Der voranschreitende Industrialisierungsprozess erforderte neue

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SS 2011
Prof. Dr. Hans-Werner Hahn
Grundkurs 19./20. Jahrhundert.
5. Wirtschaft, Gesellschaft und Politik in Europa 1870-1914
Teil 1
I.
Die Epoche und die Perspektiven der Forschung:
Die Jahrzehnte zwischen 1871 und 1914 waren für ganz Europa, insbesondere
aber für das 1871 gegründete Deutsche Reich, eine Phase grundlegender und
rascher Veränderungen. Die Entstehung neuer Nationalstaaten, besonders die
Gründung des Deutschen Reiches 1871, schuf neue Strukturen in dem bislang
auf dem Gleichgewichtsprinzip basierenden europäischen Staatensystem.
Hochindustrialisierung, sozialer Wandel und Urbanisierungsprozesse stellten
Staat und Gesellschaft überall in Europa vor neue Herausforderungen. Die damit
verbundenen soziokulturellen Veränderungen und die Auseinandersetzungen
über Ziele, Wege und Gefahren der Modernisierung führten zu einer
Fundamentalpolitisierung der Gesellschaft und verstärkten die Forderungen
nach Anpassung der politischen Systeme an die neuen sozialökonomischen
Strukturen. Die veränderten inneren Strukturen wirkten sich auch auf das
europäische Staatensystem immer stärker aus, das mit dem Übergang zum
Imperialismus in eine neue Phase internationaler Konflikte eintrat.
Veränderte Perspektiven der Forschung bei der Betrachtung der Epoche:
Der Blick löst sich immer mehr von rein nationalgeschichtlichen Betrachtungen,
in den Vordergrund rücken die Gemeinsamkeiten der europäischen, besonders
der west- und mitteleuropäischen Entwicklung. Dies ist nicht zuletzt die Folge
der Debatte über den sogenannten „deutschen Sonderweg“. In der nach 1945,
vor allem aber seit den sechziger Jahren entwickelten Sonderwegsthese“ gingen
Historiker (Wehler) davon aus, dass Deutschland mit seiner verspäteten
Nationalstaatsgründung einen abweichenden Weg in die Moderne gegangen sei.
Das neue Deutsche Reich wurde zwar in wirtschaftlicher und sozialer Hinsicht
ein sehr moderner Staat, blieb aber bis 1914 in der Entwicklung seiner
politischen Ordnung und politischen Kultur hinter einem westeuropäischen
„Normalzustand“ zurück. Hierin sah man auch einen maßgeblichen Grund für
das Scheitern der Weimarer Republik. Seit den achtziger Jahren ist diese These
gerade von angelsächsischer Seite (Blackbourn/Eley) heftig attackiert worden
und durch mehr vergleichende länderübergreifende Ansätze erheblich relativiert
worden.
Sowohl die verstärkten Forschungen zu den wirtschaftlichen und sozialen
Prozessen der Epoche, vor allem zur Sozialgeschichte einzelner
gesellschaftlicher Gruppen, als vor allem auch die neuen Ansätze der Kulturund Alltagsgeschichte haben zu einem vorsichtigeren Umgang mit den älteren
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Deutungsmustern geführt. Die scheinbar klaren Einstufungen der Epoche „Zeitalter des Bürgertums“ oder „Zeitalter der europäischen Nationalstaaten“ –
werden heute nicht mehr so klar vertreten. Die Jahre zwischen 1871 und 1914
waren zwar eine Zeit tiefgreifender Veränderungen. Allerdings behaupteten sich
neben dem Modernen auf allen Feldern viele Elemente der Tradition. Dieses
Spannungsverhältnis von Moderne und Tradition tritt im Zuge der neueren
Forschungen immer stärker hervor. Neben Fortschrittsbegeisterung standen um
1900 Fortschrittskritik und Fortschrittspessimismus, die sich in vielfältigen
antimodernistischen Strömungen niederschlugen.
II.
WIRTSCHAFT: Hochindustrialisierung und Aufstieg zum
Industriestaat.
Mit der sogenannten „Gründerkrise“ von 1873 endete die große
Wachstumsphase, in der die Industrielle Revolution in Deutschland zum
Durchbruch gelangt war. Die Gründerkrise leitete eine neue Phase ein, die erst
Mitte der neunziger Jahre zu Ende ging. Während die Jahre vor 1873 angesichts
explodierender Wachstumsraten ganz vom Fortschrittsoptimismus bestimmt
waren, herrschte in den Jahren zwischen 1873 und 1895 weithin eine
pessimistische und unzufriedene Grundstimmung vor. Der
Industrialisierungsprozess wurde in der Periode zwischen 1873 und 1895 aber
nicht unterbrochen, sondern schritt nur mit einem etwas langsameren
Wachstumstempo voran. Mitte der neunziger Jahre setzte wieder ein
Aufschwung ein, der eine starke Dynamik entfaltete und bis zur
Jahrhundertwende auf hohem Niveau anhielt. Entscheidend für die hohen
Wachstumsraten waren zum einen auf der Angebotseite spektakuläre
Basisinnovationen in den neuen Wachstumsbranchen Elektrotechnik und
Chemie. Zum anderen sorgte auf der Nachfrageseite der mit der beschleunigten
Urbanisierung steigende Bedarf an Wohnungen und Infrastruktur für kräftige
Impulse. Neben den günstigen binnenwirtschaftlichen Rahmenbedingungen
wirkte sich die Weltkonjunktur belebend auf die deutsche und europäische
Wirtschaftsentwicklung aus. Es kam zu einer "Zweiten Industriellen
Revolution", die vor allem von der Chemie und der Elektrotechnik getragen
wurde. Deutschland wies in diesen Betreichen besonders große Erfolge auf, die
auf der engen Verbindung von wissenschaftlicher Forschung und industrieller
Produktion beruhten. Die Entwicklung der wachstumsintensiven
Industriebranchen war nun ferner bestimmt vom unaufhaltsamen Aufstieg der
Großunternehmen mit über tausend Beschäftigten, die von einem kaufmännisch
und technisch hochqualifizierten Management geführt wurden. Die bevorzugte
Organisationsform der Großunternehmen war die Aktiengesellschaft. Immer
wichtiger wurden hierbei die Großbanken (Deutsche Bank, Dresdener Bank,
Darmstädter Bank, Disconto-Gesellschaft, Commerzbank). Das Deutsche Reich
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war um 1900 ein moderner Industriestaat und stand auf gleicher Höhe wie
Großbritannien - das Mutterland der Industrie.
Die moderne Industrie veränderte nicht nur die Sozialstruktur, sondern
zugleich das Alltagsleben. Die Menschen profitierten von der sich nun
deutlicher abzeichnenden Steigerung des allgemeinen Wohlstandes. Zugleich
aber wuchsen die Abstände zwischen den Reichen und denen, die unter dem
Durchschnitt verdienten. Darüber hinaus waren mit der Industrialisierung neue
soziale Probleme entstanden, zu deren Lösung es weiterer Anstrengungen
bedurfte. Das galt vor allem für die Sozialpolitik, aber auch für die ökologischen
Kosten des wirtschaftlichen Modernisierungsprozesses, die in der Forschung der
letzten Jahre verstärkte Beachtung gefunden haben. Letztere waren um 1900
bereits deutlich zu erkennen und wurden von Zeitgenossen auch thematisiert.
Der Staat verfügte zwar bereits über ein gesetzliches Instrumentarium
umweltrechtlicher Bestimmungen, von einer weitreichenden staatlichen
Umweltpolitik konnte jedoch noch keine Rede sein.
III.
GESELLSCHAFT im Wandel (am Beispiel Deutschlands)
Die alte ständische Gesellschaft wurde durch die wirtschaftlichen
Modernisierungsprozesse zwar nicht schlagartig in eine neue
Klassengesellschaft umgewandelt, in der die soziale Statuszuweisung nur noch
nach Besitz, Leistung und Marktposition geregelt wurde. Es gab fließende
Übergänge und viele ständische Relikte. Dennoch beschleunigte sich mit der
Hochindustrialisierung und ihren Folgen der soziale Wandel um 1900 in nie
gekanntem Ausmaß. Dies galt gerade für Deutschland, wo
Bevölkerungswachstum, Migration und Verstädterung besonders stark waren.
Die Bevölkerung des Reiches war zwischen 1871 und 1890 schon von 41 auf
49 Millionen gestiegen und kletterte bis 1913 auf fast 67 Millionen. Es waren
vor allem die industriellen Ballungszentren, in denen ein starker Zuwachs der
Bevölkerung zu verzeichnen war. Das Bevölkerungswachstum ging zum Teil
auch auf Zuwanderung ausländischer Arbeitskräfte (Polen im Ruhrgebiet)
zurück. Dagegen spielte die Auswanderung aus Deutschland seit den neunziger
Jahren des 19. Jahrhunderts eine immer geringere Rolle. Bei den
innerdeutschen Wanderungsprozessen gewann die Fernwanderung an
Bedeutung. Vor allem die preußischen Ostprovinzen wurden zum wichtigen
Reservoir der west- und mitteldeutschen Industriezentren. 1907 lebten 47% der
deutschen Bevölkerung nicht mehr an ihrem Geburtsort. Mit wirtschaftlichem
Wachstum und Binnenwanderung beschleunigte sich Verstädterung. Immer
mehr Menschen lebten in Städten. 1871 hatte es im Reich erst 75 Mittelstädte
gegeben mit Einwohnern über 20 000 und 8 Großstädte mit mehr als 100 000
Einwohnern. 1910 lag die Zahl der Städte mit mehr als 20 000 Einwohnern
bereits bei 223. Die Zahl der Großstädte war dagegen von 8 auf 48 gestiegen.
Berlin hatte seine Einwohnerzahl mehr als verdoppelt und zählte nun über 2
Millionen. Die Verstädterung ging einher mit dem sogenannten
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Urbanisierungsprozess. Unter Urbanisierung wird die Bewältigung der mit der
Verstädterung auftretenden Probleme verstanden. Hierbei ging es zum einen
um die Stadtplanung und zum anderen um die Stadterweiterung. Die Stadt war
das große Bewährung- und Experimentierfeld des deutschen Bürgertums, das
im Staat von der direkten Herrschaft ausgeschlossen blieb, im lokalen Bereich
aber als Herrschaftsträger wichtige Impulse setzte. Eine wichtige Rolle spielten
hierbei die von den Städten angestellten Fachkräfte wie Juristen und
Ingenieure, aber auch die ehrenamtliche Tätigkeit der Bürger in den
städtischen Gremien und privaten Vereinen kam eine große Bedeutung zu. Aus
den Aufbauerfolgen in den Städten leiteten die bürgerlichen Eliten einen
Führungsanspruch ab, der sowohl gegenüber dem Staat als auch gegenüber der
Arbeiterschaft (restriktives kommunale Wahlrecht) verteidigt wurde.
Wichtigste gesellschaftliche Großgruppen: Bürgertum: Das Bürgertum
bestimmte in den Jahrzehnten zwischen 1870 und 1914 immer mehr die
wirtschaftlichen, gesellschaftlichen, kulturellen Prozesse. Es war insgesamt eine
heterogene Gruppe, setzte sich zusammen aus dem Wirtschaftsbürgertum
(Industrielle, Bankiers, Großkaufleute), dem sogenannten „Bildungsbürgertum“
(akademisch gebildete Bürger), und dem städtischen Bürgertum (Handwerk,
Handel, Angestellte, Beamte). Einen wichtigen Teil stellte das jüdische
Bürgertum. Arbeiterschaft: Starke Zunahme der Lohnarbeiter. Die
Arbeiterklasse war aber ebenso wenig wie das Bürgertum eine homogene
Klasse. Alter, Geschlecht, Berufsqualifikation, Lohnhöhe sowie Wohn- und
Arbeitsort sorgten für große Unterschiede, die durch das Tempo der
wirtschaftlichen Entwicklung und weitere Veränderungen in der Arbeitswelt um
1900 eher zu- als abnahmen. Ungeachtet aller Unterschiede gab es doch eine
Fülle von Gemeinsamkeiten innerhalb dieser Großgruppe: Lohnarbeit, geringe
Löhne, schlechte Arbeits- und Wohnverhältnisse. Klassenbewusstsein und
Arbeiterbewegung schritten in jenen Jahrzehnten am stärksten voran, in denen
die Verstädterung ihre stärkste Beschleunigung erfuhr. In den Städten entstand
ein proletarisches Milieu, das die Klassenbildung beschleunigte. Auch die
gemeinsam erfahrene Diskriminierung durch Staat und Teile der Gesellschaft
und die Repression gegen ihre Organisationen (Sozialistengesetz,
Behinderungen der Gewerkschaftsarbeit, Drei-Klassenwahlrecht) förderte die
Klassenbildung und den Ausbau der sozialdemokratischen Organisationen.
Neben Partei und Gewerkschaften kam den Konsumvereinen und den
kulturellen Vereinen (Arbeitersportvereine, Gesangsvereine,
Arbeiterbildungsvereine) eine große Bedeutung zu. Durch diese Strukturen
setzte sich die Arbeiterkultur von der bürgerlichen Welt ab, übernahm dabei
aber wesentliche Organisationsmerkmale der neuen bürgerlichen Gesellschaft
(Organisationsform des Vereins, Bildungsgedanke).
Ländliche Gesellschaft: um 1900 waren noch 38% der Erwerbstätigen in der
Landwirtschaft beschäftigt. Die landwirtschaftliche Erwerbstätigkeit wies viele
Formen und unterschiedliche Interessen auf. Die Vielfalt bäuerlicher Existenz
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nahm um 1900 noch zu, denn mit der fortschreitenden Marktintegration wuchs
der soziale Abstand zwischen großen, mittleren und kleinen Bauern. In den
größeren Betrieben, vor allem aber auf den großen Rittergütern Ostelbiens setzte
sich der Übergang zu moderner Landtechnik früher durch und vergrößerte die
Einkommensgefälle innerhalb der Agrarproduzenten. Insgesamt wies die
ländliche Welt große soziale Unterschiede auf. Am unteren Rand standen die
Landarbeiter, deren Zahl aber um 1900 absolut wie relativ zurückging.
Adel: Stand im 19. Jahrhundert vor neuen Herausforderungen, hat sich aber in
vielen europäischen Staaten noch gut behauptet, auch in ökonomischer Hinsicht.
In Diplomatie, Verwaltung und Militär war der Adel noch eindeutig
überrepräsentiert. Der Adel passte sich zwar den neuen Leistungsstandards der
bürgerlichen Gesellschaft an, seine starke Stellung im Staat verdankte er aber in
erster Linie den fortbestehenden traditionellen Vergabekriterien und dem
Zugang zu den Monarchen. Der Adel unternahm im Laufe des 19. Jahrhunderts
auch selbst zahlreiche Aktivitäten, um seinen politischen und sozialen Einfluss
zu wahren: Engagement in der Politik, führende Rolle in Vereinen,
Kulturförderung.
Die Gesellschaft des Deutschen Kaiserreichs war eine außerordentlich
dynamische Gesellschaft, in der sich verschiedene Schichten und Klassen,
moderne Elemente und überkommene ständische Strukturen in- und
übereinander schoben. Es gab soziale Mobilität, aber der damit verbundene
Aufstieg verlief in der Regel horizontal, nicht vertikal. Auf- und Abstieg
vollzogen sich meist innerhalb der jeweiligen Schicht. Grenzüberschreitender
Aufstieg vollzog sich meist nur über mehrere Generationen. Die Gesellschaft
blieb eine stark segmentierte Gesellschaft. Soziale Ungleichheit war ein
wichtiges Merkmal. Sie gründete immer mehr auf den Marktbeziehungen,
wurde aber auch durch den Staat noch beeinflusst, der Teile der Gesellschaft –
Adel, Militär und Beamte – privilegierte, den alten Mittelstand schützte und den
neuen – die Angestellten – stützte. Er begann aber auch damit, die ungleichen
Lebenschancen durch Umverteilung – Sozialgesetzgebung, neue
Einkommensteuer – zu mildern. Gerade dieses Nebeneinander von Altem und
Neuem sorgte für den Spannungsreichtum der Gesellschaft. Mit Wirtschaft und
Gesellschaft änderten sich auch die Lebensformen der Menschen: größere
Mobilität durch neue Verkehrssysteme, neue Siedlungs- und Wohnformen, neue
Massenprodukte und neue Vertriebsformen wie das Warenhaus in den
Großstädten.
Familie und Geschlechterbeziehungen:
Die dynamischen Entwicklungen an der Jahrhundertwende schlugen sich auch
in den Familien, in den Geschlechterverhältnissen und in den
Generationskonflikten nieder. Der gesellschaftliche Umbruch wirkte sich auf
alle drei Familientypen aus: auf die traditionale bäuerliche Familie
(Kommerzialisierung der Landwirtschaft, Konkurrenz industrieller
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Arbeitsplätze, Rückgang des Gesindes, wachsende Konflikte mit
selbstbewusster auftretenden Kindern), auf die Arbeiterfamilie (kürzere
Arbeitszeiten, steigende Löhne, allmählich bessere Wohnverhältnisse, privateres
Familienleben, Geburtenplanung und Anpassung an kleinbürgerliche
Verhaltensweisen) und in der bürgerlichen Familie (Rückgang der Kinderzahl,
partnerschaftlicheres Verhältnis der Ehepartner, Lockerung der Erziehungsstile).
Frauen im Kaiserreich: Die Gesellschaft des Kaiserreichs war eine von den
Männern dominierte Gesellschaft, die dem anderen Geschlecht sozial, rechtlich
und politisch eine gleichberechtigte Stellung verweigerte. Obwohl dies auch im
Bürgerlichen Gesetzbuch von 1900 nochmals festgehalten wurde, fehlte es in
den Jahren vor 1914 nicht an Signalen, die auf einen Umbruch in den
Geschlechterbeziehungen hindeuteten. Die Rolle der Frauen in der Gesellschaft
konnte von den sozialen, wirtschaftlichen, politischen und kulturellen
Veränderungen nicht unbeeinflusst bleiben, damit aber erhielt auch die
Forderung nach rechtlicher Gleichstellung neuen Schub. Zum einen gewann die
weibliche Erwerbsarbeit quantitativ und qualitativ eine neue Bedeutung. Zum
anderen forderten Vertreterinen der bürgerlichen Frauenbewegung (Gertrud
Bäumer, Helene Lange) und der proletarischen Frauenbewegung (C. Zetkin)
eine bessere Rechtsstellung der Frau, zunehmend auch das Wahlrecht und
gleiche Bildungschancen.
Aufbruch der Jugend und andere Reformbewegungen des Kaiserreichs.
Die Gesellschaft des Kaiserreichs war im Jahrzehnt vor dem Ersten Weltkrieg
eine besonders junge Gesellschaft. Dies führte zu neuen Generationenkonflikten.
Der Anteil der unter Dreißigjährigen hatte stark zugenommen, besonders in den
Städten. Für die wachsende Zahl der Jugendlichen wurden Bildungsangebote
erweitert und besonders im Hinblick auf die proletarische Großstadtjugend neue
Fürsorgesysteme entwickelt, die aber nur zu begrenzten Erfolgen führten. Die
Generationenkonflikte gab es auch mit der bürgerlichen Jugend, die sich gerade
um 1900 von der Lebenswelt der Erwachsenen zu distanzieren begann. Dies
bildete den Hintergrund der Jugendbewegung, die gegen die wilhelminischen
Gesellschafts- und Lebensformen rebellierte und sich in autonomen Gruppen
mit bündischer Struktur und einem ausgeprägten Gemeinschaftsleben
organisierte (Wandervogel, Deutsche Akademische Freischar; „Freideutsche
Jugend“ von 1913). Die Jugendbewegung, die zahlenmäßig wie sozial auf einen
kleinen Teil der Jugend beschränkt blieb, war eine Aufbruchs- und
Protestbewegung. Sie verband vorwärtstreibende Zeitkritik mit einer
rückwärtsgewandten Flucht aus den Realitäten. Ihr Bild war vielgestaltig, neben
fortschrittlichen Reformern standen auch bereits die Prediger völkischer
Ideologien.
Zu den Reformbewegungen der Jahrhundertwende zählte ferner die
Lebensreformbewegung. Sie war eine aus dem Bürgertum kommende Reaktion
auf Industrialisierung und Urbanisierung und beklagte den gesundheitlichen und
sittlichen Verfall des modernen Großstadtmenschen. Die Krise, in welche die
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Industriegesellschaft geführt hatte, sollte durch eine Versöhnung von Mensch
und Natur überwunden werden. Eine weitere Reaktion auf den rapiden
wirtschaftlichen Wandel und seine Folgen war auch die Heimatschutzbewegung.
1904 entstand mit dem „Bund für Heimatschutz“ ein gesamtdeutscher
Zusammenschluss. Die Heimatschutzbewegung beklagte die
Landschaftszerstörungen und kritisierte die großstädtische Zivilisation. Die
Reformbewegungen der Jahrhundertwende betrafen schließlich auch die
Bereiche der Kunst, Literatur, Theater und Musik. Mit dem neuen
künstlerischen und literarischen Aufbruch (Naturalismus, Impressionismus,
Expressionismus) wurde endgültig deutlich, dass sich nicht nur die Einheit des
Bildungsbürgertums aufzulösen begann, sondern auch der bisherige Konsens,
auf dem das bürgerliche Kunstverständnis beruhte. Die Krise der Kunst
spiegelte somit die Krise der bürgerlichen Gesellschaft wider. Hinzu kam die
„kulturelle Bedrohung“ durch den allmählichen Aufstieg der sogenannten
Massenkultur (Grammophon, Stummfilmkino, Fotografie und Massenpresse).
Die gesamten Reformbewegungen, die letztlich nur eine Minderheit
umschlossen, wiesen überhaupt ein Nebeneinander unterschiedlichster
Zielsetzungen auf. Gemeinsam war ihnen, dass sie von einer jungen Generation
der Gebildeten getragen wurden und die Ambivalenzen und Widersprüche der
modernen Zivilisation viel bewusster wahrnahmen als die vom
Fortschrittsoptimismus geprägte Vorgängergeneration. Die Gesellschaft des
Kaiserreichs erschien den Reformkräften zu materialistisch und
individualistisch, zu oberflächlich und geistlos. Das in den Debatten
hervortretende Krisenbewusstsein der bürgerlichen Kreise wirkte auf vielfältige
Weise in den politischen Bereich hinein.
IV.
POLITISCHE SYSTEME
Teil 1 Deutsches Kaiserreich: Das Deutsche Reich entstand aus einem
langwährenden Prozess, bei dem „innere Nationsbildung“ und Bismarcks
„Revolution von oben“ ineinander griffen. Es verwirklichte einen Teil jener
Forderungen, die die liberale und nationale Bewegung seit 1815 erhoben
hatte, war aber kein „freiheitlich-parlamentarischer“; sondern ein
„autoritärer“ Nationalstaat. Obwohl der Nationsbildungsprozess gerade
innerhalb des „kleindeutschen“ Reichsgebietes vor 1871 weit
vorangeschritten war (Vereine, Kultur, wirtschaftliche Prozesse,
Politisierung) und die Reichsgründung von vielen Deutschen begeistert
begrüßt wurde, stand das neue Reich noch vor großen Integrationsproblemen.
Viele deutschsprachige Bürger dieses Reiches (vor allem die Katholiken)
standen dem Reich mit seiner norddeutsch-protestantischen Führungsmacht
noch skeptisch gegenüber. In noch stärkerem Maße galt dies für nationale
Minderheiten wie Polen und Dänen. Die große Mehrheit der deutschen Juden
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begrüßte dagegen die Reichsgründung als Abschluss und Garant ihrer
staatsbürgerlichen Gleichstellung.
Die Verfassung des Deutschen Reiches: Das neue Reich war ein Bundesstaat, der
einerseits den Einheitswünschen der Deutschen Rechnung trug, andererseits aber auch
auf die föderativen Traditionen der deutschen Geschichte Rücksicht nahm. Die
Souveränität lag nicht bei Volk, auch nicht beim Kaiser, sondern bei den 22 Fürsten
und drei freien Städten, die sich zum Bundesstaat zusammenschlossen. Der
Föderalismus des Reiches war freilich ein hegemonialer. Das erdrückende politische
Übergewicht Preußens war in vielerlei spürbar. Dennoch sollte man nicht leichtfertig
von der Verpreußung des Reiches sprechen, denn auch Preußen wurde im Verlaufe des
Kaiserreichs von den stärker werdenden Tendenzen einer „Verreichung“ erfasst. Das
Spannungsverhältnis Preußen und Reich blieb bis zuletzt ein wichtiger Faktor der
deutschen Politik. An der Spitze der vier Reichsorgane stand der Kaiser. Er ernannte
und entließ den Reichskanzler, vertrat das Reich nach außen und hatte den Oberbefehl
über die Streitkräfte. Der Bundesrat setzte sich aus den Bevollmächtigten der
Einzelstaaten zusammen und besaß sowohl legislative wie exekutive Kompetenzen. Er
sollte dazu beitragen, die preußische Hegemonie möglichst unauffällig auszuüben und
die Machtansprüche des Reichstages zu bremsen. Der Reichskanzler übte den Vorsitz
im Bundesrat aus. Da dieser in der Regel gleichzeitig auch Ministerpräsident von
Preußen war, brachte der Kanzler ein enormes politisches Gewicht in die Waagschale.
Der Reichskanzler war nicht in ein Reichskabinett eingebunden. Gegenüber dem
Reichstag vertrat allein der Kanzler die Reichspolitik. Eine politische Verantwortung
im modernen Sinne existierte aber nicht. Der Kanzler war im Grunde nicht gegenüber
dem Parlament, sondern nur gegenüber dem Kaiser politisch verantwortlich. All diese
Regelungen waren stark auf die Person Bismarck zugeschnitten. Der Reichstag war
das modernste Element der Verfassung. Er war das Symbol der neuen Nation und
zugleich ihr wichtigstes Forum. Der Reichstag bestand aus 397 Abgeordneten, die
nach einem allgemeinen, gleichen und geheimen Männerwahlrecht zunächst für eine
Legislaturperiode von drei, seit 1888 für fünf Jahre gewählt wurden. Die über ein
Mehrheitswahlrecht gewählten Abgeordneten genossen Immunität und erhielten bis
1906 keine Diäten. Neben dem Reichtagswahlrecht bestanden in den Einzelstaaten die
bisherigen, nach Besitz- und Steuerkriterien geregelten Wahlsysteme (preußisches
Dreiklassenwahlrecht) fort. Das wichtigste Recht des Reichstages betraf die
Mitwirkung an der Gesetzgebung. Hinzu kam die jährliche Bewilligung des
Reichshaushaltes. Auch konnte der öffentlich tagende Reichstag die Politik des
Reiches debattieren und von der Regierung Rechenschaft verlangen. Auf die
Regierungsbildung und die Regierungspolitik, vor allem auch auf das Militär hatte er
keinen direkten Einfluss. Die Regierung stand über den Parteien.
Die Parteien des Deutschen Reiches: Im Parteiensystem des Deutschen Kaiserreichs
bildete sich jene Fünfgliedrigkeit aus, die sich in Deutschland schon in den
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Jahrzehnten zuvor abgezeichnet hatte und das die gesamte Zeit des Kaiserreichs prägen
sollte. Bei den fünf Parteien handelt es sich um die Nationalliberalen, die
Linksliberalen, den im Zentrum organisierten politischen Katholizismus, die
Sozialdemokratie und die Konservativen. Die relative Stabilität dieses Systems hing
vor allem damit zusammen, dass sich die einzelnen Parteien in der Regel mit
„sozialmoralischen Milieus“ verbanden. Dieser Begriff ist ein Schlüsselbegriff der
deutschen Parteiengeschichte und meint, dass die jeweiligen Anhängergruppen nicht
nur durch ein bestimmtes Interesse, das in der Wahlentscheidung zum Ausdruck kam,
zusammengehalten wurden, sondern durch eine jeweils eigene Lebensweise, die von
einer spezifischen Kombination mehrerer Faktoren (wirtschaftliche und soziale
Interessen, kulturelle, konfessionelle und regionale Prägungen) bestimmt war. Typisch
für die deutschen Parteien war, dass ihre Programmatik schon lange vor der
organisatorischen Festigung entstanden war. Die deutschen Parteirichtungen waren als
Weltanschauungsrichtungen entstanden, zunächst weniger aus konkreten
Interessenlagen heraus. Sie blieben zwar keine reinen Weltanschauungsparteien, da die
Parteien aber nicht direkt in der politischen Verantwortung standen, waren sie auch
nicht gezwungen, ihre Ziele am politisch Machbaren auszurichten, also Kompromisse
auszuloten und Koalitionen einzugehen. Zu Beginn des Kaiserreichs waren die
Parteien, von der Sozialdemokratie abgesehen, Honoratiorenparteien. Sie stützten sich
vor Ort noch nicht auf eine feste, professionell geführte Organisation, sondern auf
einflussreiche und bekannte Persönlichkeiten. Erst im Laufe des Kaiserreichs
angesichts der Fundamentalpolitisierung (Massenpolitik) setzte die organisatorische
Verfestigung ein.
Wichtigste Etappen der Innenpolitik:
- Liberale Ära: Kooperation des Reichskanzlers Otto von Bismarck mit den
Nationalliberalen, wirtschaftsliberale Gesetzgebung, Währungseinheit,
Rechtsreformen, Kulturkampf gegen die katholische Kirche. Den Ausgangspunkt
des Kulturkampfes bildeten die Auseinandersetzungen zwischen dem sich
ausbreitenden modernen säkularen Staat und einer den bisherigen Einfluss
(Bildungswesen) verteidigenden katholischen Amtskirche, die dieser modernen
Welt im Zeichen des sogenannten Ultramontanismus entgegentrat. Die
Auseinandersetzungen zwischen einem konservativen Papsttum unter Pius IX.
(1854 Dogma der unbefleckten Empfängnis, 1864 Syllabus Errorum, 1869/70 das
1. Vatikanisches Konzil mit der Durchsetzung des Unfehlbarkeitsdogmas) und den
liberalen Kräfte waren längst vor 1870 im Gange. Seit der Reichsgründung
verschärften sich diese Auseinandersetzungen. Bismarck und die Liberalen
fürchteten, dass der Katholizismus zum Störfaktor des Reichsaufbaus werden
könnte.
- Das Sozialistengesetz von 1878: Die deutsche Arbeiterbewegung war in den
sechziger Jahren entstanden, durch Ferdinand Lassalles ADAV und die 1869 in
Eisenach von August Bebel und Wilhelm Liebknecht gegründete
Sozialdemokratische Arbeiterpartei. 1875 hatten sich beide Parteien in Gotha zur
Sozialistischen Arbeiterpartei Deutschlands zusammengeschlossen. Die Gründung
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einer eigenständigen Arbeiterpartei erfolgte in Deutschland vergleichsweise früh,
weil Bürgertum und Arbeiterschaft in Fragen einer staatlichen Sozialpolitik, des
Wahlrechts und der Kooperation mit dem Obrigkeitsstaat auf keinen gemeinsamen
Nenner mehr kamen. 1871 hatten erst 3% der Wähler sozialdemokratisch gewählt,
1874 waren es aber bereits 6,8%. Der wirtschaftliche und soziale Wandel, die
wachsende Zahl der Lohnarbeiter, vermehrte Streikbewegungen, die neue
Organisation der Sozialdemokratie und ihr Programm von 1875 mit den
Forderungen nach allgemeinem Wahlrecht, Volkssouveränität, freier Bildung sowie
politischen und sozialen Rechten der Arbeiter, all das ließ erwarten, dass die Partei
in Zukunft weiter wachsen würde. Hinzu kam, dass sie mit Bebel und Liebknecht
über fähige und mutige Führungspersönlichkeiten verfügte. Bismarck plante
frühzeitig umfangreiche Gesetze, um die Ausbreitung der Sozialdemokratie zu
verhindern. 1878 erreichte er nach zwei Attentaten auf den Kaiser, für die er die
Sozialdemokratie verantwortlich machte, und der Auflösung des Reichstages eine
Mehrheit für das Sozialistengesetz, das Vereine, Versammlungen und
Druckschriften des Sozialdemokratie verbot und Zuwiderhandelnde mit Strafen und
Aufenthaltsverboten bedrohte. Es war ein Ausnahmegesetz jenseits allgemein
anerkannter Rechtsnormen und gab der staatlichen Willkür breiten Raum.
- Die innenpolitische Wende von 1878/79. Das Sozialistengesetz war Teil der
sogenannten „innenpolitischen Wende“, die das Ende der „Liberalen Ära“
bedeutete. Bismarck suchte seit Mitte der siebziger Jahre nach Wegen, um sich aus
der zu starken Abhängigkeit von den Liberalen zu lösen. Langfristiges Ziel war es,
alle konservativen Kräfte zu gewinnen und sie mit dem kompromissbereiten Teil
der Nationalliberalen zu einer neuen Mehrheit zusammenzuführen. Bismarck wollte
all jene sammeln, die am Erhalt der bestehenden politischen und gesellschaftlichen
Ordnung ein Interesse haben mussten. Im Zuge der Gründerkrise verlor die liberale
Programmatik an Attraktivität, in der deutschen Wirtschaft wuchsen die
Schutzzollforderungen, Bismarck griff dies auf und wollte mit Schutzzöllen
gleichzeitig dem Reich mehr Eigeneinnahmen verschaffen. In der Frage der
Schutzzölle bildete sich innerhalb des Reichstags unter dem Druck neuer
wirtschaftlicher Interessenverbände mit der „Volkswirtschaftlichen Vereinigung
des Reichstages“ eine Mehrheit. Zur Durchsetzung der Schutzzölle brauchte
Bismarck aber die Stimmen des Zentrums. Der Kanzler hatte erkannt, dass der
Kampfkurs gegen das Zentrum und die katholische Kirche kontraproduktiv
geworden war, und auch den neue Papst Leo XIII. schien kompromissbereiter zu
sein als sein Vorgänger. Da ein Ausgleich mit den Nationalliberalen scheiterte,
nahm Bismarck ein Kompromissangebot des Zentrums an, das der Erhöhung von
Zöllen und Verbrauchssteuern zustimmte, zugleich aber verlangte, dass dem Reich
dadurch nur 130 Millionen Mark zufließen dürften. Alles, was an Einnahmen
darüber ging, musste auf die Einzelstaaten verteilt werden (Franckensteinsche
Klausel). Umgekehrt musste das Reich bei erhöhtem Finanzbedarf weiterhin
Matrikularbeiträge der Einzelstaaten einfordern. Bismarcks Plan, die Parlamente
auf Reichs- und Länderebene zu schwächen und der Reichsregierung mehr
finanzpolitischen Spielraum zu geben, war nicht aufgegangen. Auch das Zentrum
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war nicht bereit, die Rechte der Parlamente preiszugeben. Für Bismarck war die
Lösung mit dem Zentrum am Ende das geringere Übel. Die von den Liberalen als
Preis der weiteren Kooperation geforderte Stärkung des Reichstages war vermieden
worden, der Weg vom monarchisch-bürokratischen Obrigkeitsstaat zum bürgerlichliberalen Rechtsstaat künftig noch schwerer geworden. Die Nationalliberale Partei
geriet durch die neuen Entwicklungen und den nun deutlichen Bruch mit Bismarcks
Politik in eine schwere innere Zerreißprobe. Die liberale Ära, die den Reichsausbau
nach 1871 zunächst geprägt hatte, war nun zu Ende. In der Forschung hat man der
sogenannten innenpolitischen Wende von 1878/79 eine große Bedeutung für die
weitere Entwicklung des Kaiserreichs zugesprochen. Man hat von der
„konservativen Wende“, sogar von der „zweiten Reichsgründung“ gesprochen.
Bismarck habe unter de Eindruck der „großen Depression“ die Kooperation mit den
Liberalen bewusst aufgekündigt, die Nationalliberalen durch geschickte politische
Manöver bewusst in die Sackgasse gelenkt, damit die Macht des Parlaments
gebrochen und die begonnene politische Modernisierung des Kaiserreichs
abgeblockt (Beleg für die Sonderwegsthese). Heute wird der Vorgang
differenzierter beurteilt. Bismarcks Politik entsprach keineswegs einem klug
entworfenen und dann kalkuliert durchgesetzten Plan. Insgesamt war aber die
Wende von 1878/79 zweifellos eine Zäsur in der Geschichte des Kaiserreichs. Sie
war auch ein Rückschlag für jene Kräfte des Bürgertums, die auf einen stetigen
Reformprozess gesetzt hatten. Dagegen profitierten die Regierungsseite, die
Verwaltung und der Obrigkeitsstaat insgesamt. Dennoch sieht man in dem ganzen
Vorgang heute nicht mehr die endgültige Weichenstellung in einen
verhängnisvollen Weg des Kaiserreichs.
- Bismarcks Staatsstreichdrohung und Sammlungspolitik: Bismarck hatte im
Reichstag nach 1879 keine eigene Mehrheit. Deshalb versuchte er mit neuen
Mitteln, die bis zur Androhung eines Staatsstreiches und Neugründung des Reiches
als Bund der Fürsten gingen, den Reichstag zu disziplinieren. Auch über die
Abkehr vom bisherigen Reichstagswahlrecht und die Einführung eines
Zensuswahlrechts dachte er nach. Erst 1887, drei Jahre vor seinem politischen
Ende, gelang es Bismarck nach der vorzeitigen Auflösung des Parlaments noch
einmal, eine Mehrheit der deutschen Wähler von seinem Kurs zu überzeugen.
Gestützt auf sein öffentliches Ansehen und seine außenpolitischen Erfolge nutzte
Bismarck unter Einsatz seiner demagogischen Fähigkeiten Kriegsangst, nationale
Parolen und Revolutionsfurcht, um alle Ordnungskräfte hinter sich zu bringen. Bei
einer stark angestiegenen Wahlbeteiligung kam ein Block von Konservativen und
den inzwischen weit nach rechts gerückten Nationalliberalen auf 55% der Mandate.
Mit der erfolgreichen Sammlungspolitik sollte verhindert werden, dass die
Reichspolitik in die Hände „national unzuverlässiger“ Kräfte (Linksliberale,
Zentrum, Sozialdemokratie als Reichsfeinde) fiel.
- Bismarcks Sozialpolitik und die Entstehung des Interventionsstaates: Der
voranschreitende Industrialisierungsprozess erforderte neue Maßnahmen zur
sozialen Absicherung von Lebensrisiken. Die bisherigen Ansätze staatlicher und
privater Sozialpolitik reichten nicht mehr aus. Vertreter des politischen
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Katholizismus, des Liberalismus, Konservative und natürlich die entstehende
Arbeiterbewegung führten seit langem entsprechende Diskussionen. Bismarck
wollte durch eine staatliche Sozialpolitik die Arbeiter von der Sozialdemokratie
fernhalten und an den Staat binden. Mit den neuen Sozialgesetzen - Versicherungen
- die Krankenversicherung im Jahre 1883, die Unfallversicherung im Jahre 1884
und die Alters- und Invaliditätsversicherung im Jahre 1889 – kam Bismarck zwar
auf diesem Wege voran. Um die notwendigen Mehrheiten im Reichstag zu erhalten,
musste er aber zahlreiche Abstriche von ursprünglichen Forderungen machen. Der
Reichstag setzte durch, dass das neue System der Sozialpolitik kein zentralistisches
und ganz vom Reich abhängiges wurde. Die Versicherungen waren zwar öffentlichrechtlich organisiert. Sie räumten aber den Betroffenen weitreichende
Selbstverwaltungsrechte ein. Die Altersversicherung kam in die Hand von
Landesversicherungsanstalten, denen das Reich nur einen geringfügigen Zuschuss
gewährte. Das neue Versicherungssystem, das in den folgenden Jahren weiter
ausgebaut wurde, brachte den Betroffenen zwar zunächst allenfalls bescheidene
Leistungen. Aber es war auch im europäischen Vergleich zweifellos ein
wegweisender Schritt, der Vorbildcharakter für andere Länder besaß.
- Die Sozialgesetzgebung war Teil eines Prozesses, der in der neueren Forschung als
Weg zum Interventionsstaat bezeichnet wird. Damit ist gemeint, dass der Staat nach
der Phase einer relativen freien Konkurrenz der Marktkräfte wieder stärker auch in
die gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Prozesse eingriff. Zölle, soziale
Sicherungssysteme, verstärkte öffentliche Investitionstätigkeit auf dem Felde der
Infrastruktur, nicht zuletzt steigende Ausgaben für Bildung und Forschung gehörten
zu diesem Prozess. Ziel war es, die Voraussetzungen für ein weiteres
wirtschaftliches Wachstum zu verbessern, Wachstumskrisen durch staatliche
Impulse rascher zu überwinden und soziale Probleme zu entschärfen. Die staatliche
Verwaltung erfuhr in diesem Zusammenhang eine weitere Expansion. In der
marxistischen Publizistik wurde dieses engere Zusammenwirken von Staat und
neuer Großwirtschaft auch als „staatsmonopolistischer Kapitalismus“ (Lenin) oder
„Organisierter Kapitalismus“ (Rudolf Hilferding) bezeichnet.
Das Ende des Systems Bismarck.
Trotz der neuen Sozialgesetzgebung war Bismarck in den achtziger Jahren ein
Politiker, der immer weniger Neues schuf und immer stärker auf die Sicherung
seiner Macht bedacht war. Der Wahlerfolg von 1887 brachte nur eine kurze
Atempause, denn innerhalb der ihn unterstützenden Dreierallianz machten sich
bald Spannungen bemerkbar (Agrarier gegen Industrie). Die
Interessengegensätze innerhalb des konservativ-liberalen Kartells schwächten
Bismarck Handlungsfähigkeit. Im März 1888 der Tod des 91jährigen Kaisers.
Unter dem schon schwer kranken und nur kurz regierenden Thronfolger
Friedrich III. änderte sich wenig, unter dem neuen jungen Kaiser Wilhelm II.,
der Macht und Einfluss des Kanzlers reduzieren wollte, wurde es rasch
schwieriger. Der entscheidende Teil dieses Machtkampfes wurde auf dem Felde
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der Arbeiterfrage ausgefochten. Wilhelm hielt wie der Großteil der deutschen
Öffentlichkeit die bisherige Repressionspolitik gegenüber der Sozialdemokratie
für überholt und für verfehlt. Der Kaiser wollte den Arbeitern, die 1889 durch
große Streikbewegungen (Bergarbeiterstreiks) ihre Unzufriedenheit mit den
sozialen Verhältnissen gezeigt hatten, entgegenkommen, vor allem auf dem Feld
des bisher vernachlässigten Arbeiterschutzes. Bismarcks Taktik ging nicht auf,
zumal das Bismarck-Kartell von 1887 bei den Reichstagswahlen vom 20.
Februar 1890 herbe Verluste erlitt. Das Zentrum stieg nun mit 106 Mandaten zur
eindeutig stärksten Fraktion im Reichstag aufstieg. Mehr Wählerstimmen als das
Zentrum erreichte aber die Sozialdemokratie (19,7%). Das reichte zwar wegen
des Mehrheitswahlrechts nur zu 35 Mandaten. Der Wahlerfolg der
Sozialdemokraten signalisierte aber, dass Bismarcks Strategie gegen die
Arbeiterbewegung endgültig versagt hatte. Im neuen Reichstag hatten die
Kräfte, die Bismarck als Reichsfeinde bezeichnete – Zentrum,
Sozialdemokraten, Linksliberale, Welfen und Polen etwa 240 von knapp 400
Sitzen. Bismarck wollte die neue Situation noch nutzen, um sich angesichts der
unklaren Mehrheitsverhältnisse dem Kaiser als Krisenstratege und Retter zu
präsentieren, konnte damit aber seinen Machtverlust nicht mehr aufhalten. Im
März 1890 legte er sein Rücktrittsgesuch vor.
Bismarck-Mythos
In der deutschen Öffentlichkeit wurde der Rücktritt Bismarcks vielfach mit
Erleichterung aufgenommen. Man erkannte Bismarcks Verdienste an, war aber
der Ansicht, dass sich dieser Mann, der so vieles verändert hatte, nun politisch
überlebt habe. Die Legendenbildung und die Stilisierung seines Abschiedes
wurden jedoch bald für die Nachfolger Bismarcks und auch für Kaiser Wilhelm
II. zu einer schweren Hypothek. Bismarck kehrte zwar nicht mehr auf die
politische Bühne zurück. Je deutlicher aber dann in den neunziger Jahren wurde,
dass auch der neue Kurs mit Risiken und Fehlschlägen behaftet war, desto
stärker entwickelte sich im deutschen Bürgertum der Kult um den
Reichsgründer und „eisernen Kanzler“. Man feierte seinen 80. Geburtstag,
pilgerte in Scharen nach Friedrichsruh, benannte Straßen und Plätze nach ihm
und baute schließlich Denkmäler und Türme. Bei dieser Mythisierung gerieten
in der öffentlichen Darstellung jene Züge der Bismarckschen Politik allzu
schnell aus dem Blick, die der politischen Kultur in Deutschland großen
Schaden zugefügt hatten. Es wäre übertrieben, Bismarck allein nun für alle
negativen Entwicklungen der deutschen Politik verantwortlich zu machen. Die
Art und Weise, wie er Innenpolitik betrieb, wie er rücksichtslos mit Feinden und
ehemaligen Freunden umging, wie er die nationale Parole instrumentalisierte
oder mit Staatsstreich drohte, all das hat dazu beigetragen, politische
Lernprozesse im jungen Reich zu blockieren und Deutschlands Weg zu
Parlamentarismus und Demokratie zumindest zu erschweren.
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Die Fundamentalpolitisierung
Seit 1900 wirkte ein immer größerer Teil der Bevölkerung am politischen
Geschehen mit. 1907 lag die Wahlbeteiligung bei den deutschen
Reichstagswahlen bei knapp 85 %. Die Ursachen dieser Mobilisierung lagen im
wirtschaftlichen und sozialen Wandel und den besseren Bildungs- und
Kommunikationsprozessen. Gewerkschaften und andere Verbände wurden nun
zu Massenverbänden. Parteien und Presse schufen einen neuen politischen
Massenmarkt erkennen. Neben den Gewerkschaften, den Interessenverbänden
der Industrie und des Handels und Organisationen des Handwerks spielten in
Deutschland auch der 1893 gegründete Bund der Landwirte (BdL) eine wichtige
Rolle bei der Fundamentalpolitisierung. .
Das Aufkommen der Verbände zeigte, wie vielfältig die Interessen in der
modernen Gesellschaft wurden und wie machtvoll sie sich artikulierten. In den
Verbänden war ein neuer Organisationstyp zu erkennen (bürokratische
Strukturen, hauptamtliche Funktionäre), und die Verbände versuchten
zunehmend, die Parteien zum Sprachrohr der eigenen Interessen zu machen,
traten in ein engeres Verhältnis zu den Parteien, ohne diese jedoch zu ersetzen
oder zu übernehmen.
Die deutschen Parteien 1890 bis 1914
Der Trend ging von der Honoratiorenpartei zur modernen, professionell
geführten Massenpartei. Der neue politische Massenmarkt hat aber die älteren
gewachsenen Strukturen nicht vollständig beseitigt. So spielten regionale
Faktoren in der politischen Kultur der Deutschen nach wie vor eine wichtige
Rolle. Dies hing schon damit zusammen, dass nach dem Mehrheitswahlrecht
gewählt wurde und die 397 Wahlkreise nicht den neuen
Bevölkerungsverhältnissen angepasst wurden. Die weiterhin starke regionale
Prägung hing aber auch damit zusammen, dass sich das Wahlverhalten der
Deutschen nur allmählich änderte und die Bindung der Parteien an bestimmte
soziale Milieus für Stabilität im Parteiensystem sorgte. Dies hatte zur Folge,
dass es zu einer politischen Versäulung kam, die Kompromiss- und
Expansionsfähigkeit der einzelnen Parteien erschwerte.
Die Sozialdemokratie entwickelte sich zur mitglieder- und wählerstärksten
Partei des Deutschen Kaiserreichs. Bis zum Ersten Weltkrieg stieg die Zahl ihrer
Mitglieder auf über eine Million. Bei den Reichstagswahlen von 1912 erreichte
die Partei 34,8% der Stimmen und 27,7% der Mandate. Die Sozialdemokratie
wurzelte im Milieu der großstädtischen Arbeiterschaft. Unter Führung August
Bebels entwickelte sich die Sozialdemokratie nach 1890 zu einer fest
ausgebauten, von Funktionären geführten Partei. Die Sozialdemokratie, in der es
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vor 1914 heftigen Streit um Programm und politische Praxis gab, hatte zwar in
ihrer praktischen Politik begonnen, sich immer mehr in das Staats- und
Gesellschaftssystem des Kaiserreichs zu integrieren, blieb aber angesichts der
staatlich-gesellschaftlichen Diskriminierung wie eigener Abschottung noch
immer in einer Außenseiterposition.
Zentrum: Zweitgrößte Partei nach der Sozialdemokratie war das Zentrum,
die Partei des katholischen Deutschland. 1912 erhielt die Partei noch 16,4% der
Stimmen. Das reichte dank vieler sicherer Wahlkreise noch für 23% der
Mandate. Die heterogene soziale Zusammensetzung des Zentrums –
katholischer Adel, Bürgertum, Handwerk, Bauern u. Arbeiter – schlug sich in
wachsenden innerparteilichen Auseinandersetzungen nieder.
Liberale Parteien: Der Liberalismus blieb gespalten in National- und
Linksliberale und büßte mit seinen Politikangeboten an Attraktivität ein. Er hat
von der Politisierung der Massen am wenigsten profitiert. Der Liberalismus
konnte auch am Ende des Kaiserreichs nicht mehr an seine Stellung in den
frühen siebziger Jahren anknüpfen. Das hing auch damit zusammen, dass viele
seiner Ideen längst alle Teile oder große Teile der Gesellschaft durchzogen. Dies
galt für Verfassungs- und Rechtsstaatsidee, für den Bildungsgedanken und nicht
zuletzt für die Idee der Nation.
Die Konservativen standen für Autorität statt Majorität, gegen den
Parlamentarismus, gegen die Alleinherrschaft des Marktes und gegen die
Trennung von Staat und Kirche. Den Nationalstaat, den die Konservativen lange
bekämpft hatten, machten sie seit 1878/79 zunehmend zur eigenen
Angelegenheit. Die Konservativen konnten zwischen 1890 und 1914 zwar die
Zahl der Wähler leicht ausbauen, bei den Stimmenanteilen fielen sie jedoch nun
deutlicher zurück. Neben den bisherigen konservativen Parteien – DeutschKonservative u. Freikonservative – entstanden kleinere, stark antisemitisch
ausgerichtete konservative Parteien (Christlich-Soziale Partei des Berliner
Hofpredigers Stöcker).
Antisemitismus: Der seit 1873 hervortretende moderne Antisemitismus knüpfte
einerseits an ältere Formen der Judenfeindschaft an, enthielt aber insofern neue
Elemente, weil er sich nun gegen eine emanzipierte jüdische Minderheit richtete,
die assimilierten Juden und die bekämpfte Moderne weitgehend gleichsetzte,
sich zu Parteien und Verbänden zusammenschloss und durch die Aufnahme von
Rassentheorien und völkischen Vorstellungen eine Verschärfung erfuhr. Trotz
des Scheiterns der Antisemitenparteien hat sich antisemitisches Denken in der
Gesellschaft des Kaiserreichs auf vielfache Weise ausgebreitet. Dennoch war
der Antisemitismus in Deutschland kein beherrschender Faktor der politischen
Kultur.
Der Nationalismus war trotz des Fortbestehens einzelstaatlicher und regionaler
Identitäten eine der wichtigsten Prägekräfte im politisch-gesellschaftlichen
Leben des Deutschen Kaiserreichs. Die Nationalisierung der Massen war ein
Grundzug der europäischen Geschichte des ausgehenden 19. Jahrhunderts.
Neben dem „Normal-Nationalismus“ (Nipperdey), der in Feiern, Denkmälern
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und Vereinen wie Sänger-, Turner-, Schützen- und Kriegervereinen seinen
Ausdruck fand, gewann um 1900 ein Radikalnationalismus an Bedeutung. Er
verstand die Nation als Volksnation, und zwar nicht mehr nur im Sinne älterer
Vorstellungen als von Sprache und Kultur bestimmte Volksnation, sondern nun
zunehmend im rassenbiologischen Sinne als eine Abstammungsgemeinschaft.
Seit den neunziger Jahren begann sich die neue radikale Rechte in Verbänden zu
organisieren. Die wichtigste dieser Organisationen war der Alldeutsche
Verband. Die Alldeutschen propagierten ein koloniales Imperium des Reiches
und wollten zugleich die außerhalb des Deutschen Reiches stehenden deutschen
Bevölkerungsteile durch ein größeres kontinentaleuropäisches Reich von den
Niederlanden bis zum Baltikum und die deutschen Gebiete der Habsburger
Monarchie in ein völkisches Staatswesen einbeziehen.
Deutsche Innenpolitik 1890-1914
Der „neue Kurs“ 1890-1894. Der Nachfolger Bismarcks, der General Leo von
Caprivi versuchte mit seinem „neuen Kurs“ eine Politik des gesellschaftlichen
Ausgleichs. Das Sozialistengesetz wurde nicht mehr verlängert. Statt dessen
sollte der Arbeiterschutz ausgebaut und das Arbeitsrecht reformiert werden. Der
große Durchbruch blieb freilich noch aus. Caprivi geriet rasch unter Druck der
preußischen Konservativen. 1894 war die Kanzlerschaft Caprivis zu Ende. Der
junge Kaiser Wilhelm II. wollte seine kaiserlichen Rechte gegenüber der
Regierung künftig stärker zur Geltung zu bringen. Ob es Wilhelm tatsächlich
gelungen ist, ein „persönliches Regiment“ zu etablieren, ist in der Forschung
umstritten. Wilhelm II. hat versucht, die vielfältigen Kaiser-Erwartungen der
Gesellschaft zu bedienen. Er verstand es durchaus, sich öffentlichkeitswirksam
und scheinbar omnipräsent in Szene zu setzen. Er verknüpfte verschiedenste
Traditionen und moderne Erwartungen und führte so seine Monarchie an den
politischen Stil der Massengesellschaft heran. Dennoch konnte er in der
Reichspolitik nicht frei agieren, denn mit der Bürokratie, dem Reichstag und der
Öffentlichkeit waren längst andere wichtige Machtzentren entstanden.
1894-1900 Kanzlerschaft von Fürst zu Hohenlohe-Schillingsfürst: neue
Maßnahmen gegen die Sozialdemokratie scheiterten an fehlenden
Reichstagsmehrheiten (Umsturz- und Zuchthausvorlage – letztere sollte den
Koalitionszwang bei Streiks mit härteren Strafen ahnden). Nach 1897 erhielt
Hohenlohe in Preußen durch Miquel als neuem Vizepräsidenten des
Staatsministeriums und dem konservativen Innenminister Graf Posadowsky
starke Männer zur Seite. Auf der Reichsebene wurde er durch den neuen
Staatssekretär des Äußeren, Bernhard von Bülow, und durch den Konteradmiral
Alfred Tirpitz, der nun Staatssekretär im Reichsmarineamt wurde, eingerahmt.
Die letzteren teilten und unterstützten Wilhelms Vorstellungen einer neuen
deutschen Weltpolitik und den Aufbau der dazu notwendigen Flotte.
1900-1909: Kanzlerschaft Bülows: Wilhelm II. hoffte, das Bülow sein
Bismarck werden könnte. Bülow prägte die griffige Formel vom deutschen Platz
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an der Sonne. Für den kostspieligen Flottenbau brauchte Bülow Mehrheiten im
Reichstag. Die Nationalliberalen und die Freikonservativen unterstützten den
Flottenbau vorbehaltlos. Die Deutschkonservativen forderten für ihre
Zustimmung Kompensationen auf dem Felde der Zölle. Eine Mehrheit für ein
Flottengesetz kam aber im Reichstag nur zustande, wenn auch das Zentrum
zustimmte. Sozialdemokraten und Linksliberale waren dagegen. Im Zentrum
gab es lange und heftige Auseinandersetzungen. Am Ende setzte sich die
Parteiführung durch, die für das eingebrachte Flottengesetz war. Sie wollte die
Flottenpolitik in überschaubare Bahnen lenken und die Regierung davon
abhalten, die Sache am Parlament vorbei zu regeln. Bülow wollte über die
Flottenpolitik und die Zollpolitik eine feste Mehrheit schaffen und das politische
System stabilisieren (Sammlungspolitik). Diese Mehrheit hielt aber nicht lange,
weil die beteiligten Parteien zu unterschiedliche Ziele verfolgten. Die neue
Richtung der „Zentrumsdemokraten“ um Matthias Erzberger verlangte
Reformen, die von Nationalliberalen und Konservativen abgelehnt wurden, und
kritisierte wie die Sozialdemokratie die deutsche Kolonialpolitik
(Niederschlagung von Aufständen in Südwest- und Ostafrika). Nach den
Reichstagswahlen von 1907 (Hottentottenwahlen) stützte sich Bülow auf eine
Block aus Konservativen, Nationalliberalen und Linksliberalen. Der sogenannte
Bülow-Block hat einige Reformen auf den Weg gebracht (1908 Liberalisierung
des Vereins- und Versammlungsrechts), war aber in vielen anderen Fragen
zerstritten, bei der Reform des preußischen Drei-Klassen-Wahlrechts, bei den
Reichsfinanzen, die durch steigende Ausgaben und höhere Schulden in eine
Schieflage geraten waren. Die Stellung des Kanzlers wurde zudem durch die
sogenannte Daily-Telegraph-Affäre (1908) geschwächt, weil sie das
Vertrauensverhältnis zwischen Monarch und Kanzler erschütterte. 1909 verlor
Bülow seine Mehrheit im Reichstag und musste zurücktreten. Innerhalb des
Reichstages kam die Forderung nach einer Parlamentarisierung des politischen
Systems auf (v. a. Sozialdemokraten), für ein klares Bekenntnis zu diesem
System fehlten aber die Mehrheit. Die Nationalliberalen wollten das
konstitutionelle System beibehalten, aber die Befugnisse des Kaisers begrenzen.
Die Konservativen waren für den Status quo.
1909-1917 Kanzlerschaft Bethmann-Hollweg: regierte ohne feste
Reichstagsmehrheit, nach den Wahlen von 1912 und dem großen Erfolg der
Sozialdemokraten war die Mehrheitsbildung im Reichstag noch schwieriger
geworden, obwohl der Einfluss des Reichstages auf die Politik der Regierung
wuchs und die Reformforderungen lauter wurden, kam es bis zum Ersten
Weltkrieg zu keiner grundlegenden Änderung des politischen Systems. Das
parlamentarische Regierungssystem wurde erst im Oktober 1918, als sich die
militärische Niederlage des Deutschen Reiches abzeichnete, eingeführt.
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