Prof. Dr. Hans-Werner Hahn Vorlesung Wintersemester 2010/11 Mi 8-10 Geschichte des Deutschen Kaiserreichs im europäischen Kontext 1871-1914. 2. Vorlesung: Bismarcks Innenpolitik 1871-1878/79: Teil I. Weiterführende Literatur zu Fragen der Innenpolitik: L. ANDERSON, Lehrjahre der Demokratie. Wahlen und politische Kultur im Deutschen Kaiserreich, Stuttgart 2009. D. FRICKE (Hrsg.): Lexikon zur Parteiengeschichte. Die bürgerlichen und kleinbürgerlichen Parteien und Verbände in Deutschland (1789-1945), 4 Bände, Leipzig 1983-1986. L. GALL (Hrsg.), Otto von Bismarck und die Parteien, Paderborn 2001. L. GALL (Hrsg.), Regierung, Parlament und Öffentlichkeit im Zeitalter Bismarcks: Politikstile im Wandel, Paderborn 2003. G. A. RITTER/M. NIEHUSS, Wahlgeschichtliches Arbeitsbuch. Materialien zur Statistik des Kaiserreichs 1871-1918, München 1980. G. A. RITTER, Die deutschen Parteien 1830-1914. Parteien und Gesellschaft im konstitutionellen Regierungssystem, Göttingen 1985. K. ROHE, Wahlen und Wählertraditionen in Deutschland, Frankfurt a. M. 1992. I. Die Parteien des Deutschen Reiches Das Parteiensystem des Deutschen Kaiserreichs war von jener Fünfgliedrigkeit bestimmt, die sich in Deutschland schon in den Jahrzehnten zuvor abgezeichnet hatte und die auch die Zeit des Kaiserreichs prägen sollte. Bei den fünf Parteien handelt es sich um die Nationalliberalen, die Linksliberalen, den im Zentrum organisierten politischen Katholizismus, die Sozialdemokratie und die Konservativen. Die relative Stabilität dieses Systems hing vor allem damit zusammen, dass sich die einzelnen Parteien in der Regel mit „sozialmoralischen Milieus“ verbanden. Dieser Begriff ist ein Schlüsselbegriff der deutschen Parteiengeschichte und meint, dass die jeweiligen Anhängergruppen nicht nur durch ein bestimmtes Interesse, das in der Wahlentscheidung zum Ausdruck kam, zusammengehalten wurden, sondern durch eine jeweils eigene Lebensweise, die von einer spezifischen Kombination mehrerer Faktoren (wirtschaftliche und soziale Interessen, kulturelle, konfessionelle und regionale Prägungen) bestimmt war. Typisch für die deutschen Parteien war, dass ihre Programmatik schon lange vor der organisatorischen Festigung entstanden war. Die deutschen Parteirichtungen waren als Weltanschauungsrichtungen entstanden, zunächst weniger aus konkreten Interessenlagen heraus. Sie blieben zwar keine reinen Weltanschauungsparteien, da die Parteien aber nicht direkt in der politischen Verantwortung standen, waren sie auch nicht gezwungen, ihre Ziele am politisch Machbaren auszurichten, also Kompromisse auszuloten und Koalitionen einzugehen. Zu Beginn des Kaiserreichs waren die Parteien, von der Sozialdemokratie abgesehen, Honoratiorenparteien. Sie stützten sich vor Ort noch nicht auf eine feste, professionell geführte Organisation, sondern auf einflussreiche und bekannte Persönlichkeiten. Erst im Laufe des Kaiserreichs angesichts der Fundamentalpolitisierung (Massenpolitik) setzte die organisatorische Verfestigung ein. II. Die „Liberale Ära“ als Zeit der Reformen Die stärkste Kraft nach den ersten Reichstagswahlen von 1871, an der sich 51% der Wahlberechtigten beteiligten, waren die Nationalliberalen. Die Hochburgen der Nationalliberalen lagen in den protestantischen Regionen Nord- und Mitteldeutschlands. Die Nationalliberalen erhielten 125 von 380 Mandaten (33% der Stimmen, 30 % der Mandate). Vielfach hat man ihnen vorgeworfen, vor der politischen Macht kapituliert zu haben, also nach der von Bismarck geschaffenen Reichseinheit auf wichtige weitergehende politische Ziele verzichtet zu haben. Heute sieht das die Forschung anders. Man betont zum einen den großen Anteil, den die Liberalen am Ausbau des Reiches hatten. Zum anderen hält man das politische Selbstverständnis der Nationalliberalen für plausibel, nach dem diese sich keineswegs auf der Verliererstraße sahen, sondern der Meinung waren, dass ihre Zeit noch kommen werde. Die Liberalen hatten zwar bei der Verfassung nicht alle Ziele erreicht, und sie verzichteten zunächst auch darauf, eine formale Änderung dieser Verfassung anzustreben. Umso stärker war aber ihr Wille, die materiellen Grundlagen der Verfassung durch innere Reformen so fortzubilden, dass dies langfristig auch den politischen Zielen des Liberalismus nutzte. Die Nationalliberalen kooperierten zwar mit Bismarck, taten dies aber durchaus zunächst aus einem Gefühl eigener Stärke heraus. Die andere Partei des Liberalismus – die Fortschrittspartei (Hochburgen unter anderem auch in Thüringen) – hielt stärker als die Nationalliberalen an den alten verfassungspolitischen Prinzipien fest, blieb viel skeptischer gegenüber Bismarck, war aber nach 1867 ebenfalls durchaus zur Kooperation mit Bismarck bereit, weil man so dem Fortschritt Bahn zu brechen glaubte. Bei den Reichstagswahlen von 1871 kam die Fortschrittspartei auf 46 Sitze (sie hatte damit mehr Mandate als Stimmenanteil). Die beiden liberalen Parteien stützten sich vorwiegend auf das protestantische Bildungs- und Besitzbürgertum sowie auf den alten Mittelstand (Handwerker und Kleinhändler), sie wurden aber auch von Bauern und Arbeitern gewählt. Der Liberalismus war die stärkste Kraft im Reichstag, so dass Bismarck beim Ausbau des Reiches auf die Liberalen angewiesen war und ihnen in vielerlei Hinsicht entgegenkommen musste. Von den übrigen Abgeordneten des neuen Reichstages standen die meisten dem Kurs des Kanzlers ablehnend gegenüber. Dies galt für die 63 Abgeordneten des Zentrums, die beiden Sozialdemokraten, die Polen (wegen der Sprachen- und Schulpolitik) und die Dänen. Aber auch große Teile der konservativen Abgeordneten hatten mit Bismarcks pragmatischer Vorstellung konservativer Politik noch große Schwierigkeiten. Das neue Reich war vielen Konservativen zu modern. Neben diesem Teil des Konservatismus – den späteren Deutsch-Konservativen (sie stellten 1871 57 Abgeordnete) – gab es freilich noch die so genannten Freikonservativen, die Bismarcks Kurs bedingungslos unterstützten. Das von Liberalen und Freikonservativen getragene Reformwerk der frühen siebziger Jahre war beachtlich (wirtschaftsliberale Gesetzgebung, Währungseinheit, Rechtsreformen) und schuf auf vielen Gebieten moderne Strukturen. Das Bürgertum konnte wesentliche Dinge durchsetzen. Bei den Reichstagswahlen des Jahres 1874 wurde dies auch von den Wählern honoriert. Die Wahlbeteiligung stieg nun auf beachtliche 61,2%, und die liberalen Kräfte konnten die Zahl ihrer Wähler nochmals deutlich steigern. Dennoch hatte der Liberalismus mit diesem Erfolg seinen Höhepunkt bereits erreicht. Schon Mitte der siebziger Jahre begann seine Attraktivität bei den Wählern nachzulassen. Die höhere Wahlbeteiligung kam fortan vor allem dem Zentrum und der Sozialdemokratie zugute. Die Gründe lagen in der Uneinigkeit über politische Grundsatzfragen, der Nachgiebigkeit gegenüber Bismarck, vor allem aber in der sinkenden Überzeugungskraft der liberalen Wirtschafts- und Gesellschaftskonzepte. Letzteres hing mit der so genannten „Gründerkrise“ zusammen, die 1873 eine lange Phase nahezu ungebremsten Wirtschaftswachstums beendete. Diese Gründerkrise, deren Folgen nicht so rasch überwunden wurden und deren psychologische Wirkung schlimmer war als die realen wirtschaftlichen Beeinträchtigungen, hat die Politik im Reich maßgeblich verändert. Die Krise schwächte das Vertrauen in die freigesetzten Marktkräfte und in die Zukunftsvisionen der Liberalen, die vielfach zum Sündenbock der wirtschaftlichen Schwierigkeiten gestempelt wurden. Die Kritik am neuen liberalen Wirtschaftssystem verknüpfte sich dabei mit einem neuen Antisemitismus, der seit 1873 deutlicher hervortrat.