Kurras Am 2. Juni 1967 erschoss der (West-)Berliner Polizist Kurras den Studenten Benno Ohnesorg, als dieser vor der Deutschen Oper gegen den Besuch des Schahs von Persien demonstrierte. Zuvor war die kritische Öffentlichkeit in Berlin, besonders Studenten, glaubhaft darüber aufgeklärt worden, dass der Schah ein Potentat war. Wie zum Beweis dafür erschienen in der Stadt mit langen Stöcken ausgestattete „Prügelperser“, die breitbeinig und gewaltsam gegen Kritiker des persischen Regimes vorgingen. Die Empörung war groß. Einen offensichtlich demokratiefeindlichen „Monarchen“ empfing der gewählte Senat von Berlin unter der Führung des SPD-Pastors Heinrich Albertz mit allen Ehren. Man ging gemeinsam in die Oper. Ein Teil der Presse und die meisten Politiker hatten zugleich seit einiger Zeit aufgewühlte Studenten verunglimpft, sie als „Typen“, „Affen“ und vieles andere beleidigt. Dabei nahmen diese Studenten die Grundrechte des Staates in Anspruch, indem sie gegen von ihnen ausgemachte Missstände protestierten: mit Streiks, sitins, go-ins und Demos. Terror gab es zu dieser Zeit noch nicht. Bürger der Bundesrepublik nahmen sich die Freiheit, trotz des Kalten Krieges Karl Marx zu lesen, den Vietnam-Krieg der weithin bewunderten USA zu kritisieren, und sie schufen in Wohngemeinschaften neue Formen des Zusammenlebens. Alles das war nach dem Grundgesetz nicht verboten, dennoch geiferten Journalisten und Politiker gegen diese angeblichen „Chaoten“. Denen war aufgefallen, dass die formal demokratische Bundesrepublik in den fünfziger und zu Beginn der sechziger Jahre inhaltlich überwiegend autoritär war. In der „Spiegel“-Affäre war es möglich geworden, dass die Bundesregierung wegen eines kritischen Artikels den Herausgeber des Nachrichtenmagazins einsperren und einen Journalisten im Ausland festsetzen lassen konnte. Der Bundeskanzler höchst persönlich schalt die Betroffenen des „Landesverrats“, bevor ein Richter darüber geurteilt hatte. Ein Minister belog das Parlament. Das alles erregte viele: Der formalen Demokratie in Deutschland entsprach keine inhaltliche; es gab keine demokratische Kultur. Viele Herrschende dachten nicht demokratisch, sondern autoritär. Sie verhöhnten die eigene Jugend und kuschelten mit fremden Potentaten. Die Empörung darüber war Kern des Protestes. Man erfuhr, wie ungerecht diese Gesellschaft war. Nur vier Prozent eines Jahrganges konnte das Abitur machen und anschließend studieren. Der entscheidende Faktor war die Herkunft. Die Forderung nach Chancengerechtigkeit kam auf. Die DDR war für solche Kritik, die den Widerspruch zwischen Anspruch und Wirklichkeit beklagte, seit dem 13. August 1961 keine Alternative mehr. Ein Regime, das seine Bürger 1 wegsperrte, hatte sich entlarvt und wurde im Unterschied zur westlichen Bundesrepublik als reformunfähig angesehen und ignoriert. Alte Herren hatten sich eine eigentlich zukunftsweisende Ideologie angeeignet und darauf ihr Machtsystem errichtet. Es war folgerichtig, dass ein junger Mann wie Rudi Dutschke diese DDR erst verlassen musste, bevor er für eine bessere Zukunft reden konnte. Doch Strukturen wie in der DDR gab es auch vielerorts im Westen: Feierlich legten Professoren, darunter nicht wenige einst Mitläufer der Nazis, ihre Roben an und fühlten sich wohl in der Herrlichkeit akademischer Selbstverwaltung und Weisheit, so wie sie es verstanden. Unter ihnen gab es welche, die damals studierenden späteren Koryphäen ihres Fach rieten, sich lieber um den Kochtopf als um die Wissenschaft zu kümmern, weil diese Studenten Frauen waren! Bei der Polizei hatte man das Grundrecht aufs Demonstrieren nicht verinnerlicht. Wer auf die Straße ging, war zu bekämpfender Feind, wenn er sich kritisch gegen die herrschende Ordnung äußerte. Polizeiführer bauten auf ihren Erfahrungen aus der Zeit vor 1945 auf und setzten Wasserwerfer, Schlagstöcke und Tränengas gegen Argumente ein. Ein Polizeipräsident schwadronierte von einer „Leberwursttaktik“, die gegen Demonstranten recht wirksam sei. Nicht die Gewährung der Demonstrationsfreiheit für die Bürger war das Ziel von Polizeieinsätzen, sondern die Vereitlung dieses Grundrechtes. Und in der Politik wurde nur geduldet, was von oben ausgegebener Konsens war. Amerika war das Leuchtfeuer der westlichen Welt. Wer daran deutelte, konnte nur Kommunist sein und hatte seine Freiheitsrechte verloren. Wie in der DDR: Was gut war, wurde von oben her bestimmt, und was schlecht war, wurde bekämpft. Gegen das alles zu protestieren, schien den Studenten im Westen nicht aussichtslos, sonst hätten sie es nicht getan. Aussichtslos hingegen wurde die Situation im anderen deutschen Staat beurteilt. Gab es noch zu Beginn der sechziger Jahre an der Freien Universität lebendige Diskussionsgruppen um FDJ-Trupps, die aus dem anderen Teil der Stadt gekommen waren, um für die DDR zu werben, so interessierte das bald niemand mehr. Nun stellt sich heraus, dass der Todesschütze vom 2. Juni für die Stasi spioniert hatte, und sogleich wird die These aufgestellt, die Studentenbewegung hätte sich damals nicht so entwickelt wie geschehen, wenn man gewusst hätte, auf wessen Lohnliste der westberliner Polizist noch gestanden hatte. Was sollen solche Spekulationen? Wünscht jemand die Zeiten zurück, in denen es akzeptiert wurde, dass Polizeieinsätze gegen ein Grundrecht geführt wurden, dass Professoren weibliche 2 Studenten an die Kochtöpfe verwiesen, dass die Regierung bestimmte, was gut und was böse sei? „Was wäre gewesen, wenn?“ Das ist eine müßige Frage. Es fängt damit an, dass niemand den „optimalen“ Zeitpunkt für das Outing von Kurras nennen kann. Vor dem Todesschuss hätte es wohl nicht sein können. Aber unmittelbar danach: Das hätte ausgesehen wie der Versuch einer billigen Entlastung der Berliner Polizei. Wann hätte bekannt werden müssen, dass Kurras für die Stasi arbeitete, wenn sich die Studentenbewegung anders hätte entwickeln können als geschehen? Müßig! Der Schuss auf Benno Ohnesorg war Auslöser für neue Proteste der APO. Dass in diesem Staate jemand zu Tode kommen konnte, weil er für seine politische Meinung demonstrierte, hätte bis zum 2. Juni niemand für möglich gehalten. Aber dass Politik und Öffentlichkeit nach dem Todesschuss nicht inne hielt, dass weiter polemisiert wurde, war so schlimm wie der Todesschuss selber. Der 2. Juni war ein Auslöser und nicht die Ursache für die Studentenproteste. Hätte man bald nach der Tat gewusst, dass Kurras bei der Stasi war, hätte dieser möglicherweise kein so leichtes Spiel gehabt wie geschehen. – „Möglicherweise“... Wahrscheinlich hätte man sich die Beileidsgesten der DDR verbeten. – „Wahrscheinlich“... Aber Kurras war ein Westbeamter. Dass er in der Berliner Polizei spionieren konnte, ist kein Ruhmesblatt für diese Behörde. Das wäre sicherlich thematisiert worden, hätte man damals von der Stasi-Aktivität des Todesschützen gewusst. – „Sicherlich“... Eines steht fest: Eine Protestbewegung hätte es in jedem Fall gegeben. Es hatten halt zu viele symbolisch mitgeschossen. Und die Zustände in Westdeutschland waren so, dass Protest kommen musste, um mehr Demokratie zu erreichen. Das Abgleiten eines Teils der Bewegung in den Terrorismus wäre wohl leider auch nicht ausgeblieben. – „Wohl“... Wahrscheinlich, sicherlich, wohl: Tatsache ist, dass es die APO gegeben hatte und dass sie per Saldo die Bundesrepublik weiterentwickelt und gefestigt hat. Die verknöcherte DDR aber ist untergegangen. Jürgen Dittberner 3 4