4110_059_092_1Aufl 29.11.2006 13:59 Uhr Seite 70 D Das deutsche Kaiserreich 1871 1871 – 1880 1873 1878 1878 – 1890 1879 1883 – 1889 1887 1888 1890 Reichsgründung Kulturkampf Dreikaiserabkommen DR, Ö-U, R Berliner Kongress Kampf gegen die Sozialisten Zweibund DR, Ö-U Sozialgesetzgebung Rückversicherungsvertrag DR, R Dreikaiserjahr,Wilhelm II. beginnt sein persönliches Regiment Bismarcks Abdankung 1 Die Reichsverfassung Entstehung Oktroyierte Verfassung Die Verfassung des Norddeutschen Bundes wird mit geringen Änderungen übernommen. Nicht das Volk hat sich die Verfassung gegeben, sondern sie wird vom herrschenden Staat oktroyiert. 25 souveräne Einzelstaaten schließen sich zu einem Bundesstaat zusammen. Reich und Einzelstaaten Dominanz Preußens Einzelstaaten behalten Souveränitätsrechte 70 Die 25 Bundesstaaten entsenden insgesamt 58 weisungsgebundene Vertreter in den Bundesrat. Preußen nimmt zwei Drittel der Fläche ein und hat ca.60% der Einwohner des Reiches; es stellt 17 Vertreter und kann damit Verfassungsänderungen und andere wichtige Entscheidungen durch sein Veto verhindern. Um die süddeutschen Staaten zu gewinnen, erhalten diese Sonderrechte (Reservatrechte), z.B. den Oberbefehl über das Heer in Friedenszeiten, die Hoheit über das Post- und Telegraphenwesen und über die Eisenbahn. Zu einem Konflikt zwischen Preußen und den kleinen Staaten ist es nicht gekommen. Die Einzelstaaten dürfen eigene Gesandtschaften unterhalten, behalten also einen Großteil ihrer Souveränität. Auch das alte Wahlrecht innerhalb der Einzelstaaten bleibt erhalten. 4110_059_092_1Aufl 29.11.2006 13:59 Uhr Seite 71 1 Die Reichsverfassung Das Reich hat nur Einnahmen durch Post,Zölle,einige Verbrauchssteuern,ist aber im Wesentlichen von den Matrikularbeiträgen der Einzelstaaten abhängig. Die Organe Der Deutsche Kaiser Ernennt den Reichskanzler, der nur ihm verantwortlich ist; leitet die Exekutive – der Kanzler muss zwar Anordnungen des Kaisers gegenzeichnen, ist aber völlig von ihm abhängig; ist gleichzeitig Preußischer König und als solcher Präsident des Bundesrates; hat die völkerrechtliche Vertretung; hat den Oberbefehl über die Streitkräfte und wird dabei weder vom Parlament noch von der Regierung kontrolliert; kann mit Zustimmung des Bundesrates eine Kriegserklärung abgeben; kann Reichstag und Bundesrat einberufen, die Sitzungen schließen und den Reichstag auflösen. Das Amt ist innerhalb der Dynastie der Hohenzollern erblich. Reichskanzler Wird nicht vom Parlament gewählt oder abberufen, sondern vom Kaiser ernannt, braucht also immer sein Vertrauen; ist gleichzeitig preußischer Ministerpräsident; ist nicht dem Parlament verantwortlich; hat den Vorsitz im Bundesrat; erledigt die Regierungsgeschäfte und bedient sich dabei beamteter Staatssekretäre. Bundesrat Beschließt zusammen mit dem Reichstag die Gesetze; kann Verfassungsänderungen verhindern; kontrolliert die Regierung über die Ausschüsse; kann Reichstag mit Zustimmung des Kaisers auflösen; stützt durch seine Macht das monarchische System. Reichstag Wird durch allgemeines, gleiches, unmittelbares, geheimes Wahlrecht für Männer über 25 Jahre gewählt; als Vertretung des Volkes für 3 Jahre, ab 1890 für 5 Jahre bestimmt; Gesetzgebungsbefugnis zusammen mit dem Bundesrat; genehmigt den Haushalt des Reiches; kein Einfluss auf Regierungsbildung oder auf Abwahl der Regierung; Starke Stellung des Kaisers Keine Verantwortung dem Parlament gegenüber Gesetzgebung und Kontrolle der Regierung Gesetzgebung, keine Kontrolle der Regierung 71 4110_059_092_1Aufl 29.11.2006 13:59 Uhr Seite 72 D Das deutsche Kaiserreich Konstitutionelle Monarchie mit schwachen demokratischen Elementen 72 Bewertung Die Verfassung stellt eine konstitutionelle Monarchie dar. Alle wesentlichen Befugnisse bleiben in der Hand des Kaisers. Die Dominanz Preußens bleibt erhalten. Die süddeutschen Staaten werden durch Sonderrechte gewonnen. Das Wahlrecht für den Reichstag ist zwar modern, aber das demokratische Element ist nur sehr schwach ausgeprägt, weil es keine vom Parlament gewählte Regierung gibt. Grundrechte sind nicht enthalten. Solange zwischen Kaiser und Kanzler (Wilhelm I. und Bismarck) ein enges Vertrauensverhältnis besteht und der Kanzler weitgehend freie Hand hat,kann der Kanzler wirklich die Richtlinien der Politik bestimmen. Mit dem Regierungsantritt Wilhelms II. wird die begrenzte Macht des Kanzlers sichtbar. 4110_059_092_1Aufl 29.11.2006 13:59 Uhr Seite 73 2 Bismarcks Innenpolitik 2 Bismarcks Innenpolitik Vereinheitlichungen in der Verwaltung Einheitliches Handelsrecht schon in der Zeit des Norddeutschen Bundes; 1871 Strafgesetzbuch; 1879 einheitliche Gerichtsverfassung; Festlegung der neuen Maße und Gewichte:Meter,Liter,Kilogramm; Einführung der Mark, abgedeckt durch Gold; Ausbau der Reichspost, außer in Reservatgebieten. Der Umgang mit den Parteien Die Parteien entwickeln sich erst langsam,sie finden im Reichstag ein Forum, in dem sie sich profilieren können. Es handelt sich zunächst nicht um Volksparteien, sie haben nur wenig Mitglieder, sondern um Honoratiorenparteien oder um Vertreter von Interessengruppen. Ausnahme sind die Sozialisten, die über eine große Mitgliederzahl verfügen. Bismarck stützt seine Regierungsarbeit nicht auf Parteien, braucht sie aber zur Haushaltsbewilligung. Er bedient sich dabei unterschiedlicher Parteien und spielt sie auch gegeneinander aus. Die Sozialistische Arbeiterpartei Deutschlands (seit 1875) beheimatet Marxisten genauso wie Anhänger von Lassalle; sie begrüßt die nationale Einigung, ist aber auch international orientiert und fordert eine Republik; wegen ihrer antibürgerlichen Haltung sieht Bismarck die Sozialisten als Reichsfeinde an,von denen die Gefahr eines Umsturzes ausgehen kann. Das Zentrum ist das politische Sprachrohr des Katholizismus. Es ist antipreußisch und föderalistisch eingestellt. Aus Liberalen und Demokraten der Paulskirche entsteht 1861 die Deutsche Fortschrittspartei. Sie kämpft für ein allgemeines, gleiches, geheimes und direktes Wahlrecht, für eine parlamentarische Regierung und lehnt staatliche Eingriffe in die Wirtschaft ab. Sie lehnt die Politik Bismarcks ab. Der rechte Flügel spaltet sich ab und bildet ab 1867 die Nationalliberale Partei.Sie vertritt das Besitz- und Bildungsbürgertum,teilweise auch den Mittelstand und unterstützt den politischen Kurs Bismarcks. Bis 1879 stärkste Fraktion. Im Streit um die Schutzzollpolitik spaltet sich der linke Flügel ab und bildet ab 1884 mit der Deutschen Fortschrittspartei die Deutsche Freisinnige Partei. Es gibt zwei konservative Parteien: Die Deutsche Reichspartei unterstützt Bismarck bedingungslos,sie vertritt preußische Monar- Die Parteien im Reichstag 73 4110_059_092_1Aufl 29.11.2006 13:59 Uhr Seite 74 D Das deutsche Kaiserreich chisten: Offiziere, Beamte, Großgrundbesitzer, evangelische Geistliche. Die Deutsch-Konservative Partei lehnt Bismarcks Kurs teilweise ab. Der Kulturkampf Die katholische Kirche erlebt unter Papst Pius IX. eine dogmatische Festigung und eine Stärkung der Hierarchie. Diese entstehen in der geistigen Auseinandersetzung mit dem Liberalismus, dessen politische und wirtschaftliche Grundsätze verworfen werden. Als das Vatikanische Konzil 1870 mit dem Unfehlbarkeitsdogma (in Glaubens- und Sittenfragen) die Stellung des Papstes stärkt, ist die Empörung der Liberalen und des Protestantismus groß. Bismarck hat andere Motive als seine liberalen Parteigänger. Er sieht eine Gefahr für das preußisch-deutsche Reich durch Kräfte von außen und innen (Rom, Süddeutschland, Österreich, polnische Minderheiten) und möchte daher eine strikte Trennung von Kirche und Staat durchführen. Daher will er das Zentrum als politische Kraft schwächen und die katholische Geistlichkeit als politischen Faktor ausschalten. Versuch, das Zentrum und die katholische Kirche politisch zu schwächen Bismarck setzt sich nicht durch 74 Einzelmaßnahmen Die geistliche Schulaufsicht wird durch die staatliche ersetzt. Im „Kanzelparagraphen“ werden Geistliche mit Freiheitsstrafen bedroht, wenn sie Staatsangelegenheiten so erörtern, dass der öffentliche Friede gefährdet wird. Die Zivilehe wird eingeführt und ist für den Staat alleine rechtsgültig. Der Jesuitenorden und alle anderen Orden, soweit sie nicht Krankenpflege betreiben, werden verboten. Staatliche Geldzuwendungen an die katholische Kirche werden gesperrt. Ergebnis 1876 sind alle preußischen Bischöfe verhaftet oder ausgewiesen, ein Viertel der katholischen Pfarreien unbesetzt. Die katholische Bevölkerung steht hinter dem Klerus in seinem passiven Widerstand. Das Zentrum kann seine Stimmenzahl verdoppeln. Bismarck hatte geglaubt, eine geistige Auseinandersetzung mit Polizeigewalt entscheiden zu können. Er nimmt schließlich einzelne Maßnahmen zurück; nur Kanzelparagraph, Zivilehe, Jesuitengesetz und staatliche Schulaufsicht bleiben. 4110_059_092_1Aufl 29.11.2006 13:59 Uhr Seite 75 2 Bismarcks Innenpolitik Gründe für die Schutzzollpolitik Die einheimische Getreideproduktion reicht wegen des starken Bevölkerungswachstums nicht mehr aus und billiges Getreide aus Russland und Übersee überschwemmt den deutschen Markt. Die deutsche Eisenindustrie kann mit dem billigen englischen Eisen nicht konkurrieren. Bismarck möchte durch die Zolleinnahmen des Reiches von den Zuweisungen der Länder unabhängiger werden. Der Kampf gegen die Sozialisten Zwischen dem Reichskanzler,der auf die Erhaltung der überlieferten Autoritäten besteht und den Sozialisten, die Staat und Gesellschaft umgestalten wollen, besteht ein scharfer Gegensatz. Bismarck überschätzt aber völlig die revolutionäre Gefahr,die von den Sozialisten ausgeht. Die Anhänger Lassalles, die eher gemäßigt sind, haben in der Partei die Mehrheit. Als zwei Attentate auf den Kaiser fehlschlagen, mit denen die Sozialisten nichts zu tun haben, nutzt der Kanzler die aufgebrachte Stimmung für die Durchsetzung der Sozialistengesetze (1878). Bismarck überschätzt die Gefahr einer Revolution Inhalt der Sozialistengesetze Alle sozialistischen Vereine,Versammlungen und Druckschriften werden verboten. Sozialistische Agitatoren können ausgewiesen werden. In „gefährdeten“ Bezirken kann die Polizei durch den „kleinen Belagerungszustand“ hart durchgreifen. Ergebnisse Die Nationalliberalen, die das Gesetz mitgetragen haben, stürzen in einen inneren Konflikt, weil das Gesetz liberalen Grundsätzen widerspricht; ihre Spaltung bereitet sich vor. Statt der verbotenen Organisationen entstehen Arbeitersportvereine und Arbeitergesangsvereine als Tarnorganisationen. Die Publikationen werden in der Schweiz gedruckt. Nach einem kurzen Rückgang steigt die Stimmenzahl der Sozialdemokraten trotz der Unterdrückungsmaßnahmen kräftig an. Die Partei gibt sich in Erfurt 1891 ein wesentlich radikaleres, marxistisches Programm. Die Gesetze verfehlen ihren Zweck vollkommen. Völliges Scheitern der Sozialistengesetze 75