Prof. Dr. Hans-Werner Hahn Vorlesung Wintersemester 2010/11 Mi

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Prof. Dr. Hans-Werner Hahn
Vorlesung Wintersemester 2010/11 Mi 8-10
Geschichte des Deutschen Kaiserreichs im europäischen Kontext 1871-1914.
1. Vorlesung: Die deutsche Reichsgründung von 1871 und die Verfassung des
Deutschen Reiches.
Gliederung der Vorlesung:
20. 10.
Einführung: Die deutsche Reichsgründung von 1871 und die Verfassung des
Deutschen Reiches
27. 10.
Bismarcks Innenpolitik 1871 bis 1878/79.
3. 11.
Der Durchbruch des Interventionsstaates und die Grenzen des „Systems
Bismarck“: 1879-1890.
10. 11.
Politischer und sozialer Wandel in den großen europäischen Staaten I.
17. 11.
Politischer und sozialer Wandel in den großen europäischen Staaten II.
24. 11.
Erfolge, Krisen und Grenzen des liberalen Systems in Europa:
Die kleineren europäischen Staaten.
1. 12.
Das Deutsche Reich und das europäische Gleichgewicht: Mächtepolitik 1871-78.
8. 12.
Europäische Mächtepolitik und Anfänge des Imperialismus 1878-1890.
15. 12.
Industrielle Dynamik und gesellschaftlicher Wandel an der Jahrhundertwende
5. 1.
Das Heraufziehen der Moderne: Wandel der Lebensformen, Religion, Bildung,
Wissenschaften um 1900.
12. 1.
Ursachen, Formen und Folgen der Fundamentalpolitisierung am Beispiel
Deutschlands.
19. 1.
Der „Neue Kurs“ und sein Scheitern: Deutsche Innenpolitik unter Wilhelm II.
1890-1906.
26. 1.
Vom Bülow-Block zur Politik der Diagonalen: Deutsche Innenpolitik 1906-1914.
2. 2.
Internationale Beziehungen im Zeitalter des Imperialismus.
9. 2.
Die „Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts“: Der Erste Weltkrieg als Wendepunkt
der europäischen Geschichte.
Wichtigste Überblicksliteratur zu europäischen Geschichte 1871-1914:
Jörg FISCH, Europa zwischen Wachstum und Gleichheit 1850-1914, Stuttgart 2002.
Lothar GALL, Europa auf dem Weg in die Moderne, 1850-1890 (= Oldenbourg Grundriss der
Geschichte, 14), 5. überarb. und erw. Aufl., München 2009.
Eric J. HOBSBAWM, Das imperiale Zeitalter, 1875-1914, Frankfurt/Main 1989.
Jürgen OSTERHAMMEL, Die Verwandlung der Welt. Eine Geschichte des 19. Jahrhunderts,
München 2009.
Gregor SCHÖLLGEN/Friedrich KIEßLING, Das Zeitalter des Imperialismus (= Oldenbourg
Grundriss der Geschichte, 15), 5. überarb. und erw. Aufl. München 2009.
I.
Die Epoche und die Perspektiven der Forschung:
Die Jahrzehnte zwischen 1871 und 1914 waren für ganz Europa, insbesondere aber für das
Deutsche Reich, eine Phase grundlegender und rascher Veränderungen. Die Entstehung neuer
Nationalstaaten, vor allem die Gründung des Deutschen Reiches 1871, schuf neue Strukturen
in dem bislang auf dem Gleichgewichtsprinzip basierenden europäischen Staatensystem.
Hochindustrialisierung, sozialer Wandel und Urbanisierungsprozesse stellten Staat und
Gesellschaft überall in Europa vor neue Herausforderungen. Die damit verbundenen
soziokulturellen Veränderungen und die Auseinandersetzungen über Ziele, Wege und
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Gefahren der Modernisierung führten zu einer Fundamentalpolitisierung der Gesellschaft und
verstärkten die Forderungen nach Anpassung der politischen Systeme an die neuen
sozialökonomischen Strukturen. Die veränderten inneren Strukturen wirkten sich auch auf das
europäische Staatensystem immer stärker aus, das mit dem Übergang zum Imperialismus in
eine neue Phase internationaler Konflikte eintrat. In der neueren Forschung zu diesen
Veränderungsprozessen sind vor allem zwei Grundtendenzen festzustellen. Zum einen löst
sich der Blick immer mehr von rein nationalgeschichtlichen Betrachtungen, in den
Vordergrund rücken die Gemeinsamkeiten der europäischen, besonders der west- und
mitteleuropäischen Modernisierungsprozesse. Zum anderen rücken die von Europa
ausgehenden Globalisierungstendenzen, die sich um 1900 enorm verstärkten, immer mehr in
den Fokus der Forschung (Osterhammel). Das 19. Jahrhundert war das Jahrhundert der
Europäisierung der Welt. Gerade am Ende dieses Jahrhunderts dehnten die europäischen
Staaten ihre Macht und ihren Einfluss stärker als je zuvor auf die übrige Welt aus, die auch
wirtschaftlich und kulturell den europäischen Mustern unterworfen werden sollte. Die
transnationalen Aspekte dieses europäischen Ausgreifens werden innerhalb der
Geschichtswissenschaft immer stärker beachtet, wobei man vor allem auch danach fragt, wie
diese Globalisierung dann auf Europa zurückwirkte.
II.
Die Debatte um das Deutsche Kaiserreich
Sven Oliver MÜLLER/Cornelius TORP (Hrsg.), Das Deutsche Kaiserreich in der Kontroverse,
Göttingen 2007.
Die Beschäftigung mit der Geschichte des Deutschen Kaiserreichs wurde lange von der
Diskussion über einen „deutschen Sonderweg“ bestimmt. Konservative Historiker des
Kaiserreichs und der Weimarer Republik meinten damit, dass die wirtschaftlichen,
wissenschaftlichen und auch politischen Erfolge des Kaiserreichs auch einem besonderen
politischen System zu verdanken seien, das nicht wie die westeuropäischen Staaten den Weg
in den Parlamentarismus einschlug, sondern auf einer festen, nicht demokratisch legitimierten
politischen Führung beruhte. Nach 1945 kehrte sich die Sonderwegsthese um.
Angelsächsische Historiker, die 1933 aus Deutschland emigriert waren, und eine jüngere
deutsche Historikergeneration, die seit den späten 1960er Jahren an Einfluss gewann (Wehler)
gingen davon aus, dass Deutschland mit seiner verspäteten Nationalstaatsgründung einen vom
Normalpfad abweichenden Weg in die Moderne gegangen sei. Das neue Deutsche Reich
wurde zwar in wirtschaftlicher und sozialer Hinsicht ein sehr moderner Staat, blieb aber bis
1914 in der Entwicklung seiner politischen Ordnung und politischen Kultur hinter einem
westeuropäischen „Normalzustand“ zurück. Es entwickelte kein modernes parlamentarisches
Herrschaftssystem, gab den Kräften der Vormoderne (vor allem dem preußischen Junkeradel)
noch großen Einfluss, wies im Vergleich zu Westeuropa einen ausgeprägten Militarismus auf
und ebnete durch Manipulation der Herrschenden einem übersteigerten Nationalismus die
Bahn, der seit 1914 mit all seinen negativen Wirkungen immer stärker hervortrat. All das
waren, so die Anhänger der Sonderwegsthese, Belastungsfaktoren, die dann zu den deutschen
Katastrophen des 20. Jahrhunderts führten, die die Weimarer Republik scheitern ließen und
Hitler möglich machten.
Diese Interpretation stieß freilich schon früh auf Kritik. Zum größten deutschen Kritiker
entwickelte sich Thomas Nipperdey, der Wehler vorwarf, das Deutsche Kaiserreich zur
Vorgeschichte des Nationalsozialismus zu degradieren und nur eine Kontinuitätslinie
deutscher Geschichte, die von 1871 nach 1933, gelten zu lassen. Nipperdey betonte
demgegenüber die Offenheit vieler Entwicklungen und vor allem auch die Leistungen des
Kaiserreichs. Zudem kritisierte er wie Hildebrandt und Hillgruber Wehlers Ansatz vom
„Primat der Innenpolitik“. Außen- und Machtpolitik des Kaiserreichs können demnach nicht
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nur aus dem Streben nach Herrschaftsabsicherung der alten Eliten erklärt werden, sondern
haben einen eigenen Stellenwert. Eine andere Form von Kritik an der Sonderwegsthese kam
um 1980 von angelsächsischen Historikern. Sie warfen Wehler und der „Bielefelder Schule“
vor, Bedeutung und Macht der alten Eliten zu über- und den wachsenden Einfluss der neuen
gesellschaftlichen Kräfte zu unterschätzen. Während bei Wehler die „Manipulation von oben“
– durch Bismarck und andere – eine entscheidende Rolle bei der Erklärung politischer
Entwicklungen spielte, schauten seine Kritiker stärker auf die Selbstorganisation der
Gesellschaft. Auf diese Weise entstand ein differenzierteres Bild von der Gesellschaft des
Kaiserreichs und den politischen Prozessen. Lange Zeit erschien dieses als paternalistisches,
vom virtuosen Machtspiel Bismarcks geprägtes Gebilde, dessen politisches System durch
Manipulation von oben bestimmt wurde. Dies gilt inzwischen in dieser Form nicht einmal
mehr für die Kanzlerschaft Bismarcks und noch weniger für die Zeit danach. Trotz mancher
Verkrustungen war das Kaiserreich kein innerlich erstarrtes Machtgebilde. Es sah sich
herausgefordert durch die gesellschaftlichen Umwälzungen, die Fundamentalpolitisierung, die
Massenkommunikation und -politik, die in die Öffentlichkeit getragenen Skandale der
Herrschenden. Die politische Machtverteilung wurde vor allem um 1900 durch Presse,
Öffentlichkeit und Reichstag herausgefordert und teilweise delegitimiert. Reichstag und
Parteien gewannen an Gewicht, die Macht des Kaisers und seiner Regierung war begrenzt.
Innenpolitik des Kaiserreichs und gesellschaftliche Konflikte unterschieden sich weniger stark
von anderen europäischen Staaten, als dies die Sonderwegshistoriker behauptet haben. Heute
wird nicht mehr so sehr danach gefragt, welche autoritären Relikte es im Kaiserreich gab,
sondern wie liberal es eigentlich war, welche Formen von politischer Partizipation es
ermöglichte.
Vor allem aber hat die neuere Forschung auch einen anderen Blick auf die
Modernisierungsprozesse eröffnet, die sich zwischen 1871 und 1914 erheblich
beschleunigten. Es war eine Zeit rascher Modernisierung, eine Zeit, in der sich der Fortschritt
mit Macht Bahn brach (Zeitalter der Nervosität, das ruhelose Reich). Die raschen
Veränderungen der überkommenen Lebensformen und Lebensverhältnisse brachten tief
greifende Verunsicherung und Suche nach neuem Halt mit sich. Dieses Spannungsverhältnis
von Moderne und Tradition tritt im Zuge der neueren Forschungen daher immer stärker
hervor. Es wird aber viel differenzierter gesehen als früher. Die Sonderwegshistoriker haben
den Nationalsozialismus ja wesentlich dadurch erklärt, dass Deutschland eine unvollständige
Modernisierung verzeichnet habe und die vormodernen politischen Strukturen den Weg nach
1933 geebnet hätten. Die neueren Arbeiten blicken anders auf das Phänomen der Moderne.
Auch sie heben die Verunsicherungen hervor, die mit der Auflösung alter Ordnungen und
Lebensverhältnisse verbunden waren und bei vielen Zukunftspessimismus und starre
Verteidigung des scheinbar Bewährten aufkommen ließen. Andererseits machen sie aber auch
deutlich, wie vor allem um 1900 unter den neuen bürgerlichen Eliten ein extremer
Machbarkeitsoptimismus aufkam. Man wollte mit Hilfe der sich ausdifferenzierenden
modernen Wissenschaften einen rationalen Weg weisen, um eine aus den alten Bahnen
gerissene Gesellschaft durch Stadtplanung, Gesundheitspolitik, Reformen im
Erziehungssystem, Sozialpolitik u. a. in eine neue gesicherte Ordnung zu bringen. Bei der
Suche nach neuen Wegen zur Lösung und Beherrschung gesellschaftlicher Probleme ging es
aber nicht mehr nur um die Emanzipation des Individuums aus alten Fesseln, sondern
zugleich um die Durchsetzung neuer Formen von sozialer Disziplinierung und
institutionellem Zwang (z. B. Sozialversicherung: einerseits Absicherung, andererseits Zwang
zu Abgaben). Zu den neuen Lösungsstrategien der „Sozialingenieure“ gehörten um 1900 dann
auch Ansätze der Eugenik und der Rassenbiologie (Folgen des darwinistischen Denkens). Zu
den Modernisierungselementen um 1900 zählten daher nicht nur die zweite Industrielle
Revolution und die Fundamentalpolitisierung mit ihrer wachsenden Bedeutung von Parteien
und Verbänden, sondern auch biopolitische Expertendiskurse über Bevölkerungswissenschaft,
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Kriminologie und Sozialreform. Und es waren gerade solche Diskurse der Moderne, an die
der Nationalsozialismus anknüpfte und die er in radikaler Form umsetzte. Die Ambivalenz
und die düsteren Seiten der Moderne treten somit heute viel stärker hervor, der
Nationalsozialismus kann nicht mehr nur auf Elemente deutscher Rückständigkeit
zurückgeführt werden, sondern auch aus Entwicklungen und Konflikten erklärt werden, die
erst mit der Moderne entstanden.
Neues Interesse haben schließlich drittens auch die Elemente der äußeren Politik gefunden.
Dabei geht es nicht mehr allein um Bündnisverträge, sondern mehr um die Fragen der
Kolonialpolitik, des Außenhandels und die Folgen jenes Globalisierungsprozesses, der sich
um 1900 mächtig beschleunigte.
III. Die Reichsgründung
Die von Bismarck 1866/67 geschaffenen Strukturen der deutschen Politik – der Norddeutsche
Bund als neuer, mit Parlament und Verfassung ausgestatteter Bundesstaat, der neu
organisierte Zollverein und die Militärverträge als Verbindung zu den süddeutschen Staaten –
waren aus der Sicht des Ministerpräsidenten und der Liberalen nur ein Provisorium. Wenn
sich Bismarck mit Erfolg die nationalen Bestrebungen zunutze machen wollte, musste er den
Bau des Nationalstaates durch die Integration des Südens vollenden. Dies war angesichts der
mehrheitlich preußenfeindlichen Stimmung im Süden aber nicht leicht. Erst der erfolgreiche
Krieg gegen Frankreich, von dem sich auch der deutsche Süden bedroht sah, schuf die
Möglichkeit, innere und äußere Widerstände gegen die Reichsgründung zu überwinden. Im
November und Dezember 1870 wurden die Beitrittsverhandlungen mit den vier süddeutschen
Staaten abgeschlossen und damit der Weg zur Reichsgründung geebnet (15. November 1870:
Beitrittsverträge mit BADEN und HESSEN-DARMSTADT; 23. November: Beitrittsvertrag
mit BAYERN; 25. November: Beitrittsvertrag mit WÜRTTEMBERG). Am 10. Dezember
1870 fasste der Reichstag des Norddeutschen Bundes den Beschluss, Wilhelm I. darum zu
bitten, "durch Annahme der deutschen Kaiserkrone das Einigungswerk zu weihen"; Wilhelm
wies das zunächst zurück, er wollte kein Anknüpfen an 1849. Bismarck brachte dann den
bayerischen König Ludwig II. (nach Wilhelm ranghöchster Monarch) dazu, den preußischen
König zur Annahme der Kaiserkrone zu bitten. Die Kaiserproklamation erfolgte am 18.
Januar 1871 im Spiegelsaal von Versailles.
Reichsidee und Kaisertum spielten im politischen Denken der Deutschen auch nach 1806
eine wichtige Rolle. Die Varianten reichten von einer liberal-fortschrittlichen Kaiser- und
Reichsidee (preußisches Reich deutscher Nation) bis hin zu föderalistisch begründeten
Vorstellungen (süddeutscher Föderalismus). Bismarck versuchte 1870/71, mit dem Kaisertitel
unterschiedlichen Strömungen der öffentlichen Meinung gerecht zu werden und dem neuen
Reich so zusätzlichen Halt zu geben. Einem Kaiser konnten sich süddeutsche Könige, aber
auch andere deutsche Monarchen leichter unterordnen als einem preußischen König.
Gegenüber den nationalen Kräften sollte der Kaisertitel die vermeintlichen „föderalen
Mängel“ des neuen Einheitsstaates überdecken und signalisieren, dass ein Kaiser das Ganze
verkörperte und zusammenhielt.
Schon von manchen Zeitgenossen wurde die militärisch geprägte Kaiserproklamation
heftig kritisiert. Nach 1871 setzte sich in Deutschland aber rasch eine Verklärung des
Vorgangs durch. Die Reichsgründung wurde in der dominierenden kleindeutsch-preußischen
Geschichtsschreibung als Vollendung deutscher Geschichte interpretiert. Nach 1945 und vor
allem seit den sechziger Jahren wurde das Reich vielfach als Bollwerk gegen den Geist der
Zeit (militaristisch, antiliberal, antiparlamentarisch, großpreußisch) interpretiert, das im
Grunde von Anfang an seine Chancen bereits verspielt habe (Sonderwegsthese). Die
Mehrheit der Historiker verweist heute freilich auf die Offenheit, die nach der
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Reichsgründung zunächst auch in Bezug auf die deutsche Innenpolitik bestand (Wolfgang J.
MOMMSEN).
Wichtigste Überblicksliteratur zum Deutschen Kaiserreich: Ewald FRIE, Das Deutsche
Kaiserreich, Darmstadt 2004; Winfrid HALDER, Innenpolitik im Kaiserreich 1871-1914,
Darmstadt 2003; Wilfried LOTH, Das Kaiserreich. Obrigkeitsstaat und politische
Mobilisierung, München 1996; Thomas NIPPERDEY, Deutsche Geschichte 1866-1918, Bd. 2:
Machtstaat vor der Demokratie, München 1992; Wolfgang J. MOMMSEN, Das Ringen um den
nationalen Staat. Die Gründung und der innere Ausbau des Deutschen Reiches unter Otto von
Bismarck 1850-1890, Berlin 1993; DERS., Bürgerstolz und Weltmachtstreben. Deutschland
unter Wilhelm II. 1890-1918, Berlin 1995; Hans-Peter ULLMANN, Das Deutsche Kaiserreich
1871-1918, Frankfurt am Main 1995; DERS., Politik im Deutschen Kaiserreich 1871-1918,
München 1999; Hans-Ulrich WEHLER, Deutsche Gesellschaftsgeschichte, Bd. 3: Von der
„Deutschen Doppelrevolution“ bis zum Beginn des Ersten Weltkrieges. 1849-1914, München
1995.
IV.
Zur Ausgangslage des Reiches:
Das Deutsche Reich entstand aus einem länger währenden Prozess, bei dem „innere
Nationsbildung“ und Bismarcks „Revolution von oben“ ineinander griffen. Es verwirklichte
einen Teil jener Forderungen, die die liberale und nationale Bewegung seit 1815 erhoben
hatte, war aber kein „freiheitlich-parlamentarischer“, sondern eher ein „autoritärer“
Nationalstaat. Obwohl der Nationsbildungsprozess gerade innerhalb des „kleindeutschen“
Reichsgebietes vor 1871 weit vorangeschritten war (Vereine, Kultur, wirtschaftliche Prozesse,
Politisierung) und die Reichsgründung von vielen Deutschen begeistert begrüßt wurde, stand
das neue Reich noch vor großen Integrationsproblemen. Viele deutschsprachige Bürger dieses
Reiches (vor allem die Katholiken) standen dem Reich mit seiner norddeutschprotestantischen Führungsmacht weiterhin skeptisch gegenüber. In noch stärkerem Maße galt
dies für nationale Minderheiten wie Polen und Dänen. Die große Mehrheit der deutschen
Juden begrüßte dagegen die Reichsgründung als Abschluss und Garant ihrer
staatsbürgerlichen Gleichstellung.
Das neue Reich stand vor einer großen Integrationsaufgabe. Die Liberalen in den
unterschiedlichsten Schattierungen setzten darauf, dass das Reich nicht nur durch den
militärischen Erfolg von 1871 seine Integrationskraft nach innen entwickelte. Man dachte im
Liberalismus auch, aber nicht nur in den Kategorien des Machtstaates. Das neue Reich sollte
vor allem auch der Garant von Freiheit, Wohlstand, Bildung und sozialen Reformen sein und
so auch jene Menschen für sich gewinnen, die ihm noch skeptisch gegenüberstanden. Für die
Liberalen bedeutete der Nationalstaat gesamtgesellschaftliche Modernisierung, die langfristig
auch zu den noch nicht durchgesetzten verfassungspolitischen Zielen des Liberalismus führen
sollte. Bismarck hingegen wollte allen Tendenzen zu einer Parlamentarisierung des Reiches
einen Riegel vorschieben und den Liberalen nur eine Art politische Juniorpartnerschaft
gewähren.
V.
Die Verfassung des Deutschen Reiches
Ausführlich: Ernst Rudolf HUBER, Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789, Bd. 3:
Bismarck und das Reich, 3. verb. Aufl. Stuttgart 1988.
Das neue Reich war ein Bundesstaat, der einerseits den Einheitswünschen der Deutschen
Rechnung trug, andererseits aber auch auf die föderativen Traditionen der deutschen
Geschichte Rücksicht nahm. Der Föderalismus sollte nach dem Willen Bismarcks ein
Gegengewicht gegen zu starke unitarisch-parlamentarische Tendenzen bieten. Die
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Souveränität lag nicht beim Volk, auch nicht beim Kaiser, sondern bei den 22 Fürsten und
drei freien Städten, die sich zum Bundesstaat zusammenschlossen. Der Föderalismus des
Reiches war freilich ein hegemonialer. Das erdrückende politische Übergewicht Preußens war
in vielerlei Hinsicht spürbar. Dennoch sollte man nicht leichtfertig von der „Verpreußung“
des Reiches sprechen, denn auch Preußen wurde im Verlaufe des Kaiserreichs von den stärker
werdenden Tendenzen einer „Verreichung“ erfasst. Das Spannungsverhältnis Preußen und
Reich blieb bis zuletzt ein wichtiger Faktor der deutschen Politik.
An der Spitze der vier Reichsorgane stand der Kaiser. Er ernannte und entließ den
Reichskanzler, vertrat das Reich nach außen und hatte den Oberbefehl über die Streitkräfte
inne. Der Bundesrat setzte sich aus den Bevollmächtigten der Einzelstaaten zusammen und
besaß sowohl legislative wie exekutive Kompetenzen. Er sollte dazu beitragen, die preußische
Hegemonie möglichst unauffällig auszuüben und die Machtansprüche des Reichstages zu
bremsen. Der Reichskanzler übte den Vorsitz im Bundesrat aus. Da der Kanzler in der Regel
gleichzeitig auch Ministerpräsident von Preußen war, brachte er ein enormes politisches
Gewicht in die Waagschale. Der Reichskanzler war nicht in ein Reichskabinett eingebunden.
Gegenüber dem Reichstag vertrat allein der Kanzler die Reichspolitik. Eine politische
Verantwortung im modernen Sinne existierte aber nicht. Der Kanzler war im Grunde nicht
gegenüber dem Parlament, sondern nur gegenüber dem Kaiser politisch verantwortlich. All
diese Regelungen waren stark auf die Person Bismarck zugeschnitten. Wehler und andere
haben deshalb auch davon gesprochen, Bismarck habe hier ein „bonapartistisches
Herrschaftssystem“ (starke, durch plebiszitäre Elemente legitimierte Führungspersönlichkeit,
Verselbständigung der Exekutive) geschaffen. Diese Einschätzung lässt sich nicht halten,
Bismarck bediente sich allenfalls bestimmter Elemente des Bonapartismus. Auch Wehlers
spätere These vom System „charismatischer Herrschaft“ ist auf Kritik gestoßen. Kritiker
warnen davor, die Personalisierung des Herrschaftssystems (Bismarck als Genie,
Manipulator, Dämon) zu überzeichnen und auch die durch andere Institutionen gesetzten
Grenzen Bismarcks nicht zu übersehen.
So engte vor allem auch der Reichstag Bismarcks Handlungsspielraum immer wieder ein.
Der Reichstag war das modernste Element der Verfassung. Er war das Symbol der neuen
Nation und zugleich ihr wichtigstes Forum. Der Reichstag bestand aus 397 Abgeordneten, die
nach einem allgemeinen, gleichen und geheimen Männerwahlrecht zunächst für eine
Legislaturperiode von drei, seit 1888 für fünf Jahre gewählt wurden. Die über ein
Mehrheitswahlrecht gewählten Abgeordneten genossen Immunität und erhielten bis 1906
keine Diäten. Bismarck wollte keine Berufspolitiker. Neben dem Reichtagswahlrecht
bestanden in den Einzelstaaten die bisherigen, nach Besitz- und Steuerkriterien geregelten
Wahlsysteme (preußisches Dreiklassenwahlrecht) fort. Das wichtigste Recht des Reichstages
betraf die Mitwirkung an der Gesetzgebung. Hinzu kam die jährliche Bewilligung des
Reichshaushaltes. Auch wenn der Reichstag auf die Regierungsbildung und die
Regierungspolitik keinen direkten Einfluss hatte und die Regierung über den Parteien stand,
besaß er mehr politisches Gewicht und auch symbolische Macht, als man das früher gemeint
hat.
Hierzu jetzt Andreas BIEFANG, Die andere Seite der Macht. Reichstag und Öffentlichkeit im
„System Bismarck“ 1871-1890, Düsseldorf 2009.
Man hat das Verfassungssystem des Kaiserreichs auch als „konstitutionelle Monarchie“
bezeichnet, wobei ein Teil der Verfassungshistoriker in diesem System ein eigenständiges
Formprinzip erkennt, das Absolutismus und Parlamentarismus miteinander verbindet (Huber),
während andere (Böckenförde) den Übergangscharakter dieses Systems betonen, weil die
grundlegenden Prinzipien – monarchische Herrschaft und Demokratie – auf Dauer nicht zu
vereinbaren waren. In der Tat war die Verfassung in vielerlei Hinsicht ein Kompromiss, der
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offen war für neue Entwicklungen. Vieles hing davon ab, wie sich die Kräfteverhältnisse
zwischen den wichtigsten Pfeilern der neuen Ordnung entwickeln würden.
VI.
Strukturelemente des Reiches
Das Reich als Verwaltungsstaat. Im Zuge der sozialökonomischen Entwicklung expandierte
und differenzierte sich die Staatsverwaltung. Die Bedeutung der Reichsverwaltung
(Reichskanzleramt, Reichsämter und Reichsbehörden) nahm nach 1871 rasch zu. Große Teile
der öffentlichen Verwaltung lagen aber weiterhin im Zuständigkeitsbereich der Einzelstaaten
und der Kommunen. Gerade der städtischen Selbstverwaltung fiel zwischen 1871 und 1914
eine große Bedeutung zu. Trotz dieser Elemente der Selbstverwaltung wies die
Verwaltungspraxis im Reich und besonders in Preußen stark obrigkeitsstaatliche Züge auf.
Das Reich als Rechtsstaat: Staatsgewalt und Bürger waren an Recht und Gesetz gebunden.
Die Einheit der deutschen Rechtsordnung wurde nach 1871 als eine der wichtigsten Aufgaben
angesehen. In mehreren Schritten wurde ein einheitliches Rechtssystem geschaffen
(Strafgesetzbuch von 1872, Bürgerliches Gesetzbuch von 1900). Neue Strukturen wurden
ferner auf dem Felde der Gerichtsverfassung geschaffen. Das Gesetz von 1877 regelte den
Instanzengang neu und schuf mit dem Leipziger Reichsgericht ein gemeinsames, nationales
höchstes Gericht. Erster Präsident war Eduard von Simson, ein Liberaler. Der Liberalismus
konnte beim Aufbau des neuen Rechtssystems zahlreiche seiner Forderungen durchsetzen.
Die Praxis der Rechtsprechung ließ aber weiterhin viele obrigkeitsstaatliche Elemente
erkennen.
Das Reich als Militärstaat: Das Deutsche Kaiserreich war auch Militärstaat, und das Militär
stand weitgehend außerhalb von Verfassung, Verwaltung und Recht. Die Sonderstellung
beruhte auf der Kommandogewalt des Kaisers. Das Militär war der zivilen Gewalt nicht
unter-, sondern nebengeordnet. Daraus ergaben sich immer wieder große Konflikte.
Problematisch war auch das Verhältnis von Kommandogewalt und Parlamentsrechten. Das
Parlament konnte im Grunde nur über die Bewilligung des Militärbudgets mitreden. Diese
wurde jedoch 1874 nach langen Auseinandersetzungen auf jeweils sieben Jahre
festgeschrieben (Septennat). Dies war eine wesentliche Begrenzung des Einflusses, den der
Reichstag auf das Militär ausüben konnte. Das Militär nahm aber nicht nur im politischen
System eine Sonderstellung ein, sondern auch in der Gesellschaft. Die Führung des Reiches
nutzte das durch die erfolgreichen Kriege gewachsene Prestige des Militärs, um über die
Schulen, öffentliche Feiern, die Denkmäler und Militärparaden die große Bedeutung des
Militärs herauszustellen und seine Akzeptanz in der Gesellschaft zu stärken. Man hat auch
von der Militarisierung der Gesellschaft des deutschen Kaiserreichs gesprochen. In der Tat
war vor allem im Bürgertum und Kleinbürgertum die Neigung groß, Wertvorstellungen des
Militärs zu akzeptieren und auch auf andere Bereiche der Lebensführung zu übertragen.
Kriegervereine spielten eine wichtige Rolle im öffentlichen Leben. Der Militarismus kam
dabei nicht nur von oben, er kam auch aus der Gesellschaft selbst. Das Militär, in dem der
Adel noch eine große Rolle spielte, war eine wichtige Säule des Obrigkeitsstaates. In der
Forschung hat man immer wieder die Rückwärtsgewandtheit und die Besonderheit dieses
deutschen Militarismus hervorgehoben. In den letzten Jahren hebt die Forschung aber
zunehmend hervor, dass sich im Kaiserreich auch ein moderner bürgerlicher Militarismus
bemerkbar machte, der sich gegen die alte Elite richtete. Und auch in Bezug auf die These
von den Besonderheiten des deutschen Militarismus haben neuere Arbeiten – etwa ein
Vergleich von deutschem und französischem Militarismus – manche älteren Aussagen
relativiert.
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