Systemische Notizen 04/04 Therapiemethoden MARIA AUGUSTINE BAYER (Lehrgang 13) DIE ANWENDUNG DER THEORIE DER SOZIALEN SYSTEME NIKLAS LUHMANNS IN DER SYSTEMISCHEN FAMILIENTHERAPIE Niklas Luhmanns Theorie sozialer Systeme – eine Einführung Teil 1 DIESE THEMENSTELLUNG ist zum momentanen Stand der Wissenschaft relativ unerforscht. Gerade deshalb sollte die Herausforderung angenommen werden, sich diesem spannenden Thema intensiv zu widmen. Zugegebener Maßen ist Luhmanns Theorie sozialer Systeme nicht leicht verständlich, geschweige denn nachvollziehbar. Dieser Artikel stellt den Versuch dar, eine Sozialtheorie auf ihre Brauchbarkeit für die therapeutische Praxis zu untersuchen. So werden nun exemplarisch anhand von einigen „Bausteinen“ – wie Luhmann sie nennen würde – sprich Grundbegriffen, die tatsächlichen Möglichkeiten der Anwendung der Theorie sozialer Systeme Niklas Luhmanns in der systemischen Familientherapie aufgezeigt. Um einen Einblick in die Gedankenwelt Luhmanns zu gewinnen, wird in dieser Ausgabe der systemischen Notizen auf folgende „Bausteine“ der luhmannschen Systemtheorie näher eingegangen: Differenzdenken, Komplexität, Autopoiesis und Emergenz, Selbstreferentialität, Sinn, Kommunikation, Kontingenz und doppelte Kontingenz, sowie Luhmanns Darstellung vom Menschen als System. Niklas Luhmann hat als Professor für Soziologie an der Universität Bielefeld von 1968 bis 1993 mit seiner Gesellschaftstheorie einen wesentlichen Beitrag zur wissenschaftlichen Weiterentwicklung der Soziologie geleistet. Seine Theorie ist jedoch dermaßen komplex und universell konzipiert, dass sie auch für die systemische Familientherapie wertvoll sein kann. Luhmanns Ziel besteht darin, eine Theorie alles Sozialen, nicht nur von Ausschnitten, zu entwickeln. Es sollte eine facheinheitliche Theorie für die Soziologie im Sinne einer universalen Gegenstandserfassung sein. Er versucht, den gesamten Gegenstandsbereich der Soziologie zu erfassen und in diesem Sinne eine universelle soziologische Theorie darzulegen. Die direkte Verbindung zwischen der luhmannschen Sozialtheorie und der systemischen Familientherapie ist in einer gemeinsamen Leitidee zu finden, die beide Denkansätze prägt – dem Konstrukti vismus. Vereinfacht ausgedrückt hält der Konstruktivismus die Außenwelt für ein Produkt unseres Wahrnehmungsvermögens. Unterschieden wird dabei zwischen zwei erkenntnistheoretischen Prämissen, dem radikalen und dem sozialen Konstruktivismus. Während sich Luhmann direkt am Gedankengut des radikalen Konstruktivismus orientiert, vertritt die systemisch orientierte Psychotherapie mittlerweile eher die gemäßigtere Variante des sozialen beziehungsweise ökologisch orientierten Konstruktivismus, welcher das menschliche Verhalten in den Vordergrund der Beobachtungen rückt. Der Grundgedanke des Konstruktivismus besagt, dass eine ontologische Wirklichkeit nicht direkt erkannt werden kann. Auf dieser Prämisse baut Luhmann nun sein systemisches Sozialgerüst auf, wobei er sich die grundlegende Frage stellt, wie soziale Ordnung denn überhaupt möglich sei. 1. DIFFERENZDENKEN Luhmann bemerkt einleitend zu seiner Theorie: „Als Ausgangspunkt jeder systemtheoretischen Analyse hat [...] die Differenz von System und Umwelt zu dienen. Systeme sind [...] strukturell an ihrer Umwelt orientiert und können ohne Umwelt nicht bestehen. Sie konstituieren und sie erhalten sich durch Erzeugung und Erhaltung einer Differenz zur Umwelt, und sie benutzen ihre Grenzen zur Regulierung dieser Differenz.“ (Luhmann, Soziale Systeme, 35). Dabei wird unter dem Systembegriff eine Zusammenstellung, ein irgendwie geordnetes Ganzes, das sich vom ungeordneten Urzustand abgrenzt, verstanden. Soziale Systeme entstehen, weil eine „diffuse Ausgangslage“ Ausbildung von Strukturen erzwingt. Ludewig formuliert den weiteren Fortlauf des Entstehungsprozesses folgendermaßen: „Die Differenz System / Umwelt Seite 1 von 10 Systemische Notizen 04/04 Therapiemethoden festigt ein Gefälle, in dem die Umwelt stets komplexer ist als das System, was dieses durch seine höhere Ordnung kompensiert.“ (Ludewig, Systemische Therapie, 101). Die Unterscheidung zwischen System und Umwelt ist der von Luhmann gewählte „Blickwinkel“, die „Leitdifferenz“ der Betrachtung der Theorie sozialer Systeme. Der Prozess der Systembildung kann begrifflich in vier Schritte zerlegt werden: erstens Reduktion von Komplexität, zweitens sukzessiver Aufbau neuer Komplexität, drittens Wahrung der Asymmetrie zwischen System und Umwelt und viertens Wahrnehmung einer höheren Umweltkomplexität. So lässt sich das Systemgebilde unmittelbar nach seiner Entstehung strikt von allem, was es eben nicht ist, trennen, denn zwischen komplexem System und noch komplexerer Umwelt tritt eine Grenze, die die Asymmetrie zwischen Innen und Außen zur Systembildung nutzt. Am Anfang steht also das Unterscheiden sowie das Bezeichnen – um es vereinfacht auszudrücken. Als amüsantes Detail am Rande ist hier wohl ein semantischer Konnex anzumerken: Luhmann zufolge bildet die Differenz den Anfang seiner Theorie. Auch in der psychotherapeutischen Praxis des Alltages sind es – mitunter unüberwindbare – Differenzen, welche den unmittelbaren Anstoß zum Gefühl einer Therapiebedürftigkeit geben. So sind es auch Differenzen, welche ein Familiensystem die Hilfe eines Therapeuten in Anspruch nehmen lassen. Differenzen stehen also nicht nur am Anfang der Luhmann’schen Theorie, sondern auch am Anfang jeder Therapie. 2. KOMPLEXITÄT Im System selbst herrscht Negentropie. Das Chaos, welches die Umwelt in ihrer Komplexität prägt, wird innerhalb des Systems negiert. Für die Psychotherapie ist die Vorstellung relevant, dass das System aufgrund von Komplexitätsreduktion entsteht, denn in einem System kann nicht mehr jedes Element mit jedem anderen ver knüpft werden, wie dies in der komplexeren Umwelt der Fall sein kann. Emergenz, also die Ausbildung von Ebenen höherer Ordnung, ist die Reaktion auf Komplexität. Dieses stete Komplexitätsgefälle zwischen Umwelt und System ist es, was die Systeme zu ständiger Veränderung treibt. Die ständige Veränderung der Systeme lässt ihre Wirklichkeit mitunter auch als therapiebedürftig erscheinen. Entscheidet sich das System zur Inanspruchnahme von Psychotherapie gilt es nun, Unterschiede aufzuzeigen, wodurch Komplexität reduziert wird. Die Umwelt selbst aber darf dabei nicht außer Acht gelassen werden. Luhmann hält hier insbesonders fest, dass aber das System der Umwelt ihre jeweilige Bedeutung beimisst und nicht umgekehrt. 3. AUTOPOIESIS UND EMERGENZ Autopoiesis ist ein Schlüsselbegriff in der Theorie Luhmanns. Es handelt sich hierbei um ein zusammengefügtes Kunstwort aus den zwei griechischen Begriffen autos (selbst) und poiesis (Schöpfung, Dichtung). In diesem Sinne kann der Ausdruck ein Synonym für Selbsterzeugung oder Selbstschöpfung darstellen. Der Begriff stammt aus der Theorie Maturanas und Varelas, welche besagt: „Die eigentümliche Charakteristik eines autopoietischen Systems ist, dass es sich sozusagen an seinen eigenen Schnürsenkeln emporzieht und sich mittels seiner eigenen Dynamik als unterschiedlich vom umliegenden Milieu konstituiert.“ (Maturana – Varela, Der Baum der Erkenntnis, 54). Luhmann hat den Begriff aus dem rein biologischen Kontext Maturanas und Varelas Anfang 1980 gelöst, um ihn für seine soziologische Theorie nutzbar zu machen und somit einen Paradigmenwechsel in der Systemtheorie herbeizuführen. Insbesondere zu betonen ist diese Fähigkeit zur Autopoiesis, durch die sich ein Organismus als eigenständige Einheit von seiner Umwelt abgrenzt. Dazu werden nun drei „Spielarten“ autopoietischer Systeme unterschieden: biologische, psychische und soziale autopoietische Systeme. Biologische Systeme, um das Heranziehen des biologischen Kontextes zu rechtfertigen, würden Luhmann zufolge Ereignisse lediglich im Molekularbereich verarbeiten und reproduzieren, während psychische und soziale Systeme Sinn als Bewusstsein oder auch als Kommunikation verarbeiten und reproduzieren können. Seite 2 von 10 Systemische Notizen 04/04 Therapiemethoden Auf die Frage, wieso Luhmann soziale Systeme als autopoietisch agierend interpretiert, kontert er, diese wären ausschließlich durch Kommunikation, nicht jedoch durch den Menschen bestimmt. Diese Tatsache lässt sie folglich als autopoietische Systeme agieren. Ludewig kommt daher zu dem entscheidenden Schluss: „Wenn soziale Systeme auf Kommunikation beruhen, lassen sich die Relationen zwischen ihnen als ´Anschlussbildung´ definieren. Kommunikation selektiert diese ´Anschlüsse´ und bestätigt sich dadurch als Grundeinheit sozialer Systeme.“ (Ludewig, Systemische Therapie, 94). Autopoietische Systeme, und dazu zählen nun auch psychische wie soziale Systeme, sind auf den Aufbau und gleichermaßen die Erhaltung ihrer eigenen Struktur ausgerichtet. Reese–Schäfer warnt jedoch davor, sich unter Autopoiesis eine „Selbsterschaffung aus dem Nichts“ vorzustellen, er ladet stattdessen dazu ein, dieses Phänomen als Beschreibung eines Systems, das von seiner Eigendynamik her auf seine Fortsetzung ausgerichtet ist, zu interpretieren. Ebenfalls ist es wichtig hier wieder in Erinnerung zu rufen, dass autopoietische Systeme sowohl autonom als auch operational geschlossen sind. Mit einem systeminternen Modus der Informationsverarbeitung wird ihre Grenze zur Umwelt buchstäblich verwaltet. Gripp-Hagelstange betont in diesem Zusammenhang: „Beobachtung und Autopoiesis sind zwei Dimensionen, die unmittelbar zusammengehören“, wodurch sie die Relevanz des Autopoiesiskonzepts für den therapeutischen Alltag unterstreicht: „Die Beobachtung als Sonderform des Unterscheidens ist gebunden daran, dass Vernetzungen [Joining] stattfinden. Gibt es diese Vernetzungen nicht, bleibt das Unterscheiden- undBezeichnen wirkungslos. [...] Der Beobachter ist immer ein System. [...] Die Beobachtung muss als formgebender Moment verstanden werden. Über sie bzw. über die bezeichnete Seite der Unterscheidung wird bewirkt, dass nicht mit einer beliebigen nächsten Operation weitergemacht, sondern dass an der Innenseite der Form angeschlossen wird, und so aus der rekursiven Vernetzung der Beobachtungsoperation strukturierte Geschehenszusammenhänge entstehen können, deren Grenzen dann einschränken, was in den jeweiligen Systemen beobachtet werden kann. Das eigentliche Resultat der Beobachtung ist wiederum abhängig von den Unterscheidungen, die das beobachtende System verwendet.“ (Gripp-Hagelstange, Luhmann, 45). Was bedeutet nun der Begriff „Emergenz“ in diesem Zusammenhang? „Emergent“ heißt eine Ordnung, wenn sie aus der bloßen Aggregation von Teilen und aus den summierten Eigenschaften der Teile nicht mehr erklärbar ist. Für die Theorie Luhmanns ist hierbei relevant, dass auch soziale Systeme emergente Ordnungssysteme darstellen. Diese Tatsache unterstreicht die Bedeutung von Kommunikationen. Wie bereits erwähnt sind autopoietische soziale Systeme Einheiten, die sich selbst erzeugen und erhalten, indem sie in einem rekursiven Prozess ihre eigenen Komponenten selbst herstellen. Sowohl für Luhmann, als auch für das Verständnis in der therapeutischen Praxis ist die Annahme bedeutsam, dass unterschiedliche soziale Systeme folglich auch verschiedenartige Einheiten darstellen, die auf unter schiedlichen Emergenzebenen ihre je eigene Autopoiesis auf ihre je individuelle Weise zustandebringen. Noch einen Schritt weiter gedacht impliziert dies, dass diverse soziale Systeme aufgrund ihres autopoietischen Charakters unterschiedliche emergente Ordnungen ausbilden, füreinander jedoch lediglich Umwelt bleiben. Relevant für die therapeutische Praxis ist hier vor allem die aus der Theorie resultierende Notwendigkeit, unterschiedliche Wirklichkeitskonstruktionen der diversen Klientensysteme annehmen zu können, auch wenn sie sehr widersprüchlich im Vergleich zu den eigenen Konstrukten erscheinen mögen. 4. SELBSTREFERENTIALITÄT Luhmann bemerkt zu dieser Begrifflichkeit einleitend: „Es gibt selbstreferentielle Systeme. [...] Es gibt Systeme mit der Fähigkeit, Beziehungen zu sich selbst herzustellen und diese Beziehungen zu differenzieren gegen Beziehungen zu ihrer Umwelt.“ (Luhmann, Soziale Systeme, 31). Ebenso einleitend sind die Worte Gripp–Hagelstanges, welche das Phänomen „Selbstreferentialität“ in seiner Globalität zum Ausdruck bringen: „[...] Konstitutives Moment einer Theorie selbstreferentieller Systeme ist die Grundannahme, dass alles, was es gibt (einschließlich ihrer selbst), nur über Selbstreferentialität zustande kommen kann [...].“ (Gripp-Hagelstange, Luhmann, 16). Seite 3 von 10 Systemische Notizen 04/04 Therapiemethoden Die grundlegenden Operationen der Systeme sind Beobachtungen. Je höher die Komplexität eines Systems, umso größer ist die Wahrscheinlichkeit, dass das System imstande ist, den systeminternen Operationscode auch auf sich selbst anzuwenden. Der Prozess, der zur Systembildung geführt hat (unterscheiden und bezeichnen), wird vom System noch einmal angewendet, diesmal in Bezug auf sich selbst. Für die nochmalige Einführung dieser systemkonstituierenden Operation in das System verwendet Luhmann Browns Begriff „re-entry“, den Eintritt einer Unterscheidung in sich selbst. Psychische und soziale Systeme besitzen also die Fähigkeit, sich selbst zu reproduzieren. Es handelt sich hierbei um Operationen, welche von außen nicht determinierbar sind. Selbstreferentialität ermöglicht dabei die Stabilisierung komplexer Systeme. Das System arbeitet selbstreferentiell, indem Operationen des Systems auf Operationen des Systems verweisen. Solange Anknüpfungen möglich sind, verweisen in psychischen Systemen Gedanken immer wieder auf Gedanken, und in sozialen Systemen verweisen Kommunikationen immer wieder auf Kommunikationen. Daraus folgt, dass der Leitgesichtspunkt der Konditionierung systemischer Prozesse immer das System selbst ist, nicht jedoch die Umwelt. Für die therapeutische Praxis ergibt sich daraus die Annahme, dass die Ressourcen zur jeweiligen Problemlösung im Klienten selbst zu finden sind und dass der Therapeut den Klienten lediglich im Prozess des Sichtbarmachens der Ressourcen begleitet (Kybernetik 2. Ordnung). Luhmann weist darauf hin, dass der Baustein Selbstreferentialität auch eine gewisse Gefahr impliziert. In dem Moment, wo das System sich selbst beobachtet, vollzieht es wiederholt den Prozess, der zu seiner Entstehung geführt hat – es unterscheidet sich von seiner Umwelt und bezeichnet sich als System („re-entry“). Die aktuelle Operationsebene vermischt sich folglich mit der Metaebene innerhalb des Systems, es entsteht das Problem der Ebenenkonfusion. Klassische Paradoxie ist das Resultat. Wenn sich ein selbstreferentielles System mit dem Problem der Paradoxie konfrontiert sieht, entsteht ein systeminterner „blinder Fleck“, welcher invisibilisiert, also verdeckt werden muss. Invisibilisierung kann vor allem durch Eingliederung der Paradoxie in einen Sinnbezug stattfinden. Luhmann schlägt beispielsweise Religion als Medium vor, um eine Paradoxie in einen Sinn einzugliedern. Luhmann stellt seine Theorie exemplarisch an der Gesellschaft dar. Ich möchte im Hinblick auf die Relevanz für die Psychotherapie vorschlagen, beschriebene Hypothese auf das Klientensystem anzuwenden. In der Praxis beschäftigt sich der Therapeut ebenfalls mit Invisibilisierungsstrategien der Klienten. Mit seiner Hilfe können blinde Flecken aufgedeckt und Paradoxien vermieden werden, indem das Klientensystem gemeinsam mit dem Therapeuten eine Wirklichkeit zu konstruieren vermag, in welcher ein neuer, als unproblematisch erlebter Sinnbezug gegeben ist. Es handelt sich hierbei um eine These meinerseits, von mir konsultierte Sekundärliteratur gibt über diesen Aspekt leider keine nähere Auskunft. Tatsächlich aber dürfte das Phänomen des „reentrys“ Klienten irritieren und zu problematischen Ebenenkonfusionen führen. Ich habe des öfteren erlebt, wie Klienten sich selbst und ihr Familiensystem kritisch hinterfragen und sich oft verzweifelt an anderen Systemen (Nachbarschaft, Bekanntenkreis,...) zu messen versuchen. Enttäuschung über das subjektiv erlebte Unvermögen, nicht so sein zu können wie die „anderen“, ist häufig die traurige Folge. Einer anderen Vermutung zufolge wird das Problem selbst vom System als solches bezeichnet und unterschieden, wiederholt also einen Systementstehungsprozess und stellt daher ein neues System dar, was zu einer problematischen Integration und somit zu einer Ebenenkonfusion führen könnte. Willke stellt in seiner abschließenden Bemerkung eine direkte Verbindung zur Anwendung des Verständnisses von Selbstreferentialität in der therapeutischen Praxis her: „Ein selbstreferentielles System erscheint [...] als gänzlich unabhängig und unbeeinflussbar von seiner Umwelt; und es muss dies auch sein, weil sonst die eigene Kontinuierung von der Umwelt mithin von Zufällen abhängig wäre und nicht von den Notwendigkeiten rekursiv organisierter, selbst gesteuerter systemischer Operationen. Das Risiko des In-der-Welt-Lebens wird damit aus der Welt heraus und in die Systeme hinein genommen. Und erst wenn 2 oder mehrere selbstreferentielle Systeme miteinander in Kontakt treten, ergibt sich ein neuartiges Risiko durch die neuartige Frage, wie dies unter den Bedingungen operativer Geschlossenheit möglich sein könnte.“ (Willke, Sytemtheoretische Grundlagen, 75). Gripp-Hagelstange kommt ebenso zu einer, für die therapeutische Praxis bedeutsamen Konklusion des Phänomens: „[...] Durch Vernetzung von selbstreferentiellen Operationen, die kontinuierlich aneinander Seite 4 von 10 Systemische Notizen 04/04 Therapiemethoden anschließen müssen, soll das ´Sein´ des Systems gewährleistet sein. Das Sein des Systems ist also gleichsam sein Tun [...].“ (Gripp-Hagelstange, Luhmann, 27). Ich erkenne hier eine Parallele zur konstruktivistischen Haltung des Psychotherapeuten, die Lebensweise, das „Tun“ des Klientensystems wertfrei akzeptieren zu können (Neutralität). 5. SINN Zu Beginn sollte festgehalten werden, dass der Schlüsselbegriff „Sinn“ in der Luhmannschen Sozialtheorie nicht unserem Alltagsverständnis von „Sinn“ entspricht. Krause interpretiert einleitend Luhmanns Konzeption von Sinn als ein Medium, als das allgemeinste Medium. So kommt er zu einer sehr globalen Überlegung: „Von einem durch Systeme aufgespannten Horizont von Möglichkeiten des Erlebens und Handelns zu sprechen, ja überhaupt zu sprechen, das meint, von Sinn zu sprechen.“ (Krause, Luhmann-Lexikon, 11.) Vereinfacht ausgedrückt ist Sinn für Luhmann eine Form des Umgangs mit Komplexität, die sowohl Reduktion, als auch zugleich Erhaltung derselben ermöglicht. Luhmann beschreibt das Phänomen wie folgt: „Mit jedem Sinn, mit beliebigem Sinn wird unfassbar hohe Komplexität (Weltkomplexität) appräsentiert und für die Organisation psychischer bzw. sozialer Systeme verfügbar gehalten. Sinn bewirkt daher einerseits: dass diese Operationen Komplexität nicht vernichten können, sondern sie mit der Verwendung von Sinn fortlaufend regenerieren. Der Vollzug der Operationen führt nicht dazu, dass die Welt schrumpft; man kann nur in der Welt lernen, sich als System mit einer Auswahl aus möglichen Strukturen einzurichten. Andererseits reformuliert jeder Sinn den in aller Komplexität implizierten Selektionszwang, und jeder bestimmte Sinn qualifiziert sich dadurch, dass er bestimmte Anschlussmöglichkeiten nahe legt und andere unwahrscheinlich oder schwierig oder weitläufig macht oder (vorläufig) ausschließt.“ (Luhmann, Soziale Systeme, 94). Luhmann zufolge sind psychische wie auch soziale Systeme sinnkonstituierende und sinnverwendende Systeme. Psychische Systeme operieren sinnhaft aufgrund eines geschlossenen Bewusstseinszusammenhanges (Denken), während soziale Systeme dies in Form eines geschlossenen Kommunikationszusammenhanges tun. Dabei ist die fortlaufende Unterscheidung von Aktualität und Möglichkeit konstitutiv für Sinn, denn durch ständiges neues Arrangieren dieser Unterscheidung wird eine fortlaufende Aktualisierung von Möglichkeiten geschaffen. Kneer und Nassehi bringen diese so komplex anmutende Problematik auf den Punkt: „Sinn ist ein selektives Geschehen, stets muss eine Auswahl getroffen und eine potentielle Möglichkeit aktualisiert werden. Die nichtaktualisierten Möglichkeiten [...] bleiben virtuell erhalten und können später aktualisiert werden.“ (Kneer – Nassehi, Luhmanns Theorie, 77). Sinn beruht also auf der Differenz von Aktualität und Möglichkeit, er stellt eine für das System sinnvolle Auswahl aus vielen Möglichkeiten dar. Für die therapeutische Praxis ist diese Überlegung der Anknüpfungspunkt dafür, dass die systeminterne Selektion von Möglichkeiten nach ebenso systeminternen Sinnkriterien getroffen wird, welche der Therapeut im Laufe seiner Tätigkeit mit dem Klientensystem erarbeiten wird. Nichtausgewähltes bleibt jedoch für das System theoretisch erhalten und spielt eventuell bei zukünftigen Selektionen infolge veränderter Sinnkriterien wieder eine praktische Rolle. Die therapeutische Technik des „Reframings“ beispielsweise basiert auf diesem Gedankengut, ein Problemerleben nach unterschiedlichen Sinnkriterien neu zu definieren. Ludewig bietet hierzu ein Erklärungsmodell an, welches den Therapiebedarf von Klientensystemen plausibel macht: „Als vorläufige Komplexität ist Sinn prinzipiell instabil, muss sich fortlaufend regenerieren. Die Instabilität und Unbestimmbarkeit sozialer Systeme öffnet diese dem Zufall und damit der Veränderung, das heißt der Fehlkoordination von Ereignissen und Systemstrukturen.“ (Ludewig, Systemische Therapie, 95). Luhmann meint dazu, wobei Sinngrenzen als Systemgrenzen angenommen werden: „[...] es ist der Verweisungsreichtum von Sinn, der es möglich macht, Gesellschaftssysteme zu bilden, durch die Menschen Bewusstsein haben und leben können.“(Luhmann, Soziale Systeme, 297f ). Weiters reflektiert er: „Sinn ermöglicht die Interpenetration [Nb.: Luhmann meint hier Verständigung mehrerer Systeme untereinander] Seite 5 von 10 Systemische Notizen 04/04 Therapiemethoden psychischer und sozialer Systembildungen bei Bewahrung ihrer Autopoiesis; Sinn ermöglicht das Sichverstehen und Sichfortzeugen von Bewusstsein in der Kommunikation und zugleich das Zurückrechnen der Kommunikation auf das Bewusstsein der Beteiligten. Der Begriff des Sinns löst damit den Begriff des animal sociale ab.“ (Luhmann, Soziale Systeme, 297). Für die Therapie ist wiederum relevant, dass „Sinn“ im Luhmannschen Sinne die Ordnungsform menschlichen Erlebens beschreibt. Reese–Schäfer fasst dies zusammen: „Unser Erleben ist durch eine Art ‚Überfülle des Möglichen‘ gekennzeichnet. Es muss ein Programm zur Steuerung der Auswahl strukturiert werden. Dazu dient das, was man ´Sinn´ zu nennen sich angewöhnt hat.“ (Reese- Schäfer, Luhmann zur Einführung, 40). Die unmittelbare Chance für die Psychotherapie liegt dem sozialen Konstruktivismus folgend darin, gemeinsam mit dem Klienten eine für das System sinnhafte Kokreation von Wirklichkeit, also besagtes Programm zur Steuerung der Auswahl anzustreben. Luhmann unterscheidet in seiner Theorie drei unterschiedliche Sinndimensionen, nach welchen psychisches und soziales Geschehen beobachtet werden kann. So beschreibt die Sachdimension, was in der Welt der Fall ist und handelt somit beispielsweise von Dingen, Theorien, Meinungen und Ähnlichem. Die Sozialdimension hingegen impliziert, wer zuvor erwähnte Dinge, Theorien und Meinungen thematisiert. Die Zeitdimension verdeutlicht abschließend, wann etwas geschieht. Im therapeutischen Setting kommunizieren beispielsweise zwei „black boxes“, also zwei voneinander unabhängige und füreinander undurchsichtige Systeme miteinander, dadurch eröffnet sich ein Sinn–Horizont. Liessmann stellt hier eine bedeutsame Verbindung zur Psychothera pie her: „Eröffnet wird [...] dadurch primär die Zeitdimension von Sinn [...]. Aus der Begegnung gewinnt die Vergangenheit einen neuen Sinn – sie erscheint als Voraussetzungsgeschichte der Begegnung – und ebenso die Zukunft: Sie muss das halten, was die Begegnung verspricht. [...] Mit diesen Sinndimensionen konstituieren die black boxes also einen Zeitraum, an dessen Achse sich ihr Erleben und Verhalten ausrichtet. Diesen Zeitraum hat es vor der Begegnung nicht gegeben, so wenig wie den damit verbundenen Sinn.“ (Liessmann, Sinn und Subjekt, in: Viertelsjahresschrift 4/91, 382). Sinn ist stets Thema des therapeutischen Alltags. Aufgrund der fortlaufenden Aktualisierung neuer Denkmöglichkeiten entstehen für das System unterschiedliche Anschlussmöglichkeiten, wobei sich das System entscheidet, welcher Möglichkeit es sich anschließen wird – wobei aber immer noch die anderen buchstäblich als Reserven erhalten bleiben und zu einem späteren Zeitpunkt aktualisiert werden können. Die Interventionstechnik der Time-Line beispielsweise operiert mit diesem Gedankengut. Sinn ist ein geschlossenes, selbstreferentielles Geschehen, denn Sinn verweist immer auf weiteren Sinn, dies impliziert für Luhmann: „Die Selbstbeweglichkeit des Sinngeschehens ist Autopoiesis par excellence“ (Luhmann, Soziale Systeme, 101), womit sich der Kreis schließt. 6. KOMMUNIKATION Luhmann bemerkt einleitend humorvoll: „Einmal in Kommunikation verstrickt, kommt man nie wieder ins Paradies der einfachen Seelen zurück.“ Doch wenn man es sich so recht überlegt, wäre in einem derartigen „Paradies der einfachen Seelen“ die Ausübung von Psychotherapie überflüssig, zumal der Begriff bekanntlicher Weise aus dem Griechischen stammt und mit „Heilung der Seele“ übersetzt werden kann. So also ist für uns Psychotherapeuten das Kapitel „Kommunikation“ von essentieller Bedeutung. Luhmanns Theorie zufolge wird die Kommunikation erst durch die symbolisch generalisierten Kommunikationsmedien ermöglicht. Weiters vertritt er die Ansicht, „der elementare, Soziales als besondere Realität konstituierende Prozess ist ein Kommunikationsprozess“ (Luhmann, Soziale Systeme, 193). Dieser Aspekt der Theorie Luhmanns findet ebenso seine Anwendung im therapeutischen Setting und folgt dem Paradigma des Konstruktivismus, denn durch den Dialog zwischen Therapeut und Klient, also deren Kommunikation, wird die jeweilige Wirklichkeit konstruiert. Luhmann jedoch betrachtet die Thematik Kommunikation von einem differenzierten Standpunkt aus. Er erkennt in Kommunikation einen autopoietischen Prozess, wodurch sich Seite 6 von 10 Systemische Notizen 04/04 Therapiemethoden soziale Systeme bilden. In diesem Zusammenhang ist ihm vor allem die strikte Unterscheidung wichtig, dass Menschen zwar biologische Systeme und Personen psychische Systeme wären, beide Konzepte jedoch definitiv nicht seiner Vorstellung von sozialen Systemen entsprächen. „Eine Kommunikation liegt vor, wenn eine Informationsauswahl, eine Auswahl von mehreren Mitteilungsmöglichkeiten und eine Auswahl von mehreren Verstehensmöglichkeiten getroffen wird“ (Füllsack, Soziale Systeme, 27). Es handelt sich hierbei um einen dreistelligen Selektionsprozess, nämlich erstens der Information, zweitens der Mitteilung und drittens des Verstehens des Unterschiedes zwischen Information und Mitteilung, denn ohne die Unterscheidung zwischen Information und Mitteilung kann Kommunikation nicht entstehen. Die Annahme des dreistelligen Selektionsprozesses impliziert, dass Kommunikation eben nicht schlicht als Mitteilung aufgefasst werden kann, denn eine Mitteilung trägt erst dann zur Kommunikation bei, wenn der Adressat sie tatsächlich versteht, was jedoch bei Kommunikation nicht notwendigerweise der Fall sein muss. Luhmann bezeichnet Kommunikation sogar als eher unwahrscheinliches Ereignis, da das Phänomen der doppelten Kontingenz (siehe folgender Punkt) das Gelingen des Kommunikationsprozesses stets einschränkt. In diesen operativ geschlossenen sozialen Systemen vollzieht sich Kommunikation selektiv. In Kommunikation wird Sinn verarbeitet und daher Komplexität vorläufig reduziert, weiters bringt sich Kommunikation aus sich selbst hervor, wobei Information selektiert wird. Somit ist jede Mitteilung bereits eine Selektion. Ludewig zufolge kann Kommunikation „[...] weder aufgrund einer einzigen Mitteilung voll erfasst noch direkt beobachtet, sondern allenfalls anhand der einzelnen Handlungen nachvollzogen werden“ (Ludewig, Systemische Therapie, 100f ). Für Fohrmann konstituieren sich operativ geschlossene Systeme ausschließlich durch den Modus der Informationsverarbeitung, welche auf einem jeweils spezifischen Code beruht. Für die Thematik Kommunikation ist hier relevant, dass auch diese Codes auf der Unterscheidung der Differenz von Mitteilung und Information beruhen. In unserer Konstruktion von Welt ist Information nicht „pur“ vorhanden, zunächst wird die Mitteilung gefiltert und dann auf ihren für das System brauchbaren Informationsgehalt „abgetastet“. Fohrmann schließt daraus, dass formal betrachtet, dieser Annahme folgend jede Kommunikation „Sinn“ hat und kommt daher zu der Konklusion, „[...] Gesellschaft besteht [...] aus der Abfolge von Kommunikationen [...]“ (Fohrmann, Zettelbau, in: Erhart – Jaumann, Jahrhundertbücher, 412). Hierbei geht er definitiv mit Luhmann konform, da dieser sogar Sozialisation als kommunikativen Prozess beschreibt. Allerdings hypothetisiert Luhmann an einer anderen Stelle: „Wenn die Kommunikation einer Gesellschaftstheorie als Kommunikation gelingt, verändert sie die Beschreibung ihres Gegenstandes und damit den diese Beschreibung aufnehmenden Gegenstand.“ (Luhmann, Gesellschaft der Gesellschaft Bd. 1, 15). Für die Therapie erkenne ich hier persönlich die Relevanz der Supervision. Allein das vertrauliche Gespräch über einen schwierigen Fall unter Kollegen vermag eine neue Sichtweise zu ermöglichen, allenfalls Komplexität zu reduzieren. Wie bereits erwähnt stellt das Gelingen von Kommunikation aufgrund der doppelten Kontingenz ein unwahrscheinliches Ereignis dar, da der Adressat immer tatsäch lich etwas anderes verstehen kann, als der Mitteilende ursprünglich gemeint hat. Für die therapeutische Praxis kommt Luhmann zu der Schlussfolgerung: „Psychotherapeutik muss dann Aufklärung über das mitgemeinte Andere sein.“ (Luhmann, Soziale Systeme, 328). Der Luhmannsche Informationsbegriff veranschaulicht, wie sinnhafte Systeme ihre eigene System/Umwelt–Differenz herstellen. Ludewig warnt davor, Information mit dem Konzept von „Sinn“ zu verwechseln, denn „Information zielt zwar darauf, beim Adressaten Systemzustände auszulösen, aber die Wahl, was als Information wirkt, trifft das System selbst.“ (Ludewig, Systemische Therapie, 95.) Information wird hier nach den Kriterien „innen“ und „außen“ differenziert: als Eigenleistung von innen heraus ist sie als „Handlung“ zu interpretieren, als externe Selektion hingegen als „Erleben“ des Systems. Diese Differenzierung ermöglicht es uns Ludewig zufolge, andere (Klienten-) Systeme zu verstehen. Mündliche Sprache ist im Gegensatz zu Kommunikation ein vom System benutztes Medium, die eigenen Operationen zu strukturieren. Sie funktioniert mit Hilfe der Unterscheidung von Sinn und Laut. Informationen stellen hierbei systemrelevante Unterschiede dar, denn für ein System besteht die Welt nicht aus Dingen, sondern aus Unterschieden, die vom System selbst konstruiert werden. Luhmanns Konzeption Seite 7 von 10 Systemische Notizen 04/04 Therapiemethoden von Sprache und Kommunikation ist ein wesentlicher Bestandteil der therapeutischen Praxis. In diesem Zusammenhang könnte auch noch der Baustein „Schrift“ thematisiert werden, da durch die Schrift Unterschiede Luhmann zufolge ihre schriftliche Fixierung finden, weiters durch sie die sogenannte „Telekommunikation“ eine Illusion der „Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen“ darstellt. Luhmann beschreibt dies folgendermaßen: „Während die Sprache ganz allgemein ihre Form als Differenz von Laut und Sinn findet, ermöglicht die Schrift eine Symbolisierung genau dieser Differenz in einem anderen Wahrnehmungsmedium, im Medium der Optik.“ (Luhmann, Gesellschaft Bd. 1, 255). Auch in der systemischen Familientherapie wird mitunter die Technik des „Briefeschreibens“ angewendet, zumal dies eine besondere Intervention im Sinne der „Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen“ darstellen kann. 7. KONTINGENZ UND DOPPELTE KONTINGENZ Das Handeln eines Systems ist kontingent, mit anderen Worten „auch anders möglich“. Bei Festlegung des Systems auf eine der Handlungsmöglichkeiten wird Kontingenz, somit gleichzeitig auch Komplexität, reduziert. Alle weiteren Operationen des Systems folgen also im Anschluss an die Primärselektion der einen Möglichkeit. Die Anzahl der diversen Handlungsmöglichkeiten entspricht dem jeweiligen Wahrnehmungsfeld des Systems, wobei hier der Kontext zur Psychotherapie erneut hergestellt ist, da systemische Therapeuten stets bemüht sind, die Handlungsmöglichkeiten – sprich die Ressourcen des Klientensystems – transparent zu machen, so dass diese den Klienten bewusst und neue Anknüpfungspunkte erkannt werden. Füllsack bemerkt in diesem Zusammenhang: „Je höher die interne Komplexität des Systems, desto breiter in der Regel auch sein ´Wahrnehmungsfeld ´.“ (Füllsack, Soziale Systeme, 14). Daraus folgt, dass das Präsenthalten von Kontingenz das Offenhalten stets weiterer Möglichkeiten impliziert. Luhmann selbst nimmt dazu wie folgt Stellung: „Der Begriff [Kontingenz] wird gewonnen durch Ausschließung von Notwendigkeit und Unmöglichkeit. Kontingent ist etwas, was weder notwendig noch unmöglich ist; was also so, wie es ist [...], sein kann, aber auch anders möglich ist. Der Begriff bezeichnet mithin Gegebenes [...] im Hinblick auf mögliches Anderssein; er bezeichnet Gegenstände im Horizont möglicher Abwandlungen. Er setzt die gegebene Welt voraus, bezeichnet also nicht das Mögliche überhaupt, sondern das, was von der Realität aus gesehen anders möglich ist.“ (Luhmann, Soziale Systeme, 152). Um das Phänomen der doppelten Kontingenz darzulegen, muss erneut Luhmanns Konzept der Kommunikation herangezogen werden: „Sinnhafte soziale Systeme müssen, um Sinn erzeugen und bewahren zu können, an Operationen anderer Systeme anschließen, ohne Einblick in deren Abläufe zu erhalten.“ (Ludewig, Systemische Therapie, 97). Diese gegenseitige Intransparenz aller Kommunikation stellt das Grundproblem sozialer Systeme dar, denn das, was beide Partner in einer sozialen Interaktion erfahren, ist doppelte Kontingenz. Sie gibt gleichzeitig sowohl das Gefühl der Sicherheit, als auch Verunsicherung, denn man weiß nicht, was der jeweils andere tun wird, dennoch kann davon ausgegangen werden, dass dieser andere die Situation ähnlich oder gar genauso erlebt. Legt sich nun einer der beiden auf eine Variante fest, so wird dem anderen dadurch die Anknüpfung ermöglicht. Luhmann schließt daran an: „Ohne sie [doppelte Kontingenz] gäbe es keine soziokulturelle Evolution.“ (Luhmann, Soziale Systeme, 186). Er sieht das hypothetisch Unwahrscheinliche der Kommunikation darin, „[...] angesichts der Ungewissheit Risiken einzugehen“ (Ludewig, Systemische Therapie, ib). Dennoch erwähnt er „[...] ein Mindestmaß an auf Kenntnissen gegründeter Erwartungen“, also verdichteter Sinnstrukturen, welche Situationen doppelter Kontingenz erfordern, „um Kommunikation überhaupt in Gang bringen zu können [...]“ (Luhmann, Soziale Systeme, 155). Für die Therapie erscheint hierfür besonders Luhmanns Aussage relevant: „Wir haben [...] unterschiedliche Formen und Grade der ´Personalisierung´ sozialer Systeme in Betracht zu ziehen [...].“ (Luhmann, Soziale Systeme, ib). In der therapeutischen Umsetzung dieser Theorie muss auch der Aspekt berücksichtigt werden, dass selbst die Beobachtung an sich, sowie die Anwesenheit eines Beobachters (Therapeut) bereits Veränderung im Verhalten des Systems bewirken kann. Dazu vertritt Ludewig die für die praktische Anwendung bedeutsame Auffassung: „Das Risiko aller Kommunikation erfordere ständig Kreativität, um die Ungewissheit fruchtbar zu deuten. Daher sei Kommunikation eine besondere Kunstform – Lebenskunst.“ (Ludewig, Systemische Therapie, 98). Ludewig merkt in diesem Zusammenhang an, dass Seite 8 von 10 Systemische Notizen 04/04 Therapiemethoden „rein“ doppelte Kontingenz in keiner Gesellschaft vorkäme, da die Kommunikation auf gesellschaftlich vermittelten Symbolen und Erwartungen (verdichteten Sinnstrukturen) beruht. Das Problem der doppelten Kontingenz wird durch Selektion, welche Bildung von Grenzen sozialer Systeme ermöglicht, gelöst. Diese Grenzziehung bedingende Selektion ist einerseits Strukturvorgabe, da sie Erwartungen festigt, andererseits öffnet sie das System für spätere Alternativen. Strukturveränderungen können somit, falls vom System erwünscht, herbeigeführt werden. Darin erkennt die systemische Familientherapie eine ihrer mannigfaltigen Chancen, Klientensysteme nicht nur als operativ geschlossene schwarze Kästen, also intransparente „black boxes“, wahrnehmen zu können. Denn für die systemische Familientherapie stellt das Phänomen der doppelten Kontingenz in rudimentärer Form als neue Einheit einen wesentlichen Anknüpfungspunkt dar. Luhmann spricht in diesem Zusammenhang von einem „selbstreferentiellen Zirkel“, um das Phänomen zu verdeutlichen. Als Beispiel gibt er dafür folgende Situation an: „Ich tue, was du willst, wenn du tust, was ich will.“ Mit derartigen Erwartungshaltungen sehen sich systemische Familientherapeuten ständig konfrontiert. Die Methode des zirkulären Fragens beispielsweise hilft dem Therapeuten sowie dem Klientensystem, derartige Erwartungen transparent zu machen. So viel sei schon zu Techniken der therapeutischen Praxis vorweggenommen. Um wieder zur Theorie zurückzukommen, möge an dieser Stelle abschließend Pfeffer zitiert werden: „Der Begriff ´doppelte Kontingenz ´ bezeichnet einen selbstreferentiellen Zirkel, der nur dadurch entsteht, dass Alter sich am Verhalten Ego´s auszurichten versucht, während Ego sein Verhalten an Alter´s Verhalten anschließen möchte.“ (Pfeffer, Das ´zirkuläre Fragen´, 7). Unsicherheit, wie auch gegenseitige Verwirrung sind das Resultat dieses Phänomens, welches es mithilfe des Therapeuten aufzulösen gilt. 8. LUHMANNS DARSTELLUNG VOM MENSCHEN ALS SYSTEM Wie bereits erwähnt, trifft Luhmann eine strikte Unterscheidung zwischen biologischen, psychischen und sozialen Systemen. Als biologisches System definiert er den Menschen, Personen hingegen stellen für ihn psychische Systeme dar, die Informationen aufgrund eines Bewusstseins zu verarbeiten vermögen. Krause hebt die besondere Bedeutung von psychischen Systemen hervor, indem er – für die therapeutische Praxis nicht unwesentliche – Hypothesen reflektiert: „Psychische Systeme erzeugen sich selbst, indem sie Gedanken an Gedanken anschließen. Ein durch einen Gedanken beobachteter Gedanke ist eine Vorstellung und eine beobachtete Vorstellung ist als Bewusstsein zu unterscheiden. [...] Allerdings vermag jedes psychische System nur sich selbst in Differenz zu dem zu identifizieren, als was es sich nicht identifiziert.“ (Krause, Luhmann -Lexikon, 31f ). Soziale Systeme bilden sich für Luhmann ausschließlich aufgrund von Kommunikationen, wobei die Gesellschaft einen Sonderfall sozialer Systeme darstellt. Luhmann interpretiert soziale Systeme zwar als an biologische und psychische Systeme gekoppelt, phänomenologisch jedoch von ihnen unabhängig. Dennoch gesteht er der Existenz biologischer und psychischer Systeme die notwendige Bedingung für die Entstehung sozialer Systeme zu. Dies impliziert eine eigenständige Beschreibung sozialer Systeme, welche durch das Konzept der Kommunikation hinreichend definiert ist. Luhmann vertritt die Ansicht, dass psychische und soziale Systeme koevolutiv entstandene, für einander notwendige Umwelten sind: „Psychische und soziale Systeme sind im Wege der Co–Evolution entstanden. Die jeweils eine Systemart ist notwendige Umwelt der jeweils anderen. Die Begründung dieser Notwendigkeit liegt in der diese Systemarten ermöglichenden Evolution. Personen können nicht ohne soziale Systeme entstehen und umgekehrt [...]. Die Co–Evolution hat zu einer gemeinsamen Errungenschaft geführt, die sowohl von psychischen als auch von sozialen Systemen benutzt wird. Beide Systemarten sind auf sie angewiesen, und für beide ist sie bindend als unerlässliche, unabweisbare Form ihrer Kom plexität und ihrer Selbstreferenz. Wir nennen diese evolutionäre Errungenschaft ´Sinn´.“ (Luhmann, Soziale Systeme, 92). Seite 9 von 10 Systemische Notizen 04/04 Therapiemethoden Auch an dieser Stelle schließt sich erneut der Kreis auf nahezu hermeneutische Weise. Wie bereits erwähnt, sind soziale Systeme selbstreferentiell und operational geschlossen, bisher blieb jedoch unerwähnt, dass auch die jeweiligen Systemkomponenten sozial konstituiert sind. Ludewig warnt davor, die Systemkomponenten mit „Menschen“ zu verwechseln, was natürlich verführerisch simpel wäre. Dem ist aber – Luhmann zufolge – nicht so, da Menschen ausschließlich biologische Systeme darstellen würden. Ludewig kommt zu einer, für die Therapie relevanten, Schlussfolgerung: „Daher [aufgrund der sozialen Konstitution der Systemkomponenten] können die ´gleichen´ Menschen gleichzeitig mehrere Systeme stützen oder auflösen, ohne dass ihre ´Verbindung ´ enden müsste.“ (Ludewig, Systemische Therapie, ib). Damit schließt sich der hermeneutische Zirkel des Verstehens der Theorie Luhmanns. In der nächsten Ausgabe wird die direkte Anwendung der Systemtheorie in der therapeutischen Praxis anhand von ausgewählten Teilbereichen fokussiert. Da sich jedoch der Versuch einer linearen Abhandlung der Bausteine der Luhmannschen Theorie als eher problematisch erweist, möchte ich den Leser ebenso zur Betrachtung einer graphischen Darstellung einladen, welche – im Sinne der Komplexitätsreduktion – der Linearität trotzt und daher eine annähernde Erfassung der Theorie in ihrer Gesamtheit ermöglicht. Die Graphik ist entnommen aus: Krause, Luhmann – Lexikon, 82. Sie ermöglicht eine Veranschaulichung der zentralen Bedeutung des systemtheoretischen Konstruktivismus, zumal dieser gleichermaßen die Grundessenz für die systemische Familientherapie (seit der konstruktivistischen Wende 1982) wie auch für Luhmanns Systemtheorie darstellt. BIBLIOGRAPHIE Teil 1 Jürgen Fohrmann, Der Zettelbau. Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft, in: Walter Erhart – Herbert Jaumann (Hg.), Jahrhundertbücher. Große Theorien von Freud bis Luhmann, München 2000, 407–426. Manfred Füllsack, Soziale Systeme. Philosophische Voraussetzungen und Implikationen der Gesellschaftstheorie von Niklas Luhmann, Wien 2001. Helga Gripp-Hagelstange, Niklas Luhmann. Eine erkenntnistheoretische Einführung, München 21997. Georg Kneer – Armin Nassehi, Niklas Luhmanns Theorie sozialer Systeme. Eine Einführung, München 31997. Detlef Krause, Luhmann-Lexikon. Eine Einführung in das Gesamtwerk von Niklas Luhmann, Stuttgart 32001. Konrad Paul Liessmann, Sinn und Subjekt. Zur externen Anschlussfähigkeit autopoietischer Systeme, in: Vierteljahresschrift für wissenschaftliche Pädagogik, 4/91, Wien 1991, 377–389. Kurt Ludewig, Systemische Therapie. Grundlagen klinischer Theorie und Praxis, Stuttgart 41997. Niklas Luhmann, Die Gesellschaft der Gesellschaft 1, Frankfurt / Main 21999. Niklas Luhmann, Soziale Systeme. Grundriss einer allgemeinen Theorie, Frankfurt / Main 1984. Humberto Maturana – Francesco Varela, Der Baum der Erkenntnis, Bern / München 1987. Thomas Pfeffer, Das ‚zirkuläre Fragen‘ als Forschungsmethode zur Luhmannschen Systemtheorie, Heidelberg 2001. Walter Reese-Schäfer, Niklas Luhmann zur Einführung, Hamburg 31999. Helmut Willke, Systemtheoretische Grundlagen des therapeutischen Eingriffs in autonome Systeme, in: Ludwig Reiter – Ewald J. Brunner – Stella Reiter-Theil (Hg.), Von der Familientherapie zur systemischen Perspektive, Berlin / Heidelberg / New York 21997, 67–80. Mag. MARIA AUGUSTINE BAYER ist Lehrbeauftragte am IES Wien, Psychotherapeutin für systemische Familientherapie in Ausbildung unter Supervision; Studium der Psychologie, Pädagogik, Philosopie und Geschichte. Teil 2 wird in der nächsten Ausgabe der Systemischen Notizen veröffentlicht. Seite 10 von 10