Literatur - Universität Leipzig

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Rösch – Deutsche Geschichte von 1848 bis heute / VL 4: 1870 / Strukturen des Kaiserreichs P
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Die Reichsgründung von 1870/71 und die Strukturen des Kaiserreichs
I.
Der Weg zur Reichsgründung
‚Symbolische Handlungen‘ (z.B. Feiern zu Schillers 100. Geburtstag 1859) sollten die
deutsche Einheit vorbereiten; 1859 wurde in Coburg der National-Verein gegründet.
In Preussen trat am 2. Januar 1861 Wilhelm I. die Regierung an; er hatte schon seit
1858 für seinen kranken und regierungsunfähigen Bruder die Geschäfte geführt und
am 28. Oktober 1858 als Prinzregent den Eid auf die Verfassung abgelegt.
Verstärkung der Armee von 150 000 Mann auf 220 000 Soldaten; Konflikt mit dem
Landtag (zwei Kammern: Abgeordnetenhaus, Herrenhaus). In dieser Situation der
verhärteten Fronten berief Wilhelm am 8. Oktober 1862 Bismarck zum
Ministerpräsidenten.
(1) Konflikt in Schleswig-Holstein
Der dänische König Christian IX. beanspruchte das Herzogtum Schleswig für
Dänemark; österreichische und preussische Truppen marschierten ein und
gewannen mit der Erstürmung der Düppeler Schanzen am 18. April 1864 den Krieg;
die Gebiete Schleswig, Holstein und Lauenburg wurden preussisch-österreichischer
Verwaltung unterstellt.
(2)
Konflikt mit Österreich
Österreich wollte die schleswig-holsteinische Frage durch den Deutschen Bund lösen
lassen, aber Bismarck leitete daraus einen Bruch der bis dahin bestehenden
gemeinsamen Verwaltung ein und marschierte in (das von den Österreichern
verwaltete) Holstein ein. Österreich forderte die süddeutschen Bundesstaaten zur
Mobilisierung auf, Preussen tat das gleiche mit Sachsen, Hannover und Kurhessen,
aber erfolglos. Die preussischen Truppen siegten über die bayerischen,
österreichischen und sächsischen Heere bei Königsgrätz am 3. Juli 1866.
Der größte Erfolg lag auf der innenpolitischen Seite: bei der Wahl für den Landtag
wuchs die Zahl der konservativen Abgeordneten von 35 auf 136. Als Bismarck im
August die nachträgliche Billigung des seit 1862 nicht genehmigten Budgets
verlangte, gab ihm der Landtag „Indemnität“.
(3)
Preussen und der Norddeutsche Bund
Nach gewonnenem Krieg bot Bismarck den fünfzehn norddeutschen Staaten einen
Bündnisvertrag an, dem sich alle Staaten nördlich des Mains anschlossen. Die
Verfassung dieses Norddeutschen Bundes ging auf Bismarck zurück: Der
preussische König war der Bundespräsident und hatte im Kriegsfall den Oberbefehl
über das Bundesheer. Die Länder sollten Gesandte in den Bundesrat schicken, der
sowohl die Exekutive wie die Legislative wahrnahm, in dem aber Preussen ein
Vetorecht hatte. Neben dem Bundesrat sollte es einen Reichstag geben, gewählt
nach allgemeinem, gleichen und direktem Wahlrecht; er genehmigte den
Bundeshaushalt. Der erste und einzige Reichstag wurde am 31. August 1867 für
eine Legislaturperiode von drei Jahren gewählt; wählen durfte jeder Norddeutsche ab
25 Jahren.
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Zu den Zielen sollte gehören: Verkehr, Münz- und Gewichtssystem, Post
vereinheitlichen, v.a. aber die Armee. Bereits 1867 wurde das Kriegsdienstgesetz für
alle Staaten des Bundes vereinheitlicht. Zudem traten die Staaten in ein Schutz- und
Trutzbündnis mit den süddeutschen Staaten Baden, Hessen, Württemberg und
Bayern.
II.
Der Krieg von 1870/71
(1)
Anlaß gab eine dynastische Frage: Leopold von Sigmaringen-Hohenzollern
sollte für den spanischen Thron kandidieren, aber Frankreich protestierte, so daß der
Prinz verzichtete. Der französische Botschafter verlangte daraufhin, und zwar bei
einer Begegnung auf der Kurpromenade von Bad Ems am 13. Juli 1870, der Kaiser
solle den gänzlichen Verzicht Preussens auf den spanischen Thron erklären. Dies
formulierte Bismarck in der Depesche für die Zeitungen am gleichen Tag so:
Nachdem die Nachrichten von der Entsagung des Erbprinzen von Hohenzollern
der Kaiserlich Französischen Regierung von der Königlich Spanischen amtlich
mitgeteilt worden sind, hat der französische Botschafter in Ems an Seine
Majestät den König noch die Forderung gestellt, ihn zu autorisieren, daß er
nach Paris telegraphiere, daß seine Majestät der König sich für alle Zukunft
verpflichte, niemals wieder seine Zustimmung zu geben, wenn die Hohenzollern
auf ihre Kandidatur wieder zurückkommen sollten. Seine Majestät der König hat
es daraufhin abgelehnt, den französischen Botschafter nochmals zu empfangen
und demselben durch den Adjudanten vom Dienst sagen lassen, daß Seine
Majestät dem Botschafter nichts weiter zu sagen habe.
Am Tag darauf erging in Paris die Mobilmachung gegen Preussen, am 19. Juli wurde
der Krieg offiziell erklärt. Es standen sich gegenüber: die französische Armee von
336 000 Mann, die Armeen der deutschen Staaten von 462 000 Mann. General war
Helmuth Graf von Moltke, zum ersten Mal wurde in großem Umfang die Eisenbahn
für die Mobilmachung nutzte.
(2)
Verlauf: Die Preussen gewannen, zuerst bei Metz, dann bei Gravelotte (18.
August), zuletzt bei Sedan (an der Maas, belgische Grenze) am 2. September; die
zwei Hauptarmeen der Franzoschen und Napoleon III. kapitulierten. In Paris hatte es
am 4. September eine Revolution gegeben, aus der die Dritte Republik hervorging;
mit deren Außenminister Jules Favre mußten die Preussen nun verhandeln. Er bot
nur einen Waffenstillstand an, so daß wohl oder übel die Generäle die Belagerung
(ab 19. September) und Beschießung von Paris (mit seinen 2,4 Mio. Einwohnern,
Bismarck zog sie vor, weil er ein schnelles Ende wünschte) Ende Dezember
begannen
Erst am 28. Januar kapitulierte Paris, es kam am 26. Februar zu einem
Präliminarfrieden in Versailles: Frankreich mußte 5 Milliarden Francs
Kriegsentschädigung zahlen und das Elsaß sowie Teile von Lothringen abtreten.
Als 3000 deutsche Soldaten vom 1 bis 3. März Paris besetzten, kam es dort zum
Aufstand der Commune, d.h. der Bevölkerung in den Arbeiter- und
Handwerkervierteln. Sie wollten soziale Gerechtigkeit durchsetzen und die rigide
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Zentralverwaltung abschaffen. Diese Bewegung wurde von den gerade besiegten
Truppen niedergeschlagen („Blutige Woche“ 21. bis 28. Mai, „semaine sanglante“).
III.
Reichsgründung in Versailles am 18. Januar 1871
Am 18. Januar 1871 wurde König Wilhelm zum Deutschen Kaiser proklamiert.
Der Friede von Frankfurt am 10. Mai 1871 bestätigte den Vorfrieden von Versailles;
in allen großen deutschen Städten wie Dresden, München, Berlin wurden die
Truppen im Juli 1871 triumphal empfangen. Bismarck wurde in den erblichen
Fürstenstand erhoben und erhielt vom Kaiser das Gut Friedrichsruh als Dotation.
IV.
Grundstrukturen des Kaiserreichs
(1)
Die Verfassung des Reiches
Es setzte sich zusammen aus 25 Bundesstaaten und dem Reichsland ElsaßLothringen. Um seine Zugehörigkeit zum Reich zu betonen, erhielt es repräsentative
Bauten wie ein Reichspostamt, den Centralbahnhof und 1872 eine Universität mit
Kollegiengebäude und Bibliothek.
Der Reichstag wurde nach dem freien, gleichen, geheimen Wahlrecht gewählt; er
hatte die volle Gewalt in Fragen der Gesetzgebung und des Budgets. Der Kanzler
und die Minister wie die Leiter hoher Reichsbehörden waren aber nicht dem
Parlament, sondern allein dem Kaiser verantwortlich.
Vertreten waren im Parlament die deutschkonservative und die freikonservative
Partei sowie zwei liberale Fraktionen, die Nationalliberalen und die Fortschrittspartei.
In der Mitte stand das 1870/71 gegründete Zentrum, das die katholischen Interessen
im protestantisch dominierten Deutschland und im Reichstag vertreten wollte.
Ebenso vertreten waren die Sozialisten und eine ganze Reihe freier Abgeordneter
aus den polnischen und dänischen Gebieten.
(2)
Der ‚Kulturkampf‘
Vor allem in den katholischen polnischen Gebieten wollte die preussische Regierung
den Einfluß der Geistlichen zurückdrängen und erließ Ende 1871 den
‚Kanzelparagraphen‘, der alle politischen Äußerungen durch Geistliche untersagte.
Durch das Schulaufsichtsgesetz vom 11. März 1872 wurden die privaten und
kommunlen Schulen der staatlichen Aufsicht unterstellt. Am 4. Juli 1872 wurde den
Jesuiten jede weitere Tätigkeit auf deutschem Boden untersagt. 1874 wurde die
Zivilehe in Preussen obligatorisch eingeführt, ein Jahr später im ganzen Reich. Alle
Gesetze wurden von den Liberalen mitgetragen, die damit den prinzipiellen Streit
zwischen der römischen Orthodoxie und dem säkularen Staat austrugen. Die
Polemik endete erst, als 1878 ein neuer Papst, Leo XIII., gewählt wurde und einige
der Gesetze, z.B. über die staatliche Aufsicht über kirchliche Vermögen und das
Vetorecht bei Besetzung kirchlicher Ämter, stillschweigend aufgehoben wurden.
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(3)
Das Verhältnis zur Sozialdemokratie
Es konkurrierten zwei Arbeiterparteien; mit derjenigen Lasalles hätte Bismarck leben
können, er traf sich sogar im Mai 1863, als er noch Verbündete suchte, mit diesem,
weil er hoffte, die Arbeiterbewegung als Partner gegen die Liberalen zu gewinnen.
Als aber August Bebel die Annexion Elsaß-Lothringens ablehnte und publizistisch
bekämpfte, versuchte die Regierung, die Partei zu kriminalisieren; in einem
Hochverratsprozeß 1872 in Leipzig (dort war das Reichsgericht) wurden Bebel und
Liebknecht zu zwei Jahren Festungshaft verurteilt.
1878 wurden zwei Attentate auf den Kaiser verübt (11. Mai; 2. Juni), die Bismarck
dazu benutzte, die Sozialdemokratische Arbeiterpartei verbieten zu lassen (zunächst
Verband Deutscher Arbeitervereine [Bebel, Sonnemann, Liebknecht, marxistisch]; ab
1869 in Eisenach Sozialdemokratische Arbeiterpartei). Das Gesetz vom 21. Oktober
1878 galt bis zum 31. März 1881 und wurde bis 1890 verlängert. Da der Reichstag
aber keine Parteienwahl, sondern eine Persönlichkeitswahl vorsah, blieben weiterhin
Sozialdemokraten im Reichstag.
(4)
Die „Social- Politik“ ab 1878
1878 wechselte Bismarck von der Unterstützung durch die Liberalen zu den
Konservativen, denn er ging einmal zu einer Politik der Schutzzölle über und zum
anderen wollte er sozialpolitisch handeln, um die Industriearbeiter gegen die Risiken
von Krankheit, Unfall, Alter und Invalidität abzusichern.
Krankenversicherung (1883)
Unfallversicherung (1884)
Versicherung für Alter und Invalidität (1889).
Der Zweck, die Arbeiter ohne politische Zugeständnisse in den monarchischen Staat
zu integrieren, schlug fehl.
(5)
Außenpolitik
(1)
Drei-Kaiser-Abkommen von 1872 zwischen Wilhelm I., Franz Joseph I. und
Alexander II.: militärische Konvention, Erhalt der monarchischen Staatsform. Im
Drei-Kaiser-Bund im Juni 1881 wurde das Abkommen erneuert und 1884 noch
einmal um drei Jahre verlängert. Danach wollten Österreich und Rußland das
Bündnis nicht mehr beibehalten, weil sie beide Interesse an Bulgarien hatten.
(2)
Balkankonflikt: 1875/76 brach in Bulgarien und Bosnien ein Aufstand gegen
die Türkei aus, 1877 erklärte Rußland der Türkei den Krieg und ließ seine Truppen
im Januar 1878 vor Konstantinopel aufmarschieren. Die Türkei trat Mazedonien an
Bulgarien ab, das unter russischem Einfluß stand, so daß Rußland jetzt einen
Zugang zum Mittelmeer hatte, ebenso wurden Serbien, Montenegro und Rumänien
vergrößert auf türkische Kosten. Als Österreich und England protestieren und eine
englische Flotte schon ins Marmarameer einlief, regte Bismarck im Februar 1878
einen Kongreß an, auf dem er als „ehrlicher Makler“ auftreten wolle, weil Deutschland
auf dem Balkan keine Interessen verfolge. Am 13. Juni 1878 wurde er in Berlin
eröffnet, er verschob das Aufbrechen der offensichtlichen Konflikte auf dem Balkan
um zwanzig Jahre.
(3)
Der geheime Zweibund zwischen Österreich und Preussen kam 1879
zustande, weil Bismarck sich vor den Ambitionen des Zaren auf dem Balkan
fürchtete und daher ein Defensivbündnis mit dem unmittelbaren Nachbarn suchte.
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(4)
Die Mittelmeer-Entente im März 1887 zwischen England und Italien kam
zustande, weil Bismarck das Zusammengehen mit Frankreich verhindern wollte; er
ermunterte auch Österreich-Ungarn zum Beitritt.
(5)
Der streng geheime Rückversicherungsvertrag schließlich vom 18. Juni 1887
mit Rußland besagte, daß sich Preussen nicht widersetzen würde, wenn der Zar die
Meerengen am Mittelmeer und Schwarzen Meer kontrollieren wolle.
V.
Schlaglicht
Der Nationalstaat und seine Denkmäler
Neben Ehrenmälern, die an die Siege des Reichs erinnerten und seinen Monarchen
feierten, wurden Allegorien des Reichs wichtig, also Denkmäler für den
Reichsmythos, nicht für historische Personen. Das Wilhelminische Reich war das
erste gesamtdeutsche Staatsgebilde nach dem im Mittelalter gegründeten
Kaiserreich und bediente sich aus dem Reservoir mythischer Figuren.
Arminius-Monument im Teutoburger Wald, von Ernst von Bandel geschaffen und
vom Kaiser im August 1875 höchstpersönlich eingeweiht.
Germania-Monument von Johannes Schilling, 1883 errichtet auf dem Niederwald
gegenüber von Bingen, 10,5 m groß auf einem 25 m hohen Sockel.
Das Unvereinbare tritt zusammen: Hochleistungen der modernen Technik und
nationales Pathos, das gänzlich rückwärts gewandt ist.
VI.
Literatur
Aspekte der Gründerzeit. Berlin 1975.
Bismarck – Preussen, Deutschland und Europa. Hrsg. v. Deutschen Historischen
Museum. Berlin 1990.
Gall, Lothar: Bismarck. Der weiße Revolutionär. Frankfurt 1980.
Nipperdey, Thomas: Deutsche Geschichte 1866-1918. Bd. 1: Arbeitswelt und
Bürgergeist. 2. Aufl. München 1991; Bd. 2: Machtstaat vor der Demokratie.
München 1992.
Pflanze, Otto: Bismarck. Der Reichsgründer. München 1997.
Pflanze, Otto: Bismarck. Der Reichskanzler. München 1998.
Winkler, Heinrich August: Deutsche Geschichte vom Ende des Alten Reichs bis zum
Untergang der Weimarer Republik. Bd. 1: Der lange Weg nach Westen.
München 2000.
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