberale Demokratie an ihren proklamierten Idealen und ihre Institutionen an ihrem objektiven Sinn. Habermas entwickelt so seinen Demokratiebegriff, als deren Kern er gesellschaftliche Teilhabe und Mitbestimmung sieht. Zudem erhält er die Chance einer empirischen Überprüfung seiner Demokratievorstellungen. 2.2.1. Vom Liberalen Rechtsstaates zum Sozialstaat 2.2.1.2 Der liberale Rechtsstaat Der demokratische Rechtsstaat geht für Habermas auf die französische Revolution zurück. Diese betrachtet er im Kern als eine Revolution des Bürgertums, welches sich gegen die willkürlichen Eingriffe der absoluten Monarchie zur Wehr setzte, insbesondere gegen solche, die Eigentum und die Planbarkeit wirtschaftlichen Handels betrafen. Es kämpfte nicht nur für die Bindung der exekutiven Gewalt an generelle Normen sondern auch für die Beteiligung der Volksvertretung an der legislativen Gewalt. Die Trennung der Judikative vom Einfluss der Exekutive garantiert schließlich die Wirksamkeit und Verlässlichkeit der selbstgesetzten Normen. Die „liberale Verfassung [ist] durchsichtig auf die Interessenlage des Bürgertums bezogen,“6 sie setzt eine Gesellschaft voraus, in der alle Bürger über ausreichende materielle Mittel verfügen, um von ihren Freiheiten Gebrauch machen zu können. Die reale Basis des liberalen 4 Siehe dazu: Horkheimer, Max: Traditionelle und kritische Theorie (1937). In: ders.: Traditionelle und Kritische Theorie. Fünf Aufsätze. Hrsg. von Gunzelin Schmidt Noerr und Alfred Schmidt. Frankfurt 1992. 5 Vgl. Honneth, Axel: Marxismus. In: Dieter Nohlen (Hrsg.): Lexikon der Politik, Band I, Politische Theorien, München 1995, .S. 610f. 6 Student und Politik, S.20 Staates war niemals eine Ordnung konkurrierender Bürger mit gleichen Chancen, sondern eine stabile, wenn nicht durch feudale Privilegien, so doch durch Besitz und Bildung gesicherte Rangordnung7. Die politische Willensbildung bleibt somit faktisch der Oberschicht vorbehalten. Daraus ergibt sicher der den liberalen Rechtsstaat eigentümlich Widerspruch: In dem Selbstverständnis des Bürgertums repräsentiert es nicht nur die Gesamtgesellschaft, es sieht sich als mit dieser identisch. So wird zwar „die Idee der Demokratie proklamiert und in gewisser Weise auch institutionalisiert, faktisch wird [..] eine Minoritätendemokratie betrieben8“. Habermas betont derweil, dass die einzige Legitimationsgrundlage der Demokratie ist, dass die Staatsgewalt von dem freien und ausdrücklichen Konsens aller BürgerInnen getragen wird9. Während zur Zeit der Entstehung des liberalen Rechtstaats der Staat und die bürgerliche Gesellschaft als relativ abgetrennte Sphären nebeneinander existieren, greift der Staat vor allem nach dem ersten Weltkrieg zunehmend in das System der Güterherstellung und Verteilung ein. Der Staat wandelt sich zum Sozialstaat. Damit einher gehen nicht nur Veränderungen in der Machtbalance des institutionellen Arrangements, sondern auch eine zunehmende Verflechtung von Staat und Gesellschaft. 2.2.1.2. Die Verflechtung von Staat und Gesellschaft im Sozialstaat Die Veränderungen betreffen vor allem die Rolle der Verwaltung, der Parteien und der Verbände. Durch den Wandel des liberalen Rechtsstaates zum Sozialstaat erlangt die Verwaltung zunehmende Kompetenzen, da sie mit weitreichenden Eingriffen in die Eigentumsordnung und in das System der Güterherstellung und Verteilung beauftragt wird. Aus diesem Kompetenzzuwachs erwächst de facto auch ein größerer Entscheidungsspielraum. Gegenüber dem Parlament, entwickelt sie durch die ständige Bearbeitung ihres Zuständigkeitsbereiches einen kaum einzuholenden Informationsvorsprung. Zwar hat das Parlament juristisch das Gesetzgebungsmonopol, faktisch entstehen die Gesetze jedoch im Zusammenspiel von Verwaltung und Parteien.10 Selbst gegenüber der Regierung, der politischen Spitze der Verwaltung, kann sie unter dem Mantel sachrationaler Anpassung politische Programmatik durch Verwaltungshandeln ersetzen. Die Verwaltung greift zwar in großem Maße in den privaten Lebensbereich der BürgerInnen ein, das Verhältnis des/der BürgerIn zur Verwaltung bleibt jedoch in großem Maße unpolitisch. Die BürgerInnen werden in die Rolle von KonsumentInnen gedrängt, statt aktiv Entscheidungen beeinflussen zu können. Auch die Institutionen der Selbstverwaltung (Bsp.!!!) können sich gegen die sozialstaatliche Verwaltung kaum mehr durchsetzen, da sie zum einen finanziell und zum andern durch übergeordnete Planungen in ihrer Autonomie eingeschränkt sind. Die BürgerInnen können sich gegenüber der Verwaltung nur behaupten, indem sie sich in einen Verband, ein Gruppenkollektiv, eingliedern. Solange der liberale Rechtsstaat noch von der Gesellschaft getrennt war, bedurften die partikularen Interessen, welche die Verbände vertreten, des Staates nur als Garanten der freien Konkurrenz. Dass sich der Staat aber vom Ordnungsgaranten zum Leistungsträger entwickelt hat, wird eine Übersetzung der Interessen 7 vgl. Student und Politik, S. ebd. S. 9 ebd. 10 Erklärung!!! 8 in die Sphäre des Staates notwendig, ohne dass die Verbände offiziell politischen Charakter annehmen können. Sie haben dabei Funktionen des Staates übernommen und darüber hinaus auch direkten Einfluss auf die öffentliche Meinung. Habermas kritisiert an dieser Praxis fehlende demokratische Legitimation und Kontrollmöglichkeiten. Einen fundamentalen Wandel haben auch die Parteien vollzogen. Sie haben sich von Honoratiorenparteien über die Klassen- hin zur Massenintegrationspartei gewandelt. Dies ging einher mit der Zulassung breiter Schichten zu den Parlamentswahlen. Die Parteien haben sich umorganisiert. Den lokalen Komitees wurde ein zentral gelenkter Apparat, welcher mit Berufspolitikern besetzt ist, gegenübergestellt. Zudem haben sie sich der verfassungsrechtlichen Institutionen bemächtigt und somit die Gewaltenteilung untergraben. Auch gegenüber dem Parlament haben sie sich verselbstständigt und das Parlament zu einer Stätte gemacht, an der sich „weisungsgebundene Parteimitglieder treffen um bereits getroffen Entscheidungen registrieren zu lassen“11. Die Verselbständigung der Parteien gegenüber dem Parlament ist zugleich eine gegenüber den BürgerInnen. Dies sieht Habermas besonders kritisch. Statt dem Willen des Volkes abzubilden, sollen sie an der Willensbildung mitwirken. Sie sind damit nicht mehr Sprachrohr des Volkes, um seine Entscheidungen ins Politische zu Übertragen, sonder Instrumente der Willensbildung und dabei in der Hand derjenigen, die den Parteiapparat beherrschen.12 Durch diese Entwicklungen wird die Beteiligung der StaatsbürgerInnen „neutralisiert“. Entscheidungen finden im vorparlamentarischen Raum (Verbände und Parteien) oder im Vorraum der Verwaltung statt und entziehen sich so der Kontrolle und Mitwirkung der BürgerInnen. 2.2.2. Die Alternative: autoritäre Demokratie oder soziale Demokratie Der frühe Habermas sieht den demokratischen Rechtsstaat vor der historischen Alternative sich entweder zu einer sozialen Demokratie weiterzuentwickeln oder aber in mehr oder wenig offener Form autoritären Charakter anzunehmen. Die Verfassung des liberalen Rechtsstaats hält zwar formal an der Trennung von Staat und Gesellschaft fest, die Verwischung und Überlagerung der Gewaltenteilung durch den Korporatismus und den Parteienstaat hebt diese Trennung aber faktisch auf. Dadurch verlieren die verfassungsrechtlichen Institutionen an Substanz und obrigkeitsstaatlicher Autorität. Letztere ist ein Erbe der feudalen Monarchien, welches das Bürgertum sich zu Nutze machte, um seine privilegierte Stellung im liberalen Rechtsstaates gegen radikal-demokratische Bestrebungen zu behaupten. Problematisch ist in dem Prozess schwindender staatlicher Autorität, dass die Lücke nicht durch sachrationale Autorität13 gefüllt wird. Stattdessen kommt es zu scheinrationalen Interessentenkompromissen, die ein labiles und pluralistisches Interessengleichgewicht 11 Student und Politik, S. 29 Student und Politik, S. 31: „Öffentlichkeit ’gibt’ es nicht mehr, sie wird hergestell.t“ Dies geschieht mit dem Mittel der Propaganda. „Die plebiszitär-demokratische Identität des Willens der jeweiligen Parteienmehrheit in Regierung und Parlament mit dem Willen des Volkes ist in Wahrheit eine fiktive Identifizierung; sie hängt wesentlich auch davon ab, wer über die Zwangs- und Erziehungsmittel verfügt, den Willen des Volkes manipulativ oder demonstrativ zu bilden“ 13 Habermas grenzt den Begriff rationaler oder auch sachrationaler Autorität von dem der personellen Autorität ab. Letztere ist immer von Partialinteressen geleitet und enthält ein Moment irrationaler Herrschaft. Rationale Autorität entsteht für ihn, wenn mündige und einsichtige Bürger die Belange ihres gesellschaftlichen Lebens selbst in die Hand nehmen. Hier deutet sich, wenn auch noch wage, bereits sein später ausgearbeiteter Gedanke von Deliberation und kommunikativer Vernunft an. 12 hervorbringen. Die Gefahr dabei besteht darin, dass es einer Gruppe gelingen kann, dieses Gleichgewicht zu durchbrechen, und sich wohlmöglich Zugriff auf den Staatsapparat zu verschaffen. Es könnte so passieren, dass, angesichts der nur mehr formellen Gewaltenteilung, eine totalitäre Machtergreifung nicht verhindert werden kann. Während der liberale Rechtsstaat den BürgerInnen vor allem negativ bestimmte Grundrechte zusichert muss der Sozialstaat auch positiv bestimmte Teilhaberechte garantieren. Geschieht dies nicht, wird er seiner geänderten sozialen Basis nicht gerecht und verharrt im Widerspruch zu sich selbst. Aus der rechtstaatlich bestimmten Gleichheit der BürgerInnen und dem Sozialstaatsgebot konstruiert Habermas den Hebel um die liberale Demokratie zu einer sozialen Demokratie weiter entwickeln zu können. Die Selbstbestimmung des Volkes bedarf gleicher Chancen politischer Mitbestimmung. Dafür ist es insbesondere notwendig, alle gesellschaftlich relevante Macht unter politische Kontrolle zu stellen. Habermas denkt dabei vor allem an das private Kapitaleigentum, welches unter den Bedingungen der nicht mehr von dem Staat getrennten Gesellschaft geradezu gezwungen ist, in die Sphäre des Staates zu intervenieren, ohne dabei politischer Kontrolle zu unterliegen. 2.2.3. Demokratieverständnis 2.2.3.1. Ein normativer Demokratiebegriff Habermas kritisiert ökonomische und liberale Ansätze, welche Demokratie nur als Methode zur Einrichtung politischer Herrschaft und Steuerung begreifen, und/oder sich mit der Herstellung eines stabilen Gleichgewichts gesellschaftlicher Kräfte begnügen. Durch die Formalisierung der Demokratie als ein Set von Spielregeln wird die politische Beteiligung vom realen gesellschaftlichen Prozess abgelöst. Wird diese letztlich losgelöst von dem betrachtet, an dem man Teil hat, also von der konkreten Situation, wird sie zum Fetisch14 und verliert ihren normativen und historischen Bezug. Teilhabe lässt sich hingegen nur richtig beurteilen, wenn man sie an der konkreten Situation in der sie gedeiht - oder eben nicht gedeiht - misst. Habermas wirft diesen Ansätzen zudem vor, dass bei ihnen die Grundideen der Demokratie von Volkssouveränität und Rechtsstaatlichkeit in Vergessenheit geraten. Stattdessen leitet Habermas seinen Beteiligungsbegriff von genau diesen Grundsätzen erst ab. Im Sinne von Volkssouveränität soll Demokratie als Mittel und Prozess gesehen werden, der Menschheit ihre Selbstfreisetzung und Selbstbestimmung zu ermöglichen. Nur wenn dies erreicht ist, wird politische Beteiligung auch Selbstbestimmung sein. Demokratie verwirklicht sich daher nicht unter beliebigen gesellschaftlichen Vorraussetzungen, „sondern erst in einer Gesellschaft mündiger Menschen, sie ist diese freie Gesellschaft selbst“. 15 Es wichtig zu verstehen, dass für Habermas zu diesem Zeitpunkt politische Beteiligung ein Mittel der 14 Fetisch, der: Glauben an übernatürliche Eigenschaften bestimmter auserwählter oder ungewöhnlicher Gegenstände unbelebter Art und deren Verehrung (de.wikipedia.org/wiki/fetischismus) 15 Student und Politik 1954, S. 15 Selbstfreisetzung und Selbstbestimmung sind in Habermas Sicht nur zu erreichen, wenn sich die liberale Demokratie zur sozialen Demokratie weiterentwickelt. Diese Anspüche sind auch vor seiner zu dieser Zeit noch sehr weitreichende Kapitalismuskritik zu sehen. Transformation der Gesellschaft hin zur sozialen Demokratie ist und nicht Rechtfertigung für die Aufrechterhaltung des bestehenden Systems sein kann. Rechtsstaatlichkeit umfasst für Habermas nicht nur die negativ definierten liberalen Grundrechte, sondern darüber hinaus auch positive Grundrechte, die sich als Teilhaberechte darstellen.16 Vor dem Hintergrund einer strukturell gewandelten Sphäre der Öffentlichkeit können darüber hinaus die Grundrechte, die einst einem bürgerlichen Publikum von Privatleuten ihre politischen Funktionen sicherten, überhaupt nur sinnvoll verwirklicht werden, wenn sie positiv als Garantie der politischen Beteiligung interpretiert werden. Habermas entwickelt in Folge drei Kriterien zur politischen Beteiligung, die das demokratische Potential zur Entwicklung von einer liberalen zu einer sozialen Demokratie konkretisieren sollen. Demokratisch ist Beteiligung dann, wenn sie auf die Transformation der liberalen zur sozialen, von der formellen zur materiellen Demokratie wirkt, wenn sie also die politische Entscheidung im Sinne der Verwirklichung einer freien Gesellschaft beeinflussen kann. Soziologisch wird Beteiligung vor allem als materielle Teilhabe am gesellschaftlichen Wohlstand, an Bildung, Arbeit und an politischer Mitbestimmung definiert. Die materiellen und geistigen Produktivkräfte werden dann im Interesse der Bedürfnisbefriedigung aller Individuen verwendet, und nicht nur in partikularem Interesse. Politisch bestimmt sich das Maß der Beteiligung danach, inwieweit eine Gesellschaft eine politische Gesellschaft wird. Der Charakter von Herrschaft wird sich dann ändern und auf rationale Autorität zurückgeführt. Nur unter der Bedingung dass „mündige Bürger unter einer politisch fungierenden Öffentlichkeit durch einsichtige Delegation ihres Willens und Kontrolle seiner Ausführung die Einrichtung ihres gesellschaftlichen Lebens selber in die Hand nehmen, wird personelle Autorität in rationale Autorität überführbar“17. Hier deutet sich der Gedanke öffentlicher Deliberation und kommunikativer Vernunft bereits an, welchen er im Strukturwandel der Öffentlichkeit weiter ausarbeitet. 2.2.3.2. Empirische Überprüfung Die bürgerliche Gesellschaft und auch die frühe Bundesrepublik kann diesen Ansprüchen an Demokratie nicht gerecht werden, denn „sie steht in dem Widerspruch, dass sich in dem Verhalten der Menschen, wo sie glauben [...] nur ihrem Willen zu folgen, hinterrücks der Zwang der Verhältnisse durchsetzt; aber auch schon die Ahnung der Möglichkeit, dieses Zwanges ledig zu sein. Der Widerspruch Produkt der Umstände zu sein und doch selber Produzent dieser Umstände sein zu wollen und zu können, steckt in der politischen Beteiligung der Staatsbürger von Anbeginn, heute indes entfaltet er sich in ganzer Schärfe.“18 Für den frühen Habermas gibt es keinen Zweifel an der Enge des Spielraumes, in dem sich die politische Beteiligung der DurchschnittsbürgerInnen bewegt. Im wesentlichen beschränkt sich diese auf die Wahl eines zunehmend bedeutungslosen Parlamentes. Nicht einmal seinen Willen kann sich der/die BürgerIn frei bilden, da hieran die Parteien „mitwirken“. Auch Presse und Rundfunk sieht er in der Hand der Parteien, Verbände oder privater Interessen, so dass sich die BürgerInnen auch kaum eine objektive Meinung bilden können. Die Meinung Student und Politik, S. 36: „Teilhabe als Recht und Anspruch meint einen leistenden, zuteilenden, verteilenden, teilenden Staat, der den einzelnen nicht seiner gesellschaftlichen Situation überlässt, sondern ihm durch Gewährungen zur Hilfe kommt“ 17 Student und Politik, S. 16. 18 Ebd., S. 51. 16 bleibt ohnehin folgenlos, da sie in der politischen Welt der Interessenverbände so gut wie bedeutungslos scheint. Einzig die in Massenorganisationen und in Parteien organisierten BürgerInnen und die Eliten in Verwaltung und Wirtschaft haben die Möglichkeit politische Entscheidungen zu beeinflussen.