Lothar Gall (Hg.): Regierung, Parlament und Öffentlichkeit im

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Lothar Gall (Hg.): Regierung, Parlament und Öffentlichkeit im Zeitalter
Bismarcks. Politikstile im Wandel (= Otto-von-Bismarck-Stiftung.
Wissenschaftliche Reihe; 5), Paderborn: Schöningh 2003, XII+281 S., ISBN 3506-79223-7, EUR 16,90.
Rezensiert von:
Bernhard Löffler
Lehrstuhl Neuere und Neueste Geschichte, Universität Passau
In unserer gegenwärtigen Mediendemokratie ist es
selbstverständlich geworden, Regierungspolitik oder
parlamentarische Debatten als Teil öffentlichkeitspolitischer
Vermittlungsstrategien zu betrachten. Das
"Kommunizieren" von Themen ist oft wichtiger als deren
eigentliche Inhalte. Der von Lothar Gall herausgegebene
und mit einer prägnant bilanzierenden Einleitung (VII-XI)
versehene Sammelband der Bismarck-Stiftung nimmt
diejenige Epoche näher in Augenschein, in der gleichsam
die erste Wurzel dieser Entwicklung gesucht werden kann:
das Bismarckreich, in dem die Öffentlichkeit immer mehr
Gewicht in den politisch-parlamentarischen Vorgängen
bekam und Regierung wie Parlamentarier gezwungen
wurden, diese Tatsache zunehmend bewusster ins Kalkül zu
ziehen. Es handelt sich mithin um eine Art Scharnierzeit, in
der sich die bisherigen Gepflogenheiten traditioneller
Honoratiorenpolitik abschwächten und von Formen eines
professionalisierten und öffentlichkeitspolitisch aktiveren
Politikbetriebs ersetzt wurden. Dies geschah zwar langsam,
sukzessive und mit unterschiedlichen Geschwindigkeiten, letztlich aber - unter der
verfassungsrechtlichen Fundamentalbedingung des fortschrittlichen
Reichstagswahlrechts - doch mit einer eindeutigen Tendenz, die Hans Rosenberg mit
dem Begriff vom Entstehen des "politischen Massenmarktes" zu fassen versuchte.
Man kann die Aufsätze des Bandes in vier Gruppen gliedern. Zunächst wird in einem
Beitrag von Dieter Langewiesche ein allgemeinerer Überblick zu den herrschenden
"Politikstilen" im Kaiserreich gegeben, der gleichzeitig eine übergreifende
interpretatorische Einordnung des Themas bieten soll (1-21). Eine einheitliche Signatur,
so das Resümee, sei nicht festzustellen. Vielmehr wird auf der Basis der gängigen
Forschungsmeinung und zeitgenössischer Analysen (des unvermeidlichen Max Weber
und des weniger gängigen Theobald Ziegler) die Ambivalenz einer Politiklandschaft und
Öffentlichkeitsstruktur herausgearbeitet, die einerseits durch eine
"Fundamentalpolitisierung", auch durch eine voranschreitende Pluralisierung (wenn auch
mitunter "wider Willen") und eine Demokratisierung der Gesellschaft gekennzeichnet sei,
sich andererseits aber durch eine "blockierte Demokratisierung der staatlichen
Herrschaftsordnung" und eine "amputierte" Parlamentarisierung ausgezeichnet habe (8,
21). Alle diese Erkenntnisse sind zutreffend und unterstreichen zu Recht die Dringlichkeit
einer differenzierten Bewertung des Kaiserreichs, aufregend neu sind sie nicht.
Die beiden nächsten Aufsätze verfolgen dagegen etwas weniger eingefahrene Bahnen.
Sie beschäftigen sich gewissermaßen mit den strukturellen Grundlagen der
Öffentlichkeitspolitik: mit den handfest-technischen der Pressegeschichte (sehr detailliert
und materialreich Bernd Sösemann, 43-89) und mit den symbolischperzeptionsgeschichtlichen der Wahrnehmungsmuster des Reichstags in der
Öffentlichkeit (analytisch prägnant und instruktiv Andreas Biefang, 23-42). Sie machen
damit vor allem auf zweierlei aufmerksam: Zum einen verdeutlichen sie, dass Politik und
Politikformen der Bismarck-Ära vor dem Hintergrund einer immer breiter und vielfältiger
werdenden Medienlandschaft (mit blühendem Zeitungswesen, kraftvollen
Verlagsimperien und weltumspannenden Telegrafenbüros) zu betrachten sind; diese
Medienorgane entwickelten eine eigendynamische Handlungslogik und waren
keineswegs mehr einfach für die Regierungsgeschäfte zu instrumentalisieren, wurden
vielmehr selbst zum Ausdruck und Ferment der sich pluralisierenden, "heterogenen und
disparaten" (88) parteipolitischen und gesellschaftlichen Szenerie. Zum anderen wird vor
Augen geführt, welche nationalpolitische Integrationskraft der Reichstag durch die
tägliche, intensive und zunehmend professionalisierte Parlamentsberichtserstattung,
aber zum Beispiel auch durch die dauernde bildliche Präsenz mancher Abgeordneter (mit
ersten "Politstars" wie Windthorst oder Bebel) gewann. Die Bedeutung des Reichstags
liege daher nicht nur in seinen (beschränkten) politischen Befugnissen, durch den
"herausragenden Platz in der politischen Berichterstattung und der öffentlichen
Wahrnehmung" wurde er zur Zeit von Bismarcks Kanzlerschaft auch zum "wichtigsten
Symbol der politischen Nation" (40 f.). Biefang wendet sich mit dieser These dezidiert
gegen das Urteil Wolfgang Hardtwigs, für den die Staatssymbolik des Kaiserreichs
gerade nicht parlamentarisch-politisch, sondern von einer "mythisierten
Geschichtskultur" geprägt gewesen sei, und plädiert stattdessen für eine deutlichere
Unterscheidung zwischen "Bismarckzeit" und "Wilhelminismus"; erst nach 1890 seien die
Formen einer konservativeren, "nicht-parlamentarischen" Staatssymbolik (monarchisch"autokratisch" akzentuierte Nationaldenkmäler, militärische Bezüge et cetera) dominant
geworden.
Die dritte Aufsatzgruppe bietet einen Überblick über die Zustände innerhalb der
Parteien, wobei jeweils die Frage gestellt wird, inwieweit der Typus des
Honoratiorenpolitikers abgelöst wurde und derjenige des Berufspolitikers sich
durchsetzte. Volker Stalmann verfolgt dies für die konservativen Parteien (91-125),
Harald Biermann für die Nationalliberalen (127-150), Ulrich von Hehl für das Zentrum
(151-183) und Thomas Welskopp für die Sozialdemokratie (185-222). Als (weitgehend
bekanntes) Gesamtfazit kann hier stehen, dass zwar alle Parteien immer mehr den
Anforderungen moderner Organisationsform und nicht zuletzt Wahlkampfführung
unterworfen waren und der langfristige Trend hin zu einer Verstärkung der
berufspolitischen Elemente ging, dass sich dies in den einzelnen Parteien allerdings
unterschiedlich rasch bemerkbar machte. Während sich die Liberalen und Konservativen
als traditionelle Honoratiorenparteien im Grunde erst seit 1890 entsprechend neu
orientierten und auch für das Zentrum nur "ein gemäßigter und [...] gebremst
verlaufender Wandel" (183) konstatiert wird, zeigten sich bei den Sozialdemokraten
andere Akzente. Die Arbeiterbewegung habe im existenziellen Kampf um
"Abkömmlichkeit" von Anfang an eine Alternative zum "bürgerlichen"
Honoratiorenmodell suchen müssen. Sehr früh, beginnend mit der Tätigkeit der
Versammlungsredner, seit 1870 dann der Gewerkschaftssekretäre oder
Parteizeitungsredakteure, figurierten daher zumindest die Führungspersonen faktisch als
Berufspolitiker, freilich in der ersten Generation bis 1890 unter äußerst unsicheren
Bedingungen und in einem noch wenig verfestigten Umfeld, unter oftmaliger Preisgabe
der "bürgerlichen Existenz", wobei die "Grenze zwischen Idealismus, asketischer
Sendung und Tollkühnheit nicht selten verschwamm" (187 f., 222).
Die letzten drei Beiträge nehmen sich derjenigen konkreten politischen Konstellation an,
auf die der öffentlichkeitspolitische Appell an die Massen hauptsächlich zielte und an der
sich die gewandelten Politikstile und politischen Präsentationsmethoden bewähren
mussten. Sie thematisieren Reichstagswahlen und -"wahlkultur", Wahlkämpfe und die
Wirksamkeit der jeweiligen parteipolitischen Parolen. Durchexerziert wird dies an drei
Beispielen: Bernd Braun untersucht die öffentlichkeitspolitische Bedeutung und Wirkung,
die dem Schlagwort vom "Kampf gegen den Reichsfeind" bei den Wahlen von 1878
zukam (223-248); Elfi Bendikat beschäftigt sich mit den so genannten "Kartellwahlen"
von 1887 als Exempel für die Dominanz eines außenpolitischen Themas (der
Auseinandersetzung mit Frankreich und entsprechender Kriegsängste, 249-262);
schließlich analysiert Andrea Hopp, welche Rolle der Rekurs auf antisemitische
Stimmungen im Wahlkampf von 1881 spielte (263-280). In allen Beiträgen wird dabei
deutlich, in welchem Ausmaß Appelle an emotionale Instinkte und mentale Stereotype,
auch das bewusste Schüren von Ängsten und die Instrumentalisierung von Vorurteilen
im Zeichen der beginnenden Massendemokratie, bereits in der Bismarckzeit an
Bedeutung gewannen. Die Berücksichtigung diffuser Stimmungslagen überdeckte schon
hier nicht selten die Struktur der tatsächlichen politischen Probleme.
Redaktionelle Betreuung: Nils Freytag
Empfohlene Zitierweise:
Bernhard Löffler: Rezension von: Lothar Gall (Hg.): Regierung, Parlament und Öffentlichkeit im
Zeitalter Bismarcks. Politikstile im Wandel, Paderborn: Schöningh 2003, in: sehepunkte 4 (2004),
Nr. 4 [15.04.2004], URL: <http://www.sehepunkte.historicum.net/2004/04/4488.html>
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