Bismarcks Staatsstreichdrohung und Sammlungspolitik: Bismarck

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WS 2010/11
Prof. Dr. Hans-Werner Hahn
Grundkurs 19./20. Jahrhundert
5. Wirtschaft, Gesellschaft und Politik in Europa 1870-1914 – Teil 1
I. Die Epoche und die Perspektiven der Forschung:
Die Jahrzehnte zwischen 1871 und 1914 waren für ganz Europa, insbesondere aber für das
1871 gegründete Deutsche Reich, eine Phase grundlegender und rascher Veränderungen. Die
Entstehung neuer Nationalstaaten, besonders die Gründung des Deutschen Reiches 1871,
schuf neue Strukturen in dem bislang auf dem Gleichgewichtsprinzip basierenden
europäischen Staatensystem. Hochindustrialisierung, sozialer Wandel und
Urbanisierungsprozesse stellten Staat und Gesellschaft überall in Europa vor neue
Herausforderungen. Die damit verbundenen soziokulturellen Veränderungen und die
Auseinandersetzungen über Ziele, Wege und Gefahren der Modernisierung führten zu einer
Fundamentalpolitisierung der Gesellschaft und verstärkten die Forderungen nach Anpassung
der politischen Systeme an die neuen sozialökonomischen Strukturen. Die veränderten
inneren Strukturen wirkten sich auch auf das europäische Staatensystem immer stärker aus,
das mit dem Übergang zum Imperialismus in eine neue Phase internationaler Konflikte
eintrat.
Veränderte Perspektiven der Forschung bei der Betrachtung der Epoche:
Der Blick löst sich immer mehr von rein nationalgeschichtlichen Betrachtungen, in den
Vordergrund rücken die Gemeinsamkeiten der europäischen, besonders der west- und
mitteleuropäischen Entwicklungen. Dies ist nicht zuletzt die Folge der Debatte über den
sogenannten „deutschen Sonderweg“. In der nach 1945, vor allem aber seit den sechziger
Jahren entwickelten „Sonderwegsthese“ gingen Historiker (Wehler) davon aus, dass
Deutschland mit seiner verspäteten Nationalstaatsgründung einen abweichenden Weg in die
Moderne gegangen sei. Das neue Deutsche Reich wurde zwar in wirtschaftlicher und sozialer
Hinsicht ein sehr moderner Staat, blieb aber bis 1914 in der Entwicklung seiner politischen
Ordnung und politischen Kultur hinter einem westeuropäischen „Normalzustand“ zurück.
Hierin sah man auch einen maßgeblichen Grund für das Scheitern der Weimarer Republik.
Seit den achtziger Jahren ist diese These gerade von angelsächsischer Seite (Blackbourn/Eley)
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heftig attackiert worden und durch mehr vergleichende länderübergreifende Ansätze erheblich
relativiert worden.
Sowohl die verstärkten Forschungen zu den wirtschaftlichen und sozialen Prozessen der
Epoche, vor allem zur Sozialgeschichte einzelner gesellschaftlicher Gruppen, als auch die
neuen Ansätze der Kultur- und Alltagsgeschichte haben zu einem vorsichtigeren Umgang mit
den älteren Deutungsmustern geführt. Die scheinbar klaren Einstufungen der Epoche –
„Zeitalter des Bürgertums“ oder „Zeitalter der europäischen Nationalstaaten“ – werden heute
nicht mehr so klar vertreten. Die Jahre zwischen 1871 und 1914 waren zwar eine Zeit
tiefgreifender Veränderungen. Allerdings behaupteten sich neben dem Modernen auf allen
Feldern viele Elemente der Tradition. Dieses Spannungsverhältnis von Moderne und
Tradition tritt im Zuge der neueren Forschungen immer stärker hervor. Neben
Fortschrittsbegeisterung standen um 1900 Fortschrittskritik und Fortschrittspessimismus, die
sich in vielfältigen antimodernistischen Strömungen niederschlugen.
II. WIRTSCHAFT: Hochindustrialisierung und Aufstieg zum Industriestaat
Mit der sogenannten „Gründerkrise“ von 1873 endete die große Wachstumsphase, in der die
Industrielle Revolution in Deutschland zum Durchbruch gelangt war. Die Gründerkrise leitete
eine neue Phase ein, die erst Mitte der neunziger Jahre zu Ende ging. Während die Jahre vor
1873 angesichts explodierender Wachstumsraten ganz vom Fortschrittsoptimismus bestimmt
waren, herrschte in den Jahren zwischen 1873 und 1895 weithin eine pessimistische und
unzufriedene Grundstimmung vor. Der Industrialisierungsprozess wurde in der Periode
zwischen 1873 und 1895 aber nicht unterbrochen, sondern schritt nur mit einem etwas
langsameren Wachstumstempo voran. Mitte der neunziger Jahre setzte wieder ein
Aufschwung ein, der eine starke Dynamik entfaltete und bis zur Jahrhundertwende auf hohem
Niveau anhielt. Entscheidend für die hohen Wachstumsraten waren zum einen auf der
Angebotseite spektakuläre Basisinnovationen in den neuen Wachstumsbranchen
Elektrotechnik und Chemie. Zum anderen sorgte auf der Nachfrageseite der mit der
beschleunigten Urbanisierung steigende Bedarf an Wohnungen und Infrastruktur für kräftige
Impulse. Neben den günstigen binnenwirtschaftlichen Rahmenbedingungen wirkte sich die
Weltkonjunktur belebend auf die deutsche und europäische Wirtschaftsentwicklung aus. Es
kam zu einer "Zweiten Industriellen Revolution", die vor allem von der Chemie und der
Elektrotechnik getragen wurde. Deutschland wies in diesen Bereichen besonders große
Erfolge auf, die auf der engen Verbindung von wissenschaftlicher Forschung und industrieller
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Produktion beruhten. Die Entwicklung der wachstumsintensiven Industriebranchen war nun
ferner bestimmt vom unaufhaltsamen Aufstieg der Großunternehmen mit über tausend
Beschäftigten, die von einem kaufmännisch und technisch hochqualifizierten Management
geführt wurden. Die bevorzugte Organisationsform der Großunternehmen war die
Aktiengesellschaft. Immer wichtiger wurden hierbei die Großbanken (Deutsche Bank,
Dresdener Bank, Darmstädter Bank, Disconto-Gesellschaft, Commerzbank). Das Deutsche
Reich war um 1900 ein moderner Industriestaat und stand auf gleicher Höhe mit
Großbritannien – dem Mutterland der Industrie.
Die moderne Industrie veränderte nicht nur die Sozialstruktur, sondern zugleich das
Alltagsleben. Die Menschen profitierten von der sich nun deutlicher abzeichnenden
Steigerung des allgemeinen Wohlstandes. Zugleich aber wuchsen die Abstände zwischen den
Reichen und denen, die unter dem Durchschnitt verdienten. Darüber hinaus waren mit der
Industrialisierung neue soziale Probleme entstanden, zu deren Lösung es weiterer
Anstrengungen bedurfte. Das galt vor allem für die Sozialpolitik, aber auch für die
ökologischen Kosten des wirtschaftlichen Modernisierungsprozesses, die in der Forschung
der letzten Jahre verstärkte Beachtung gefunden haben. Letztere waren um 1900 bereits
deutlich zu erkennen und wurden von Zeitgenossen auch thematisiert. Der Staat verfügte zwar
bereits über ein gesetzliches Instrumentarium umweltrechtlicher Bestimmungen, von einer
weitreichenden staatlichen Umweltpolitik konnte jedoch noch keine Rede sein.
III.
GESELLSCHAFT im Wandel (am Beispiel Deutschlands):
Die alte ständische Gesellschaft wurde durch die wirtschaftlichen Modernisierungsprozesse
zwar nicht schlagartig in eine neue Klassengesellschaft umgewandelt, in der die soziale
Statuszuweisung nur noch nach Besitz, Leistung und Marktposition geregelt wurde. Es gab
fließende Übergänge und viele ständische Relikte. Dennoch beschleunigte sich mit der
Hochindustrialisierung und ihren Folgen der soziale Wandel um 1900 in nie gekanntem
Ausmaß. Dies galt gerade für Deutschland, wo Bevölkerungswachstum, Migration und
Verstädterung besonders stark waren. Die Bevölkerung des Reiches war zwischen 1871 und
1890 schon von 41 auf 49 Millionen gestiegen und kletterte bis 1913 auf fast 67 Millionen.
Es waren vor allem die industriellen Ballungszentren, in denen ein starker Zuwachs der
Bevölkerung zu verzeichnen war. Das Bevölkerungswachstum ging zum Teil auch auf
Zuwanderung ausländischer Arbeitskräfte (Polen im Ruhrgebiet) zurück. Dagegen spielte
die Auswanderung aus Deutschland seit den neunziger Jahren des 19. Jahrhunderts eine
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immer geringere Rolle. Bei den innerdeutschen Wanderungsprozessen gewann die
Fernwanderung an Bedeutung. Vor allem die preußischen Ostprovinzen wurden zum
wichtigen Reservoir der west- und mitteldeutschen Industriezentren. 1907 lebten 47% der
deutschen Bevölkerung nicht mehr an ihrem Geburtsort. Mit wirtschaftlichem Wachstum
und Binnenwanderung beschleunigte sich die Verstädterung. Immer mehr Menschen lebten
in Städten. 1871 hatte es im Reich erst 75 Mittelstädte mit Einwohnern über 20 000 und 8
Großstädte mit mehr als 100 000 Einwohnern gegeben. 1910 lag die Zahl der Städte mit
mehr als 20 000 Einwohnern bereits bei 223. Die Zahl der Großstädte war dagegen von 8
auf 48 gestiegen. Berlin hatte seine Einwohnerzahl mehr als verdoppelt und zählte nun über
2 Millionen. Die Verstädterung ging einher mit dem sogenannten Urbanisierungsprozess.
Unter Urbanisierung wird die Bewältigung der mit der Verstädterung auftretenden Probleme
verstanden. Hierbei ging es zum einen um die Stadtplanung und zum anderen um die
Stadterweiterung. Die Stadt war das große Bewährung- und Experimentierfeld des
deutschen Bürgertums, das im Staat von der direkten Herrschaft ausgeschlossen blieb, im
lokalen Bereich aber als Herrschaftsträger wichtige Impulse setzte. Eine wichtige Rolle
spielten hierbei die von den Städten angestellten Fachkräfte wie Juristen und Ingenieure,
aber auch die ehrenamtliche Tätigkeit der Bürger in den städtischen Gremien und privaten
Vereinen kam eine große Bedeutung zu. Aus den Aufbauerfolgen in den Städten leiteten die
bürgerlichen Eliten einen Führungsanspruch ab, der sowohl gegenüber dem Staat als auch
gegenüber der Arbeiterschaft (restriktives kommunale Wahlrecht) verteidigt wurde.
Wichtigste gesellschaftliche Großgruppen: Bürgertum: Das Bürgertum bestimmte in den
Jahrzehnten zwischen 1870 und 1914 immer mehr die wirtschaftlichen, gesellschaftlichen,
kulturellen Prozesse. Es war insgesamt eine heterogene Gruppe, setzte sich zusammen aus
dem Wirtschaftsbürgertum (Industrielle, Bankiers, Großkaufleute), dem sogenannten
„Bildungsbürgertum“ (akademisch gebildete Bürger), und dem städtischen Bürgertum
(Handwerk, Handel, Angestellte, Beamte). Einen wichtigen Teil stellte das jüdische
Bürgertum.
Arbeiterschaft: Starke Zunahme der Lohnarbeiter. Die Arbeiterklasse war aber ebenso wenig
wie das Bürgertum eine homogene Klasse. Alter, Geschlecht, Berufsqualifikation, Lohnhöhe
sowie Wohn- und Arbeitsort sorgten für große Unterschiede, die durch das Tempo der
wirtschaftlichen Entwicklung und weitere Veränderungen in der Arbeitswelt um 1900 eher
zu- als abnahmen. Ungeachtet aller Unterschiede gab es doch eine Fülle von
Gemeinsamkeiten innerhalb dieser Großgruppe: Lohnarbeit, geringe Löhne, schlechte
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Arbeits- und Wohnverhältnisse. Klassenbewusstsein und Arbeiterbewegung schritten in jenen
Jahrzehnten am stärksten voran, in denen die Verstädterung ihre stärkste Beschleunigung
erfuhr. In den Städten entstand ein proletarisches Milieu, das die Klassenbildung
beschleunigte. Auch die gemeinsam erfahrene Diskriminierung durch Staat und Teile der
Gesellschaft und die Repression gegen ihre Organisationen (Sozialistengesetz, Behinderungen
der Gewerkschaftsarbeit, Drei-Klassenwahlrecht) förderte die Klassenbildung und den
Ausbau der sozialdemokratischen Organisationen. Neben Partei und Gewerkschaften kam den
Konsumvereinen und den kulturellen Vereinen (Arbeitersportvereine, Gesangsvereine,
Arbeiterbildungsvereine) eine große Bedeutung zu. Durch diese Strukturen setzte sich die
Arbeiterkultur von der bürgerlichen Welt ab, übernahm dabei aber wesentliche
Organisationsmerkmale der neuen bürgerlichen Gesellschaft (Organisationsform des Vereins,
Bildungsgedanke).
Ländliche Gesellschaft: Um 1900 waren noch 38% der Erwerbstätigen in der
Landwirtschaft beschäftigt. Die landwirtschaftliche Erwerbstätigkeit wies viele Formen und
unterschiedliche Interessen auf. Die Vielfalt bäuerlicher Existenz nahm um 1900 noch zu,
denn mit der fortschreitenden Marktintegration wuchs der soziale Abstand zwischen großen,
mittleren und kleinen Bauern. In den größeren Betrieben, vor allem aber auf den großen
Rittergütern Ostelbiens setzte sich der Übergang zu moderner Landtechnik früher durch und
vergrößerte die Einkommensgefälle innerhalb der Agrarproduzenten. Insgesamt wies die
ländliche Welt große soziale Unterschiede auf. Am unteren Rand standen die Landarbeiter,
deren Zahl aber um 1900 absolut wie relativ zurückging.
Adel: Stand im 19. Jahrhundert vor neuen Herausforderungen, hat sich aber in vielen
europäischen Staaten noch gut behauptet, auch in ökonomischer Hinsicht. In Diplomatie,
Verwaltung und Militär war der Adel noch eindeutig überrepräsentiert. Der Adel passte sich
zwar den neuen Leistungsstandards der bürgerlichen Gesellschaft an, seine starke Stellung im
Staat verdankte er aber in erster Linie den fortbestehenden traditionellen Vergabekriterien und
dem Zugang zu den Monarchen. Der Adel unternahm im Laufe des 19. Jahrhunderts auch
selbst zahlreiche Aktivitäten, um seinen politischen und sozialen Einfluss zu wahren:
Engagement in der Politik, führende Rolle in Vereinen, Kulturförderung.
Die Gesellschaft des Deutschen Kaiserreichs war eine außerordentlich dynamische
Gesellschaft, in der sich verschiedene Schichten und Klassen, moderne Elemente und
überkommene ständische Strukturen in- und übereinander schoben. Es gab soziale Mobilität,
aber der damit verbundene Aufstieg verlief in der Regel horizontal, nicht vertikal. Auf- und
Abstieg vollzogen sich meist innerhalb der jeweiligen Schicht. Grenzüberschreitender
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Aufstieg vollzog sich meist nur über mehrere Generationen. Die Gesellschaft blieb eine stark
segmentierte Gesellschaft. Soziale Ungleichheit war ein wichtiges Merkmal. Sie gründete
immer mehr auf den Marktbeziehungen, wurde aber auch durch den Staat noch beeinflusst,
der Teile der Gesellschaft – Adel, Militär und Beamte – privilegierte, den alten Mittelstand
schützte und den neuen – die Angestellten – stützte. Er begann aber auch damit, die
ungleichen Lebenschancen durch Umverteilung – Sozialgesetzgebung, neue
Einkommensteuer – zu mildern. Gerade dieses Nebeneinander von Altem und Neuem sorgte
für den Spannungsreichtum der Gesellschaft. Mit Wirtschaft und Gesellschaft änderten sich
auch die Lebensformen der Menschen: größere Mobilität durch neue Verkehrssysteme, neue
Siedlungs- und Wohnformen, neue Massenprodukte und neue Vertriebsformen wie das
Warenhaus in den Großstädten.
Familie und Geschlechterbeziehungen: Die dynamischen Entwicklungen an der
Jahrhundertwende schlugen sich auch in den Familien, in den Geschlechterverhältnissen und
in den Generationskonflikten nieder. Der gesellschaftliche Umbruch wirkte sich auf alle drei
Familientypen aus: auf die traditionale bäuerliche Familie (Kommerzialisierung der
Landwirtschaft, Konkurrenz industrieller Arbeitsplätze, Rückgang des Gesindes, wachsende
Konflikte mit selbstbewusster auftretenden Kindern), auf die Arbeiterfamilie (kürzere
Arbeitszeiten, steigende Löhne, allmählich bessere Wohnverhältnisse, privateres
Familienleben, Geburtenplanung und Anpassung an kleinbürgerliche Verhaltensweisen) und
in der bürgerlichen Familie (Rückgang der Kinderzahl, partnerschaftlicheres Verhältnis der
Ehepartner, Lockerung der Erziehungsstile).
Frauen im Kaiserreich: Die Gesellschaft des Kaiserreichs war eine von den Männern
dominierte Gesellschaft, die dem anderen Geschlecht sozial, rechtlich und politisch eine
gleichberechtigte Stellung verweigerte. Obwohl dies auch im Bürgerlichen Gesetzbuch von
1900 nochmals festgehalten wurde, fehlte es in den Jahren vor 1914 nicht an Signalen, die auf
einen Umbruch in den Geschlechterbeziehungen hindeuteten. Die Rolle der Frauen in der
Gesellschaft konnte von den sozialen, wirtschaftlichen, politischen und kulturellen
Veränderungen nicht unbeeinflusst bleiben, damit aber erhielt auch die Forderung nach
rechtlicher Gleichstellung neuen Schub. Zum einen gewann die weibliche Erwerbsarbeit
quantitativ und qualitativ eine neue Bedeutung. Zum anderen forderten Vertreterinnen der
bürgerlichen Frauenbewegung (Gertrud Bäumer, Helene Lange) und der proletarischen
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Frauenbewegung (C. Zetkin) eine bessere Rechtsstellung der Frau, zunehmend auch das
Wahlrecht und gleiche Bildungschancen.
Aufbruch der Jugend und andere Reformbewegungen des Kaiserreichs:
Die Gesellschaft des Kaiserreichs war im Jahrzehnt vor dem Ersten Weltkrieg eine besonders
junge Gesellschaft. Dies führte zu neuen Generationenkonflikten. Der Anteil der unter
Dreißigjährigen hatte stark zugenommen, besonders in den Städten. Für die wachsende Zahl
der Jugendlichen wurden Bildungsangebote erweitert und besonders im Hinblick auf die
proletarische Großstadtjugend neue Fürsorgesysteme entwickelt, die aber nur zu begrenzten
Erfolgen führten. Die Generationenkonflikte gab es auch mit der bürgerlichen Jugend, die
sich gerade um 1900 von der Lebenswelt der Erwachsenen zu distanzieren begann. Dies
bildete den Hintergrund der Jugendbewegung, die gegen die wilhelminischen Gesellschaftsund Lebensformen rebellierte und sich in autonomen Gruppen mit bündischer Struktur und
einem ausgeprägten Gemeinschaftsleben organisierte (Wandervogel, Deutsche Akademische
Freischar; „Freideutsche Jugend“ von 1913). Die Jugendbewegung, die zahlenmäßig wie
sozial auf einen kleinen Teil der Jugend beschränkt blieb, war eine Aufbruchs- und
Protestbewegung. Sie verband vorwärtstreibende Zeitkritik mit einer rückwärtsgewandten
Flucht aus den Realitäten. Ihr Bild war vielgestaltig, neben fortschrittlichen Reformern
standen auch bereits die Prediger völkischer Ideologien.
Zu den Reformbewegungen der Jahrhundertwende zählte ferner die
Lebensreformbewegung. Sie war eine aus dem Bürgertum kommende Reaktion auf
Industrialisierung und Urbanisierung und beklagte den gesundheitlichen und sittlichen Verfall
des modernen Großstadtmenschen. Die Krise, in welche die Industriegesellschaft geführt
hatte, sollte durch eine Versöhnung von Mensch und Natur überwunden werden. Eine weitere
Reaktion auf den rapiden wirtschaftlichen Wandel und seine Folgen war auch die
Heimatschutzbewegung. 1904 entstand mit dem „Bund für Heimatschutz“ ein
gesamtdeutscher Zusammenschluss. Die Heimatschutzbewegung beklagte die
Landschaftszerstörungen und kritisierte die großstädtische Zivilisation. Die
Reformbewegungen der Jahrhundertwende betrafen schließlich auch die Bereiche der Kunst,
Literatur, Theater und Musik. Mit dem neuen künstlerischen und literarischen Aufbruch
(Naturalismus, Impressionismus, Expressionismus) wurde endgültig deutlich, dass sich nicht
nur die Einheit des Bildungsbürgertums aufzulösen begann, sondern auch der bisherige
Konsens, auf dem das bürgerliche Kunstverständnis beruhte. Die Krise der Kunst spiegelte
somit die Krise der bürgerlichen Gesellschaft wider. Hinzu kam die „kulturelle Bedrohung“
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durch den allmählichen Aufstieg der sogenannten Massenkultur (Grammophon,
Stummfilmkino, Fotografie und Massenpresse).
Die gesamten Reformbewegungen, die letztlich nur eine Minderheit umschlossen, wiesen
überhaupt ein Nebeneinander unterschiedlichster Zielsetzungen auf. Gemeinsam war ihnen,
dass sie von einer jungen Generation der Gebildeten getragen wurden, die die Ambivalenzen
und Widersprüche der modernen Zivilisation viel bewusster wahrnahm als die vom
Fortschrittsoptimismus geprägte Vorgängergeneration. Die Gesellschaft des Kaiserreichs
erschien den Reformkräften zu materialistisch und individualistisch, zu oberflächlich und
geistlos. Das in den Debatten hervortretende Krisenbewusstsein der bürgerlichen Kreise
wirkte auf vielfältige Weise in den politischen Bereich hinein.
IV.
Politische Systeme:
Deutsches Kaiserreich: Das Deutsche Reich entstand aus einem langwährenden Prozess,
bei dem „innere Nationsbildung“ und Bismarcks „Revolution von oben“ ineinander griffen.
Es verwirklichte einen Teil jener Forderungen, die die liberale und nationale Bewegung seit
1815 erhoben hatte, war aber kein „freiheitlich-parlamentarischer“ sondern ein „autoritärer“
Nationalstaat. Obwohl der Nationsbildungsprozess gerade innerhalb des „kleindeutschen“
Reichsgebietes vor 1871 weit vorangeschritten war (Vereine, Kultur, wirtschaftliche Prozesse,
Politisierung) und die Reichsgründung von vielen Deutschen begeistert begrüßt wurde, stand
das neue Reich noch vor großen Integrationsproblemen. Viele deutschsprachige Bürger dieses
Reiches (vor allem die Katholiken) standen dem Reich mit seiner norddeutschprotestantischen Führungsmacht noch skeptisch gegenüber. In noch stärkerem Maße galt dies
für nationale Minderheiten wie Polen und Dänen. Die große Mehrheit der deutschen Juden
begrüßte dagegen die Reichsgründung als Abschluss und Garant ihrer staatsbürgerlichen
Gleichstellung.
Die Verfassung des Deutschen Reiches: Das neue Reich war ein Bundesstaat, der
einerseits den Einheitswünschen der Deutschen Rechnung trug, andererseits aber auch auf die
föderativen Traditionen der deutschen Geschichte Rücksicht nahm. Die Souveränität lag nicht
beim Volk, auch nicht beim Kaiser, sondern bei den 22 Fürsten und drei freien Städten, die
sich zum Bundesstaat zusammenschlossen. Der Föderalismus des Reiches war freilich ein
hegemonialer. Das erdrückende politische Übergewicht Preußens war in vielerlei spürbar.
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Dennoch sollte man nicht leichtfertig von der „Verpreußung“ des Reiches sprechen, denn
auch Preußen wurde im Verlaufe des Kaiserreichs von den stärker werdenden Tendenzen
einer „Verreichung“ erfasst. Das Spannungsverhältnis Preußen und Reich blieb bis zuletzt ein
wichtiger Faktor der deutschen Politik. An der Spitze der vier Reichsorgane stand der Kaiser.
Er ernannte und entließ den Reichskanzler, vertrat das Reich nach außen und hatte den
Oberbefehl über die Streitkräfte. Der Bundesrat setzte sich aus den Bevollmächtigten der
Einzelstaaten zusammen und besaß sowohl legislative wie exekutive Kompetenzen. Er sollte
dazu beitragen, die preußische Hegemonie möglichst unauffällig auszuüben und die
Machtansprüche des Reichstages zu bremsen. Der Reichskanzler übte den Vorsitz im
Bundesrat aus. Da dieser in der Regel gleichzeitig auch Ministerpräsident von Preußen war,
brachte der Kanzler ein enormes politisches Gewicht in die Waagschale. Der Reichskanzler
war nicht in ein Reichskabinett eingebunden. Gegenüber dem Reichstag vertrat allein der
Kanzler die Reichspolitik. Eine politische Verantwortung im modernen Sinne existierte aber
nicht. Der Kanzler war im Grunde nicht gegenüber dem Parlament, sondern nur gegenüber
dem Kaiser politisch verantwortlich. All diese Regelungen waren stark auf die Person
Bismarck zugeschnitten. Der Reichstag war das modernste Element der Verfassung. Er war
das Symbol der neuen Nation und zugleich ihr wichtigstes Forum. Der Reichstag bestand aus
397 Abgeordneten, die nach einem allgemeinen, gleichen und geheimen Männerwahlrecht
zunächst für eine Legislaturperiode von drei, seit 1888 für fünf Jahre gewählt wurden. Die
über ein Mehrheitswahlrecht gewählten Abgeordneten genossen Immunität und erhielten bis
1906 keine Diäten. Neben dem Reichtagswahlrecht bestanden in den Einzelstaaten die
bisherigen, nach Besitz- und Steuerkriterien geregelten Wahlsysteme (preußisches
Dreiklassenwahlrecht) fort. Das wichtigste Recht des Reichstages betraf die Mitwirkung an
der Gesetzgebung. Hinzu kam die jährliche Bewilligung des Reichshaushaltes. Auch konnte
der öffentlich tagende Reichstag die Politik des Reiches debattieren und von der Regierung
Rechenschaft verlangen. Auf die Regierungsbildung und die Regierungspolitik, vor allem
auch auf das Militär hatte er keinen direkten Einfluss. Die Regierung stand über den Parteien.
Die Parteien des Deutschen Reiches: Im Parteiensystem des Deutschen Kaiserreichs
bildete sich jene Fünfgliedrigkeit aus, die sich in Deutschland schon in den Jahrzehnten zuvor
abgezeichnet hatte und die gesamte Zeit des Kaiserreichs prägen sollte. Bei den fünf Parteien
handelt es sich um die Nationalliberalen, die Linksliberalen, den im Zentrum organisierten
politischen Katholizismus, die Sozialdemokratie und die Konservativen. Die relative Stabilität
dieses Systems hing vor allem damit zusammen, dass sich die einzelnen Parteien in der Regel
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mit „sozialmoralischen Milieus“ verbanden. Dieser Begriff ist ein Schlüsselbegriff der
deutschen Parteiengeschichte und meint, dass die jeweiligen Anhängergruppen nicht nur
durch ein bestimmtes Interesse, das in der Wahlentscheidung zum Ausdruck kam,
zusammengehalten wurden, sondern durch eine jeweils eigene Lebensweise, die von einer
spezifischen Kombination mehrerer Faktoren (wirtschaftliche und soziale Interessen,
kulturelle, konfessionelle und regionale Prägungen) bestimmt war. Typisch für die deutschen
Parteien war, dass ihre Programmatik schon lange vor der organisatorischen Festigung
entstanden war. Die deutschen Parteirichtungen waren als Weltanschauungsrichtungen
entstanden, zunächst weniger aus konkreten Interessenlagen heraus. Die Parteien blieben zwar
keine reinen Weltanschauungsparteien, da sie aber nicht direkt in der politischen
Verantwortung standen, waren sie auch nicht gezwungen, ihre Ziele am politisch Machbaren
auszurichten, also Kompromisse auszuloten und Koalitionen einzugehen. Zu Beginn des
Kaiserreichs waren die Parteien, von der Sozialdemokratie abgesehen, Honoratiorenparteien.
Sie stützten sich vor Ort noch nicht auf eine feste, professionell geführte Organisation,
sondern auf einflussreiche und bekannte Persönlichkeiten. Erst im Laufe des Kaiserreichs
angesichts der Fundamentalpolitisierung (Massenpolitik) setzte die organisatorische
Verfestigung ein.
V.
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Wichtigste Etappen der Innenpoltik:
Liberale Ära: Kooperation des Reichskanzlers Otto von Bismarck mit den
Nationalliberalen, wirtschaftsliberale Gesetzgebung, Währungseinheit, Rechtsreformen,
Kulturkampf gegen die katholische Kirche. Den Ausgangspunkt des Kulturkampfes bildeten
die Auseinandersetzungen zwischen dem sich ausbreitenden modernen säkularen Staat und
einer den bisherigen Einfluss (Bildungswesen) verteidigenden katholischen Amtskirche, die
dieser modernen Welt im Zeichen des sogenannten Ultramontanismus entgegentrat. Die
Auseinandersetzungen zwischen einem konservativen Papsttum unter Pius IX. (1854 Dogma
der unbefleckten Empfängnis, 1864 Syllabus Errorum, 1869/70 das 1. Vatikanisches Konzil
mit der Durchsetzung des Unfehlbarkeitsdogmas) und den liberalen Kräften waren längst vor
1870 im Gange. Seit der Reichsgründung verschärften sich diese Auseinandersetzungen.
Bismarck und die Liberalen fürchteten, dass der Katholizismus zum Störfaktor des
Reichsaufbaus werden könnte.
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Das Sozialistengesetz von 1878: Die deutsche Arbeiterbewegung war in den
sechziger Jahren entstanden, durch Ferdinand Lassalles ADAV und die 1869 in Eisenach von
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August Bebel und Wilhelm Liebknecht gegründete Sozialdemokratische Arbeiterpartei. 1875
hatten sich beide Parteien in Gotha zur Sozialistischen Arbeiterpartei Deutschlands
zusammengeschlossen. Die Gründung einer eigenständigen Arbeiterpartei erfolgte in
Deutschland vergleichsweise früh, weil Bürgertum und Arbeiterschaft in Fragen einer
staatlichen Sozialpolitik, des Wahlrechts und der Kooperation mit dem Obrigkeitsstaat auf
keinen gemeinsamen Nenner mehr kamen. 1871 hatten erst 3% der Wähler
sozialdemokratisch gewählt, 1874 waren es aber bereits 6,8%. Der wirtschaftliche und soziale
Wandel, die wachsende Zahl der Lohnarbeiter, vermehrte Streikbewegungen, die neue
Organisation der Sozialdemokratie und ihr Programm von 1875 mit den Forderungen nach
allgemeinem Wahlrecht, Volkssouveränität, freier Bildung sowie politischen und sozialen
Rechten der Arbeiter, all das ließ erwarten, dass die Partei in Zukunft weiter wachsen würde.
Hinzu kam, dass sie mit Bebel und Liebknecht über fähige und mutige
Führungspersönlichkeiten verfügte. Bismarck plante frühzeitig umfangreiche Gesetze, um die
Ausbreitung der Sozialdemokratie zu verhindern. 1878 erreichte er nach zwei Attentaten auf
den Kaiser, für die er die Sozialdemokratie verantwortlich machte, und der Auflösung des
Reichstages eine Mehrheit für das Sozialistengesetz, das Vereine, Versammlungen und
Druckschriften des Sozialdemokratie verbot und Zuwiderhandelnde mit Strafen und
Aufenthaltsverboten bedrohte. Es war ein Ausnahmegesetz jenseits allgemein anerkannter
Rechtsnormen und gab der staatlichen Willkür breiten Raum.
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Die innenpolitische Wende von 1878/79: Das Sozialistengesetz war Teil der
sogenannten „innenpolitischen Wende“, die das Ende der „Liberalen Ära“ bedeutete.
Bismarck suchte seit Mitte der siebziger Jahre nach Wegen, um sich aus der zu starken
Abhängigkeit von den Liberalen zu lösen. Langfristiges Ziel war es, alle konservativen Kräfte
zu gewinnen und sie mit dem kompromissbereiten Teil der Nationalliberalen zu einer neuen
Mehrheit zusammenzuführen. Bismarck wollte all jene sammeln, die am Erhalt der
bestehenden politischen und gesellschaftlichen Ordnung ein Interesse haben mussten. Im
Zuge der Gründerkrise verlor die liberale Programmatik an Attraktivität, in der deutschen
Wirtschaft wuchsen die Schutzzollforderungen, Bismarck griff dies auf und wollte mit
Schutzzöllen gleichzeitig dem Reich mehr Eigeneinnahmen verschaffen. In der Frage der
Schutzzölle bildete sich innerhalb des Reichstags unter dem Druck neuer wirtschaftlicher
Interessenverbände mit der „Volkswirtschaftlichen Vereinigung des Reichstages“ eine
Mehrheit. Zur Durchsetzung der Schutzzölle brauchte Bismarck aber die Stimmen des
Zentrums. Der Kanzler hatte erkannt, dass der Kampfkurs gegen das Zentrum und die
katholische Kirche kontraproduktiv geworden war, und auch den neue Papst Leo XIII. schien
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kompromissbereiter zu sein als sein Vorgänger. Da ein Ausgleich mit den Nationalliberalen
scheiterte, nahm Bismarck ein Kompromissangebot des Zentrums an, das der Erhöhung von
Zöllen und Verbrauchssteuern zustimmte, zugleich aber verlangte, dass dem Reich dadurch
nur 130 Millionen Mark zufließen dürften. Alles, was an Einnahmen darüber ging, musste auf
die Einzelstaaten verteilt werden (Franckensteinsche Klausel). Umgekehrt musste das Reich
bei erhöhtem Finanzbedarf weiterhin Matrikularbeiträge der Einzelstaaten einfordern.
Bismarcks Plan, die Parlamente auf Reichs- und Länderebene zu schwächen und der
Reichsregierung mehr finanzpolitischen Spielraum zu geben, war nicht aufgegangen. Auch
das Zentrum war nicht bereit, die Rechte der Parlamente preiszugeben. Für Bismarck war die
Lösung mit dem Zentrum am Ende das geringere Übel. Die von den Liberalen als Preis der
weiteren Kooperation geforderte Stärkung des Reichstages war vermieden worden, der Weg
vom monarchisch-bürokratischen Obrigkeitsstaat zum bürgerlich-liberalen Rechtsstaat
künftig noch schwerer geworden. Die Nationalliberale Partei geriet durch die neuen
Entwicklungen und den nun deutlichen Bruch mit Bismarcks Politik in eine schwere innere
Zerreißprobe. Die liberale Ära, die den Reichsausbau nach 1871 zunächst geprägt hatte, war
nun zu Ende. In der Forschung hat man der sogenannten innenpolitischen Wende von 1878/79
eine große Bedeutung für die weitere Entwicklung des Kaiserreichs zugesprochen. Man hat
von der „konservativen Wende“, sogar von der „zweiten Reichsgründung“ gesprochen.
Bismarck habe unter dem Eindruck der „großen Depression“ die Kooperation mit den
Liberalen bewusst aufgekündigt, die Nationalliberalen durch geschickte politische Manöver in
die Sackgasse gelenkt, damit die Macht des Parlaments gebrochen und die begonnene
politische Modernisierung des Kaiserreichs abgeblockt (Beleg für die Sonderwegsthese).
Heute wird der Vorgang differenzierter beurteilt. Bismarcks Politik entsprach keineswegs
einem klug entworfenen und dann kalkuliert durchgesetzten Plan. Insgesamt war aber die
Wende von 1878/79 zweifellos eine Zäsur in der Geschichte des Kaiserreichs. Sie war auch
ein Rückschlag für jene Kräfte des Bürgertums, die auf einen stetigen Reformprozess gesetzt
hatten. Dagegen profitierten die Regierungsseite, die Verwaltung und der Obrigkeitsstaat
insgesamt. Dennoch sieht man in dem ganzen Vorgang heute nicht mehr die endgültige
Weichenstellung in einen verhängnisvollen Weg des Kaiserreichs.
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Bismarcks Staatsstreichdrohung und Sammlungspolitik: Bismarck hatte im
Reichstag nach 1879 keine eigene Mehrheit. Deshalb versuchte er mit neuen Mitteln, die bis
zur Androhung eines Staatsstreiches und Neugründung des Reiches als Bund der Fürsten
gingen, den Reichstag zu disziplinieren. Auch über die Abkehr vom bisherigen
Reichstagswahlrecht und die Einführung eines Zensuswahlrechts dachte er nach. Erst 1887,
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drei Jahre vor seinem politischen Ende, gelang es Bismarck nach der vorzeitigen Auflösung
des Parlaments noch einmal, eine Mehrheit der deutschen Wähler von seinem Kurs zu
überzeugen. Gestützt auf sein öffentliches Ansehen und seine außenpolitischen Erfolge nutzte
Bismarck unter Einsatz seiner demagogischen Fähigkeiten Kriegsangst, nationale Parolen und
Revolutionsfurcht, um alle Ordnungskräfte hinter sich zu bringen. Bei einer stark
angestiegenen Wahlbeteiligung kam ein Block von Konservativen und den inzwischen weit
nach rechts gerückten Nationalliberalen auf 55% der Mandate. Mit der erfolgreichen
Sammlungspolitik sollte verhindert werden, dass die Reichspolitik in die Hände „national
unzuverlässiger“ Kräfte (Linksliberale, Zentrum, Sozialdemokratie als Reichsfeinde) fiel.
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Bismarcks Sozialpolitik und die Entstehung des Interventionsstaates: Der
voranschreitende Industrialisierungsprozess erforderte neue Maßnahmen zur sozialen
Absicherung von Lebensrisiken. Die bisherigen Ansätze staatlicher und privater Sozialpolitik
reichten nicht mehr aus. Vertreter des politischen Katholizismus, des Liberalismus,
Konservative und natürlich die entstehende Arbeiterbewegung führten seit langem
entsprechende Diskussionen. Bismarck wollte durch eine staatliche Sozialpolitik die Arbeiter
von der Sozialdemokratie fernhalten und an den Staat binden. Mit den neuen Sozialgesetzen –
die Krankenversicherung im Jahre 1883, die Unfallversicherung im Jahre 1884 und die
Alters- und Invaliditätsversicherung im Jahre 1889 – kam Bismarck zwar auf diesem Wege
voran. Um die notwendigen Mehrheiten im Reichstag zu erhalten, musste er aber zahlreiche
Abstriche von ursprünglichen Forderungen machen. Der Reichstag setzte durch, dass das neue
System der Sozialpolitik kein zentralistisches und ganz vom Reich abhängiges wurde. Die
Versicherungen waren zwar öffentlich-rechtlich organisiert. Sie räumten aber den Betroffenen
weitreichende Selbstverwaltungsrechte ein. Die Altersversicherung kam in die Hand von
Landesversicherungsanstalten, denen das Reich nur einen geringfügigen Zuschuss gewährte.
Das neue Versicherungssystem, das in den folgenden Jahren weiter ausgebaut wurde, brachte
den Betroffenen zwar zunächst allenfalls bescheidene Leistungen. Aber es war auch im
europäischen Vergleich zweifellos ein wegweisender Schritt, der Vorbildcharakter für andere
Länder besaß.
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Die Sozialgesetzgebung war Teil eines Prozesses, der in der neueren Forschung als
Weg zum Interventionsstaat bezeichnet wird. Damit ist gemeint, dass der Staat nach der
Phase einer relativen freien Konkurrenz der Marktkräfte wieder stärker in die
gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Prozesse eingriff. Zölle, soziale Sicherungssysteme,
verstärkte öffentliche Investitionstätigkeit auf dem Felde der Infrastruktur, nicht zuletzt
steigende Ausgaben für Bildung und Forschung gehörten zu diesem Prozess. Ziel war es, die
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Voraussetzungen für ein weiteres wirtschaftliches Wachstum zu verbessern, Wachstumskrisen
durch staatliche Impulse rascher zu überwinden und soziale Probleme zu entschärfen. Die
staatliche Verwaltung erfuhr in diesem Zusammenhang eine weitere Expansion. In der
marxistischen Publizistik wurde dieses engere Zusammenwirken von Staat und neuer
Großwirtschaft auch als „staatsmonopolistischer Kapitalismus“ (Lenin) oder „Organisierter
Kapitalismus“ (Rudolf Hilferding) bezeichnet.
VI.
Das Ende des Systems Bismarck:
Trotz der neuen Sozialgesetzgebung war Bismarck in den achtziger Jahren ein Politiker, der
immer weniger Neues schuf und immer stärker auf die Sicherung seiner Macht bedacht war.
Der Wahlerfolg von 1887 brachte nur eine kurze Atempause, denn innerhalb der ihn
unterstützenden Dreierallianz machten sich bald Spannungen bemerkbar (Agrarier gegen
Industrie). Die Interessengegensätze innerhalb des konservativ-liberalen Kartells schwächten
Bismarcks Handlungsfähigkeit. Im März 1888 folgte der Tod des 91-jährigen Kaisers. Unter
dem schon schwer kranken und nur kurz regierenden Thronfolger Friedrich III. änderte sich
wenig, unter dem neuen jungen Kaiser Wilhelm II., der Macht und Einfluss des Kanzlers
reduzieren wollte, wurde es rasch schwieriger. Der entscheidende Teil dieses Machtkampfes
wurde auf dem Felde der Arbeiterfrage ausgefochten. Wilhelm II. hielt wie der Großteil der
deutschen Öffentlichkeit die bisherige Repressionspolitik gegenüber der Sozialdemokratie für
überholt und für verfehlt. Der Kaiser wollte den Arbeitern, die 1889 durch große
Streikbewegungen (Bergarbeiterstreiks) ihre Unzufriedenheit mit den sozialen Verhältnissen
gezeigt hatten, entgegenkommen, vor allem auf dem Feld des bisher vernachlässigten
Arbeiterschutzes. Bismarcks Taktik ging nicht auf, zumal das Bismarck-Kartell von 1887 bei
den Reichstagswahlen vom 20. Februar 1890 herbe Verluste erlitt. Das Zentrum stieg nun mit
106 Mandaten zur eindeutig stärksten Fraktion im Reichstag auf. Mehr Wählerstimmen als
das Zentrum erreichte aber die Sozialdemokratie (19,7%). Das reichte zwar wegen des
Mehrheitswahlrechts nur zu 35 Mandaten, der Wahlerfolg der Sozialdemokraten signalisierte
aber, dass Bismarcks Strategie gegen die Arbeiterbewegung endgültig versagt hatte. Im neuen
Reichstag hatten die Kräfte, die Bismarck als Reichsfeinde bezeichnete – Zentrum,
Sozialdemokraten, Linksliberale, Welfen und Polen – etwa 240 von knapp 400 Sitzen.
Bismarck wollte die neue Situation noch nutzen, um sich angesichts der unklaren
Mehrheitsverhältnisse dem Kaiser als Krisenstratege und Retter zu präsentieren, konnte damit
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aber seinen Machtverlust nicht mehr aufhalten. Im März 1890 legte er sein Rücktrittsgesuch
vor.
Bismarck-Mythos
In der deutschen Öffentlichkeit wurde der Rücktritt Bismarcks vielfach mit Erleichterung
aufgenommen. Man erkannte Bismarcks Verdienste an, war aber der Ansicht, dass sich dieser
Mann, der so vieles verändert hatte, nun politisch überlebt habe. Die Legendenbildung und
die Stilisierung seines Abschiedes wurden jedoch bald für die Nachfolger Bismarcks und auch
für Kaiser Wilhelm II. zu einer schweren Hypothek. Bismarck kehrte zwar nicht mehr auf die
politische Bühne zurück. Je deutlicher aber dann in den neunziger Jahren wurde, dass auch
der neue Kurs mit Risiken und Fehlschlägen behaftet war, desto stärker entwickelte sich im
deutschen Bürgertum der Kult um den Reichsgründer und „eisernen Kanzler“. Man feierte
seinen 80. Geburtstag, pilgerte in Scharen nach Friedrichsruh, benannte Straßen und Plätze
nach ihm und baute schließlich Denkmäler und Türme. Bei dieser Mythisierung gerieten in
der öffentlichen Darstellung jene Züge der Bismarckschen Politik allzu schnell aus dem Blick,
die der politischen Kultur in Deutschland großen Schaden zugefügt hatten. Es wäre
übertrieben, Bismarck allein nun für alle negativen Entwicklungen der deutschen Politik
verantwortlich zu machen. Die Art und Weise, wie er Innenpolitik betrieb, wie er
rücksichtslos mit Feinden und ehemaligen Freunden umging, wie er die nationale Parole
instrumentalisierte oder mit Staatsstreich drohte, all das hat dazu beigetragen, politische
Lernprozesse im jungen Reich zu blockieren und Deutschlands Weg zu Parlamentarismus und
Demokratie zumindest zu erschweren.
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