1. Abschnitt: Reformbedarf des Verwaltungsrechts

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Grundfragen der Reform des Allgemeinen Verwaltungsrechts
– Zur Reform des Allgemeinen Verwaltungsrechts: Reformbedarf und Neue Verwaltungsrechtswissenschaft –
2. Auflage
Eberhard Schmidt-Aßmann, Heidelberg
Übersicht
1. Abschnitt: Reformbedarf des Verwaltungsrechts
3
I. Recht zwischen Stabilität und Flexibilität: die Beiträge von Justiz, Gesetzgebung, Verwaltung
und Verwaltungsrechtswissenschaft zur Veränderung des Verwaltungsrechts
3
1. Die Rolle der Gerichte
3
2. Die zunehmende Bedeutung des Gesetzgebers im Allgemeinen Verwaltungsrecht
4
3. Die Aufgaben der Verwaltungsrechtswissenschaft
5
4. Die Exekutive als Entwicklungskraft
6
5. Arbeitsteiliges Zusammenwirken
7
II. Die Unzulänglichkeit des traditionellen Verwaltungsrechts-Konzepts
7
1. Das traditionelle Konzept
7
2. Perspektivenverzerrung der „dogmatischen Normalsituation“
8
III. Zu den Begriffen: Verwaltung und Verwaltungsrecht
9
2. Abschnitt: Drei wichtige Ansatzpunkte der Reformdiskussion
12
I. Steuerungswissenschaftlicher Ansatz
12
1. Steuerungskonzept: Elemente und Grenzen
13
2. Regelungsstruktur und Governance
15
II. Konstitutionalisierung des Verwaltungsrechts
17
1. „Verwaltungsrecht als konkretisiertes Verfassungsrecht“
17
2. Vorgaben des Rechtsstaatsprinzips
21
a) objektiv-rechtlich: Ordnung durch Recht
21
b) subjektiv-rechtlich: individuelle Rechtspositionen
22
3. Vorgaben des Demokratieprinzips
24
a) demokratische Legitimation im engeren Sinne
24
b) pluralistisches Konzept demokratischer Legitimation
26
c) Insbesondere zur Bedeutung der Selbstverwaltung
27
d) demokratischer Verwaltungsstil
29
4. Entscheidung für eine „offene Staatlichkeit“
30
5. Die Bedeutung von Staatszielbestimmungen: Das Sozialstaatsprinzip
31
6. Konstitutionalisierung: Das Verfassungsrecht als „Transformator“ neuer
Herausforderungen an das Verwaltungsrecht
33
III. Orientierung am Besonderen Verwaltungsrecht: „Referenzgebiete“
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D:\68615144.doc / 14.05.2016 / 2:03 a.3.p.3./ Fri/Eb
2
1. Die richtige Auswahl der Referenzgebiete
2. Methode praktischer Vermittlung
IV. Zusammenfassende Beobachtungen
3. Abschnitt: Perspektivenveränderungen im Verwaltungsrecht: Die „Neue
Verwaltungsrechtswissenschaft“
I. „Von der gerichtlichen Kontroll- zur administrativen Handlungsperspektive“
1. Von der Justizzentriertheit zur umfassenden Kontrolllehre
2. Die Ergänzung der Kontroll- durch die Handlungsperspektive
3. Die Frage nach „Regulierungsstrategien“
II. „Von der Vollzugsdogmatik zur gesetzesdirigierten Verwaltung“
1. Traditionell: Gesetzmäßigkeit als Gesetzesvollzug
2. Notwendig: Komplexes Rechtsanwendungsmodell
a) Arbeit am Normtext
b) Umgang mit Ermessensdirektiven
III. Vom Erfüllungs- zum Gewährleistungsverwaltungsrecht
1. Gewährleistungsverantwortung
2. Gewährleistungsverwaltungsrecht, insbesondere: Regulierungsverwaltungsrecht
3. Die Floskel von der „Rückkehr des Staates“
4. Abschnitt: Die Entwicklung des Europäischen Verwaltungsrechts und des Internationalen
Verwaltungsrechts
I. Die Europäische Verwaltung als Informations-, Handlungs- und Kontrollverbund
1. Die nationalen Verwaltungen als Basis
2. Die Verwaltungsinstanzen der EU
3. Kooperation und Netzwerkbildung
4. Besondere Verbundprobleme
II. Ordnungsleistungen des Europäischen Verfassungsrechts
1. Die Allgemeinen Rechtsgrundsätze des Vollzuges
2. Die Europäische Verwaltung in den Unionsverträgen von Lissabon
3. Die Rolle der Grundrechte-Charta und das Recht auf eine gute Verwaltung
4. Einige kritische Bemerkungen zur Entwicklung
III. Die Internationalisierung der Verwaltungsbeziehungen und das Internationale
Verwaltungsrecht
1. Beispiele und Probleme
2. Internationales Verwaltungsrecht
5. Abschnitt: Methodenfragen der Neuen Verwaltungsrechtswissenschaft
I. Die Ebenen der Methodendiskussion
II. Unterschiedliche Methoden administrativer Rechtskonkretisierung
1. Die Methoden einfacher Gesetzesanwendung
2. Methoden für komplexe Entscheidungssituationen
III. Das Verhältnis zu den sog. Nachbarwissenschaften
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1. Abschnitt: Reformbedarf des Verwaltungsrechts
I.
Recht zwischen Stabilität und Flexibilität: die Beiträge von Justiz, Gesetzgebung, Verwaltung und Verwaltungsrechtswissenschaft zur Veränderung des Verwaltungsrechts
Recht soll soziale Verhaltenserwartungen stabilisieren und dadurch Orientierung ermöglichen. Rechtssicherheit und Vertrauensschutz gehören bekanntermaßen zu den Elementen des Rechtsstaatsprinzips. Auch der Struktur des Rechtes selbst eignet ein erhebliches
Maß an Stabilität an.
Auf der anderen Seite sind moderne Gesellschaften fortgesetzt in der Bewegung und vor
neuen Herausforderungen. Ein Recht, das sich zu stark auf seine Stabilisierungsaufgaben konzentrierte, liefe Gefahr, notwendige Veränderungen zu behindern oder durch
den Druck der Veränderungen überwunden zu werden. Neben Rechtssicherheit und Vertrauensschutz sind auch Flexibilität und Innovationsoffenheit wichtige Bestandteile des
Rechtssystems. Das gilt in besonderem Maße für das Verwaltungsrecht; denn dieses
Recht ist besonders eng mit den sich schnell wandelnden Bedürfnissen moderner Gesellschaften verbunden.1
Welches sind die treibenden Kräfte, die für das Verwaltungsrecht die erforderlichen
Anpassungsleistungen erbringen?
1.
Die Rolle der Gerichte
Eine erste Antwort lautet: die Gerichte. In der Tat haben die Gerichte, wenn man
die verwaltungsrechtliche Entwicklung in Deutschland seit dem Grundgesetz, d.h.
seit dem Jahre 1949 beobachtet, wichtige Beiträge zur Fortentwicklung des überkommenen Verwaltungsrechts erbracht: Die besonderen Gewaltverhältnisse sind
verrechtlicht worden. Die Lehre vom Gesetzesvorbehalt ist neuen Interventionsarten des Staates angepasst worden. Die Lehre zur Kontrolle der planerischen Abwägung hat die planende Verwaltungstätigkeit rechtsstaatlich diszipliniert. Das Bundesverfassungsgericht hat an dieser positiven Entwicklung erheblichen Anteil. Erinnert sei nur an die Entwicklung des Datenschutzrechts und an das informationstechnische Sicherheitsrecht. Entsprechend bedeutsam wird die Rolle des Europäi-
1
Die folgenden Überlegungen gehen auf Gedanken zurück, die zunächst in der etwa seit 1990 in Deutschland
geführten sog. Reformdiskussion formuliert worden sind; dazu die insgesamt 10 von Wolfgang Hoffmann-Riem
und mir herausgegebenen „Schriften zur Reform des Verwaltungsrechts“ (Nomos Verlag, Baden-Baden).
Fortentwickelt sind die Reformüberlegungen in dem von mehr als 50 Autoren getragenen Gemeinschaftswerk
Wolfgang Hoffmann-Riem/Eberhard Schmidt-Aßmann/Andreas Voßkuhle (Herausgeber), Grundlagen des
Verwaltungsrechts – GVwR – Bd. 1 – 3 ( Verlag C. H. Beck, München, 2006 – 2008). Eine 2. Auflage dieses
Werkes wird 2012 erscheinen.
3
4
schen Gerichtshofs für die Entwicklung des Europäischen Verwaltungsrechts eingeschätzt.
Trotzdem überzeugt der Hinweis auf die Gerichte als Träger der Fortentwicklung
des Rechts nicht vollständig. Es ist eine typisch juristische Antwort. Juristen denken am ehesten an die Tätigkeit der Judikative, weil sie sich hier auf einem ihnen
vertrauten, rechtlich geordneten Felde bewegen. Sie merken dabei nicht, dass die
Gerichte nur eine bestimmte Auswahl von Problemen aus der Vielfalt des Verwaltungshandelns erfassen können, weil sie nur auf Klagen reagieren können. Wo sich
kein Kläger findet oder wo es um eine ausgreifende Fortentwicklung des Rechts
geht, können jedenfalls die Fachgerichte nur wenig beitragen. Für das Bundesverfassungsgericht gilt diese Einschränkung so nicht, weil seine Kompetenzen weit in
die Zone des Gesetzgebers und seiner Kontrolle hineinreichen. Insgesamt aber ist
die Vorstellung, die Gerichte seien die wichtigsten Kräfte bei der Entwicklung des
Verwaltungsrechts, für die Gegenwart – anders als für die Vergangenheit – eine zu
enge Vorstellung.
2.
Die zunehmende Bedeutung des Gesetzgebers im Allgemeinen Verwaltungsrecht
Notwendig ist es nämlich, auch die wichtigen Aufgaben der Gesetzgebung bei der
Fortentwicklung des Verwaltungsrechts hervorzuheben: zunächst die nationale Gesetzgebung und heute in noch größerem Maße die europäische Gesetzgebung. Die
Einflüsse der Gesetzgebung vollziehen sich vor allem über das Besondere Verwaltungsrecht. Wichtige Gesetze betrafen in den zurückliegenden 50 Jahren vor allem
das Baurecht, das Umweltrecht, das Sozialrecht und das Telekommunikationsrecht, letzteres als ein Beispiel für ein neueres Regulierungsrecht. Man könnte
einwenden, alle diese Gesetze hätten das allgemeine Verwaltungsrecht unberührt
gelassen. Das ist aber eine Fehleinschätzung. Sie verkennt die wechselseitigen
Austauschbeziehungen zwischen Allgemeinem und Besonderem Verwaltungsrecht.
Selbstverständlich haben Veränderungen in zentral wichtigen Gebieten des Besonderen Verwaltungsrechts auch Auswirkungen auf die Allgemeinen Lehren. Darüber wird später unter dem Stichwort der „Referenzgebiete“ noch zu sprechen sein.
Außerdem ist in jüngerer Zeit ein zunehmendes Interesse des Gesetzgebers auch in
Fragen des Allgemeinen Verwaltungsrechts festzustellen. Das ist eine Beobachtung, die nicht nur Deutschland betrifft, sondern auch durch Entwicklungen in
Frankreich bestätigt wird. Ein Beispiel ist das Informationsverwaltungsrechts: Regelungen der Informationsfreiheit gehen über das hinaus, was richterrechtlich entfaltet werden kann. Aber auch die Kooperationsbeziehungen zwischen Verwaltung
und Wirtschaft, die Entwicklung eines „Kooperationsverwaltungsrechts“, ist ein
solches Thema. Generell läßt sich sagen: Gerade Themen, die in der verwaltungs4
5
rechtlichen Reformdiskussion eine Rolle spielen (z. B. das Regulierungsrecht, das
Verwaltungsverfahrensrecht und das Verwaltungsorganisationsrecht), sind auch
die bevorzugten Gegenstände der Gesetzgebung.
3.
Die Aufgaben der Verwaltungsrechtswissenschaft
Damit ist eine dritte Kraft angesprochen, die wichtige Beiträge zur Fortentwicklung des Verwaltungsrechts leistet: die Verwaltungsrechtswissenschaft. Ich denke
jetzt nicht an die Fälle, in denen die Wissenschaft Gesetzgebungsvorschläge unterbreitet hat, obwohl dies wichtige Entwicklungsbeiträge sein können, z.B. die Professorenentwürfe eines Umweltgesetzbuches, eines Informationsgesetzbuches oder
eines Bundessteuergesetzbuches. Ich denke vielmehr an jenen Beitrag, den die
Verwaltungsrechtswissenschaft in ihrer wichtigsten Funktion zu leisten hat, nämlich die eigenständige Forschung. Rechtswissenschaftliche Forschung heißt, die
Gegenwart analysierend zu beobachten und unter methodenbewusster Nutzung der
Erkenntnisse anderer Wissenschaften über erkennbare und über notwendige Entwicklungen des Rechts nachzudenken.
Dazu ist eine Distanz zum tagtäglichen Geschehen notwendig, wie sie Justiz und
Legislative nicht besitzen. Diese Distanz darf natürlich nicht dazu führen, dass die
Wissenschaft sich isoliert und ohne Kenntnis der Verwaltungspraxis ihre Theorien
entwickelt. Erfahrungen, die Wissenschaftler als Gutachter, Richter oder durch gelegentliche Anwaltstätigkeiten gewinnen, sind gut und notwendig. Gefahren für die
Distanz entstehen erst dann, wenn der akademische Beruf ganz hinter die Tätigkeiten in der Wirtschaft oder der Anwaltschaft zurücktritt. Im Übrigen ist die Frage
der Distanz eine Frage der persönlichen Einstellung und des persönlichen Arbeitsstils. Wer bereit ist, seine praktischen Erfahrungen immer wieder losgelöst von einem bestimmten Interessensstandpunkt zu reflektieren, besitzt die erforderliche
Distanz.
Eine Verwaltungsrechtwissenschaft, die diese Aufgabe nicht wahrnimmt und sich
darin erschöpft, Gerichtsentscheidungen und Gesetzgebungsakte zu kommentieren,
verfehlt ihren Auftrag als Wissenschaft. Dabei geht es nicht darum, immer wieder
„Paradigmenwechsel“ auszurufen. Die schnelle Abfolge von Paradigmen mag für
manche Sozialwissenschaften passen. Die Rechtswissenschaft kann so nicht verfahren, weil – wie einleitend gesagt – ihr Forschungsgegenstand, das Recht, eine
starke Stabilitätskomponente besitzt. Es geht auch nicht um Rechtspolitik. Was die
Verwaltungsrechtswissenschaft für das Verwaltungsrecht zu leisten hat, ist Arbeit
an der (nicht nur in der) Dogmatik. Das setzt präzise Kenntnisse des Allgemeinen
und des Besonderen Verwaltungsrechts bis in die Einzelheiten voraus. Aber die
5
6
Forschungsinteressen müssen über den derzeitigen dogmatischen Bestand hinausgehen und „von außen“ beobachten, wie festgefügt er ist, wo Friktionen bestehen,
wo Veränderungen vorgenommen werden müssen.
4.
Die Exekutive als Entwicklungskraft
Nicht selten wird übersehen, dass auch die Exekutive selbst ein wichtiger Akteur
zur Fortentwicklung des Verwaltungsrechts ist. Dabei geht es nicht nur um die
fortlaufende Entwicklung der Verwaltungspraxis, an die sich das Recht später anpasst. Vielmehr geht es auch um bewusste Entwicklungsbeiträge: Regierungen und
Ministerialverwaltungen erarbeiten Gesetzentwürfe für das parlamentarische Verfahren und erlassen Rechtsverordnungen, z.B. im Immissionsschutzrecht und im
Telekommunikationsrecht. In manchen Gebieten sind die zentralen parlamentarischen Rechtssetzungsakte umgeben von einem Kreis von Verordnungen, die wichtige materielle und prozedurale Themen regeln und dabei auch wichtige Neuerungen bringen. Das Allgemeine Verwaltungsrecht ist in Deutschland dagegen bisher
selten Gegenstand von Rechtsverordnungen gewesen. In Frankreich ist das anders;
die Praxis der Ordonnances greift hier auch auf Fragen des allgemeinen Verwaltungsrechts, z.B. solche der staatlich-gesellschaftlichen Kooperation (Partnerschaftsverträge), zu.
Weiter sollte herausgestellt werden, dass auch andere Verwaltungsinstanzen an der
Entwicklung des Verwaltungsrechts teilhaben. Für eine Einführung des Neuen
Steuerungsmodells haben sich an erster Stelle die Kommunalkörperschaften, d.h.
Städte, Gemeinden und Landkreise engagiert. Sie haben aus eigener Initiative ein
Experimentierfeld eröffnet und ihre Erfahrungen ausgetauscht. Dadurch ist ein
breiter Diskurs der Fachöffentlichkeit initiiert worden. Die Änderungen, die im
staatlichen Haushaltsrecht vorgenommen worden sind, um eine dezentrale Ressourcenverantwortung und Leistungsvereinbarungen gesetzlich zu ermöglichen,
gehen auf solche kommunalen Experimente zurück.
Wenn wir die internationalen Verwaltungsbeziehungen in unsere Überlegungen
einbeziehen, müssen wir auch auf die Entwicklungsanstöße hinweisen, die von
speziellen Fachbehörden ausgehen, die sich international vernetzt haben. Die Aufsichtsbehörden des Banken- und Versicherungssektors arbeiten mit den entsprechenden Behörden anderer wichtiger Industriestaaten zusammen. Sie entwickeln
eigene Aufsichtsstandards und Verständigungsverfahren, die der nationale Gesetzgeber später nur noch „ratifizieren“ kann. Damit ist noch nichts über die rechtsstaatliche Dignität solcher informellen Entwicklungen ausgesagt. Nicht jeder Anstoß ist ein positiver Entwicklungsbeitrag. Aber die Verwaltungsrechtswissen6
7
schaft muss solche Vorgänge beobachten, in ihre Überlegungen einbeziehen und
zum Gegenstand einer allgemeinen Diskussion machen.
5.
Arbeitsteiliges Zusammenwirken
Man kann von einem arbeitsteiligen Zusammenwirken der vier genannten Kräfte
sprechen: Die Justiz leistet vor allem die fortlaufende Anpassung in dem ihr zugänglichen Kontrollbereich. Die Gesetzgebung und Verwaltung verantworten die
gezielte Fortentwicklung. Die Verwaltungsrechtswissenschaft ist für die übergreifende Reflexion zuständig. Diese Beiträge sollen nicht beziehungslos nebeneinander stehen, sondern sich ergänzen. Obwohl der Begriff der „Reform“ nicht festliegt
und auch die vom Gesetzgeber geleistete Fortentwicklung des Rechts nicht selten
als Reform bezeichnet werden kann, hat sich die sog. verwaltungsrechtliche „Reformdiskussion“ in Deutschland von vornherein als ein wissenschaftliches Unternehmen verstanden, das die Wirkungsbedingungen des Verwaltungsrechts zum
Gegenstand hat.
II.
Die Unzulänglichkeit des traditionellen Verwaltungsrechts-Konzepts
Wer über Reformen des Verwaltungsrechts nachdenken will, muss sich zunächst seines
eigenen Standortes vergewissern. Das Verwaltungsrecht der Lehrbücher und gelehrten
Abhandlungen unterscheidet sich erheblich von dem Verwaltungsrecht der Gesetzblätter, der Verwaltungsentscheidungen und der Gerichtsurteile. Es ist seinerseits ein Konstrukt, das auf bestimmten Grundannahmen beruht.2 Wir alle stehen in einem Traditionszusammenhang, der uns oft nicht bewusst ist.
1.
Das traditionelle Konzept
Um auch insofern die oben genannte notwendige wissenschaftliche „Distanz“ zu
schaffen, ist es notwendig, sich das überkommene Verwaltungsmodell in seinen
Hauptpunkten zu vergegenwärtigen. Dieses Modell, das üblicherweise dem liberalrechtsstaatlichen Denken zugeordnet wird, läßt sich in der etwas plakativen Weise
mit Stichworten folgendermaßen umreißen:
-
2
Die Verwaltung wird rechtlich vom Gewaltenteilungsprinzip her gedacht. Sie
ist die Tätigkeit des Staates, die nicht Gesetzgebung oder Justiz ist. Verwaltung
erscheint hier im Gewande einer „Subtraktionsdefinition“. Sie wird als ge-
Michael Stolleis, Entwicklungsstufen der Verwaltungsrechtswissenschaft, in: GVwR Bd. 1 (Fn. 1), § 2.
7
8
schlossener Block betrachtet, hierarchisch geordnet und durch die Formel von
der „Einheit der Verwaltung“ im Inneren zusammengehalten.
-
Das Gesetz steuert die Verwaltung nach möglichst genauen materiellen Programmen. Die Verwaltung vollzieht das Gesetz in rechtsförmlicher Entscheidung durch Anwendung bestimmter Subsumtionstechniken. Das Verwaltungsverfahren spielt dabei nur eine untergeordnete Rolle; es kommt auf die materielle Rechtmäßigkeit an.
-
Die Gerichte kontrollieren die Rechtsmäßigkeit der administrativen Entscheidungen, indem sie selbst Punkt für Punkt das gesetzliche Programm abarbeiten.
Da es danach nur „eine richtige Entscheidung“ geben kann, haben die Gerichte
das letzte Wort.
Insgesamt bietet diese Trias von Einheitsvorstellung, Formenzentriertheit und
Vollzugsdoktrin ein Modell von großer Geschlossenheit: Eins folgt aus dem anderen; darin liegt seine Faszination.
2.
Perspektivenverzerrung der „dogmatischen Normalsituation“
Eine genauere Betrachtung zeigt freilich, dass Verwaltungsgesetzgebung und Verwaltungspraxis diesem Modell nie entsprochen haben. Die „guten alten Zeiten eines wohlgeordneten Verwaltungsrechts“, die manchmal auch heute noch gern beschworen werden, gab es nicht.3 Man sehe sich nur einmal Verwaltungsgesetze des
19. Jahrhunderts oder gar das Wirtschaftsverwaltungsrecht der Kriegs- und Nachkriegszeiten in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts an und frage, inwieweit diese
Gesetze den Bestimmtheitserfordernissen entsprechen, die wir heute bei aller Gesetzeskritik als selbstverständlich voraussetzen! Natürlich handelte die Verwaltung
auch in früheren Zeiten informal und nicht stets formengebunden, natürlich war sie
auf Kooperation mit Betroffenen und Interessengruppen angewiesen – aber das
überkommene Modell blendete diese Phänomene aus.4 Es war geschlossen, weil es
bewusst unvollständig war. Gerade in seinem reduktionistischen Ansatz liegt seine
Faszination, denn die Reduktion gestattet es, mit leicht einsichtigen Vorstellungen
von „oben“ und „unten“, „innen“ und „außen“ unter Anwendung – wie man glaubte – „rein juristischer“ Arbeitsweisen zu eindeutigen Zuordnungen und klaren Regelungen zu gelangen.
3
4
Ebenso Christoph Möllers, Methoden, in: GVwR Bd. 1 (Fn. 1), § 3 Rn. 5.
Dazu die Berichte in Eibe Riedel (Hrsg.), Die Bedeutung von Verhandlungslösungen im Verwaltungsverfahren.
Länderberichte und Generalbericht der 28. Tagung für Rechtsvergleichung (Nomos, Baden-Baden, 2002).
8
9
Auf dieselbe Weise definiert das Modell das, was man die „dogmatische Normalvorstellung“ nennen kann. Was dem nicht entspricht, wird als Abweichung von der
Normalität wahrgenommen und mit einer besonderen Begründungslast belegt. Auf
diese Weise fällt es der überkommenen Lehre nach wie vor schwer, neben der
Staatsverwaltung auch die Selbstverwaltung, neben dem Hierarchieprinzip auch
das Kollegialprinzip, neben dem einseitigen auch das konsensuale Verwaltungshandeln, neben der „konditionalen“ auch die „finale“ Programmierung als Normalität und gleichberechtigten Systemteil des Verwaltungsrechts anzuerkennen. Ein
typisches Beispiel dafür, wie Normalität auf diese Weise suggeriert werden kann,
ist die Rede vom „entformalisierten Verwaltungshandeln“. Schon die Wortwahl
soll indizieren, dass hier etwas Anormales aufgespürt worden ist, das „reformalisiert“ werden muss. Damit ist aber von vornherein die Perspektive verschoben; natürlich hat die Verwaltung stets auch informal gehandelt. Die Vorstellung von einer nur zu formalem Handeln – vielleicht überhaupt nur zum Handeln durch Verwaltungsakt – befugten Behörde ist eine geschichts- und realitätsvergessene Vorstellung.
Ich habe das überkommene Verwaltungsrechtskonzept mit dieser Schilderung um
einiges überzeichnet. Aber jeder prüfe sich, inwieweit er nicht auch selbst die
Normalitätsvorstellungen dieses Konzepts übernommen hat und seine Entscheidungen, z.B. zur Berechtigung des Verwaltungsermessens oder der nichthierarchischen Legitimationsformen, spontan und ohne größere Reflexion nicht
nach wie vor im Sinne des überkommenen Modells trifft!
III.
Zu den Begriffen: Verwaltung und Verwaltungsrecht
Das Verwaltungsrecht erfasst alle Rechtsbeziehungen, an denen mindestens auf einer
Seite ein Träger öffentlicher Verwaltung beteiligt ist. Es ist das an die Verwaltung gerichtete Recht, aber auch das von der Verwaltung gesetzte Recht.5 Verwaltungsrecht ist
nicht nur öffentliches Recht, sondern zu erheblichen Teilen auch Privatrecht. Die Verwaltung kann das Privatrecht als Organisationsrecht und als Handlungsrecht nutzen.
Diese (begrenzte) „Wahlfreiheit“ erscheint notwendig, um im staatlichgesellschaftlichen Kooperationsbereich agieren zu können. Wichtige verwaltungsrechtliche Konflikte werden folglich auch im privatrechtlichen Verwaltungsvertragsrecht und
im privatrechtlichen Organisationsrecht unter Einschluss der Regeln der public-privatePartnership geregelt. Für die verwaltungsrechtliche Systematik ist es wichtig, sich der
Breite dieses Anwendungsfeldes immer bewusst zu bleiben.6
5
6
So überzeugend Möllers, in: GVwR Bd. 1 (Fn. 3), § 3 Rn. 3.
Eberhard Schmidt-Aßmann, Das Allgemeine Verwaltungsrecht als Ordnungsidee, 2. Auflage (Springer, Berlin,
Heidelberg, 2004), Kapitel 6, Textziffer 12 ff.
9
10
Wie läßt sich „Verwaltung“ definieren? Bekanntermaßen reicht die sog. SubtraktionsDefinition nicht aus. Sie denkt vom Gewaltenteilungsprinzip her und sieht Abgrenzungsbedürfnisse zu Gesetzgebung und Justiz. Die heutigen Abgrenzungsbedürfnisse
bestehen aber zunächst einmal zwischen gesellschaftlicher Selbstorganisation und staatlicher Organisation, also nicht innerhalb der Staatsfunktionen sondern im Verhältnis
zwischen Staat und Gesellschaft. Die Unterscheidung zwischen Staat und Gesellschaft
aber ist beizubehalten; denn sie markiert rechtlich die Trennung von Kompetenz und
Freiheit. Staatliches Handeln ist stets legitimationsbedürftig; individuelles und gesellschaftliches Handeln erfolgt dagegen aus sich heraus.7
Wo Instanzen beteiligt sind, die unmittelbar oder mittelbar der Verwaltungsorganisation
zuzuordnen sind, werden Rechtsrelationen administrativer Art begründet. Für die Zuordnung geben Einflussstrukturen, gesellschaftsrechtliche Beherrschungsverhältnisse
und die haushaltsrechtliche Behandlung der betreffenden Einheit Indizien ab. Vor dem
Hintergrund staatlich-gesellschaftlicher Kooperation ist die Verwaltung nur in einem
Kern-Schalen-Modell zu erfassen. In den äußeren Schalen vollziehen sich fortgesetzt
Änderungen der Zuordnung. Aber die grundlegenden staats- und verwaltungsrechtlichen
Fragen, die Fragen nach der einseitigen Entscheidungsbefugnis und der Legitimationsbedürftigkeit, strahlen vom Zentrum in die außenliegenden Zonen ab. Es gibt keine
„blockhafte“ nationale Verwaltung, sondern die Verwaltung ist (nach „oben“) europäischen und internationalen Instanzen und („zur Seite“) zum gesellschaftlichen Bereich
hin durchlässig. Das sind Einsichten, die sich aus der Beobachtung des einschlägigen
Rechts ebenso wie aus der Governance-Forschung gewinnen lassen.8 Folglich gibt es
auch kein in jeder Hinsicht statisch definiertes Feld des Verwaltungsrechts. Das Verwaltungsrecht ist das Feld der legitimationsbedürftigen Rechtsakte, das selbst in den äußeren Schalen des Modells in Abgrenzung zum gesellschaftlichen Bereich dieses sein Ziel
in dogmatische Konsequenzen umsetzt.
Die Subtraktionsdefinition weist auf die Stellung der Verwaltung im Gewaltenteilungsgefüge hin. Wie die Lehre von der Gewaltenteilung ihrerseits nur verstanden werden
kann, wenn man sie als Teil der durch das rechtsstaatliche und das demokratische Prinzip, d.h. vor allem durch Grundrechte und Legitimation bestimmten Verfassungsstruktur
versteht, so ist auch die Subtraktionsdefinition der Verwaltung nur so weit hilfreich, als
sie die Trennung der zweiten Gewalt von den anderen Gewalten herausstellt.9 Die Exekutive ist eine eigenständige Gewalt, die nach eigenen Rationalitätskriterien verfährt. Ihre Steuerung durch das Parlament und ihre Kontrolle durch die Gerichte sind zweifellos
wichtige Komponenten des Verwaltungsrechts. Aber sie erschöpfen die Aufgaben des
7
8
9
Schmidt-Aßmann, Ordnungsidee (Fn. 6), Kapitel 1, Textziffer 21 ff.
Dazu Gunnar Folke Schuppert, Verwaltungsorganisation und Verwaltungsorganisationsrecht als
Steuerungsressourcen, in: GVwR Bd. 1 (Fn. 1), § 16.
Christoph Möllers, Gewaltengliederung (Mohr Siebeck, Tübingen, 2004), besonders S. 94 ff.
10
11
Verwaltungsrechts nicht. Vielmehr muss es auch darum gehen, die Potentiale der administrativen Eigenständigkeit verwaltungsrechtlich zu erfassen: die Selbstprogrammierung und die Eigenkontrollen.10 Die große praktische Bedeutung der eigenen Rechtssetzung und Programmbildung der Verwaltung wird nicht richtig erfasst, wenn man die
Fragen der Steuerung ganz auf das parlamentarische Gesetz konzentriert, wie das in der
überkommenen Verwaltungsrechtslehre meist geschieht.11 Das Verwaltungsrecht ist gekennzeichnet durch „ein Nebeneinander unterschiedlicher Formen der Verdichtung von
unmittelbar subsumtionsfähigen und vollzugsgeeigneten Formen bis zu weiten konkretisierungsbedürftigen materiellen Zielvorgaben.“ Es besteht „zu einem guten Teil aus
Verfahrens- und Organisationsregeln, ist damit aber auch Recht, das die Erzeugung von
Recht durch die Verwaltung organisiert“.12
10
11
12
Vgl. Wolfgang Hoffmann-Riem, Eigenständigkeit der Verwaltung, in: GVwR Bd. 1 (Fn. 1), § 10.
Zutreffend dagegen Armin von Bogdandy, Gubernative Rechtsetzung (Mohr Siebeck, Tübingen, 2000).
Möllers, in: GVwR Bd. 1 (Fn. 1), § 3 Rn. 5.
11
12
2. Abschnitt: Drei wichtige Ansatzpunkte der Reformdiskussion
Der reduktionistische Ansatz und die dadurch bewirkten Perspektivenverzerrungen des überkommenen dogmatischen Modells machten eine tiefergreifende Reformdiskussion notwendig.13 Eine Beobachtung der Gesetzgebungspraxis etwa zeigte sehr schnell, dass das Modell der
Komplexität gesetzlicher Steuerung nicht gerecht wird. Eine an diesem Modell festhaltende
Verwaltungsrechtswissenschaft wäre nicht der Vordenker, sondern das Schlusslicht unter den
Entwicklungskräften des Verwaltungsrechts.
Wie aber lassen sich neue Orientierungspunkte gewinnen? Die Antwort soll anhand der drei
Schlüsselbegriffe „steuerungswissenschaftlicher Ansatz“ (I), „Konstitutionalisierung“ (II) und
„Referenzgebiete“ (III) gegeben werden.
I.
Steuerungswissenschaftlicher Ansatz
Alles Recht zielt auf Wirksamkeit. Die Rechtswissenschaft kann es folglich nicht dabei
bewenden lassen, einzelne Rechtsregeln und Rechtsinstitute dogmatisch auszuformen.
Sie muss sich auch mit ihren Wirksamkeitsbedingungen beschäftigen. Die einzelnen
Bauformen sind in größere Bezugsrahmen einzustellen und so miteinander abzustimmen, dass das Recht seine Ordnungsaufgaben wahrnehmen kann. Die Verwaltungsrechtswissenschaft muss sich als Steuerungswissenschaft verstehen. Das verlangt vom
verwaltungsrechtlichen Denken eine Veränderung seines dogmatischen und methodischen Konzepts. Die überkommenen Regelungsansätze müssen zwar nicht aufgegeben
werden. Aber sie müssen ergänzt werden und verlieren in der Systematik dadurch ihre
alles beherrschende Position.14 Sie fungieren künftig regelmäßig nur als Grundmodelle,
die zusammen mit weiteren Bauformen und Modellen ein mehrgliedriges Regelungsgefüge bilden:
- Gesetzesbindung und Legitimation der Exekutive sind nicht mehr allein als linear von oben nach unten verlaufende Einwirkungen, sondern als komplexe Prozesse
zu betrachten, in denen sich auch gegenläufige, horizontale und rekursive Einflussmöglichkeiten zur Geltung bringen.
- Verwaltungsorganisation ist nicht länger allein als nach außen geschlossene und
intern hierarchisch verfasste Einheit, sondern als gegliederte Vielfalt unterschiedlicher Typen (Behörden, Agenturen, Anstalten, öffentliche Unternehmen, beliehene
Einrichtungen) zu sehen.
13
14
Zusammenfassend dazu Andreas Voßkuhle, Neue Verwaltungsrechtswissenschaft, in: GVwR Bd. 1 (Fn. 3), § 1.
Dazu Ivo Appel und Martin Eifert, Das Verwaltungsrecht zwischen klassischem dogmatischen Verständnis und
steuerungswissenschaftlichem Anspruch, Veröffentlichung der Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer
(VVdStRL), Bd. 67 (de Gruyter, Berlin, 2008), S. 226 ff. und 286 ff.
12
13
- Die Rechtmäßigkeit des Verwaltungshandelns bestimmt sich nicht allein aus der
richterlichen Kontrollperspektive, sondern primär aus der administrativen Handlungsperspektive.
- Neben das hoheitliche Handeln tritt das privatrechtliche Handeln, neben das Entscheiden das Vereinbaren, neben die Form das Informale.
Die verwaltungsrechtliche Systembildung muss heute beides, d.h. „Überkommenes und
Neues“ in den Blick nehmen. Da sich aber in einem System jede Ergänzung eines Teiles
notwendig auf die bisherige Stellung der anderen Teile auswirkt, kann es nicht einfach
darum gehen, Neues neben Altes zu stellen. Die Systemteile müssen vielmehr in ihrem
Verhältnis zueinander neu bestimmt werden. Neben Zugewinnen gibt es Abstriche. Methodisch geht es dabei auch um Rechtsarbeit mit Wirkungsurteilen.
1.
Steuerungskonzept: Elemente und Grenzen
Die Anknüpfung an die sozialwissenschaftliche Steuerungsdiskussion erschließt
einen theoretischen Rahmen, in dem die einwirkenden Kräfte, die innere Dynamik
und die Umweltbedingungen sozialer Prozesse und damit auch die Wirkungsweisen von Recht analysiert werden können. Im Zentrum der Betrachtung stehen Wirkungszusammenhänge zwischen Steuerungssubjekten, -objekten, -medien und instrumenten. Komplexe Sozialgefüge zeichnen sich durch eine Verschränkung
mehrerer Steuerungsrelationen aus.15
Das analytische Steuerungskonzept behandelt neben dem Recht auch den Markt,
die Finanzen, das Personal und die Organisation als Steuerungsmedien. Im Rechtsstaat kommt dem Recht eine zwar zentrale, aber keine exklusive Position zu. Seine
Wirkungen müssen im Zusammenhang mit den anderen Medien betrachtet, auf
funktionale Äquivalente untersucht und durch Abstimmung mit ihnen gegebenenfalls verbessert werden.
Ähnliche Überlegungen gelten für die vom Recht zur Verfügung gestellten Steuerungsinstrumente. Im Zentrum standen bisher die Instrumente der regulativen Politik und das ihnen zugeordnete Konzept eines „Vollzugsrechts”, das in Geboten und
Verboten, Genehmigungen, Verordnungen und imperativen Verwaltungsplänen
dogmatisch gut aufgearbeitet ist. Weil auf die Mittel regulativer Politik steuerungswissenschaftlich nicht verzichtet werden kann und weil sich in den ihnen zugeordneten Rechtsformen der Anspruch des demokratischen Rechtsstaates, Ent-
15
Zum folgenden Schmidt-Aßmann, Ordnungsidee (Fn. 6), 1. Kap., Tz. 35; Claudio Franzius, Modalitäten und
Wirkungsfaktoren der Steuerung durch Recht, in: GVwR Bd. 1 (Fn. 1), § 4.
13
14
scheidungen gegebenenfalls auch gegen den Willen des Adressaten durchzusetzen,
am klarsten zum Ausdruck bringt, wird das Verwaltungsrecht immer auch ein
Recht der einseitig regelnden Staatsakte bleiben. Ohne Verwaltungsakte, die gegebenenfalls mit staatlichem Zwang gegen den Adressaten auch vollstreckt werden,
z. B. Steuerbescheide, Bauverbote oder Auflagen zum Schutze der Nachbarschaft,
geht es nicht.
Das ist aber nur die eine Seite. Die Steuerungsdiskussion zeigt, dass neben den regulativen Instrumenten die Schaffung von Anreizen und der gezielte Einsatz von
Informationen stehen. In der Reformdiskussion wird von einem „Instrumentenmix“ gesprochen.16 Diese Vorgänge sind bisher nur teilweise rechtlich strukturiert,
z.B. als solche der Subventionsgewährung. Es kommt jedoch darauf an, für alle
Steuerungsinstrumente einen rechtlichen Ordnungsrahmen zu schaffen. Das gelingt
freilich nicht schon dann, wenn man die bisherigen Ansätze einfach fortschreibt
und alles informale Verwaltungshandeln zu „reformalisieren” trachtet. Das Verwaltungsrecht muss sich vielmehr mit den unterschiedlichen Motivationsmustern
des erweiterten Instrumentariums beschäftigen und für sie geeignete Regeln zur
Verfügung stellen, die den Schutz der Beteiligten und die Handlungsfähigkeit der
Exekutive in einer Weise sicherstellen, wie das die überkommene Dogmatik für
die Instrumente regulativen Handelns auch getan hat.17
Überhaupt müssen die Leistungsgrenzen aller Steuerungsvorstellungen im Blick
behalten werden. Solche Vorstellungen stehen in Gefahr, mechanistisch zu wirken.
Um als Modell überschaubar zu bleiben, sind ihre Elemente in einer stark selektiven Betrachtungsweise festgelegt und ihre Gesetzmäßigkeiten auf einfache Ursache-Wirkung-Beziehungen zurückgeführt worden. Wenig wäre gewonnen, wenn
die zu einfachen tradierten Vorstellungen von einer hierarchisch geordneten, gesetzesanwendenden Verwaltung mit linear-kausalen Bewirkungsvorstellungen eines
ebenfalls zu einfach gedachten sozialwissenschaftlichen Steuerungsmodells verbunden würden. Steuerung durch Recht soll sich gerade nicht in einer Verengung
auf die typisch hoheitlichen Mittel des Gesetzesvollzuges erschöpfen. Vielmehr
müssen alle unterschiedlichen Arten des Rechts einbezogen werden, materielle
Gesetzesprogramme, die auf direkten Vollzug angelegt sind, ebenso wie das Finanz-, Organisations- und Verfahrensrecht. Es bilden sich so „Arrangements“ von
Steuerungsansätzen, die man – auch um zu mechanische Steuerungsvorstellungen
schon begrifflich auszuschließen – als Regelungsstruktur bezeichnen und in Organisations-, Prozess-, Programm- und Personalstrukturen weiter aufgliedern kann.18
16
17
18
Dazu Lothar Michael, Formen- und Instrumentenmix, in: GVwR Bd. 2 (Fn. 1), § 41.
Schmidt-Aßmann, Ordnungsidee (Fn. 15), 1. Kap., Tz. 37.
Schmidt-Aßmann, Ordnungsidee (Fn. 15), 1. Kap., Tz. 39.
14
15
2.
Regelungsstruktur und Governance
Mit dem Begriff der Regelungsstruktur lassen sich auch Verbindungen zu den
Konzepten von Governance ziehen. Von Governance wird heute in der internationalen und der europäischen Politik viel gesprochen.19 Der Begriff will darauf aufmerksam machen, dass der Staat nicht der einzige und oft nicht einmal der dominierende Akteur auf Politikfeldern ist. Vielmehr sind außerdem wichtig:
-
andere hoheitlich handelnde Instanzen im (europäischen) Mehr-EbenenSystem,
-
Unternehmen, Verbände, Interessengruppen und andere Repräsentanten der Zivilgesellschaft.
Um über wirksame Maßnahmen sprechen zu können, müssen die Aktivitäten aller
dieser Akteure in die Betrachtung einbezogen werden.
Rechtswissenschaftlich hat der Begriff allerdings bisher wenig Konturen erlangt.
Das rechtfertigt es jedoch nicht, ihn bei der verwaltungsrechtlichen Reform- und
Steuerungsdiskussion ganz zu ignorieren. Als eine „Beschreibungsformel“ macht
Governance auf die Vielfalt der Steuerungszusammenhänge zwischen nationalen
und inter- bzw. supranationalen Instanzen sowie zwischen privaten und staatlichen
Akteuren aufmerksam. Damit werden Phänomene zusammengefügt, die auch in
der bisherigen Reformdiskussion schon eine Rolle gespielt haben, z.B. die „Verantwortungsteilung“ zwischen Verwaltung und Privaten. Mit Gunnar Folke
Schuppert lassen sich folgende sechs Forschungsfragen formulieren:20
„- Wie verändern sich die Grenzziehungen in Mehrebenensystemen und welche
Konsequenzen ergeben sich daraus für ebenenspezifische Governancestrukturen?
-
19
20
Welche Konsequenzen ergeben sich aus der Transnationalisierung und dem
damit verbundenen Verlust der schützenden Außenhaut der Souveränität des
Nationalstaats?
Dazu Gunnar Folke Schuppert (Hrsg.), Governance-Forschung – Vergewisserung über Stand und
Entwicklungslinien (Nomos, Baden-Baden, 2005), S. 371 ff.
Gunnar Folke Schuppert, Verwaltungsorganisation und Verwaltungsorganisationsrecht als Steuerungsfaktoren,
in: GVwR Bd. 1 (Fn. 3), § 16 Rn. 21.
15
16
-
Wie verändern sich die Grenzverläufe zwischen den Sektoren? Gibt es sektorenübergreifende Governance-Strukturen oder sollte man sektorspezifisch denken?
-
Wie verändern sich die Grenzverläufe zwischen Politikfelder, und welche Konsequenzen ergeben sich daraus für Governance-Strukturen?
-
Wie verändern sich die Grenzen von Organisationen, und welche Konsequenzen ergeben sich aus Organisationsentgrenzungen?
-
Wie verändern sich die Grenzen zwischen Akteuren und Akteurskonstellationen und was folgt daraus z.B. für Governance-Netzwerke?“
Dass der Begriff der Regelungsstruktur geeignet ist, die politikwissenschaftliche
Beschreibungsformel von Governance mit der verwaltungsrechtlichen Systematik
in Beziehung zu setzten, hat Hans-Heinrich Trute aufgezeigt:21 Die Betrachtung
von Regelungsstrukturen erweitert die Aufgaben der verwaltungsrechtlichen Systembildung. Ein Beispiel bildet die Rechtsquellenlehre. Sie ist in allen Verwaltungsrechtslehrbüchern ein wichtiger Teil und behandelt neben Verfassung und
Gesetz üblicherweise Rechtsverordnungen, Satzungen und Verwaltungsvorschriften. Damit erfasst sie aber nur einen Ausschnitt der die Verwaltungsrealität prägenden Normen. Regelmäßig ist die bisherige Lehre „staatszentriert“ und „hierarchisch“. Die Aufgabe, die unterschiedlichen Rechtsschichten eines Mehr-EbenenSystems zu ordnen, wird nicht erfüllt.22 Noch weniger erfasst sind unterschiedliche
Arten von „hartem“ und „weichem“ Recht.23 Zutreffend macht Trute darauf aufmerksam, dass es darum gehen muss, „Metaregeln“ für das Zusammenspiel der
Rechtsregime und andere Regelungsansätze auszubilden. Hier wird künftig der
Gedanke der „Kohärenz“ Bedeutung erlangen.
Insgesamt ist der steuerungswissenschaftliche Ansatz, verstanden als die Frage
nach den Regelungsstrukturen, für die verwaltungsrechtliche Reformdiskussion
aus zwei Gründen wichtig:
-
21
22
23
um den Anschluss an sozialwissenschaftliche Erkenntnisse zu halten und so auf
Probleme der Wandlung aufmerksam gemacht zu werden;
Hans-Heinrich Trute/Wolfgang Denkhaus/Doris Kühlers, Governance in der Verwaltungsrechtswissenschaft, in:
Die Verwaltung, Bd. 37 (Duncker und Humblot, Berlin, 2004), S. 451 ff.
Zutreffende umfassende Darstellung aber bei Matthias Ruffert, Rechtsquellen und Rechtsschichten des
Verwaltungsrechts, in: GVwR Bd. 1 (Fn. 1), § 17; Hermann Hill, Normsetzung und andere Formen
exekutivischer Selbstprogrammierung, in: GVwR Bd. 2 (Fn. 1), § 34.
Vgl. dazu Matthias Knauff, Der Regelungsverbund: Recht und Soft Law im Mehrebenensystem (Mohr Siebeck,
Tübingen, 2010).
16
17
-
um in der verwaltungsrechtlichen Systembildung Entwicklungsaufgaben zu
identifizieren, die für die Wirksamkeit von Verwaltungsrecht, für seine „Bereitstellungsfunktion“ und für die „Infrastrukturverantwortung der Rechtsordnung“ (Schuppert), wichtig sind.
II.
Konstitutionalisierung des Verwaltungsrechts
Dass das Verwaltungsrecht eng mit dem Verfassungsrecht verbunden ist, war bereits im
19. Jahrhundert bekannt. Nach dem Inkrafttreten des Grundgesetzes (1949) orientierte
sich die deutsche Verwaltungsrechtswissenschaft besonders eng an der neuen freiheitlichen Verfassung. „Verwaltungsrecht als konkretisiertes Verfassungsrecht“ hieß eine viel
zitierte Formel. Sie stammte von Fritz Werner, der von 1958 bis 1969 Präsident des
Bundesverwaltungsgerichts war.24 Diese Formel wurde geradezu zum verwaltungsrechtlichen Paradigma in den ersten Jahrzehnten der Bundesrepublik.
1.
„Verwaltungsrecht als konkretisiertes Verfassungsrecht“
Die Verfassungskonkretisierung betraf vorrangig das Rechtsstaatsprinzip und hier
wiederum die Rechtsschutzgarantie des Art. 19 Abs. 4 GG. Viele wichtige Erkenntnisse zum Verwaltungsprozessrecht, zum Verwaltungsverfahrensrecht und
zur Rechtsformenlehre sind so gewonnen worden: z.B. die Bedeutung des vorbeugenden und des vorläufigen Rechtsschutzes, die Eingrenzung des Verwaltungsermessens („Rechtsfolgenermessen“, unbestimmte Gesetzesbegriffe ohne und mit
„Beurteilungsermächtigung“), die Vorwirkungen des Gerichtsschutzes auf das
Verwaltungsverfahren (Dokumentations- und Begründungspflichten, Akteneinsichtsrechte). Allerdings sind auch manche einseitigen Konsequenzen gezogen
worden. Die Rolle der Gerichte und der juristischen Subsumtion sind überzeichnet
worden. Heute wissen wir dreierlei besser:
-
24
25
Verfassungskonkretisierung ist eine komplizierte Methode; sie darf nicht mit
der strikten Ableitung von Erkenntnissen aus der Verfassung verwechselt werden. Treffend hat Rüdiger Breuer diesen Vorgang umschrieben:25 „Ungeachtet
des Vorrangs der Verfassung schieben sich die gesetzlichen Konkretisierungsakte zwischen die strukturellen Gewährleistungen wie das Rechtsstaatsgebot
und die gerichtlichen Entscheidungen realer Konflikte. Hierzu bedarf es eines
kooperativen, prozesshaften und wandlungsbereiten Vorgehens mit wechselsei-
Fritz Werner, Verwaltungsrecht als konkretisiertes Verfassungsrecht, in: Deutsches Verwaltungsblatt 64.
Jahrgang (Heymanns, Köln, 1959), S. 527 ff.
Rüdiger Breuer, Konkretisierungen des Rechtsstaats- und des Demokratiegebotes, in: Festgabe 50 Jahre
Bundesverwaltungsgericht (Heymanns, Köln, 2003), S. 223 (227).
17
18
tigen Anstößen.“ Konkretisierung hat „keinen rein nachvollziehenden und deklaratorischen Charakter“. Sie mündet folglich oft nicht in Ergebnisse ein, die
nach dem Willen der Verfassung so und nicht anders hätten ausfallen können
und sich daher als verfassungsfest bezeichnen dürften. Natürlich gibt es, z.B. in
den Kompetenz- und Organisationsvorschriften, zahlreiche Beispiele verfassungsfixierten Verwaltungsrechts. Auch aus der Gesetzesbindung (Art. 20 Abs.
3 GG) oder der Rechtsschutzgarantie (Art. 19 Abs. 4 GG) haben sich zahlreiche verwaltungsrechtliche Lehrsätze entwickeln lassen, die an Rang und Verläßlichkeit des Verfassungsrechts heute teilhaben. So ist es allgemein anerkannt, dass das Gebot wirksamen („effektiven“) Rechtsschutzes eine Form des
vorläufigen Rechtsschutzes verlangt, die es der Exekutive verwehrt, „vollendete Tatsachen“ zu schaffen, bevor der Bürger bei Gericht sein Recht einklagen
kann. Im Regelfall sind die Konkretisierungsschritte jedoch komplizierter und
unsicherer. Das gilt insbesondere, wenn etwas aus den Verfassungsstrukturentscheidungen (Rechtsstaat und Demokratie) und mehr noch aus den Staatszielbestimmungen wie dem Sozialstaatsprinzip, abgeleitet werden soll. Gerade hier
ist vom Interpreten Zurückhaltung zu verlangen.
-
Verfassungskonkretisiertes Verwaltungsrecht ist nicht seinerseits Verfassungsrecht sondern meistens nur ein einfaches Recht, das vom Gesetzgeber geändert
werden kann.26 Die Verfassungskonkretisierung darf nicht zu einer „Zementierung“ führen. Verfassungsrecht und Verwaltungsrecht stehen nicht in einem
„Ableitungszusammenhang“ sondern in einer Ergänzungsbeziehung, die in zirkulären methodischen Schritten erfasst werden muss. Die einzelnen Vorschriften des Verwaltungsrechts sind „im Lichte“ der einschlägigen verfassungsrechtlichen Garantien zu interpretieren. Umgekehrt erhalten die weiten Verfassungsvorschriften, z.B. die weiten Schutzbereiche der Grundrechte, erst durch
die Heranziehung des einfachen Gesetzesrechts Anschaulichkeit und damit
auch konkrete Gestalt. Das gilt insbesondere für die sog. normgeprägten
Schutzbereiche, aber auch sonst überall dort, wo bestimmte Rechtsbeziehungen
unter Schutz gestellt werden. Über Vertragsfreiheit als Teil der allgemeinen
Handlungsfreiheit (Art. 2 Abs. 1 GG) kann man nur sprechen, wenn man die
Privatrechtsordnung vor Augen hat, über die Gewährleistung des Eigentums
(Art. 14 GG) nur, wenn man Vorstellungen vom Boden- und Raumplanungsrecht hat.
26
Zutreffend Rainer Wahl, in: Der Staat, Bd. 20 (Duncker und Humblot, Berlin, 1981), S. 485 (502): „Gleichwohl
ist das konkretisierte Verfassungsrecht einfaches Recht und als solches am wirklichen Verfassungsrecht zu
messen“.
18
19
-
Es ist zu eng, sich auf die nationale Verfassung zu konzentrieren. Auch das europäische Verfassungsrecht, das Primärrecht der Europäischen Union und die
Europäische Menschenrechtskonvention sind einzubeziehen. Die Konkretisierungsarbeit wird dadurch freilich nicht leichter, denn die unterschiedlichen
Schichten des Verfassungsrechts im europäischen Mehrebenensystem sind bisher nicht harmonisiert. Sie überlappen sich und können u.U. sogar in Kollision
geraten. Das gilt zumal dann, wenn unterschiedliche Gerichtszuständigkeiten
(Gerichtshof der Europäischen Union, Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, nationale Verfassungsgerichte) existieren.27
Wenn man dieses berücksichtigt und Einseitigkeiten vermeidet, war die Formel
vom „Verwaltungsrecht als konkretisiertem Verfassungsrecht“ ein ganz wichtiger
Schritt. Das deutsche Verwaltungsrecht hat mit dieser Formel eigenständig und
früh eine Entwicklung vorweggenommen, die heute auch im Zivilrecht, im EURecht und im Völkerrecht eine Rolle spielt: die Konstitutionalisierung der Rechtsgebiete.
Dieser Begriff liegt zwar nicht in allen Einzelheiten fest.28 Aber er bezeichnet eine
Entwicklungsrichtung: Die Konstitutionalisierung rückt die zentrale Perspektive
der Verfassungen, die Beziehungen des Einzelnen zur hoheitlichen Gewalt, in den
Mittelpunkt, und zeigt hierfür Grundlinien auf. Der Ruf nach Konstitutionalisierung indiziert ein grundlegendes Bedürfnis nach Wertorientierung jenseits von
Rechtstechniken und nach Grundpositionen jenseits von Detailregelungen. Mit gebotener Vorsicht läßt sich sagen: Über die Konstitutionalisierung wird die Rechtsdogmatik mit der Rechtsphilosophie verbunden. Eine Schlüsselposition hat dabei
die Menschenwürdegarantie des Art. 1 GG, die den Staat und seine Amtsträger auf
eine dienende Funktion festlegt.29
Jedenfalls stand es für die Reformdiskussion von Anfang an fest, dass sie auch im
Zeichen des Verfassungsrechts geführt werden müsse. Auf der ersten Tagung zur
Reform des Verwaltungsrechts im Jahre 1991 habe ich dazu ausgeführt30:
Die Verfassung steht in diesem Untersuchungszusammenhang zunächst einmal für
den besonderen Geltungsanspruch des Normativen. Ohne eine solche Ausrichtung
27
28
29
30
Dazu grundlegend Andreas Voßkuhle, Der europäische Verfassungsgerichtsverbund, in: Neue Zeitschrift für
Verwaltungsrecht Bd. 29 (Beck, München, 2010), S. 1 ff.
Gunnar Folke Schuppert/Christian Bumke, Konstitutionalisierung der Rechtsordnung (Nomos, Baden-Baden,
2003).
Dazu Schmidt-Aßmann, Ordnungsidee (Fn. 15), 1. Kap., Tz. 21 ff.
Eberhard Schmidt-Aßmann, Zur Reform des Allgemeinen Verwaltungsrechts – Reformbedarf und
Reformansätze, in: Hoffmann-Riem/Schmidt-Aßmann/Schuppert (Hrsg.), Reform des Allgemeinen
Verwaltungsrechts (Nomos, Baden-Baden, 1992), S. 11 (16 ff.).
19
20
an normativen Vorgaben können Rechtsaussagen zur Entwicklung des Verwaltungsrechts nicht getroffen werden. Das Recht muss zwar auf die Funktionsweisen,
Organisationsstrukturen und Wertorientierungen des jeweiligen gesellschaftlichen
Bereichs abgestimmt sein. Es hat jedoch diesen Elementen gegenüber einen Selbsttand, seinen gegenüber dem Steuerungsmilieu eigenen normativen Anspruch. Dieser Anspruch muss auch dort beachtet werden, wo sich Vollzugsdefizite oder
Normierungsmängel empirisch durchaus nachweisen lassen. Das gilt insbesondere
dort, wo es um Verfassungsnormen geht, die in einem elementaren Sinne diejenigen Wertvorstellungen wiedergeben, in denen sich eine Rechtsgemeinschaft über
einen längeren Zeitraum hin einig geworden ist und einig bleiben will. Das Normative darf hier nicht vorschnell zur Kapitulation vor der Wirklichkeit gezwungen
werden. Auf der anderen Seite gestattet die Offenheit gerade des Verfassungsrechts, Wirksamkeitsmängeln und Steuerungsschwächen durch eine vorsichtige
Fortentwicklung überkommener Institute zu begegnen. Das Verfassungsrecht ist es
auch, das neuere Entwicklungsanforderungen aufnimmt und sie dem verfassungskonkretisierenden Gesetzesrecht weitervermittelt. Das Verfassungsrecht ist folglich
für das verwaltungsrechtliche System nicht nur ein stabilisierendes, sondern auch
ein erneuerndes, flexibilitätssicherndes Element. Es geht bei dem Rückgriff auf die
verfassungsrechtlichen Grundlagen also immer zugleich um Rahmensetzung, Zielvorgabe und Entwicklungsperspektive für das allgemeine Verwaltungsrecht, um
den Rückgriff auf ein Begründungspotential, das seinerseits nicht statisch verstanden werden kann, sondern dazu verpflichtet, neuere Entwicklungen in einem
allgemeinen Rahmen zu reflektieren. In jüngerer Zeit ist das besonders gegenüber
neuen Informationstechniken und den entsprechenden Eingriffen von Polizeibehörden deutlich geworden („Online-Durchsuchungen“, Speicherung von Verbindungsdaten auf Vorrat: „Vorratsdatenspeicherung“). Die Rechtsprechung hat diese
Instrumente an den Grundrechten gemessen; sie hat sie nicht schlechthin für unzulässig erklärt, aber an deutliche Einschränkungen zugunsten des Freiheitsschutzes
gebunden und sie dadurch konstitutionell gezähmt.31 Dabei ist ein neues „Grundrecht auf Gewährleistung der Vertraulichkeit und Integrität informationstechnischer Systeme“ als Teil des allgemeinen Persönlichkeitsrechts entwickelt worden,
das auf das Verwaltungsrecht und die Verwaltungspraxis ausstrahlt.
Wenn es uns um grundlegende Fragestellungen an das verwaltungsrechtliche System geht, dann liegt es nahe, unter den zahlreichen Verfassungsvorgaben für das
Verwaltungsrecht gerade auf die Verfassungsstrukturentscheidungen zurückzugreifen. Es sind diese herausragenden Verfassungsvorgaben, die immer wieder auf die
allgemeinen Wertvorstellungen und Verfahrensweisen in einem Gemeinwesen zu31
Bundesverfassungsgericht, Urteil vom 27. 2. 2008, BVerfGE 120, 274 ff., und Urteil vom 2. 3. 2010, BVerfGE
125, 260 ff.
20
21
rückführen. Für das allgemeine Verwaltungsrecht sind hier vor allem beachtlich
das Rechtsstaatsprinzip (2), das Demokratieprinzip (3) und die Verfassungsentscheidung für eine offene Staatlichkeit (4).
Demokratie und Rechtsstaat finden in der Verfassungsordnung des Grundgesetzes
zusammen im Bekenntnis zur Menschenwürde (Art. 1 GG), die eine bestimmte
Grundbefindlichkeit des einzelnen gegenüber dem Staate ausdrückt. Diese Grundbefindlichkeit ist dadurch gekennzeichnet, dass, wie der Staat insgesamt, so auch
die Verwaltung nicht als vorgefundene, solitäre und in sich selbst ruhende Größe,
sondern als rechtfertigungsbedürftige Erscheinung anzusehen ist. Im System des
allgemeinen Verwaltungsrechts zeigt sie sich als »Asymmetrie« zwischen individueller Freiheit und administrativer Kompetenzbindung.32
2.
Vorgaben des Rechtsstaatsprinzips
Rechtsstaatsidee und allgemeines Verwaltungsrecht haben eine so lange gemeinsame Entwicklungsgeschichte, dass sich die Idee zu gewissen Zeiten ganz in
einem systematischen Verwaltungsrecht zu erschöpfen, der Rechtsstaat nur der
»Staat des wohlgeordneten Verwaltungsrechts« zu sein schien.33 Eine genauere
Analyse zeigt jedoch zwei Entwicklungsstufen des heutigen Rechtsstaatsverständnisses.34
a)
objektiv-rechtlich: Ordnung durch Recht
Die ältere Schicht legt ein eher objektiv-rechtliches Modell zugrunde. Recht
wird als Mittel der Ordnung, der Sphärenabgrenzung und der Disziplinierung
staatlicher Macht eingesetzt. Dass ein streng dualistisches Modell von Staat
und Gesellschaft und ein Staatsaufgabenverständnis der nur punktuellen Intervention eine besondere Nähe zu einem solchen Rechtskonzept haben, ist oft
beobachtet worden. Gleichwohl wird man sich vor einer Überzeichnung der Gegensätze zwischen älterem liberalen und jüngerem sozialen Rechtsstaatsverständnis hüten müssen. Manches erscheint hier zwischen Sozialmodell und
Rechtsstaatsverständnis konvergent, was bei näherem Zusehen für die Steuerungsfähigkeit des Rechts letztlich doch nicht entscheidend ist. Rechtsstaatliche Verwaltung heißt im Lichte der älteren Tradition eine gesetzmäßige und
32
33
34
Ebenso Dietmar von der Pfordten, Normativer Individualismus und das Recht, in: JZ 2005 (Mohr Siebeck, Tübingen), S. 1069 ff.
Vgl. das Zitat bei Otto Meyer, Deutsches Verwaltungsrecht , 3. Aufl. (Duncker und Humblot, Berlin, 1924), Bd.
1, S. 62.
Zum Rechtsstaatsprinzip allgemein Eberhard Schmidt-Aßmann, Der Rechtsstaat, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.),
Handbuch des Staatsrechts – HStR –, Bd. 2, 3. Aufl., (C. F. Müller, Heidelberg, 2003), § 26.
21
22
rechtlich kontrollierte Exekutive. Das Ziel ist die »tunlichste Justizförmlichkeit
der Verwaltung«. Die Steuerungsfähigkeit des Rechts beruht auf einem bestimmten Rationalitätsanspruch des Gesetzes. Dieser wiederum hat die Trennbarkeit von Ursachen, die Zurechenbarkeit von Wirkungen und eine Aufteilung
von Gesetzgebung und Gesetzesanwendung nach dem Norm-Einzelakt-Schema
zur Voraussetzung.
b)
subjektiv-rechtlich: individuelle Rechtspositionen
Die Rechtsstaatsidee des Grundgesetzes knüpft an diese Vorstellung an, hat sie
aber in eine neue Dimension hinein weiterentwickelt. Entscheidend für die
neuere Sicht ist die Bindung aller staatlichen Gewalt an die Grundrechte (Art.
1 Abs. 3 GG). Die Grundrechte haben in der Zwischenzeit die gesamte Verwaltungsrechtsordnung durchdrungen. Sie sind in den einzelnen Gebieten des
besonderen Verwaltungsrechts ebenso wie in den allgemeinen Lehren allgegenwärtige Größen. Dieses ist das hervorstechendste Kennzeichen der Rechtsstaatsentwicklung unter dem Grundgesetz. Mit den grundrechtlichen Geboten
der Verhältnismäßigkeit, der Gleichbehandlung und der Rechtssicherheit antwortet der Rechtsstaat auf die elementaren menschlichen Bedürfnisse nach Rationalität, Achtung und Orientierung. War rechtsstaatliches Verwalten auf der
ersten Stufe ein objektiv-rechtliches Prinzip, so rückt jetzt der Einzelne als
Subjekt in das Zentrum der verwaltungsrechtlichen Betrachtung.
Drei Punkte sind für ein so verstandenes rechtsstaatliches Verwaltungsrecht
bestimmend:35 Zum einen haben alle verwaltungsrechtlichen Lehrsätze eine
starke Individualisierung erfahren. In ihrem Gefolge haben Verhältnismäßigkeit, Zumutbarkeit und Billigkeit ihren Siegeszug in der Verwaltungsrechtsordnung angetreten. Staatliche Maßnahmen müssen einen legitimen
Zweck verfolgen, sie müssen zur Verfolgung dieses Zweckes geeignet und erforderlich sein und sie dürfen zum beabsichtigten Erfolg nicht außer Verhältnis
stehen. Die Gerichte prüfen diese Kontrollkriterien ziemlich streng, gelegentlich sogar zu streng zu Lasten der Verwaltung. Hinzugekommen ist als zweites
Kennzeichen eine deutliche Subjektivierung des Verwaltungsrechts. Das subjektive Recht knüpft nicht länger an eine spezifische Verleihung an, sondern
wird mit der Schutznormlehre überall dort nachweisbar, wo Normen des objektiven Rechts neben ihrer allgemeinen Regelungsfunktion auch bestimmte
rechtlich geschützte Interessen einzelner zum Ausgleich bringen wollen. Das
wichtigste Kennzeichen eines grundrechtlich ausgerichteten Verwaltungsrechts
aber ist seine starke Sensibilisierung: Wirkungszusammenhänge zwischen
35
Vgl. im einzelnen Schmidt-Aßmann, Ordnungsidee (Fn. 15), 2. Kap., Tz. 47 ff.
22
23
Steuerungsvorgaben und privaten Interessenpositionen werden nach allen
Richtungen hin auf ihre Intensität, ihre Breiten- und ihre Tiefenwirkung hin
untersucht und auf die Angemessenheit ihrer rechtsstaatlichen Sicherungen befragt. So verlangt das Bundesverfassungsgericht, dass eine heimliche Infiltration eines informationstechnischen Systems aus sicherheitsrechtlichen Gründen
als ein Eingriff in besonders sensible Freiheitsbereiche nur vorgenommen werden darf, wenn sie durch einen Richter angeordnet worden ist.36 Gerade diese
Wirkung der Grundrechte hat sich als ein Motor für die Entwicklung neuer
verwaltungsrechtlicher Fragestellungen erwiesen. Die Bedeutung des Verfahrensrechts für den Schutz materiellrechtlicher Positionen ist ein Beispiel dieser
grundrechtlichen Sensibilisierung. Sie hat das Bundesverfassungsgericht genutzt, um z.B. aus dem Schutz des allgemeinen Persönlichkeitsrechts (Art. 2
Abs. 1 i.V. Art. 1 Abs. 1 GG) die Grundzüge eines Datenschutzrechts zu entwickeln.37
Freilich führen diese Ausweitungen zu dogmatischen Schwierigkeiten. Eine
wichtige Grundannahme des Rechtsstaates bleibt die Individualisierbarkeit von
Interessen und die Möglichkeit einer normativen Zuteilungsentscheidung auf
der generell-abstrakten Ebene des Gesetzes. Wo diese Voraussetzungen angesichts diffuser Interessenlagen mit vielgliedrigen Betroffenheiten fehlen, wird
das überkommene rechtsstaatliche Schutzinstrumentarium, das auf klare Zäsuren baut, unscharf. Das zwingt jedoch nicht zu einer Abdankung rechtsstaatlicher Anforderungen, sondern muss Impuls dafür sein, über neue, funktionaläquivalente rechtsstaatliche Sicherungen nachzudenken. Dabei zeigt sich, dass
der Rechtsstaat zwar ein Formungsprinzip darstellt, jedoch nicht auf eine
strenge Formalisierung festgelegt ist. Schon der ältere Rechtsstaat praktizierte
seine Formenbestimmtheit nicht im Sinne eines mathematischen Modells. Und
ebensowenig erschöpft sich der rechtsstaatliche Rechtsbegriff im regulatorischen Recht. Er ist vielmehr darauf angelegt, erweiterte Konzepte von Recht
aufzunehmen. Die rechtliche Ordnung komplexer Interessenlagen und das
Auffinden der für sie passenden Verfahrens- und Organisationsmuster werden
so zu einem Grundanliegen moderner Rechtsstaatlichkeit. Dabei wird der
Blick des Verwaltungsrechts vor allem auf die Vorgänge »mittlerer Ebene« gelenkt, in denen sich unterhalb der Gesetzesebene Interessenkonstellationen
phasenweise klären lassen, ohne sogleich durch eine letztverbindliche Verwaltungsentscheidung fixiert zu werden. Oben wurde bereits auf die Bedeutung
der administrativen Normsetzung hingewiesen. Insbesondere Verwaltungsvor36
37
BVerfGE 120, 274 (331 ff.).
Grundlegend BVerfGE 65, 1 ff. Darstellung und kritische Würdigung bei Marion Albers, Umgang mit
personenbezogenen Informationen und Daten, in: GVwR Bd. 2 (Fn. 1), § 22.
23
24
schriften, Konzepte, Pläne und Programme haben hier ihre Funktion.38 Insofern lässt sich von einer Rückbesinnung auf die objektiv-rechtliche Seite des
Rechtsstaatsprinzips sprechen. Es geht ganz allgemein darum, Rechtsstaatlichkeit umgreifend als Gewährleistung staatlicher Rationalität zu verstehen. An
einem Beispiel: Eine Umweltbehörde erfährt davon, dass zahlreiche Betriebe
in einem Gewerbegebiet die Umweltvorschriften verletzen, sie kann aber nicht
sogleich alle Betrieb schließen, weil das zu einer schweren Belastung des lokalen Arbeitsmarktes führen würde. Darf sie einen einzelnen oder mehrere einzelne herausgreifen, während sie andere weitermachen lässt? Oder muss sie
ganz darauf verzichten, Verbote zu erlassen, weil sie einige dadurch ungleich
behandeln würde? Die Rechtsprechung verlangt hier, dass die Verwaltung ein
„Konzept“ vorlegt, das die Kriterien erkennen lässt, nach der sie gegen die
umweltschädigenden Betriebe vorgehen will. Kriterien können z. B. das Alter
des Betriebs, die Höhe der Emissionen, die räumliche Situation der einzelnen
Betriebe oder auch soziale Gesichtspunkte sein. Die Pflicht, ein solches Konzept vorzulegen, verhindert Willkür, erhöht die Rationalität und trägt dazu bei,
dass die Maßnahmen der Behörde von den Betroffenen leichter akzeptiert
werden.
3.
Vorgaben des Demokratieprinzips
Das demokratische Prinzip ist im Verwaltungsrecht als Gebot wirksamer Legitimation zu entfalten. Die Lehre von der Verwaltungslegitimation hat in Deutschland
durch zwei Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts vom Oktober 1990
wichtige Impulse erhalten.39 Die darin entwickelten strikten Legitimationsvorstellungen haben die wissenschaftliche Diskussion nachhaltig angeregt. Im Verwaltungsorganisationsrecht sind dadurch viele wichtige Erkenntnisse gewonnen worden. In der Zwischenzeit hat sich allerdings gezeigt, dass das Konzept mehrgliedriger ist, als es in den genannten Entscheidungen dargestellt wurde. Vor allem organisatorische und prozedurale Elemente sind es, die zusätzlich berücksichtigt werden müssen.40
a)
demokratische Legitimation im engeren Sinne
Der Kern des Demokratieprinzips für das Verwaltungsrecht liegt darin, die von
Art. 20 Abs. 2 GG vorgeschriebene demokratische Legitimation im gesamten
Verwaltungsbereich sicherzustellen. Demokratische Legitimation heißt Legi-
38
39
40
Vgl. Hill, Formen exekutivischer Selbstprogrammierung, in: GVwR Bd. 2 (Fn. 1), § 34 Rn. 56 ff.
BVerfGE 83, 37 ff. und 60 ff.
Dazu umfassend Hans-Heinrich Trute, Die demokratische Legitimation der Verwaltung, in: GVwR Bd. 1 (Fn. 3),
§ 6 Rn. 42 ff.
24
25
timation durch das Volk als eine nach allgemeinen Merkmalen bestimmte Personengesamtheit. Das Grundanliegen aller demokratischen Legitimation wird
in diesem Element am besten sichtbar: Es geht zum einen um die Rückführbarkeit aller Entscheidungen auf das Staatsvolk als Legitimationssubjekt und
zum zweiten um eine bestimmte demokratische Entscheidungsqualität. Diese
zeigt sich darin, dass demokratisch legitimierte Entscheidungen in Distanz
zum Sonderinteresse als Gemeinwohlentscheidungen, eben »nach allgemeinen
Merkmalen«, getroffen werden sollen.
Im Einzelnen werden drei Legitimationsmodi unterschieden:
-
Die sachlich-inhaltliche Legitimation wird vor allem durch das parlamentarische Gesetz und den parlamentarisch beschlossenen Haushalt hergestellt. Hier geht es um die Steuerung der einzelnen Sachentscheidungen der
Verwaltung und um parlamentarische Kontroll- und Korrekturrechte.
-
Die organisatorisch-personelle Legitimation fragt nach den Rückbindungen, die zwischen der Person des die Staatsgewalt ausübenden Amtswalters
und dem Träger der Staatsgewalt bestehen. Hier wird das Bild von der
„ununterbrochenen Legitimationskette“ vom Volk über die von diesem
gewählte Vertretung zu den Organen und Amtswaltern gebraucht. Wichtig
sollen vor allem die Rechtsakte sein, durch die die einzelnen Amtswalter in
ihr Amt eigesetzt worden sind.41
-
Als institutionell-funktionelle Legitimation wird die verfassungsunmittelbare Stellung der Exekutive bezeichnet, die ihr eine Eigenständigkeit gegenüber Parlament und Gerichten sichern soll.
Demokratische Verwaltungslegitimation ist lange Zeit nahezu ausschließlich
als parlamentsvermittelte Legitimation verstanden worden. Das parlamentarische Gesetz und sein Vollzug durch eine hierarchisch strukturierte, der parlamentarisch verantwortlichen Spitze durch Weisungsbefugnisse unterstellte
Verwaltung erscheinen einem solchen Konzept als zentrale Garanten eines
demokratisch legitimierten Verwaltungsrechts. Dieses alles ist zweifellos
wichtig: Nach wie vor sind die Gesetzes- und Weisungsabhängigkeit nachgeordneter Verwaltungsinstanzen unverzichtbare Transformationsmittel demokratischer Legitimation. Dabei geht es auch darum, den Einfluss von Lobbyisten und Klientelorganisationen zurückzudrängen. Weisungsfreie Agenturen
sind nach bisher herrschender Auffassung in der juristischen Literatur nur ausnahmsweise zulässig. In diesem Punkte unterscheidet sich das deutsche Recht
41
BVerfGE 83, 60 (72 f.); auch schon BVerfGE 77, 1 (40).
25
26
vom EU-Recht, das den Mitgliedstaaten unter Umständen weisungsfreie Agenturen vorschreibt. Der Konflikt lässt sich etwa durch folgende Linie entschärfen: Sofern solche Agenturen politisch wichtige Aufgaben wahrnehmen sollen,
muss mindestens sichergestellt sein, dass sie einer parlamentarischen Kontrolle
unterliegen, wenn ein ministerielles Weisungsrecht ausnahmsweise nicht existieren soll. Völlig freigestellte Behörden, die aus dem politischen System ausgegliedert und nur der Kontrolle durch gesellschaftliche Gruppen unterstellt
werden sollen, sind danach unzulässig. Das gilt allerdings nicht für die Träger
der sog. funktionalen Selbstverwaltung (z. B. Industrie- und Handelskammern,
Anwaltskammern), die keine Behörden sondern Körperschaften mit dem Recht
der Selbstverwaltung und einer eigenen Legitimationsbasis sind. Ihre innere
Ordnung muss aber durch parlamentarisches Gesetz festgelegt sein. Dabei
muss verhindert werden, dass sich innerhalb der Körperschaft monopolistische
Machtverhältnisse bilden. Überhaupt ist das Legitimationskonzept pluraler zu
fassen, als es in den Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts vom Oktober 1990 aufgezeigt ist.
b)
pluralistisches Konzept demokratischer Legitimation
In der Literatur wird gefordert, eine Pluralität der Legitimationssubjekte anzuerkennen und den Volksbegriff nicht von einer vorausgesetzten Einheit, sondern von den Freiheitsrechten und der Menschenwürde her zu konzipieren.42
In einer Entscheidung aus dem Jahre 2002 hat der 2. Senat des Bundesverfassungsgerichts eine Rechtsprechungsänderung eingeleitet. Er hat sein stringentes Konzept auf die unmittelbare Staatsverwaltung und die kommunale Selbstverwaltung beschränkt; für andere Verwaltungsbereiche wird betont, dass das
Demokratieprinzip offen sei für andere, insbesondere vom Erfordernis lückenloser personeller Legitimation aller Entscheidungsbefugten abweichenden Organisationsformen zur Ausübung von Staatsgewalt.43 Demokratisches Prinzip
und Selbstverwaltung werden nicht im Gegensatz zueinander gesehen; auch
die funktionale Selbstverwaltung verwirkliche „die sie verbindende Idee des
sich selbst bestimmenden Menschen in einer freiheitlichen Ordnung“ – wie unter Bezugnahme auf den Menschenwürdesatz aus Art. 1 Abs. 1 GG ausgeführt
wird. Um andere Legitimationssubjekte zu aktivieren, wird es allerdings für erforderlich gehalten, dass der parlamentarische Gesetzgeber ihre Aufgaben und
42
43
Dazu mit weiteren Nachweisen Trute, in: GVwR Bd. 1 (Fn. 1), § 6 Rn. 19 ff.; Thomas Groß, Das
Kollegialprinzip in der Verwaltungsorganisation (Mohr Siebeck, Tübingen, 1999), S. 165 ff.
BVerfGE 107, 59 (91 f.).
26
27
Handlungsbefugnisse ausreichend vorherbestimmt und einer Aufsicht unterstellt.44
Der 1. Senat hat diese neuere Linie aufgenommen und die prozeduralen Erfordernisse der Legitimation besonders herausgestellt. In einer Entscheidung vom
Juli 2004, die ebenfalls Einrichtungen der funktionalen Selbstverwaltung betrifft, sagt er aus, dass die Prinzipien der Selbstverwaltung und der Autonomie
ihrerseits im demokratischen Prinzip wurzelten und gesellschaftlichen Gruppen ermöglichen sollten, in eigener Verantwortung die Ordnung der sie berührenden Angelegenheiten mitzugestalten.45 Dazu wird der parlamentarische Gesetzgeber in die Pflicht genommen, die erforderlichen institutionellen Vorkehrungen zur Wahrung der Interessen der in der funktionalen Selbstverwaltung
erfassten Personen zu treffen. „Organisation und Verfahren müssen Gewähr
dafür bieten, dass die verfolgten öffentlichen Interessen innerhalb der Anstalt
für diejenigen, die der Satzungsgewalt unterworfen sind, unter Berücksichtigung ihrer Interessen angemessen wahrgenommen werden“.46 Das Gesetz
müsse – so heißt es weiter - mittels Vorgaben für das Verfahren der autonomen Entscheidungsfindung eine angemessene Partizipation der Berufsangehörigen an der Willensbildung gewährleisten“.47
Das demokratische Prinzip ist danach auch in der verfassungsgerichtlichen Judikatur heute als Rechtsprinzip mit normativem Verpflichtungsgehalt ausgestattet. Es läßt allerdings dem Gesetzgeber wesentlich mehr Freiheit als das
frühere Konzept von 1990. Partizipative und repräsentative Elemente können
verbunden werden. Wichtig ist die Beziehung des Legitimationsmodells auf
den Menschen. Zutreffen heißt es dazu: „Der Anspruch auf freie und gleiche
Teilhabe ist in der Würde des Menschen (Art. 1 Abs. 1 GG) verankert“.48 Insgesamt ergibt sich daraus ein Legitimationskonzept, das pluralistisch und prozedural geprägt ist.
c)
Insbesondere zur Bedeutung der Selbstverwaltung
aa)
Nach neuerem Verständnis ist der parlamentsvermittelten Legitimation der hierarchisch geordneten Verwaltung die demokratische Legitimation
der kommunalen Selbstverwaltung an die Seite zu stellen. Kommunale Selbstverwaltungsträger, die durch Art. 28 Abs. 1 S. 2 GG auf die gleichen demokra-
44
45
46
47
48
BVerfGE 107, 59 (94).
BVerfGE 111, 191 (216).
BVerfGE 111, 191 (217).
BVerfGE 111, 191 (217).
BVerfGE 123, 267 (341).
27
28
tischen Legitimationsgrundlagen festgelegt sind, repräsentieren einen zweiten
Typus demokratischer Legitimation. Die Legitimationsordnung des Verwaltungsrechts bleibt nicht auf die eher staatsrechtliche Thematik des parlamentarischen Regierungssystems begrenzt; sie erhält vielmehr einen zweiten Legitimationszug typisch administrativer Art. Als zweiter Typus demokratischer Legitimation verstanden, zeigt die kommunale Selbstverwaltung allerdings zugleich ein Grundproblem demokratischer Entscheidungsfindung auf: das
Spannungsverhältnis zwischen der der demokratischen Idee zugrundeliegenden Beteiligung Betroffener an der Herrschaft und der Sicherstellung einer
über dem Sonderinteresse stehenden Entscheidungsqualität. Die kommunale
Selbstverwaltung stellt hier eine »Zwischenform« dar. Sie ist ein Beispiel dafür, wie auch innerhalb einer auf die Legitimation durch das Volk festgelegten
Ordnung durch eine Verbindung unterschiedlicher Legitimationszüge beiden
Gedanken Rechnung getragen werden kann. In der Dogmatik findet dieses z.B.
in der differenzierten Gesetzesvorbehaltslehre gegenüber dem eigenen Regelungsauftrag des kommunalen Satzungsrechts seinen Ausdruck.
bb)
Kommunale Selbstverwaltung hat noch in einer zweiten Hinsicht eine
»Zwischenstellung« inne: Sie ist eine Sonderform der Selbstverwaltungsidee
als solcher. Selbstverwaltung und demokratische Legitimation haben gemeinsame Wurzeln in den Tiefenschichten der demokratischen Idee.49 Sie formen
aber diese Ideen in unterschiedlicher Weise aus: erstere zu einer Legitimation
durch die Betroffenen, letztere zu einer Legitimation durch das Volk. Betroffenenbeteiligung und Legitimation durch das Volk dürfen nicht schnellfertig kurzgeschlossen werden. Als Formungsprinzip verlangt die Demokratie
vielmehr, dass Sonderinteressen dort, wo sie innerhalb der Verwaltung eigenständig zur Geltung kommen und zur Entscheidung befugt werden sollen, in
eine Distanz und Neutralität fördernde Organisationsform gebracht werden
und in bestimmtem Umfang auch an die Legitimation durch das Volk gebunden bleiben. Verwaltungsorganisationsrechtlich ist das in eine duale Ordnung
demokratischer und autonomer Legitimation umzusetzen.
Als einen anerkannten Fall autonomer Legitimation nennt das Bundesverfassungsgericht die körperschaftliche Legitimation der funktionalen Selbstverwaltung. Autonome Legitimation ist jedoch nicht auf die Form der Körperschaft
beschränkt. Sie kann auch in anderen Formen und in anderen Bereichen einer
kooperativ wahrgenommenen staatlich-gesellschaftlichen Herrschaftsübung
vorgesehen werden. Das gilt insbesondere dort, wo es um die verwaltungsorganisatorische Erfassung grundrechtlich abgesicherter kollektiver Interessen
49
Vgl. BVerfGE 107, 59 (94).
28
29
geht. Ein Beispiel bildet die Selbstverwaltung der Universitäten. Sie dient dem
Schutz der Wissenschaftsfreiheit der Forscher und akademischen Lehrer (Art.
5 Abs. 3 GG), also vor allem der Professoren, und dem Schutz der Ausbildungsfreiheit der Studierenden (Art. 12 GG). Die Entscheidungsfindung in den
universitären Gremien muss so geordnet sein, dass diese Rechte und Interessen
zu einem angemessenen Ausgleich gebracht werden: Gebot der „Wissenschaftsadäquanz von hochschulorganisatorischen Entscheidungen“.50 Dem
Staat, insbesondere dem parlamentarischen Gesetzgeber, kommt in diesen Bereichen autonomer Legitimation eine Verantwortung für eine adäquate Interessenorganisation und für eine Neutralisierung des Sonderinteresses zu. Die
grundrechtliche „Wesentlichkeitslehre“ entwickelt sich zu einer strukturierten
Lehre innerhalb eines prozeduralen Legitimationskonzepts.
d)
demokratischer Verwaltungsstil
Das Demokratieprinzip erschöpft sich im Verwaltungsrecht aber nicht in der Sicherung demokratischer und in der Organisation autonomer Legitimation. Es erfasst darüber hinaus ganz allgemein die Verwaltungsführung und den Verwaltungsstil. Vor allem dann, wenn das Verwaltungshandeln nicht ausschließlich
auf seine Übereinstimmung mit dem Gesetz befragt wird, sondern unbeschadet
der Gesetzesbindung auch andere Richtigkeitskriterien zu erfüllen hat, gewinnt
der Gesichtspunkt der Akzeptanz eine erhebliche Bedeutung.51 Aber auch das
Vorfeld und die nachträgliche Kontrolle des Verwaltungshandelns haben ihre
demokratischen Aspekte. So erscheint es erforderlich, die Bedeutung von Öffentlichkeit und der freien, pluralen Interessenartikulation im Umfeld des Verwaltungshandelns neu herauszuarbeiten.52
Ein Beispiel mag die Bedeutung eines normativen Legitimationskonzepts veranschaulichen: Viele Gemeinden veranstalten jährlich auf öffentlichen Straßen und
Plätzen traditionelle Volksfeste („Kirchweih“, „Frühlingsfest“ usw.). Die Betreiber von Karussells, Schießbuden und Verkaufsständen nutzen diese Feste für ihr
Geschäft. Einige dieser sogenannten „Schausteller“ sind in der entsprechenden
Gemeinde ansässig, andere kommen von außerhalb. Alle benötigen Standplätze.
Meistens gibt es mehr Interessenten, als Standplätze zur Verfügung stehen. Die
Gemeinde muss dann zwischen den Anbietern eine Auswahl treffen. Darf sie
diese Auswahl an einen Verband der Schausteller delegieren? Das sieht sich auf
den ersten Blick sehr „demokratisch“ an, ist es aber nicht. Die Verteilung der
50
51
52
BVerfGE 35, 79 (108) und aus jüngerer Zeit 127, 87 (113 ff.).
Zu diesen Maßstäben des Verwaltens Rainer Pitschas, Maßstäbe des Verwaltungshandelns, in: GVwR Bd. 2 (Fn.
1), § 42 Rn. 201 ff.
Dazu Arno Scherzberg, Öffentlichkeitskontrolle, in: GVwR Bd. 3 (Fn. 1), § 49.
29
30
Standplätze ist eine hoheitliche Entscheidung mit harten geschäftlichen Konsequenzen für diejenigen, die keinen Standplatz zugeteilt bekommen. Sie muss
demokratisch legitimiert sein. Legitimiert ist die Gemeinde. Der Verband der
Schausteller ist dagegen eine private Einrichtung. Seine Organisation ist von den
Interessen seiner Mitglieder bestimmt. Er besitzt nicht die erforderliche Legitimation zur Ausübung von Staatsgewalt. Eine Delegation der Entscheidung ist
unzulässig. Die Gemeinde kann sich durch den Verband beraten lassen. Aber die
endgültige Entscheidung muss sie selbst als demokratisch legitimierte Verwaltung treffen.
4.
Entscheidung für eine „offene Staatlichkeit“
Die in Art. 23 und 24 GG getroffene Verfassungsentscheidung für eine offene
Staatlichkeit konfrontiert das traditionelle Verwaltungsrecht mit den Einwirkungen
zwischenstaatlicher Einrichtungen und des internationalen Rechts.53 Diese „Europäisierung des Verwaltungsrechts“ und die Entwicklung eines Verwaltungsrechts
für den „Europäischen Verwaltungsverbund“ ist die dritte Zukunftsaufgabe aller
Reformüberlegungen.
Dass sich dabei auch Veränderungen in den verfassungsrechtlichen Grundlagen
des Verwaltungsrechts ergeben können, ist beispielsweise am Prinzip des Vertrauensschutzes deutlich geworden. Dieses Prinzip hat als Teil des Rechtsstaatsprinzips und der Grundrechte Verfassungsrang. Es stellte daher eine erhebliche Herausforderung für das deutsche Verwaltungsrecht dar, als der Europäische Gerichtshof verlangte, rechtswidrig gewährte Subventionen auch dann von einem Empfänger zurückzufordern, wenn nach den einschlägigen deutschen Vorschriften Vertrauensschutz zu gewähren gewesen wäre.54 Die deutschen Gerichte haben zwar
den Vorrang des EU-Rechts, der im nationalen Recht seine Grundlage in der Verfassungsentscheidung für die offene Staatlichkeit findet, akzeptiert.55 Es gibt aber
äußerste Grenzen der „Völkerrechtsfreundlichkeit des Grundgesetzes“. Sie sind
dann erreicht, wenn das internationale Recht zu einem „Verstoß gegen tragende
Grundsätze der Verfassung“ führen würde. Das Bundesverfassungsgericht spricht
hier von einem „Souveränitätsvorbehalt“ und fügt hinzu, dass die deutsche Verfassung keine jeder verfassungsrechtlichen Begrenzung und Kontrolle entzogene Unterwerfung unter nicht-deutsche Hoheitsakte wolle.56 Ein solcher Fall könnte z.B.
53
54
55
56
Vgl. Rainer Wahl, in: Schuppert (Hrsg.), Europawissenschaften (Nomos, Baden-Baden, 2005), S. 147 ff. Siehe
unten 4. Abschnitt.
Vgl. EuGHE 1997, 1607 („Rechtssache Alcan“).
BVerwGE 106, 328 ff. und BVerfG (K) NJW 2000, 2015 f. Ausführlich Hermann-Josef Blanke,
Vertrauensschutz im deutschen und europäischen Verwaltungsrecht (Mohr Siebeck, Tübingen, 2000).
BVerfGE 111, 307 (319).
30
31
dann eintreten, wenn das Recht der Europäischen Union die Mitgliedstaaten zwingen würde, für politisch-zentral wichtige Entscheidungen unabhängige Agenturen
einzurichten, die von jeder ministeriellen oder parlamentarischen Kontrolle freigestellt wären.
5.
Die Bedeutung von Staatszielbestimmungen: Das Sozialstaatsprinzip
Eine Konstitutionalisierung des Verwaltungsrechts erfolgt auch durch dessen Ausrichtung an den Staatszielbestimmungen. Zu denken ist z.B. an das soziale Staatsziel (Art. 20 Abs. 1 GG) und an das Staatsziel „Umweltschutz“ (Art. 20a GG). Vor
allem vom Sozialstaatsprinzip werden hier häufig besonders intensive Vorgaben
erwartet. Die Ergebnisse sind jedoch eher blass. Staatsziele sind primär auf eine
Ausformung durch den Gesetzgeber angewiesen.
Ohne gesetzliche Grundlagen kann vor allem das soziale Staatsziel aus sich heraus
subjektive Rechte nicht begründen.57 Verfassungsunmittelbar gesichert ist nur ein
Anspruch auf Gewährung eines Existenzminimums.58 Er ist jedoch nicht allein und
nicht einmal vorrangig auf Art. 20 Abs. 1 GG, sondern auf die Menschenwürdegarantie des Art. 1 GG und auf Grundrechte, zum Beispiel auf die Gewährleistung
körperlicher Unversehrtheit gestützt.59 Auch dieser Anspruch ist zudem „im Hinblick auf die sich verändernde Leistungsfähigkeit des Gemeinwesens keine feste
Größe“60. Wenn er normativ festgelegt wird, besitzt der Normsetzer auch insoweit
einen Einschätzungsspielraum.61
Entsprechend eingeschränkt ist die streitentscheidende Bedeutung des Sozialstaatsprinzips in der verwaltungsrechtlichen Judikatur. Kläger berufen sich zwar
gern auf die Sozialstaatlichkeit, haben damit aber nur selten Erfolg. Das ist unmittelbar nach 1949 gelegentlich anders gewesen.62 Aber auch damals waren es nur
wenige Entscheidungen. Selbst die berühmte Fürsorgepflicht-Entscheidung63
macht davon keine Ausnahme: Der Sozialstaatsgedanke wird dort nicht zur Begründung neuer Leistungspflichten herangezogen, sondern ist ein Gesichtspunkt
57
58
59
60
61
62
63
Michael Sachs, in: ders. (Hrsg.), Grundgesetz, 6. Aufl. (Beck, München, 2011), Art. 20 Rn. 50 mit Nachweisen.
Horst Dreier in: ders. (Hrsg.), Grundgesetz, Bd. 1, 2. Aufl. (Mohr Siebeck, Tübingen, 2004), Art. 1 I Rn. 158
mit weiteren Nachweisen; auch BVerfGE 82, 60 (80); BVerwGE 82, 364 (368).
BVerfGE 125, 175 (222 ff.), Eberhard Schmidt-Aßmann, Grundrechtsschutz und Legitimationsfragen im
öffentlichen Gesundheitswesen (de Gruyter, Berlin, 2001), S. 23 ff.
Karl-Peter Sommermann, in: v.Mangoldt, Klein, Starck, Bonner Grundgesetz, Bd. 2, 4. Aufl. (Vahlen, München,
2000), Art. 20 Rn. 117; Karl-Jürgen Bieback, Verfassungsrechtlicher Schutz gegen Abbau und Umstrukturierung
von Sozialleistungen (de Gruyter, Berlin, 1997).
BVerfGE 82, 60 (93 f.); 91, 93 (111); 125, 175 (224 f.).
Vgl. Fritz Werner, Sozialstaatliche Tendenzen in der Rechtsprechung, in: Archiv des öffentlichen Rechts, Bd. 81
(1956) (Mohr Siebeck, Tübingen), S. 84 ff.
BVerwGE 1, 159 ff.
31
32
unter anderen, der es rechtfertigt, einer bestehenden gesetzlichen Leistungspflicht
auch ein subjektives Leistungsrecht des Begünstigten zu entnehmen. Wenn Ansprüche über den Gesetzeswortlaut hinaus anerkannt werden, sind es regelmäßig
konkretere verfassungsrechtliche Vorgaben, zum Beispiel solche des Gleichheitssatzes des Art. 3 GG oder des Grundsatzes des Vertrauensschutzes,64 die das Ergebnis rechtfertigen.
Eigenständige Bedeutung entfaltet das Sozialstaatsprinzip für die Exekutive dort,
wo diese ohne gesetzliche Grundlage tätig werden darf. Wo Gesetzesvorbehalte
bestehen, befähigt die Berufung auf das soziale Staatsziel die Exekutive dagegen
nicht, ohne Gesetz zu handeln.65 Es schafft auch keine neuen Kompetenzen, sondern es setzt solche voraus.66
Vor diesem Hintergrund stellt sich die Aufgabe der Verwaltung, die Sozialstaatsklausel vornehmlich als „eine Auslegungsmaxime und eine Ermessensrichtlinie“67
zu nehmen. Damit ist ein weiter Gestaltungsraum umschrieben, in dem es nicht nur
um Gesetzesvollzug und Rechtsfolgenermessen, sondern auch um Planungs- und
Normsetzungsaufgaben, um Kooperation, zum Beispiel mit Kirchen und mit Trägern privater Wohlfahrtspflege, geht.
Als Feld einer nicht auf gesetzliche Vermittlung angewiesenen administrativen
Konkretisierung des sozialen Staatszieles gilt die öffentliche Daseinsvorsorge. Bei
dieser Zuordnung ist jedoch eine Differenzierung angesagt: Staatliche Dienstleistungsangebote sind nicht schon als solche sozial. Einen engeren Bezug zur Sozialstaatlichkeit erhalten sie erst, wenn und soweit durch die Vorhaltung knapper
Dienste oder Güter „die Bedeutung des sozialen Gefälles in der Gesellschaft für
den Zugang zu diesen Diensten und Gütern entschärft“68 wird. Spezifisch soziale
Gründe können zum Beispiel eine Grundversorgung für die sozial schwächeren
Bevölkerungskreise gebieten, und es in gewissen Grenzen rechtfertigen, bei der
Zulassung zu öffentlichen Einrichtungen von der zeitlichen Reihenfolge einer
Warteliste abzuweichen.
Gewähr für den Erhalt öffentlicher Einrichtungen, Leistungen und Besitzstände
gibt das Sozialstaatsprinzip nicht.69 Es verhindert auch nicht die Privatisierung.
64
65
66
67
68
69
Zu einem Fall des Art. 6 Abs. 4 GG (negativ) BVerwGE 91, 130 ff.; zu Art. 12 GG mit Hinweis auf das
Sozialstaatsprinzip (negativ) BVerwGE 102, 142 (147).
Sommermann, in: Grundgesetz (Fn. 60), Bd. 2, Art. 20 Rn. 120.
Hans F. Zacher, Das soziale Staatsziel, in: HStR (Fn. 34), Bd. 2, § 28 Rn. 112.
Klaus Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. I, 2. Aufl. (Beck, München, 1984), § 21 III 4.
Zacher, Das soziale Staatsziel, in: HStR (Fn. 34), Bd. 2, § 28 Rn. 66.
Josef Isensee, Grundrechtsvoraussetzungen und Verfassungserwartungen an die Grundrechtsausübung, in: HStR
(Fn. 34), Bd. 5, 2. Aufl., 2000, § 115 Rn. 161.
32
33
Vorhandene Einrichtungen können geschlossen, überkommene Leistungsstandards
abgesenkt werden. Soweit für lebenswichtige Angebote eine staatliche Infrastrukturverantwortung besteht,70 kann diese auch durch staatliche Regulierung privater
Leistungserbringung wahrgenommen werden.71 Für den notwendigen Umbau des
überkommenen Sozialstaates spielt gerade das Gewährleistungsverwaltungsrecht72
eine herausragende Rolle.
6.
Konstitutionalisierung: Das Verfassungsrecht als „Transformator“ neuer Herausforderungen an das Verwaltungsrecht
Die verfassungsrechtliche Ausrichtung der Reformdiskussion war und ist aus zwei
Gründen notwendig:
-
Auf der einen Seite sollte gezeigt werden, dass das überkommene Verwaltungsmodell mit seinem Reduktionismus auf die hierarchische Vollzugsverwaltung nicht den grundgesetzlichen Vorstellungen von Verwaltung entspricht.
Die Verfassung hat ein vielfältigeres Bild von der Exekutive und von ihren Beziehungen zu Bürgern und Unternehmen, als es der traditionellen Sichtweise
entspricht.
-
Zum anderen ist das Verfassungsrecht der „Transformator“, um gesellschaftliche Entwicklungen in das Verwaltungsrecht hineinzunehmen. Verfassungsrecht
ist zu einem erheblichen Teil diskursives Recht. Das, was man juristisch als
seine „Anwendung“ bezeichnet, ist ein auf mehreren Ebenen und in unterschiedlichen Zirkeln ablaufender Klärungs- und Aushandlungsprozess. In ihm
werden unterschiedliche politische Vorstellungen nach und nach in einem Verfahren von „trial und error“ in juristische Argumente umgeformt und schließlich – vor allem durch die Verfassungsgerichte – zu verfassungsrechtlicher
Dogmatik „verdichtet“. Indem die verwaltungsrechtliche Reformdiskussion auf
das Verfassungsrecht zurückgreift, nutzt es die Klärungswirkungen dieses Prozesses.
-
70
71
72
Die Herausforderungen neuer ökonomischer, ökologischer, sozialer oder technologischer Entwicklungen können auf diese Weise „normativ gefiltert“ in die
verwaltungsrechtliche Systematik übernommen werden. Übernahme heißt dabei, die verfassungsrechtlich vorgezeichneten Grunderkenntnisse „weiterzu-
Dazu grundlegend Georg Hermes, Staatliche Infrastrukturverantwortung (Mohr Siebeck, Tübingen, 1998), S.
323 ff.
Sommermann, in: Grundgesetz (Fn. 60), Bd. 2, Art. 20 Rn. 111.
Andreas Voßkuhle, Beteiligung Privater an der Wahrnehmung öffentlicher Aufgaben, in: VVDStRL Bd. 62
(2003), S. 266 (310 ff.).
33
34
denken“. Christoph Möllers spricht in seinem Beitrag zu Methodenfragen von
einer „kognitiven Funktion“ des Verfassungsrechts und umschreibt dieses Verhältnis von Verfassungsrecht und Verwaltungsrecht folgendermaßen:73 „Verfassungsrechtliche Fundamentalnormen geben dem Verallgemeinerungsbedarf
eine Orientierung. Dies gilt im deutschen Verfassungsrecht namentlich für
Demokratie und Rechtsstaatlichkeit. Umgekehrt kann man in der Entwicklung
des Allgemeinen Verwaltungsrechts auch die Erfüllung eines Verfassungsauftrags erkennen, denn der Versuch, die verschiedenen Teile des Verwaltungsrechts verallgemeinerbar und vergleichbar zu halten, unterstützt eine Vielzahl
von Anliegen einer demokratischen und rechtsstaatlichen Rechtsordnung: die
Verhinderung sektoralisierter Rechtsgebiete, in denen nur noch Interessenten
ein Rechtsgebiet betreuen, die Vereinfachung und Überschaubarkeit von parallelen Regelungsstrukturen sowohl für die Bürger, als auch für die anwendende
Verwaltung.“
III.
Orientierung am Besonderen Verwaltungsrecht: „Referenzgebiete“
Eine dritte Leitidee der Reformdiskussion ist die Orientierung am Besonderen Verwaltungsrecht. Gerade weil das Allgemeine Verwaltungsrecht wegen seiner Abstraktionshöhe als Konstrukt betrachtet werden kann, ist es notwendig, es immer wieder auf das
Besondere Verwaltungsrecht zurückzubeziehen. Ohne genaue Kenntnis des Polizei- und
Kommunalrechts, des Bau- und Wirtschaftsrechts kann die verwaltungsrechtliche Systembildung nicht erfolgen. In der Reformdiskussion spielte das Besondere Verwaltungsrecht von Anfang an in zweierlei Hinsicht eine Rolle: einerseits heuristisch, d.h. auf der
Suche nach den wichtigen, für die derzeitige Verwaltungssituation repräsentativen Gebieten, den „Referenzgebieten“ (1), und andererseits methodisch zur Erschließung der
Verwaltungspraxis. Die Gebiete des Besondern Verwaltungsrechts sind so der Speicher
gefundener Lösungen und der Spiegel bestehender Regelungsbedürfnisse. Verwaltungsrechtliche Systembildung erfolgt immer deduktiv und induktiv zugleich. 74
1.
Die richtige Auswahl der Referenzgebiete
Die Vorstellungswelt des allgemeinen Verwaltungsrechts hat sich vorrangig am
Anschauungsmaterial des Polizei-, Kommunal-, Bau- und Beamtenrechts entwickelt. Dieses sind auch heute unbestreitbar wichtige Gebiete: Das Polizeirecht bildet den Grundtyp des Sicherheitsrechts, dessen Bedeutung angesichts des elementaren staatlichen Auftrags zur Gefahrenabwehr und Sicherheitsgewährleistung offen zutage liegt; hier geht es um „Grundbedingungen für die individuelle Freiheits-
73
74
Möllers, in: GVwR Bd. 1 (Fn. 3), § 3 Rn. 54.
Schmidt-Aßmann, Ordnungsidee (Fn. 15), 1. Kap., Tz. 12 ff. und 3. Kap., Tz. 2.
34
35
entfaltung und die Aufrechterhaltung sozialer Wohlfahrt“. Im Kommunalrecht
verbinden sich das Organisationsrecht der Selbstverwaltung und das Recht der Daseinsvorsorge zum Standardrecht demokratisch eigenständig legitimierter, ortsnaher täglicher Verwaltung. Das Baurecht stellt ein Rechtsgebiet dar, das die Wandlungen der Verwaltungsaufgaben von der punktuellen Intervention zur planerischen Gestaltung gut erkennen läßt. Trotzdem kann man nicht davon ausgehen,
dass die bisherigen Referenzgebiete die großen Verwaltungsaufgaben unserer Zeit,
um deren systematische Erfassung es im allgemeinen Verwaltungsrecht gehen
muss, umfassend zur Darstellung bringen.
Wichtige Bereiche sind heute die Gebiete, auf denen die Verantwortung des Staates für die Wirtschaft, für den Erhalt der natürlichen Lebensgrundlagen und für die
soziale Sicherheit wirksam wird: das öffentliche Wirtschaftsrecht, das Umweltrecht und das Sozialrecht. Indem diese Gebiete analysiert, verglichen und auf verallgemeinerungsfähige Rechtsregeln und Rechtsinstitute hin untersucht werden,
soll die „Lernfähigkeit des Allgemeinen Verwaltungsrechts“ erhöht werden.75
2.
Methode praktischer Vermittlung
Das Arbeiten mit Referenzgebieten hat bei der Reform des Verwaltungsrechts
noch eine zweite Aufgabe: Es ist eine besondere Methode, um die Realität des
Verwaltungshandelns zu übersetzen und so zwischen „Sein und Sollen“ zu vermitteln. Die Referenzgebiete werden in ihren Rechtsgrundlagen, Rechtsinstituten und
Verfahren systematisch beschrieben. Dabei sollen über die einschlägigen Gesetze
auch die Gesetzesgeschichte und die Schichten der Rechtsentwicklung erschlossen
werden, die zu der derzeit gültigen Gesetzeslage geführt haben. Sachverständigengutachten, offizielle Dokumente und Diskussionen der Fachöffentlichkeit sind einzubeziehen. Dasselbe gilt für wichtige Gerichtsentscheidungen, in denen typische
Interessenkonflikte herauspräpariert werden können. Die Arbeit mit Referenzgebieten ist normbezogen und entscheidungsbezogen. Das gibt ihr juristische Substanz. Sie erschöpft sich aber nicht darin, Gesetze zu interpretieren und Gerichtsurteile zu kommentieren. Vielmehr will sie charakteristische Züge eines Rechtsgebiets und sich abzeichnende Entwicklungsrichtungen ermitteln und auf ihre Verallgemeinerungsfähigkeit hin untersuchen. Das sind Aufgaben, die auf Intuition
und Assoziation angewiesen bleiben. Das ganze vollzieht sich aber in einem normativen, dem Juristen vertrauten Rahmen.
75
So zutreffend Thomas Groß, Beziehungen zwischen Allgemeinem und Besonderem Verwaltungsrecht, in: Die
Verwaltung, Beiheft 2, 1999, S. 57 (70 ff.).
35
36
IV.
Zusammenfassende Beobachtungen
Fassen wir unsere Erkenntnisse über die Ansätze der Reformdiskussion, der steuerungswissenschaftliche Ansatz, die Konstitutionalisierung und das Arbeiten mit Referenzgebieten, noch einmal zusammen. Alle drei Ansätze sind notwendig, um gegenüber
der erdrückenden Fülle des verwaltungsrechtlichen Materials und der dominierenden
Stellung des traditionellen reduktionistischen Verwaltungsrechtsmodells die hinreichende wissenschaftliche Distanz zu finden. Einseitigkeiten bisheriger Modellvorstellung
sollen vermieden und kreatives Denken angeregt werden.
Dabei geht es jedoch nicht um eine freischwebende theoretische Diskussion „in luftigen
Höhen“. Die Verwaltungsrechtswissenschaft ist eine auf staatliche Handlungspraxen
bezogene Wissenschaft, sie will die Akteure leiten und ihnen den Verbindlichkeitsanspruch des Rechts verdeutlichen. Der schnelle „Paradigmenwechsel“ – so habe ich oben
gesagt – ist hier nicht angezeigt. Theoretische Überlegungen müssen jederzeit in konkretes Verwaltungsrecht übersetzbar sein. Das verlangt, dass auch die Reformdiskussion
selbst normativ rückgebunden bleibt. Dafür sind die Ansätze im Verfassungsrecht und
im Besonderen Verwaltungsrecht wichtig.
Als weiterer Ansatz sollte künftig die Rechtsvergleichung dienen; denn auch sie erschließt normativ gefiltertes Material. Die Rechtsvergleichung hatte in der älteren verwaltungsrechtlichen Dogmatik unter dem Grundgesetz bisher nur eine geringe Rolle gespielt. Das gilt nicht nur für die Praxis der Gerichte, sondern auch für die Kommentarliteratur. Man war sehr stark auf das Grundgesetz und eine binnenländische Sicht konzentriert. In der neueren Methodenlehre wird jedoch zutreffend auf den Erfahrungsschatz hingewiesen, der sich durch Rechtsvergleichung erschließen läßt.76 Vieles spricht
dafür, dass sich das im „europäischen Entwicklungszusammenhang“ ändern wird.77 Die
Vereinigung der deutschen Staatsrechtslehrer behandelt ihre Themen heute zunehmend
auch mit einer rechtsvergleichenden Perspektive.
Insgesamt geht es den Reformansätzen um eine Verbindung von Deduktion und Induktion. Zu ihr schreibt Andreas Voßkuhle78: „Dieser dialektische Prozess aus Deduktion
und Induktion stellt an den Wissenschaftler hohe Anforderungen. Er setzt den Willen
voraus, sich in einzelne Bereiche umfassend einzuarbeiten und verlangt überdies die Fä-
76
77
78
Möllers, in: GVwR Bd. 1 (Fn. 3), § 3 Rn. 40. Wichtig jetzt das große rechtsvergleichende Werk von Armin von
Bogdandy/Sabino Cassese/Peter M. Huber (Herausgeber), Handbuch Ius Europaeum.(C. F. Müller, Heidelberg)
Bd III: Verwaltungsrecht in Europa: Grundlagen, 2010; Bd. IV: Verwaltungsrecht in Europa: Wissenschaft,
2011.
Zum Gedanken des Europäischen Entwicklungszusammenhangs vgl. Schmidt-Aßmann, Ordnungsidee (Fn. 15), 1.
Kap., Tz. 64 ff.
Voßkuhle, in: GVwR Bd. 1 (Fn. 1), § 1 Rn. 44.
36
37
higkeit zu abstrakter Reflexion und die Bereitschaft, gegenseitig voneinander zu lernen“.
37
38
3. Abschnitt: Perspektivenveränderungen im Verwaltungsrecht: Die „Neue Verwaltungsrechtswissenschaft“
Über die Reform des Verwaltungsrechts nachzudenken verlangt, alle Bestandteile des Allgemeinen Verwaltungsrechts daraufhin zu untersuchen, inwieweit sie zur Erfüllung der Verwaltungsaufgaben nach wie vor taugen. Die Überprüfung führt keineswegs dazu, dass alles verworfen werden muss. Der Verwaltungsakt beispielsweise, ein zentrales Institut des überkommenen Verwaltungsmodells, hat nach wie vor eine herausragende Bedeutung auch in der neuen
Systematik. Das muss jedoch überprüft und bestätigt werden. Das Ergebnis der Überprüfung ist
offen. Offener als in der traditionellen Verwaltungsrechtswissenschaft sind auch das methodische Vorgehen (dazu unten im 5. Abschnitt) und die Perspektive auf das verwaltungsrechtliche
System (dazu sogleich) gehalten.79
In vielen Fällen wird sich deshalb die Notwendigkeit zu punktuellen oder aber auch zu grundlegenden Veränderungen ergeben. Die Veränderungen betreffen nicht nur die einzelnen Rechtsinstitute selbst, sondern (neben Methodenfragen) vor allem ihre gegenseitige Zuordnung. Wenn
wir das Verwaltungsrecht als eine systematische Disziplin ansehen, kommt es gerade auf diese
Zuordnung an. Wie etwa verhält sich die Ausrichtung an materiellen Gesetzesprogrammen zur
Bedeutung des Verfahrensrechts? Wie verändern sich die Aufgaben der Gerichte, wenn im
verwaltungsrechtlichen Kontrollgefüge die Finanzkontrollen stärker herausgearbeitet werden?
Oft verändert sich bei dieser Überprüfung gar nicht einmal so sehr ein einzelnes verwaltungsrechtliches Dogma; aber die Zusammenhänge werden anders. Man kann von „Perspektivenveränderungen“ in der Systematik sprechen. Das hat unmittelbare Konsequenzen z.B. im Rahmen
der systematischen Auslegung der einschlägigen verwaltungsrechtlichen Gesetze und bei der
Optionenwahl in der administrativen Praxis.
Um diese Veränderungen in der Methode und der Perspektive klar zu benennen, sprechen
Wolfgang Hoffmann-Riem, Andreas Voßkuhle und ich in dem von uns herausgegebenen Gemeinschaftswerk „Grundlagen des Verwaltungsrechts“ von Neuer Verwaltungsrechtswissenschaft. Der Begriff meint nicht, dass alles, was unter dieser Bezeichnung behandelt wird, noch
nie bedacht worden wäre und in einem solchen Sinne schlechthin neu ist. Selbstverständlich
spielen auch in der Neuen Verwaltungsrechtswissenschaft die Gesetzesbindung der Verwaltung, die Rechtsformen des Verwaltungshandelns und die gerichtliche Kontrolle der Verwaltung eine wichtige Rolle. Der Begriff der Neuen Verwaltungsrechtswissenschaft soll aber indizieren, dass es bei der Reform nicht nur um eine Fortschreibung bisheriger Dogmatik, sondern
um eine Neubesinnung der Wissenschaft und um eine neue Sicht auf das Handeln der Verwaltung geht. Andreas Voßkuhle nennt in seinem einleitenden Beitrag sieben Merkmale, die die
79
Vgl. dazu die Beiträge in: Hans-Heinrich Trute/Thomas Groß/Hans Christian Röhl/ Christoph Möllers
(Herausgeber), Allgemeines Verwaltungsrecht – Zur Tragfähigkeit eines Konzepts (Mohr Siebeck, Tübingen,
2008); Wolfgang Hoffmann-Riem, Offene Rechtswissenschaft (Mohr Siebeck, Tübingen, 2010).
38
39
Neue Verwaltungsrechtswissenschaft charakterisieren:80 der steuerungstheoretische Ansatz, die
Bedeutung von Realbereichsanalysen, die Wirkungs- und Folgenorientierung, die Interdisziplinarität, das Arbeiten mit Schlüsselbegriffen, die Orientierung an Referenzgebieten und eine erweiterte Systemperspektive.
Drei solcher Perspektivenveränderungen sollen im Folgenden besprochen werden. Ich bezeichne sie schlagwortartig:
– „Von der gerichtlichen Kontroll- zur administrativen Handlungsperspektive“ (I),
– „Von der Vollzugsdogmatik zur gesetzesdirigierten Verwaltung“ (II),
- „Vom Erfüllungs- zum Gewährleistungsverwaltungsrecht“ (III).
In diesen Fällen ist nicht gesagt, dass der überkommene dogmatische Ansatz schlechthin falsch und
überholt ist. Er ist im überkommenen Modell nur zu einseitig in den Mittelpunkt gerückt worden.
Auch in der Neuen Verwaltungsrechtswissenschaft spielen die Gerichtskontrolle, die Vollzugsdogmatik und die Leistungsverwaltung eine wichtige Rolle. Aber sie indizieren nicht mehr die oben
genannte „dogmatischen Normalsituation“.
I.
„Von der gerichtlichen Kontroll- zur administrativen Handlungsperspektive“
Das traditionelle Verwaltungsrecht ist ganz vorrangig an der Kontrolle der Verwaltung,
insbesondere ihrer Kontrolle durch die Gerichte interessiert. Wir haben jedoch bereits
einleitend darauf hingewiesen, dass heute Gesetzgebung und Verwaltung selbst wichtige
Beiträge zur Fortentwicklung des Verwaltungsrechts leisten. Die gerichtliche Kontrolle
ist nach wie vor unbestreitbar wichtig.81 Aber sie ist nicht die einzige Kontrolle, und
Kontrolle ist nicht die einzige Perspektive auf das Verwaltungsrecht. Das gilt auch für
das Europäische Verwaltungsrecht: Man kann es nicht erfassen, wenn man sich nur mit
der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs beschäftig. Vielmehr muss man in
die Amtsblätter und Kommissionsdokumente hineinschauen, um zu erfassen, was sich
verwaltungsrechtlich auf der europäischen Ebene bewegt.
1.
Von der Justizzentriertheit zur umfassenden Kontrolllehre
Die bisherige Ausrichtung kann schon deshalb nicht überzeugen, weil sie zu stark
justizzentriert ist und die Vielfalt der Verwaltungskontrollen nicht erfasst. Die Justizzentriertheit ist problematisch, weil sich der Zuschnitt des gerichtlichen Verfah-
80
81
Voßkuhle, in: GVwR Bd. 1 (Fn. 1), § 1 Rn. 16 ff.
Dazu ausführlich Friedrich Schoch, Gerichtliche Verwaltungskontrollen, in: GVwR Bd. 3 (Fn. 1), § 50.
39
40
rens notwendig auf die gesamte Sichtweise der verwaltungsrechtlichen Dogmatik
überträgt. Der Grundtyp des gerichtlichen Verfahrens ist das Individualrechtsschutzverfahren. In seinem Zentrum steht der einzelne Rechtsschutzsuchende, der
seine individuellen Interessen gegen eine bestimmte Verwaltungsentscheidung verteidigt82. Der größere Zusammenhang, innerhalb dessen die streitige Entscheidung
doch nur ein Element ist, das von voraufgehenden Entscheidungen mitbestimmt
und von parallelen Entscheidungen schwer zu isolieren ist, tritt allenfalls als Hintergrund in Erscheinung83. Das führt zu einer strukturellen Asymmetrie: Der Prozess ist notwendig ausschnitthaft und läßt die Interessenkonstellation nur in einer
ganz bestimmten Perspektive hervortreten. Vieles ist aber bereits vorentschieden,
bevor es sich in Einzelmaßnahmen der Verwaltung umsetzt und in einem gerichtlichen Verfahren erfasst werden kann. Die spät einsetzende Konzentration auf ein
bestimmtes Interesse, eben das Interesse des rechtsschutzsuchenden Klägers, führt
dann wiederum leicht zu einer Überreaktion, die dem Interessenfeld insgesamt
nicht gerecht wird. Manches wird zu detailliert, vieles dagegen gar nicht erfasst.
Was für den Individualrechtsschutz funktionsadäquat ist, kann sich für den Kontrollauftrag nachteilig auswirken.
Der Eigenständigkeit der Verwaltung muss ein darauf abgestimmtes System der
Verwaltungskontrollen entsprechen. „Verantwortung und Kontrolle bilden Grundelemente einer demokratischen Verfassungsordnung“84. Kontrolle hat wie die
Gewaltenteilung insgesamt die Aufgaben der Machtbegrenzung und der Gewährleistung von Rationalität. „Die Kontrolle ist darauf gerichtet, durch Rationalisierung des Entscheidungsprozesses die inhaltliche Sachrichtigkeit der Entscheidung
zu erhöhen“85. Dazu wird ein bestimmter Modus von Kommunikation eingesetzt:
Vorgänge oder Ergebnisse sollen aus einer bestimmten Distanz noch einmal betrachtet werden. Es geht um ein „Gegen-Denken“ und gegebenenfalls auch „Gegen-Gestalten“86. Kontrolle bildet dogmatisch das Widerlager zu den weit ausgreifenden Handlungskompetenzen der Exekutive.
82
83
84
85
86
So zutreffend Andreas Voßkuhle, Rechtsschutz gegen den Richter (Beck, München, 1993), S. 128 für
Gerichtsverfahren allgemein.
Vgl. die Kriterien bei Eberhard Schmidt-Aßmann, Verwaltungsverantwortung und Verwaltungsgerichtsbarkeit,
in: VVDStRL Bd. 34 (1976), S. 221 (237 f.).
Ulrich Scheuner, Verantwortung und Kontrolle in der demokratischen Verfassungsordnung, in: FS für G. Müller
(Mohr Siebeck, Tübingen, 1970), S. 379 (384).
Walter Krebs, Kontrolle in staatlichen Entscheidungsprozessen (C. F. Müller, Heidelberg, 1984), S. 50.
Wolfgang Hoffmann-Riem, Verwaltungskontrolle – Perspektiven, in: Schmidt-Aßmann/Hoffmann-Riem (Hrsg.),
Verwaltungskontrolle (Nomos, Baden-Baden, 2001), S. 325 (343); Eberhard Schmidt-Aßmann, dort S. 9 (10 f.).
40
41
Die deutsche und die spanische Verfassung gehen von einem Zusammenspiel parlamentarischer, gerichtlicher, verwaltungseigener und sonstiger Kontrollen aus87,
ohne ein festes System zugrunde zu legen. Das Zentrum dieses Gefüges bilden die
Gerichte. Hier hat die Kontrolle rechtlich betrachtet ihre höchste Dichte. Wie sich
das Verwaltungshandeln jedoch nicht in der Gesetzessubsumtion erschöpft, sondern auch andere Richtigkeitsmaßstäbe zu beachten hat, so muss auch die Kontrollsystematik breiter entfaltet werden: Wirtschaftlichkeits- und Finanzkontrollen,
Öffentlichkeitskontrollen und die Kontrollen, denen die nationalen Verwaltungen
von Seiten der EU-Kommission unterliegen, haben ebenfalls Bedeutung für ein
umfassendes Recht der Verwaltungskontrollen88. Wichtig ist, dass insgesamt ein
hinreichendes Kontrollniveau (Hill) erreicht wird; ein Kontrollmaximum eines
einzelnen Kontrollmechanismus ist damit nicht gemeint.
Neben der Gerichtskontrolle gibt es einen großen Bestand anderer Verwaltungskontrollen. Problematisch ist nicht ihre zu geringe Zahl, sondern ihre zu geringe
Ordnung. Natürlich läßt sich diese Vielfalt nach äußeren Kriterien gliedern und beschreiben. Solche Darstellungen finden sich seltener im verwaltungsrechtlichen
und eher im verwaltungswissenschaftlichen Schrifttum89. Sie machen Kontrolle
anschaulich und verwehren es, zu schnell von einem (rechtlich) verengten Kontrollbegriff auszugehen. Kontrollen müssen nicht notwendig über eigene Instanzen
oder Verfahren verfügen. Sie können u.U. auch nur ein einzelnes Segment eines
Verwaltungsverfahrens sein. Oft sind sie, wie z.B. die Fach- und die Dienstaufsicht, als Über- und Unterordnungsverhältnisse ausgebildet.90 Doch gibt es auch
kooperative Kontrollrelationen. „Kontrolle und Kooperation sind nicht notwendige
Gegensätze“91. Entscheidend ist, dass eine kontroll-spezifische Distanz gewahrt
bleibt, die personell, organisatorisch oder prozedural sichergestellt werden kann.
2.
Die Ergänzung der Kontroll- durch die Handlungsperspektive
Die geforderte Perspektivenveränderung darf aber nicht dabei stehen bleiben, die
gerichtliche um eine umfassende Kontrolllehre zu ergänzen. Notwendig ist es
vielmehr, das Verwaltungsrecht vorrangig als Handlungsrecht der Verwaltung zu
konzeptualisieren. Gerade wenn wir von einem „Doppelauftrag des Verwaltungs-
87
88
89
90
91
Systematisch dazu Krebs, Kontrolle (Fn. 85), S. 38 ff. und 220 ff.; Helmuth Schulze-Fielitz, Zusammenspiel von
öffentlich-rechtlichen Kontrollen der Verwaltung, in: Verwaltungskontrolle (Fn. 86), S. 291 ff.; Wolfgang Kahl,
Begriff, Funktion und Konzepte von Kontrolle in: GVwR Bd. 3 (Fn. 1), § 47.
Gunnar Folke Schuppert, Verwaltungswissenschaft (Nomos, Baden-Baden, 2000), S. 892 ff.
Vgl. ausführlich Bernd Becker, Öffentliche Verwaltung (Nomos, Baden-Baden, 1989), S. 624 ff., 870 ff.
Dazu Stephanie Schiedermair, Selbstkontrollen der Verwaltung, in: GVwR Bd. 3 (Fn. 1), § 48.
Hoffmann-Riem, Verwaltungskontrolle – Perspektiven, in: Verwaltungskontrolle (Fn. 86), S. 325 (366);
ausführlich Wolfgang Kahl, Die Staatsaufsicht (Mohr Siebeck, Tübingen, 2000), besonders S. 472 ff.
41
42
rechts“ sprechen92, dem es um Disziplinierung und Effektuierung des Verwaltungshandelns geht, dann kommt es darauf an, die Handlungen der Verwaltung
selbst in ihren rechtlichen Bedingtheiten zu erfassen. Die veranlassten Akzentverlagerungen hat Wolfgang Hoffmann-Riem, die Ergebnisse der Reformdiskussion
zusammenfassend, folgendermaßen umrissen:93
-
von der Gerichtsschutzperspektive verstärkt zur Handlungsperspektive des
Rechts (hier: Betrachtung der Rechtsnormen aus der Verwaltungsperspektive
als Handlungsnormen);
-
von der Fokussierung auf rechtliche Bindungen (insbesondere Grenzsetzungen)
hin zur Ausweitung rechtlich anerkannter Handlungsmaßstäbe unter Berücksichtigung auch des nur rechtlich dirigierten, aber durch weitere rechtliche präskriptive Orientierungen geprägten administrativen Handelns;
-
von einem vorrangigen Verständnis der Rechtswissenschaft als TextInterpretationswissenschaft zu dem einer problemlösungsorientierten Handlungs- und Entscheidungswissenschaft;
-
von der Konzentration der Betrachtung auf den Rechtsakt zur Ausrichtung auf
das problem- und wirkungsorientierte sowie prozessbezogene rechtsgeprägte
Verhalten der Verwaltung;
92
93
-
von einem Verständnis des Gesetzes als Grenze staatlichen Handelns hin zur
Erweiterung zu dem eines Mittels normativer Qualitäts-Gewährleistung;
-
von der primär darstellungsorientierten zu einer auch herstellungsorientierten
Sicht auf Verwaltung;
-
von einem auf Legalität zentrierten Legitimationskonzept hin zur Berücksichtigung einer Pluralität von normativen Legitimationsbausteinen;
-
von der Konzentration rechtswissenschaftlicher Analyse auf eine hierarchisch
ausgerichtete Aufgabenerfüllung zur vermehrten Berücksichtigung dezentraler,
mehr oder minder autonomer Aufgabenwahrnehmung und der Einrichtung von
Formen regulierter Selbstregulierung;
Schmidt-Aßmann, Ordnungsidee (Fn. 15), 1. Kap., Tz. 30 ff.; von der Pfordten (Fn. 32), in: JZ 2005, S. 1077.
Wolfgang Hoffmann-Riem, Die Eigenständigkeit der Verwaltung, in: GVwR Bd. 1 (Fn. 3), § 10 Rn. 15.
42
43
-
von der Beschäftigung mit dem nationalen Recht zur Öffnung für die europäische Integration und den Prozess der Globalisierung.
Die „von – zu“-Formel meint nicht, dass die bisherigen Ausgangpunkte künftig
keine Bedeutung mehr haben. Vielmehr geht es darum, Perspektivenerweiterungen
anzuzeigen. Stärker als bisher ist das Verwaltungsrecht auf die Maßstäbe des Verwaltungshandelns auszurichten. Die bisher oft praktizierte „Symmetrie“ von Handlungs- und Kontrollmaßstäben, die die unterschiedlichen Entscheidungssituationen
von Handlung und Kontrolle verkannte, ist überholt. Eine „Maßstablehre“ muss
sich mit den „Handlungsorientierungen“ der Verwaltung beschäftigen.94
Die Maßstäbe haben unterschiedliche rechtliche Substanz. Manche sind im vollen
Sinne als Rechtsmaßstäbe anerkannt, z.B. das Willkürverbot, die Rechtssicherheit
und die Verhältnismäßigkeit. Andere enthalten neben rechtlichen auch andere Bestandteile, z.B. die Maßstäbe der Sparsamkeit und Wirtschaftlichkeit. Wieder andere, wie Akzeptanz, Transparenz und Innovationsfähigkeit sind juristisch schwer
greifbar, gleichwohl aber für das Verwaltungshandeln wichtig. Die verwaltungsrechtlichte Systematik kann diese Maßstäbe nicht alle entfalten. Verlangt sind
vielmehr auch Kenntnisse der Verwaltungsökonomie und der Organisationssoziologie. Aber das Verwaltungsrecht kann Verfahren entwickeln, die diese Maßstäbe
zur Entfaltung bringen, gegenseitige Ergänzungen ermöglichen und die erforderlichen Lernprozesse innerhalb der Verwaltung ermöglichen.95
3. Die Frage nach „Regulierungsstrategien“
Wenn das Verwaltungsrecht die Aufgabe hat, das Handeln der Verwaltung anzuleiten, dann muss es sich mit den unterschiedlichen Arten dieses Handelns beschäftigen. Traditionell wird z. B. von ordnender, leistender, lenkender und planender
Verwaltung gesprochen. In der jüngeren verwaltungsrechtlichen Diskussion spielt
der Begriff der „Regulierungsstrategien“ eine wichtige Rolle. Der Begriff der „Regulierung“ wird hier in einem weiten Sinne gebraucht, wie er in der Politik- und
Verwaltungswissenschaft üblich ist. Er bedeutet staatliche Einflussnahme auf den
gesellschaftlichen Bereich, ist also mit dem Begriff der „Steuerung“ verwandt.96
Martin Eifert hat drei Regulierungsstrategien herausgearbeitet, die für das Verwaltungsrecht wichtig sind:97
94
95
96
97
Dazu Schmidt-Aßmann, Ordnungsidee (Fn. 15), 6. Kap., Tz. 57 ff.
Dazu umfassend Rainer Pitschas, Maßstäbe des Verwaltungshandelns, in: GVwR Bd. 2 (Fn. 1), § 42.
Davon zu unterscheiden ist der Begriff der Regulierung im engeren Sinne, der die staatliche Steuerung speziell
der Bereiche Telekommunikation, Eisenbahnen, Elektrizität, Gas und Wasser (sogenannte „Netzwirtschaften“)
bezeichnet; dazu unten unter III.
Martin Eifert, Regulierungsstrategien, in: GVwR Bd. 1 (Fn. 1), § 19 im Anschluss an Wolfgang Hoffmann-Riem,
in: Wolfgang Hoffmann-Riem/Eberhard Schmidt-Aßmann (Hrsg.), Öffentliches Recht und Privatrecht als
43
44
-
Hoheitliche Regulierung, die in Form der ordnenden, aber auch der leistenden
Verwaltung vorkommen kann. Wichtig ist, dass die Verwaltung hier die erforderlichen Steuerungsleistungen selbst hervorbringt.
-
Hoheitlich regulierte gesellschaftliche Selbstregulierung, die eine Kombination öffentlicher und privater Handlungsrationalitäten darstellt.
-
Gesellschaftliche Selbstregulierung. Sie ist ganz vorrangig ein Thema des
Privatrechts. Das staatliche Recht hat hier eine „Bereitstellungsfunktion“
(Schuppert). Die gesellschaftliche Ordnungsbildung vollzieht sich in seinem
Rahmen und unter Nutzung der Rechtsinstitute des Vertrages und der privatrechtlichen Organisationsformen, z. B. des Vereins und der Aktiengesellschaft.
Die Analyse der Regulierungsstrategien erleichtert es, die in den Gesetzen vorkommenden Regelungen als Instrumente zu verstehen und das Zusammenspiel
dieser Instrumente zu beobachten und gegebenenfalls zu optimieren. Das sind zum
einen Aufgaben der Gesetzgebung und der wissenschaftlichen Beratung der Gesetzgebung. Es sind, soweit ein Ermessen besteht, aber auch Aufgaben der Verwaltung, die sich mit der Wahl der Instrumente („regulatory choice“) beschäftigen
muss.98 Zugleich schärft die Analyse den Blick für die Bedeutung der Grundrechte: Die privaten Akteure bleiben auch dort, wo sie in Arrangements der regulierten
Selbstregulierung eingebunden sind, Träger von Grundrechten. Die fundamentale
Unterscheidung von staatlicher Kompetenzbindung einerseits und privater Grundrechtsberechtigung andererseits darf nicht überspielt werden. Die Chancen und die
Gefahren des „kooperativen Staates“ werden auf diese Weise im Verwaltungsrecht reflektiert.
II.
„Von der Vollzugsdogmatik zur gesetzesdirigierten Verwaltung“
Die unter I herausgearbeiteten Entwicklungen lassen sich auch am Begriff der „gesetzesdirigierten Verwaltung“ verdeutlichen. Wir sprechen von „gesetzes“-dirigiert, um auf
den eingeführten Begriff der „Gesetzmäßigkeit“ in der Verwaltung Bezug zu nehmen.
Dabei geht es in der Sache nicht nur um die Bindungen an das parlamentarische Gesetz
sondern auch an europäische und internationale Normen und auch an die Bindung an
das selbstgesetzte Recht der Exekutive.
98
wechselseitige Auffangordnungen (Nomos, Baden-Baden, 1996), S. 361 (300 ff.), abgedruckt auch in HoffmannRiem, Offene Rechtswissenschaft (Fn. 79), S. 871 (903 ff.).
Dazu Eifert, in GVwR Bd. 1 § 19 Rn. 153 ff.
44
45
1.
Traditionell: Gesetzmäßigkeit als Gesetzesvollzug
Vereinfachend lassen sich die Kernelemente des traditionellen Verständnisses der
Gesetzmäßigkeit in der Verwaltung folgendermaßen umreißen:
-
Die Gesetzesbindung wird durch Gesetzestatbestand ausgedrückt.
-
Der Tatbestand erscheint als Summe von Gesetzesbegriffen, aufgeteilt auf Tatbestandsvoraussetzungen und Rechtsfolge, verbunden durch die Rechtsfolgebestimmung („muss“/„kann“).
-
Der Tatbestand wird nach der Methode des juristischen Drei-Schritts „angewendet“: Auslegung, Tatsachenfeststellung, Subsumtion.
.
Zusammenfassend: Dieses einfache Vollzugsmodell erfasste zwar nie die Realität
der Gesetzesanwendung; aber es wirkt nach wie vor einprägsam. Für einfache Situationen kann es trotz seiner Schwächen nach wie vor als Ausgangspunkt genommen werden. Zudem hat es einen „edukatorischen“ Sinn, indem es jeden Verwaltungsbeamten darauf hinweist, dass er nicht sogleich zu freier Gestaltung
schreiten sondern sich zunächst um die verbindlichen Vorgaben kümmern muss.
2.
Notwendig: Komplexes Rechtsanwendungsmodell
Im Grunde aber muss ein modernes Verwaltungsrecht von einem komplexeren
Rechtsanwendungsmodell ausgehen, denn die Tatbestandstypen sind vielfältig:
99
100
101
-
offene Gesetzesbegriffe und offene Tatbestandsstrukturen,99
-
Abwägungsklauseln im Planungsrecht,100
-
Zieldirektiven, z.B. im Regulierungsrecht,101
Als Beispiel § 14 Abs. 1 des Bundespolizeigesetzes: „Die Bundespolizei kann zur Erfüllung ihrer Aufgaben nach
den §§ 1 bis 7 die notwendigen Maßnahmen treffen, um eine Gefahr abzuwehren, soweit nicht dieses Gesetz die
Befugnisse der Bundespolizei besonders regelt“. In Absatz 2 heißt es: „Gefahr im Sinne dieses Abschnitts ist eine
im Einzelfall bestehende Gefahr für die öffentliche Sicherheit oder Ordnung im Bereich der Aufgaben, die der
Bundespolizei nach den §§ 1 bis 7 obliegen“.
Als Beispiel § 1 Abs. 7 des Baugesetzbuches: „Bei der Aufstellung der Bauleitpläne sind die öffentlichen und
privaten Belange gegeneinander und untereinander gerecht abzuwägen“.
Als Beispiel § 1 Abs. 2 des Energiewirtschaftsgesetzes: „Die Regulierung der Elektrizitäts- und
Gasversorgungsnetze den Zielen der Sicherstellung eines wirksamen und unverfälschten Wettbewerbs bei der
45
46
-
Einschätzungsermächtigungen, z.B. im Umwelt- und Technikrecht.102
Die von der Verfassung geforderte Lehre von der administrativen Rechtskonkretisierung muss hinreichend differenziert sein, um den unterschiedlichen Tatbeständen und der jeweiligen Entscheidungssituation der Verwaltung gerecht zu werden103. Dass das reine Subsumtionsmodell zwar nach wie vor eine wichtige Rolle
spielt, allein aber nicht genügt, wird durch das Fachrecht ebenso wie durch die
Verwaltungspraxis belegt. Die verhandelnde Verwaltung sieht sich einer anderen
Situation gegenüber als die befehlende Verwaltung. Ob die regelmäßig für den imperativen Vollzug vorgesehenen Rechtsvorschriften für die vertragliche Gestaltung
dieselbe Aussage treffen, ist gesondert zu prüfen. Auf der anderen Seite ist und
bleibt die verwaltungsrechtliche Gesetzesanwendungslehre eine juristische Rekonstruktion des Umgangs der Verwaltung mit Gesetz und Recht. Sie hat die tatsächliche Lage nicht einfach nachzuzeichnen, sondern verfolgt eigene normative Aufgaben.
a)
Arbeit am Normtext
Die Arbeit am Normtext ist diejenige Aufgabe, die in jedem Fall, d.h. sowohl
bei den sog. gebundenen als auch bei den ermessensbestimmten Entscheidungen zu leisten ist; denn auch das Ermessen bewegt sich auf normativer Basis
und in normativem Rahmen. Zu ihr gehören die Interpretation des Gesetzestextes nach Maßgabe der Methodenlehre, die Feststellung des Sachverhalts
nach Maßgabe des Beweisrechts und die Subsumtion unter Einschluss rechtsgebundener Abwägungen. Besonders zu achten ist dabei auf folgende Punkte104:
102
103
104
-
die Zusammenstellung des gesetzlichen Bindungsprogramms aus den unterschiedlichen Normschichten und den einschlägigen speziellen und generellen Gesetzestatbeständen;
-
die Erfassung der unterschiedlichen Steuerungsmodi des Gesetzes als Programm, Verfahrens- oder Kontextsteuerung und eventuell bestehender
Komplementaritäten (vielfach, aber nicht stets als systematische Gesetzesauslegung wirksam);
Versorgung mit Elektrizität und Gas und der Sicherung eines langfristig angelegten leistungsfähigen und
zuverlässigen Betriebs von Energieversorgungsnetzen“.
Als Beispiel der Begriff der „erforderlichen Vorsorge“ im Immissionsschutzrecht.
So auch Hans-Heinrich Trute, Methodik der Herstellung und Darstellung verwaltungsrechtlicher
Entscheidungen, in: Schmidt-Aßmann/Hoffmann-Riem (Hrsg.), Methoden der Verwaltungsrechtswissenschaft
(Nomos, Baden-Baden, 2004), S. 293 (303).
Vgl. Eberhard Schmidt-Aßmann, Zur Gesetzesbindung der verhandelnden Verwaltung, in: FS für Brohm (Beck,
München, 2002), S. 547 (549 ff.).
46
47
-
die Erfassung der unterschiedlichen Normstrukturen im Blick auf offene
oder verdeckte Ermessenstatbestände, ihre Grundlagen, Zwecke und
Grenzziehungen.
Die Arbeit am Normtext ist nicht einfach das Nachzeichnen gesetzgeberischer
Vorentscheidungen. Sie kann dem Rechtsanwender schwierige Rechtsgüterabwägungen abverlangen, die erhebliche dezisionistische Momente umgreifen.
Aber sie muss sich als methodenbestimmtes Arbeiten i.S. der juristischen Methodik ausweisen können. Schon in diesem Rahmen ist es nicht ausgeschlossen, dass z.B. auch Kriterien ökonomischer Effizienz Bedeutung erlangen.105
Neues Steuerungsmodell und Gesetzesanwendung schließen sich schon auf
dieser Ebene nicht aus, insoweit die Effizienz rechtlich rezipiert ist. Ziele einer
Leistungsvereinbarung können z.B. in einem bestimmten Gesetzestatbestand
unter den Begriff des öffentlichen Interesses gefasst werden.
b)
Umgang mit Ermessensdirektiven
Auch der administrative Umgang mit den Ermessenskriterien, die „Ausübung
des Verwaltungsermessens“, ist Rechtskonkretisierung106. Aber er ist es auf
eine besondere Art. Im juristischen Aussagenzusammenhang ist das Verwaltungsermessen die Chiffre für eine besondere, eigenständige Form gesetzesdirigierten Abwägens. Der Begriff bezeichnet also die rechtliche Struktur der darunterliegenden, regelmäßig sehr viel breiteren administrativen Handlungsmuster. Auch das Ermessen ist folglich ein Rechtsbegriff und nicht einfach die
Bezeichnung für freie politische Gestaltung. Seine rechtliche Struktur ist prozedural im Sinne eines „inneren Verfahrens“ (Hill) geprägt. Den Umgang mit
den Ermessenskriterien als juristische Handlungsanleitung für die Verwaltung
hat Michael Gerhardt folgendermaßen umschrieben107: „Der nicht näher ableitungsbedürftigen Grundforderung des Rechtsstaats nach Rationalität (intersubjektiver Nachvollziehbarkeit) staatlicher Machtausübung entsprechend steht
die behördliche Entscheidung unter einem dreifachen Handlungsgebot:
-
105
106
107
Die Entscheidungsfindung ist zu strukturieren und damit transparent zu
machen; das anhand des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes entwickelte planungsrechtliche Abwägungsgebot steht dafür modellhaft zur Verfügung.
Als Beispiel die §§ 30 ff. des Telekommunikationsgesetzes, der die Regulierungsbehörden zur
Entgeltgenehmigung von Telekommunikationsdienstleistungen ermächtigt und dabei auch Regelungen über den
zulässigen Ansatz bestimmter Betriebskosten treffen.
Dazu Schmidt-Aßmann, Ordnungsidee (Fn. 6), 4. Kap., Tz. 46 ff.
Michael Gerhardt, in: Schoch/Schmidt-Aßmann/Pietzner (Hrsg.), Verwaltungsgerichtsordnung (Beck, München), § 114 Rn. 5.
47
48
-
Ermittlungen, Abschätzungen und Wahrscheinlichkeitsurteile über künftige
Entwicklungen haben soweit wie möglich realitätsbezogen zu sein. Ungewissheiten sind durch entsprechende Methoden zu minimieren oder, soweit
unausräumbar, als solche in die Abwägung aufzunehmen.
-
Die Behörde hat bei ihren Gewichtungen und Abwägungen einerseits die
normativen Vorgaben (Direktiven) zu beachten, wobei dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz als (materiellem) Grundgesetz rechtsstaatlichen Abwägens zentrale Bedeutung zukommt. Sie ist aber andererseits von Gesetzes
wegen vor allem auch dazu verpflichtet, die mit der Zuweisung einer Aufgabe zur Wahrnehmung in Letztverantwortung – meist stillschweigend –
verbundenen ‘außerrechtlichen’ Richtigkeitskriterien anzuwenden und in
Entscheidungen umzusetzen, also den Einzelfall zweckmäßig und gerecht
zu regeln (allgemeines Verwaltungsermessen), Vor- und Nachteile einer
Anlage der Infrastruktur gestalterisch zu optimieren (Planungsermessen)
oder fachliche Bewertungen nach bestmöglichem Wissen zu treffen (Beurteilungsermächtigungen).“
Alle diese Begriffe wollen auf typische Entscheidungssituationen aufmerksam machen und deren Sachanforderungen in das Rationalitätsmuster der administrativen
Abwägung einarbeiten, die die Grundstruktur des Ermessens ausmacht. Dabei geht
es weder vorrangig noch notwendig um die Schaffung neuer gerichtlicher Kontrollmaßstäbe, sondern primär um die Formulierung administrativer Verhaltensregeln. Zu ihrer Entwicklung ist auf Erfahrungssätze und eingeführte Handlungspraxen, wie sie in den Handbüchern zu den jeweiligen Sachaufgaben dargestellt sind,
eher zurückzugreifen als auf prozessrechtliche Dogmen. Die Ermessenslehre verweist in diesem Teil auf die administrative Maßstabslehre.108
III.
Vom Erfüllungs- zum Gewährleistungsverwaltungsrecht
Dieser Perspektivenwechsel nimmt Überlegungen der Verwaltungstypenlehre auf.109
Das Verwaltungsrecht muss sich nicht nur für solche Vorgänge interessieren, in denen
die Verwaltung selbst mit eigenem Personal und Diensten die erforderlichen Ordnungsund Leistungsaufgaben erfüllt. Es hat vielmehr auch für solche Vorgänge und Arrangements die notwendigen Rechtsregeln, Rechtsinstitute und Verfahren zu entwickeln, in
denen die Verwaltung sich darauf beschränkt, beschränken kann oder beschränken
muss, die Funktionsfähigkeit gesellschaftlicher Aufgabenerfüllung zu sichern und zu garantieren. Das ist schon oben unter dem Begriff der „Regulierungsstrategien“ gesagt
108
109
Dazu Pitschas, Maßstäbe des Verwaltungshandelns, in: GVwR Bd. 2 (Fn. 1), § 42.
Dazu Schmidt-Aßmann, Ordnungsidee (Fn. 15), 3. Kap., Tz. 98 ff.
48
49
worden (unter I 3). Oft sind solche Situationen Folgen vollzogener Privatisierungen. Es
gibt aber auch umgekehrt Fälle, in denen sich eine ursprünglich rein gesellschaftliche
Erfüllung als ungenügend erweist und nach behördlicher Regelung und Abstützung,
kurz: nach einer teilweisen Publifizierung verlangt.
1.
Gewährleistungsverantwortung
Die hier fortlaufenden Verschiebungen im staatlich-gesellschaftlichen Zusammenspiel
mit ihren verwaltungsrechtlichen Konsequenzen haben die Reformdiskussion von Anfang an beschäftigt. Die „Zuordnung von Verantwortungsbereichen“ ist seither ein
wichtiges Thema.110
Eine besondere Karriere hat der Begriff der Gewährleistungsverantwortung gemacht111:
Gewährleistungsverantwortung wird wirksam, wenn die Exekutive – regelmäßig im
Rahmen gesetzlicher Vorgaben – darauf hinwirkt, dass öffentliche Aufgaben von Privaten gemeinwohlförderlich wahrgenommen werden.
Die Gewährleistungsverantwortung ist der Ausgangspunkt für eine breite Palette administrativer Aktivitäten, die darauf zielen, privatautonomes und privatwirtschaftliches
Handeln auch für die Förderung öffentlicher Zwecke zu nutzen112:
-
Oft genügt es dazu, dass Interessen der Eigenüberwachung als Anknüpfungspunkt
genommen und durch eine hinzutretende staatliche Aufsicht verstetigt werden
(Überwachungsverantwortung). Beispiele bieten die Banken- und Versicherungsaufsicht sowie die deregulierte Bauaufsicht. Auch das Umweltmanagement nach der
VO (EU) Nr. 1221/2009 und das Zusammenspiel von Zertifizierung und Akkreditierung gehören hierher.
-
In anderen Fällen werden private Unternehmen über ihren autonom bestimmten Tätigkeitsbereich hinaus mit öffentlich veranlassten Zusatzaufgaben betraut. Besonders
deutlich wird das bei der Auferlegung von Universaldienstleistungen im Telekommunikations- und Postrecht. Nicht selten drückt sich Gewährleistungsverantwortung
auch in der Schaffung gemeinsamer Einrichtungen oder im Abschluss von Kooperationsverträgen aus, in denen sich die Verwaltung besondere Direktionsrechte vorbehält.
110
111
112
Schmidt-Aßmann, Zur Reform des Allgemeinen Verwaltungsrechts – Reformbedarf und Reformansätze, in:
Reform des Allgemeinen Verwaltungsrechts (Fn. 30), S. 11 (43 f.); Helmuth Schulze-Fielitz, Grundmodi der
Aufgabenwahrnehmung, in: GVwR Bd. 1 (Fn. 1), § 12 besonders Rn. 148 ff.
Zum folgenden systematisch grundlegend Voßkuhle (Fn. 72), VVDStRL Bd. 62 (2003), S. 226 ff.; ferner
Wolfgang Weiß, Beteiligung Privater an der Wahrnehmung öffentlicher Aufgaben und staatliche Verantwortung,
DVBl. 2002 (Heymanns, Köln), S. 1167 ff.
Vgl. Schuppert, Verwaltungswissenschaft (Fn. 88), S. 406 ff. und 898 ff.
49
50
Die Vielfalt von Aktivitäten, in der Gewährleistungsverantwortung wahrgenommen
wird, rechtfertigt es, Gewährleistungsverwaltung als eigenen Verwaltungstyp zu behandeln. Sie steht neben der ordnenden und der leistenden Verwaltung. In vielen Punkten
gibt es Gemeinsamkeiten mit der lenkenden Verwaltung, insofern es auch die Gewährleistungsverwaltung regelmäßig mit mehrpoligen Interessenkonstellationen, mit Grundrechten als Abwehr- und als Schutzrechten, mit Fragen des Drittschutzes und komplexen Verwaltungsentscheidungen zu tun hat. Entscheidend aber ist für die Gewährleistungsverwaltung, dass es ihr um eine gemeinsame Gemeinwohlkonkretisierung mit Privaten geht. Private Initiativen und private Rationalitätskriterien werden nicht durch ein
von der Verwaltung bestimmtes Gemeinwohl überformt und damit „etatisiert“. Vielmehr bleiben sie in ihrer eigenen Dynamik erhalten. „Soll die hierzu angestrebte Parallelschaltung von privaten und öffentlichen Interessen dauerhaft gelingen, müssen die
Funktionsfähigkeit von Staat und Gesellschaft und die Eigenrationalität beider Subsysteme erhalten bleiben“113. Die Grundlinie einer Gewährleistungsverwaltung läßt sich
durch folgende vier Punkte bestimmen:
-
Erhalt der Eigenrationalität beider Subsysteme, d.h. einerseits der staatlichen Neutralität und andererseits der gesellschaftlichen Spontanität.
-
Erhalt der Flexibilität gegenüber einmal getroffenen gemeinsamen Arrangements.
-
Notwendigkeit der fortgesetzten Selbstbeobachtung in beiden Teilsystemen, die mit
einer Tendenz zur Publizität verbunden ist.
-
Strukturbildung mit Hilfe staatlicher Gesetze, die dem Regelungszusammenhang
Zielvorgaben und Rahmen bieten, ihn aber nicht zementieren.
2. Gewährleistungsverwaltungsrecht, insbesondere: Regulierungsverwaltungsrecht
Das Gewährleistungsverwaltungsrecht muss die große Zahl positiv-rechtlicher Ansätze,
die sich im Fachrecht bereits finden, zu Rechtsinstituten ausformen. Das Verwaltungsrecht wird auch künftig ein Recht der ordnenden, leistenden, lenkenden, planenden
Verwaltung sein. Aber es wird auch ein Recht der Gewährleistungsverwaltung sein
müssen!
Die Grundzüge eines solchen Rechts sind systematisch von Andreas Voßkuhle entwickelt worden114: Ein solches Recht wird im Rahmen finaler und strukturgebender Geset113
114
Voßkuhle (Fn. 72), VVDStRL Bd. 62 (2003), S. 266 (307).
Zusammenfassend in: VVDStRL Bd. 62 (2003), S. 266 (310 ff.)
50
51
zesvorgaben vor allem auf verfahrens- und organisationsrechtliche Arrangements setzen
müssen. Es wird nicht nur öffentliches Recht sein, sondern privatrechtliche Gestaltungsmittel einzubeziehen und mit dem Gedanken funktionaler Äquivalente zu arbeiten
haben. Als Regelungsaufträge der Dogmatik lassen sich nennen:
- die Ausformung von Instrumenten der Qualitäts- und Ergebnissicherung privater Leistungserbringung,
- Verfahren zur Qualifikation und Auswahl privater Kooperationspartner,
- Drittschutz für Konkurrenten, Nutzer und Verbraucher,
- Mechanismen zur Gewährleistung notwendiger Evaluationen und Lernbereitschaft,
- effektive staatliche Rückholoptionen.
Ein wichtiger Teil des Gewährleistungsverwaltungsrechts ist das Regulierungsverwaltungsrecht. Hier wird der Begriff der Regulierung in einem engeren Sinne benutzt (vgl.
oben unter I 3). Er bezeichnet die Steuerung der sogenannten Netzwirtschaften und vergleichbar strukturierter Märkte.115 Das sind meistens Bereiche, die aus vollständigen oder jedenfalls partiellen Privatisierungen früherer Staatsunternehmen (Bahn, Post) hervorgegangen sind. Das erste Ziel dieser Aktionen war es, einen funktionsfähigen Wettbewerb herzustellen. Zugleich aber musste sichergestellt werden, dass die in diesem
Markt tätigen privaten Unternehmen eine entsprechende Infrastruktur dauerhaft unterhalten und flächendeckend eine ausreichende Versorgung mit den entsprechenden
Dienstleistungen anbieten. Das verlangt ein spezielles verwaltungsrechtliches Instrumentarium: die Befugnis zur Genehmigung von Tarifen, die öffentliche Ausschreibung
von Universaldiensten, die Gestaltung der Marktstrukturen durch ein gesetzlich nur final
gesteuertes Regulierungsermessen, dessen Ausübung in der Hand besonderer Regulierungsbehörden liegt.116 Das Regulierungsverwaltungsrecht ist heute – ähnlich wie früher
schon das Raumplanungsrecht – als ein „Gebiet mittlerer Abstraktionshöhe“ ein wichtiges Referenzgebiet für die Systembildung des Allgemeinen Verwaltungsrechts.
3.
Die Floskel von der „Rückkehr des Staates“
Gegenwärtig ist zu beobachten, dass manche geplante Privatisierung nicht vollzogen
wird oder schon vollzogene Privatisierungen rückgängig gemacht werden. Liegt darin
115
116
Dazu die Beiträge in: Michael Fehling/Matthias Ruffert (Hrsg.), Regulierungsrecht (Beck, München, 2010).; vgl.
auch Ferdinand Wollenschläger, Verteilungsverfahren (Mohr Siebeck, Tübingen, 2010).
Michael Potacs und Jens Kersten, Herstellung von Wettbewerb als Verwaltungsaufgabe, in: VVdStRL Bd. 69
(2010), S. 254 ff. und 288 ff.
51
52
nicht eine Rückkehr zur „guten alten“ Daseinsvorsorge und zur vollen „Erfüllungsverantwortung“ des Staates statt einer bloßen Gewährleistungsverantwortung? Mehr noch:
Hat nicht die Finanzkrise gezeigt, wie wichtig der Staat als Akteur ist? In der Politikwissenschaft macht das Wort von der „Rückkehr des Staates“ die Runde. Der schnelle
Paradigmenwechsel ist jedoch nicht die Aufgabe des Verwaltungsrechts und der Verwaltungsrechtswissenschaft. Im Verwaltungsrecht ist der Staat nie verabschiedet worden. Folglich muss er jetzt auch nicht wieder entdeckt werden. Die „Zuordnung von
Verantwortungsbereichen“ und die „Regulierungsstrategien“ sind geeignete Themen,
um Änderungen im Kräfteverhältnis zwischen Staat und Gesellschaft, Verwaltung und
Markt zu reflektieren. Gerade das Gewährleistungsverwaltungsrecht ist ein Gebiet, in
dem stets auch der hoheitlich handelnde Staat mit seinen klassischen Handlungsformen
wie dem Verwaltungsakt präsent ist. Trotzdem liegt darin keine Rückkehr zum alten Etatismus. Die Vorstellung von der einseitigen Regelungshoheit des Staates verkennt,
dass staatliche Stellen schon das erforderliche Steuerungswissen nur in Kooperation mit
der Gesellschaft erlangen können. Hinzu kommt ein zweiter Gesichtspunkt: Gerade die
Finanzkrise hat gezeigt, dass der einzelne Staat nur im Zusammenwirken mit anderen
Staaten etwas ausrichten kann.
52
53
4. Abschnitt: Die Entwicklung des Europäischen Verwaltungsrechts und des Internationalen Verwaltungsrechts
Zur Reformdiskussion gehörte von Anfang an die Bereitschaft, die europäischen Entwicklungen auf dem Gebiete des Verwaltungsrechts zu beobachten und an ihrer rechtsstaatlichen Formung mitzuwirken. Zunächst standen die Einwirkungen des EG-Rechts auf das nationale Verwaltungsrecht im Vordergrund. Mehr und mehr zeigte sich jedoch, dass es wichtig ist, auch die
Änderungen der Verwaltungsstrukturen in den Blick zu nehmen.117 Heute ist unter dem Dach
der Europäischen Union aus engen Verflechtungsbeziehungen zwischen unionseigenen und
mitgliedstaatlichen Verwaltungen von einem Europäischen Verwaltungsverbund auszugehen
(I). Das für diesen Verbund einschlägige Verwaltungsrecht, das Europäische Verwaltungsrecht,
ist bisher eine unübersichtliche Materie aus EU-Recht und mitgliedstaatlichem Recht, das die
typischen Verbundprobleme noch nicht richtig erfasst. Um das Europäische Verwaltungsrecht
systematisch zu entwickeln, sollte der aus dem nationalen Recht vertraute Gedanke der Konstitutionalisierung genutzt werden (II).
I.
Die Europäische Verwaltung als Informations-, Handlungs- und Kontrollverbund
Die Europäische Union und ihre Vorgängerinnen sind zu keiner Zeit nur Wirtschaftsgemeinschaften, sie sind vielmehr stets auch Verwaltungsgemeinschaften gewesen. Eine
Zollunion und eine Agrarmarktordnung, wie sie schon in den Römischen Verträgen von
1957 angelegt waren, lassen sich nur mit erheblichem administrativen Aufwand verwirklichen. Trotzdem ist dieser Befund lange Zeit entweder unbeachtet geblieben oder
aber als Beherrschung durch eine zentralistische „Mammutbehörde“ perhorresziert worden. Beides ist verfehlt: Der Personalbestand der der Kommission zugeordneten Dienststellen ist seit Jahren nicht wesentlich größer geworden und erst durch die Osterweiterung wieder nennenswert gewachsen. Mit etwa 30.000 Bediensteten wird in Brüssel ein
großer und differenzierter Bestand an Aufgaben in einer Weise erfüllt, die manche deutsche oder spanische Behörde mit weit mehr Beschäftigten in den Schatten stellt.
Mit Hierarchievorstellungen läßt sich die Europäische Verwaltung nicht erfassen. Vielmehr geht es bei ihr um ein Gefüge europäischer und mitgliedstaatlicher Verwaltungen,
die in differenzierter, aber zunehmend intensiver Weise zusammenarbeiten und zusammenhängen. Es ist also von einem die Unionsinstanzen und die mitgliedstaatlichen
117
Eberhard Schmidt-Aßmann/Wolfgang Hoffmann-Riem (Hrsg.), Strukturen des Europäischen Verwaltungsrechts,
( Duncker und Humblot Berlin, 1999); aus jüngerer Zeit die um fassende Darstellung der Verwaltungsstrukturen
und ihres Rechts bei Jörg Terhechte (Hrsg.), Verwaltungsrecht der Europäischen Union (Nomos, Baden-Baden,
2011).
53
54
Verwaltungen umgreifenden funktionalen Verwaltungsbegriff auszugehen, der einen Informations-, Handlungs- und Kontrollverbund beider Ebenen bezeichnet.118
1.
Die nationalen Verwaltungen als Basis
Die Basis des Europäischen Verbundes bilden die nationalen Verwaltungen. Sie
erfüllen die meisten Verwaltungsaufgaben und erledigen die bei weitem meisten
Verwaltungsvorgänge. Der Vollzug des nationalen Rechts obliegt ihnen allein.
Auch der Vollzug des Unionsrechts ist zum weitaus größten Teil den nationalen
Verwaltungen anvertraut. Unionseigene Verwaltungsinstanzen sind die Ausnahmen. Die weitaus meisten Vollzugsfälle werden von den mitgliedstaatlichen Exekutiven erledigt. Das ist ein Realbefund und zugleich die durch Art. 291 Abs. 1
AEUV festgelegte Rechtsregel: Das Verwaltungskonzept der Union beruht organisatorisch auf dem Vorrang einer dezentralen (mitgliedstaatlichen) Aufgabenwahrnehmung.
2.
Die Verwaltungsinstanzen der EU
Auf der EU-Ebene liegt das Schwergewicht der Verwaltungsaufgaben bei der
Kommission. Der administrative Zuschnitt ihrer Aufgaben ist in Art. 17 Abs. 1
Satz 5 EUV heute ausdrücklich anerkannt. Der kollegial verfassten Kommission
steht zur Vorbereitung und zur Durchführung ihrer Aufgaben eine Verwaltung zur
Verfügung, die in Generaldirektionen, Direktionen und Referate gegliedert ist und
als Einheit agieren soll.
Der hohe Zentralisierungsgrad ist nach und nach allerdings durch die Schaffung
weiterer Ämter und Agenturen relativiert worden. Teilweise handelt es sich dabei
um Einrichtungen, die der Kommission im strengen Sinne nachgeordnet sind. Das
gilt vor allem für die mit Aufgaben des Haushaltsvollzuges betrauten Exekutivagenturen. Die wichtigeren Einheiten folgen dagegen dem Modell unabhängiger
Ämter. In ihren Leitungsorganen übertreffen die Vertreter mitgliedstaatlicher Verwaltungen regelmäßig diejenigen der Kommission an Zahl. Gerade in den letzten
Jahren hat eine Welle von Gründungen solcher Einrichtungen, die als Regulierungsagenturen bezeichnet werden, die Entwicklung eines ausdifferenzierten Verwaltungsgefüges auf EU-Ebene verstärkt: Agenturen für Lebensmittelsicherheit,
die Sicherheit des Seeverkehrs und der Flugsicherheit, ferner eine ChemikalienAgentur, eine Agentur zur Koordinierung der Energieregulierung und als jüngste
118
Eberhard Schmidt-Aßmann/Bettina Schöndorf-Haubold (Hrsg.), Der Europäische Verwaltungsverbund, (Mohr
Siebeck, Tübingen, 2005); um zahlreiche Beiträge erweitert jetzt Oswald Jansen and Bettina Schöndorf-Haubold
(eds), The European Composite Administration (Intersentia Cambridge, Antwerp, Portland, 2011), Wolfgang
Weiß, Der Europäische Verwaltungsverbund (Duncker und Humblot, Berlin, 2011).
54
55
Gründungen drei Agenturen zur Regulierung der Finanzmärkte, darunter eine
Agentur der Bankenaufsicht. In einigen Fällen handelt es sich um Ämter mit eigenen außenwirksamen Entscheidungsbefugnissen. Die meisten der neu gegründeten
Agenturen nehmen aber nur Aufgaben der Datensammlung, des Datenaustausches
und der fachlichen Beratung und Abstimmung wahr. Die Steuerungsmöglichkeiten, die mit diesen Verwaltungstätigkeiten verbunden sind, dürfen jedoch im europäischen Verwaltungsgefüge, das in hohem Maße auf Informationsvermittlung angewiesen ist, keineswegs gering veranschlagt werden.
Neben dieser immer weiter verfeinerten Ämterorganisation hat sich ein ausgedehntes Ausschusswesen entwickelt. Es dient teilweise der Zusammenarbeit mit den
Verwaltungen der Mitgliedstaaten, teilweise der Einbeziehung externen Sachverstandes und der Öffnung gegenüber gesellschaftlichen Kräften. Die Ausschüsse
sind für die Union unverzichtbare Kontaktstellen der Informationsgewinnung und
Informationsvermittlung, ohne die sie angesichts begrenzter eigener Ressourcen
nicht arbeiten könnte. Innerhalb des Ausschusswesens stechen die Komitologieausschüsse hervor. Sie stellen einen wichtigen Kooperationsmechanismus zwischen der Kommission und den nationalstaatlichen Exekutiven dar, der den Mitgliedstaaten nicht unerheblichen Einfluss auf den Erlass von Durchführungsrecht
sichert. Die seit 1962 geübte Praxis ist heute in Art. 291 Abs. 2 AEUV abgesichert.. Dem Zugewinn an Zusammenarbeit stehen freilich Nachteile im Hinblick
auf Transparenz und Verantwortungsklarheit gegenüber.
3.
Kooperation und Netzwerkbildung
Die Verwaltung des Unionsraumes vollzieht sich der theoretischen Konstruktion
nach entweder auf der europäischen oder auf der nationalen Ebene (Trennungsgrundsatz). In der Praxis jedoch kann ein wirksamer Vollzug nur sichergestellt
werden, wenn die Verwaltungen zusammenarbeiten (Kooperationsgrundsatz). Alle
wichtigen Bereiche, in denen das Unionsrecht sich mit Verwaltungsaufgaben beschäftigt, sind durch kooperative Gestaltung bestimmt. Das gilt für das Kartellrecht
und die Beihilfeaufsicht, für das Zollrecht, das Lebensmittelrecht, die Strukturfonds und die Zulassung von Produkten und Dienstleistungen. Das Verwaltungskonzept der Union beruht also auf zwei komplementären Konstitutionsprinzipien: auf Trennung in organisatorischer und auf Zusammenarbeit in funktionaler
Hinsicht.
Die Zusammenarbeit verläuft vertikal zwischen der EU-Kommission und den Mitgliedstaaten und horizontal zwischen den mitgliedstaatlichen Verwaltungen. Sie
hat unterschiedliche Intensitätsgrade. Neben punktuellen Kontakten zwischen Be55
56
hörden z.B. bei Amtshilfevorgängen119 stehen Formen dauerhafter Zusammenarbeit.120 Kooperation erfüllt im Unionsrecht mehrere Aufgaben:
-
Ihre Grundfunktion ist es, den beteiligten Verwaltungen die erforderlichen Informationen zu erschließen (informationelle Kooperation). Hierher gehören der
punktuelle und gelegentliche Datenaustausch ebenso wie der Aufbau zentraler
Netze.
-
Kooperation zeigt sich auch in vielfältigen Formen gegenseitiger Abstimmung
und gemeinsamer Verfahrensführung (prozedurale Kooperation). So können
z.B. Pflichten gegenseitiger Anerkennung von Prüfungsbescheinigungen oder
Zulassungen zwischen den Mitgliedstaaten praktisch nicht ohne begleitende
Verfahren normiert werden, die für Eil- oder Streitfälle schnell greifende Klärungsmechanismen verfügbar machen. „Mehrstufige“ oder „gemischte“ Verwaltungsverfahren, an denen Verwaltungsbehörden unterschiedlicher Ebenen
beteiligt sind, finden sich heute in wachsender Zahl.
-
Schließlich kann Kooperation in eigens dazu gebildeten Gremien geleistet werden (institutionelle Kooperation). Beispiele dafür sind die schon genannten
Verwaltungsräte der Europäischen Agenturen und das System der Komitologieausschüsse.
Zu den typischen Bauformen des Europäischen Verwaltungsverbundes zählen Behördennetzwerke. Der Begriff bezeichnet Formen verdichteter und verstetigter Zusammenarbeit, oft durch elektronische Vernetzung unterstützt.121
4.
Besondere Verbundprobleme
Damit ist genau jene Zwischenstellung umschrieben, die der rechtswissenschaftlichen Erfassung besondere Schwierigkeiten bereitet: Verflechtungen widerstreben
der Analyse und der Verantwortungstrennung, wie sie die juristische Arbeit gerade
verlangt. Die Probleme des Europäischen Verwaltungsrechts sind daher vor allem
Verbundprobleme, die sich schlagwortartig als Probleme der „Transparenz“, der
„Kohärenz“ und der „Effizienz“ bezeichnen lassen. Alle drei Begriffe haben neben
der demokratischen aber auch eine rechtsstaatliche Komponente:
119
120
121
Dazu Florian Wettner, Die Amtshilfe im Europäischen Verwaltungsrecht (Mohr Siebeck, Tübingen, 2005).
Dazu Julia Sommer, Verwaltungskooperation am Beispiel administrativer Informationsverfahren im
europäischen Umweltrecht (Springer, Heidelberg, 2003).
Alberto J. Gil Ibáñez, Supervision and Enforcement of EC Law (Hart, Oxford, 1999), S. 298: „We can speak of
networks, when partnership takes place through a permanent framework for administrative cooperation […]“.
56
57
-
Das Transparenzgebot verlangt, dass die Verfahrensstrukturen durchschaubar
und die Entscheidungsbeiträge der beteiligten nationalen und europäischen
Verwaltungsstellen identifizierbar sind. Die richtige Zuordnung der Verantwortungssphären ist vor allem für Folgefragen des Rechtsschutzes und der Haftung
wichtig.
II.
-
Das Kohärenzgebot richtet sich an den Zuschnitt der verwaltungsrechtlichen
Schutzregime. Es darf nicht sein, dass rechtsschutzsensible Erfordernisse praktisch „zwischen“ die Regime fallen, weil diese noch nicht so aufeinanderzu
entwickelt sind, wie es dem Ausmaß der administrativen Verflechtungen entspricht.
-
Das Effizienzgebot verpflichtet zu einem wirksamen, ressourcenschonenden
Einsatz der Verwaltungsmittel. Die Verwaltungsaufgaben im Verbund müssen
unionsweit gleichmäßig und nach Standards erfüllt werden, die Vertrauen in
die beteiligten Verwaltungen begründen. Das Recht auf eine gute Verwaltung,
das in Art. 41 der EU-Grundrechtecharta gewährleistet ist, unterstreicht das.
Ordnungsleistungen des Europäischen Verfassungsrechts
Rechtsstaatlichkeit (l’état de droit, rule of law) und Demokratie zählen gemäß Art. 2
EUV zu den grundlegenden Werten, auf die sich die Union gründet. Sie sind zugleich
Verfassungsprinzipien, die dazu veranlassen, die Konstitutionalisierung des europäischen Verwaltungsrechts voran zu treiben.122
Es wird sich allerdings zeigen, dass das EU-Verfassungsrecht einen mehrschichtigen
und mehrgliedrigen Bestand darstellt, in dem die internen Rangverhältnisse nur teilweise geklärt sind. Zwischen Verwaltungsrecht und Verfassungsrecht besteht hier folglich
noch weit weniger als im überschaubaren nationalen Rahmen ein „Ableitungsverhältnis“.
1.
Die Allgemeinen Rechtsgrundsätze des Vollzuges
Schon der EWG-Vertrag enthielt eine Reihe konkreter Regelungen, die man systematisch dem allgemeinen Verwaltungsrecht zuzuordnen hat. Hierher zählen u.a.
der Katalog der Rechtsformen (heute Art. 288 AEUV), die Vorschriften zum Individualrechtsschutz vor den Unionsgerichten (heute Art. 263, 265 AEUV) und zur
unionsrechtlichen Staatshaftung (heute Art. 340 Abs. 2 AEUV). Später hinzuge-
122
Zum Folgenden Eberhard Schmidt-Aßmann, Verfassungsprinzipien für den Europäischen Verwaltungsverbund,
in: GVwR Bd. 1 (Fn. 1), § 5 Rn. 49 ff.
57
58
kommen sind Regelungen des Subsidiaritäts- und Verhältnismäßigkeitsprinzips,
des Datenschutzes und des Aktenzugangs. Alle diese Bestimmungen beziehen sich
allerdings nur auf das Handeln der EU-Organe. Für die nationalen Verwaltungen
fanden sich bisher nur wenige ausdrückliche Regelungen im Primärrecht, z.B. die
Notifizierungspflicht für Beihilfen (heute Art. 108 Abs. 3 AEUV). Eine umfassende Normierungskompetenz für das allgemeine Verwaltungsrecht der Mitgliedstaaten besitzt die Union nicht.
Der Europäische Gerichtshof hat den Bestand durch die Entwicklung allgemeiner
Rechtsgrundsätze (ARG) über die ausdrücklichen Normierungen hinaus erheblich
erweitert.123 Diese wenden sich nicht nur an die Unionsorgane, sondern auch an
die Mitgliedstaaten und ihre Verwaltungen, soweit diese Unionsrecht vollziehen.
Ja, gerade die Mitgliedstaaten sind es, die vom EuGH mit einer gewissen Vorliebe
in die Pflicht genommen werden. Ausgangspunkt dazu sind die Pflichten zur ordnungsgemäßen Anwendung des Unionssrechts und zur Sicherung seiner einheitlichen Geltung, die Art. 4 Abs. 3 EUV den Mitgliedstaaten auferlegt. In ihrer Konsequenz kann es zu einem erheblichen Veränderungsdruck für das nationale Verwaltungsrecht, insbesondere das Verfahrens-, Organisations- und Prozessrecht
kommen; denn dieses muss, dem Äquivalenz- und dem Effektivitätsgrundsatz entsprechend, die Ausübung der durch das Unionsrecht verliehenen Rechte „nicht
praktisch unmöglich gemacht oder übermäßig erschwert“ wird. Längere Zeit zeigte
die Rechtsprechung des EuGH eine gewisse Einseitigkeit zu Lasten der Mitgliedstaaten und ihrer Verwaltungen, während das EU-Recht und die EU-Verwaltung
mehr richterliche Rücksichtnahme auf ihre Belange erwarten durften. In den letzten Jahren ist die Rechtsprechung vorsichtiger geworden und akzeptiert die unterschiedlichen Traditionen des mitgliedstaatlichen Verwaltungsrechts eher.124
In einem Verwaltungsverbund muss jedoch darauf geachtet werden, dass alle beteiligten Verwaltungen in den Grundfragen nach ähnlichen Standards handeln.
Fragen des Datenschutzes oder der Aktenöffentlichkeit lassen sich letztlich für die
Unionsverwaltung und die mitgliedstaatlichen Exekutiven nur einheitlich beantworten. Hier gilt eine „Parallelisierungs-Vermutung“. Auch der Gedanke der Kohärenz zielt in diese Richtung. Auf der anderen Seite gibt die Kohärenz der EU
und ihren Organen (also auch dem EuGH) keine Befugnis, die Grenzen der Kompetenz zu überschreiten und eine radikale Vereinheitlichung durchzusetzen.
123
124
Dazu Jürgen Schwarze, Europäisches Verwaltungsrecht, 2. Aufl., (Nomos, Baden-Baden, 2005), pass. und, die
jüngere Entwicklung zusammenfassend, S. III ff.
Thomas von Danwitz, Europäisches Verwaltungsrecht (Springer, Berlin, Heidelberg, 2008), S. 483 ff.
58
59
2.
Die Europäische Verwaltung in den Unionsverträgen von Lissabon
War schon das bisherige Primärrecht nicht blind für typisch administrative Probleme, so thematisieren die Unionsverträge in der Lissaboner Fassung die Verwaltungsdimension der Union noch deutlicher:
-
Die Kompetenzen des Parlaments und des Rates werden klarer als bisher auf
die Gesetzgebung ausgerichtet (Art. 289 AEUV), delegierte Verordnungen und
Durchführungsverordnungen davon getrennt (Art. 290 und 291 AEUV) und
speziell die Verwaltungsaufgaben der Kommission deutlicher herausgestellt
(Art. 17 Abs. 1 Satz 5 EUV).
-
Die in der Zwischenzeit geschaffenen eigenen Verwaltungseinrichtungen der
Union (vor allem die oben genannten Agenturen) werden als „Einrichtungen
oder sonstige Stellen“ ausdrücklich anerkannt und systematisch in die zentralen
rechtsstaatlichen und demokratischen Verfassungsvorgaben integriert: Auch für
sie sind so die für die Organe geltenden Regeln über Öffentlichkeit (Art. 15
AEUV), Datenschutz (Art. 16 AEUV) und Direktklagen (Art. 263 und 265
AEUV) verbindlich. Die Organe sollen sich zur Ausübung ihrer Aufgaben auf
eine offene, effiziente und unabhängige europäische Verwaltung stützen können (Art. 298 Abs. 1 AEUV).
-
3.
Ausdrücklich hervorgehoben wird die Bedeutung nationaler Stellen für die
Verwaltungszusammenarbeit (Art. 197 AEUV). Das Recht und die Pflicht der
Mitgliedstaaten zur Durchführung des Unionsrechts ist in Art. 291 Abs. 1
AEUV ausdrücklich fixiert. Durchführung meint sowohl den legislativen wie
den administrativen Vollzug. Innerhalb der Mitgliedstaaten werden kommunale
und regionale Selbstverwaltung als wichtige Bestandteile der Verfassungsstruktur anerkannt (Art. 4 Abs. 2 EUV).
Die Rolle der Grundrechte-Charta und das Recht auf eine gute Verwaltung
Die Charta der Grundrechte der EU, die den gleichen Rang wie die Unionsverträge
hat (Art. 6 Abs. 1 EUV), trägt weiteres Konstitutionalisierungspotential in das europäische Verwaltungsrecht hinein. Gerade die Grundrechte waren es ja, die eine
intensive Durchformung des deutschen Verwaltungsrechts nach 1949 in die Wege
geleitet haben. Selbst wenn die Union auch bisher schon – sei es ausdrücklich im
Primärrecht festgelegte, sei es in allgemeine Rechtsgrundsätze gefasste – Grundrechte anerkannte, darf von dem neuen Grundrechtsteil eine neue Welle grundrechtlicher Impulse für die Ausgestaltung des Verwaltungsrechts erwartet werden.
59
60
Eine deutlich individualrechtliche Ausrichtung der Verwaltungsrechtsbeziehungen,
die dem frühen Verwaltungsrecht der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft in der
französischen Tradition eher fremd war, wird sich verstärken. Insoweit darf sich
die deutsche Verwaltungsrechtsentwicklung mit ihrer Vorliebe für den Individualrechtsschutz durchaus bestätigt sehen. Die Grundrechte binden gleicherweise die
Verwaltungsinstanzen der Union wie die mitgliedstaatlichen Verwaltungen, soweit
diese Unionsrecht durchführen (Art. 51 EU-GRCh). Das ist dem Verbundgedanken
entsprechend konsequent.
In dieselbe Richtung wirkt das in Art. 41 der Grundrechte-Charta verankerte
„Recht auf eine gute Verwaltung“. Jede Person hat danach einen individuellen Anspruch darauf, dass ihre Angelegenheiten von den Unionsorganen und einrichtungen „unparteiisch, gerecht und innerhalb einer angemessenen Frist“ behandelt werden.125 Als einzelne Bestandteile dieses Rechts werden sodann Anhörung, Akteneinsicht, Staatshaftung und Begründungspflicht genannt. Die Aufzählung ist nicht erschöpfend gemeint. Einiges, was ebenfalls zum Recht auf gute
Verwaltung gezählt werden kann, ist in richterrechtlich entwickelten Grundsätzen
längst anerkannt. Anderes wird an anderen Stellen des Primärrechts genauer normiert, z.B. das allgemeine Aktenzugangsrecht (Art. 15 AEUV).
Andere Komponenten finden sich in den auf EU-Ebene anzutreffenden Kodizes,
zu deren Einhaltung sich die einzelnen Organe verpflichtet haben. Als modellhaft
gilt der Kodex des Bürgerbeauftragten aus dem Jahre 2002, der neben Grundsätzlichkeiten auch recht detaillierte Regeln z.B. über die Behandlung und Weiterleitung eingegangener Anträge enthält. Allerdings stellen solche Kodizes zunächst
nur Selbstverpflichtungen der sie erlassenden Verwaltungsstellen dar. Der an die
klassische Rechtsquellenlehre gewöhnte deutsche Jurist hat Schwierigkeiten, mit
solchen Regeln unsicheren oder verminderten Bindungsanspruchs zurechtzukommen. In anderen europäischen Ländern wird öfter mit solchen Erscheinungen eines
„Soft Law“ gearbeitet. Regeln guter Verwaltungspraxis sollen hier auch eine edukatorische Aufgabe erfüllen. Anders sind Selbstverständlichkeiten wie Art. 12 Nr.
1 (Der Beamte legt „ein korrektes, höfliches und zugängliches Verhalten an den
Tag“) nicht zu erklären.
Der Art. 41 EU-GRCh gilt – wie der Text klarstellt – allerdings nur für die Verwaltung der Unionsebene. Ausstrahlungen auf das mitgliedstaatliche Verwaltungsrecht wird er aber über seinen Text hinaus auf jeden Fall haben. Gegenwärtig erscheinen die meisten Gewährleistungselemente durch Verwaltungsverfahrensge125
Dazu mit weiteren Nachweisen Michael Fehling, Europäisches Verwaltungsverfahren und Verwaltungsprozessrecht, in: Terhechte (Hrsg.), Verwaltungsrecht der EU (Fn. 116), § 12 Rn. 7 ff.
60
61
setze oder Richterrecht abgedeckt. Doch lassen sich z.B. im Blick auf den elektronischen Behördenverkehr Klärungsnotwendigkeiten ausmachen, die aus dem europäischen Entwicklungszusammenhang und hier eben aus einem generalklauselartig
fixierten Recht auf gute Verwaltung beantwortet sein werden.
4.
Einige kritische Bemerkungen zur Entwicklung
Wo liegen Schwachpunkte und Entwicklungsrisiken des Europäischen Verwaltungsverbundes? Sie liegen in drei Problemen, die als Undurchsichtigkeit, Segmentierung und
Mängel der Vertrauensbasis bezeichnet werden sollen:
Undurchsichtigkeit ist zunächst einmal ein äußerer Tatbestand, der sich daraus ergeben
hat, dass der Verwaltungsverbund nicht systematisch, sondern von Fall zu Fall fortentwickelt worden ist. Seine Formen sind von Zufälligkeiten bestimmt. Keine Verwaltungseinheit gleicht der anderen. Ihre Unterschiede lassen sich weder systematisch erfassen noch verstehen. Dieser Missstand ist inzwischen erkannt worden. Die jüngeren
Rechtsakte zeigen das Bemühen der EU-Organe, den Bau stärker an bestimmten Organisationstypen auszurichten. Das gilt für das Komitologieverfahren und für die Organisation der Exekutivagenturen; bei den Regulierungsagenturen sind entsprechende Versuche der EU-Kommission allerdings bisher am Widerstand des Rates gescheitert. Kritisch bleibt die Undurchsichtigkeit als innerer Tatbestand, d.h. als Mangel an klaren
Verantwortungszuweisungen. Das liegt in erheblichem Maße am gehüteten intergouvernementalen Charakter der Union und ihrer Entscheidungsgremien, in denen in der Regel
alle Mitgliedstaaten vertreten sind. Die immer wieder notwendigen Verhandlungen und
Verständigungen führen zu Ergebnissen, die letztlich niemandem verantwortlich zuzurechnen sind. Dieses Problem reicht bis in die Verwaltungsräte der Agenturen. Auch
zwischen der Kommission als Kollegialorgan und den ihr zugeordneten Dienststellen ist
ein klares Verantwortungsgefüge nicht existent. Die Vorstellung eines durch ministerielle Weisungen gesteuerten Behördenapparats passt hier nicht. Dieser Zustand wird sich,
solange für die Kommission am Kollegialprinzip festgehalten wird (vgl. Art. 17 Abs. 8
EUV), nicht ändern.
Ein zweites Kennzeichen der Europäischen Verwaltung ist ihre starke Segmentierung.
Die Kompetenzen der Union sind auf einzelne Sachgebiete zugeschnitten. Zur Regelung
übergreifender allgemeiner Fragen geben sie kaum eine Grundlage. Agenturen wie Komitologieausschüsse sind jeweils für spezifische Aufgaben geschaffen. Bei den Gremiensitzungen treffen sich die zuständigen Beamten der EU-Ebene und der mitgliedstaatlichen Ebene, die sich demselben Fachinteresse verbunden fühlen. Das Phänomen ist aus
dem deutschen Föderalismus mit seinen Fachministerkonferenzen und fachlich ausgerichteten Arbeitsgemeinschaften bekannt, in denen die Fachbeamten von Bund und
61
62
Ländern zusammenwirken. Innerhalb des Europäischen Verwaltungsverbundes bringt
diese Entwicklung einerseits zweifellos gewisse Vorteile, denn sie kann den einzelnen
nationalen Beamten ein Stück aus den Bindungen an sein nationales Umfeld lösen und
ein europäisches Aufgabenverständnis entstehen lassen. Dem stehen aber die Nachteile
eines stark partikularistischen Denkens gegenüber, das das allgemeine Wohl schlicht
aus den Augen verliert.
Der dritte Kritikpunkt, der hier als Mängel in der realen Vertrauensgrundlage bezeichnet wird, hängt mit Formen der horizontalen Kooperation zwischen mitgliedstaatlichen
Behörden zusammen.
Diese gelegentlich überzogenen Anforderungen an die Gleichförmigkeit des Rechts stehen in auffallendem Gegensatz zu dem geringen Maß an Aufmerksamkeit, das den realen Vollzugsbedingungen in den einzelnen Ländern entgegengebracht wird. Hier bestehen nach wie vor erhebliche Unterschiede, die durch die schnelle Erweiterung besonders
deutlich hervorgetreten sind. Wirksame Kooperation zwischen nationalen Verwaltungen, wie sie innerhalb des Verbundes verlangt wird, kann aber nur sichergestellt werden,
wenn sich jede der beteiligten Verwaltungen darauf verlassen kann, dass die anderen nationalen Exekutiven nach vergleichbaren Sorgfalts-, Unbefangenheits- und Geheimhaltungsstandards verfahren. Anders ist das notwendige gegenseitige Vertrauen, ein europaweites „inter-administratives Vertrauen“, nicht zu gewinnen. Ein Informationsaustausch oder die Anerkennung eines Prüfungszeugnisses hängen nicht nur von der Existenz eines einheitlichen Rechtsrahmens, sondern mehr noch davon ab, dass die beteiligten Verwaltungen in derselben Weise kompetent und zuverlässig sind. Kann wirklich
von derselben Beweiskraft einer an jeder beliebigen Stelle des Unionsraumes ausgestellten Urkunde ausgegangen werden?. Auch über diese praktischen Punkte muss jedoch
Klarheit herrschen, bevor „Solidarität“ und „Partnerschaft“ wirklich prägende Züge einer Europäischen Verwaltung sein werden.
III.
Die Internationalisierung der Verwaltungsbeziehungen und das Internationale Verwaltungsrecht
Neben der beschriebenen Europäisierung zeigt sich auch eine Tendenz zur Internationalisierung im Verwaltungsrecht. Sie ist eine Folge der zunehmenden Internationalisierung
der Verwaltungsbeziehungen.126
126
Zum Folgenden Schmidt-Aßmann, Verfassungsprinzipien, in: GVwR Bd. 1 (Fn. 1), § 5 Rn. 41 ff.; Ruffert,
Rechtquellen und Rechtsschichten, in: GVwR Bd. 1 (Fn. 1), § 17 Rn. 149 ff.
62
63
1.
Beispiele und Probleme
Man trifft diese einerseits im regionalen Rahmen als Zusammenarbeit zwischen Polizeibehörden benachbarter Staaten oder als grenzüberschreitende Aktionen von Gemeinden
oder Gemeindeverbänden, z. B. bei der Planung von Straßen und anderer lokaler Einrichtungen. Wichtig ist weiterhin die Kooperation der Finanzverwaltungen im Rahmen
von Doppelbesteuerungsabkommen und der Sozialverwaltungen im Rahmen von Sozialversicherungsabkommen. Internationalisiertes Verwaltungshandeln findet sich ferner
in Behördennetzwerken, z. B. in der Banken- und Finanzmarktaufsicht; hier wird oft in
Formen des soft law und der agreements gehandelt, die zwar rechtlich nicht verbindlich,
faktisch aber sehr einflussreich sind. Zu denken ist schließlich an die administrativen
Aktivitäten Internationaler Organisationen wie der Weltbank im Rahmen der Entwicklungshilfe, der WTO und der WHO sowie der UN und ihres Sicherheitsrates. Ein Beispiel für Letzteres sind die sehr konkreten Listing-Entscheidungen, die der Terrorbekämpfung dienen sollen.
Mit welcher Legitimation wird hier gehandelt? Welches sind die Rechtsgrundlagen und
die notwendigen Verfahren? Wie steht es mit der Haftung und mit der gerichtlichen
Kontrolle? – das sind typisch verwaltungsrechtliche Fragen, die sich auch für das internationalisierte Verwaltungshandeln stellen.
Ein erster Schritt zur Beantwortung dieser Fragen ist das sorgfältige Studium der einschlägigen völkerrechtlichen Verträge und Abkommen, die den Rahmen für diese Aktivitäten bilden. Untersucht man die beschriebenen Verwaltungsbeziehungen auf die benutzten Handlungsformen, so lassen sich einige wiederkehrende Arrangements erkennen,
die die Verfestigung zu Rechtsinstituten erhalten haben. Hierher rechnen:
–
die internationale Rechts- und Amtshilfe,
–
der internationale Datenaustausch und Datenschutz,
–
die Anerkennung fremder Verwaltungsentscheidungen,
–
Verfahrensregeln für den direkten Behördenverkehr,
–
grenzüberschreitendes Verwaltungsrealhandeln auf fremdem Hoheitsgebiet.
In einem weiteren Schritt sind diejenigen völkerrechtlichen Verträge heranzuziehen, die
sich mit der Stellung des Einzelnen gegenüber der öffentlichen Gewalt befassen und einen entsprechend weiten Anwendungsbereich haben. Das sind vor allem die globalen
und die regionalen Menschenrechts-Pakte. Auch Internationale Organisationen – zumal
die UN und ihre Unter-Organisationen – können sich diesen Anforderungen kaum ent63
64
ziehen, selbst wenn sie formell nicht Mitglieder dieser Pakte sind. Schließlich ist auf
elementare Verfahrensanforderungen, Transparenzgebote und Neutralitätsregelungen zurückzugreifen, die als anerkannte allgemeine Rechtsgrundsätze (vgl. Art. 38 Abs. 1 lit. c
des Status des Internationalen Gerichtshofs) angesprochen werden können.127
2.
Internationales Verwaltungsrecht
Um für diese Fragen einen gemeinsamen begrifflichen Rahmen zu schaffen, sollte der
Begriff des Internationalen Verwaltungsrechts benutzt werden. Bisher wird dieser Begriff im deutschen Sprachraum und teilweise darüber hinaus benutzt, um das nationale
Kollisionsrecht zu bezeichnen. Das ist keine naheliegende Begriffsverwendung; sie verwirrt nur. Stattdessen ist als Internationales Verwaltungsrecht das im Völkerrecht gegründete Verwaltungsrecht zu verstehen, das drei große Funktionskreise hat: Es ist Aktionsrecht internationaler Verwaltungsinstanzen, Determinationsrecht für die nationalen
Verwaltungsrechtsordnungen und Kooperationsrecht spezifischer Verbundstrukturen.
–
Aktionsrecht internationaler Verwaltungsinstanzen: Als Aktionsrecht internationaler Verwaltungsinstanzen trägt das Internationale Verwaltungsrecht der
Entwicklung Rechnung, dass Internationale Organisationen zunehmend administrative Tätigkeiten mit Außenwirkung wahrnehmen. Dass sie das nicht tun können, ohne grundlegende Rechtsprinzipien, insbesondere solche des internationalen Menschenrechtsschutzes, zu beachten, ist selbstverständlich.128
–
Determinationsrecht für die nationalen Verwaltungsrechtsordnungen: In seiner zweiten Funktion, als Determinationsrecht, gestaltet das Internationale Verwaltungsrecht die nationalen Verwaltungsrechtsordnungen um, indem es Änderungen und Ergänzungen verlangt. Anschauungsmaterial bieten die Genfer
Flüchtlingskonvention und vor allem die EMRK. Ein jüngeres Beispiel ist die im
Rahmen des Wirtschafts- und Sozialrats der UNO (Economic and Social Council,
127
128
Vgl. Sabino Cassese, A Global Due Process of Law?, in: G. Anthony/J. B. Auby/J. Morison/T. Zwart (eds.),
Values in Global Administrative Law (Oxford, 2011), S. 17 ff. Ausführlich dazu im großen Projekt eines Global
Administrative Law; dazu B. Kingsbury/M. Donaldson, Max Planck Encyclopedia of Public International Law
(EPIL) (North-Holland, Amsterdam), Artikel “Global Administrative Law”.
Dazu die Beiträge von Matthias Goldmann, Armin v. Bogdandy, Jochen v. Bernstorff u. a. in: v. Bogdandy u. a.
(Hrsg.), The Exercise of Public Authority (Springer, Berlin und Heidelberg, 2010) sowie die Literatur zum Global Administrative Law → Fn. 126.
64
65
ECOSOC) geschlossene Aarhus-Konvention, die, ohne spezielle Kooperationsbeziehungen zwischen den nationalen Exekutiven zu begründen, einen Ausbau
des nationalen Rechtsschutzes in Umweltsachen vorschreibt und damit Ergänzungen des Verwaltungsverfahrens- und des Verwaltungsprozessrechts zur Folge
hat.
–
Kooperationsrecht spezifischer Verbundprobleme: Die beiden vorgenannten
Funktionen zusammenführend ist das Internationale Verwaltungsrecht drittens
ein Recht der horizontalen und vertikalen Verwaltungskooperation und ihrer spezifischen Verbundprobleme. Es genügt nicht, die zentralen Regelungsaufträge des
Verwaltungsrechts, den Schutz individueller Rechte und die Gewährleistung administrativer Verantwortung, auf den einzelnen Ebenen getrennt zu erfüllen. Der
Verbund selbst schafft seine eigenen Rechtsprobleme, indem er Verantwortlichkeiten unklar und Einzelentscheidungen von besonderen Abstimmungsmechanismen abhängig macht. Das Internationale Verwaltungsrecht hat hier mit ähnlichen Problemen zu ringen, wie das Europäische Verwaltungsrecht.
65
66
5. Abschnitt: Methodenfragen der Neuen Verwaltungsrechtswissenschaft
I.
Die Ebenen der Methodendiskussion
Wenn man die Methodenfrage des Verwaltungsrechts untersuchen will, sollte man zunächst eine Unterscheidung treffen: Geht es um die Methoden der administrativen
Rechtsanwendung oder um die Methoden der Verwaltungsrechtswissenschaft? Das
Verwaltungsrecht ist – wie Christoph Möllers zutreffend formuliert hat – „Rechtsgebiet“ und „Wissenschaftsdisziplin“ zugleich. Beide Komponenten stellen eigene methodische Anforderungen, die allerdings aufeinander bezogen sein müssen.129
Im Übrigen zeigt die neuere Methodendiskussion, dass Methodenfragen – soweit sie im
Verwaltungsrecht überhaupt gestellt worden sind – zu stark in Anlehnung an den Methodenkanon der vorrangig am Zivil- und Strafrecht ausgerichteten juristischen Methodenlehren bestimmt waren. Die dort vermittelten Erkenntnisse über den Umgang mit
Rechtstexten sind zwar auch für die Verwaltung wichtig. Sie erschöpfen die Vielfalt der
Entscheidungssituationen der Verwaltung jedoch nicht. Zunehmend ist anerkannt worden, dass die Methodenfragen für das Verwaltungsrecht eigenständig zu erörtern sind.130
Die Pluralität des anzuwendenden Rechts und die Organisationsabhängigkeit des administrativen Handelns sind Grund für diese Eigenständigkeit.
II.
Unterschiedliche Methoden administrativer Rechtskonkretisierung
Jede verwaltungsrechtliche Methodenlehre muss von den Entscheidungssituationen der
Exekutive ausgehen. Genauere Analyse zeigt, dass diese Situationen sehr unterschiedliche Gestalt haben, je nachdem welche Art von Recht die Verwaltung anwendet, in welchem organisatorischen Kontext dieses geschieht und welches der prägende Aufgabenbezug ist. Es gibt folglich kein Einheitsmodell „der“ Rechtskonkretisierung. Der verhandelnden Verwaltung stellen sich andere Probleme als der Vollzugsverwaltung. Beide
unterscheiden sich wiederum von Situationen der administrativen Normsetzung. Methodisch können diese Tatbestände nicht über einen Leisten geschlagen werden.
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Möllers, in: GVwR Bd. 1 (Fn. 3), § 3 Rn. 1.
Dazu die Beiträge in Eberhard Schmidt-Aßmann/Wolfgang Hoffmann-Riem (Hrsg.), Methoden der
Verwaltungsrechtswissenschaft, (Duncker und Humblot, Berlin, 2004); Möllers, in: GVwR Bd. 1 (Fn. 3), § 3 Rn.
3 ff.; speziell zum EU-Recht vgl. Ino Augsberg, Methoden des europäischen Verwaltungsrechts, in: Terhechte
(Hrsg.), Verwaltungsrecht der EU (Fn. 116), § 4.
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Auf der anderen Seite müssen Methoden den Argumentationshaushalt überschaubar halten. Das verlangt, dass sie auch in ihren Anwendungsvoraussetzungen identifizierbar
und in ihren einzelnen Schritten für die Praxis handhabbar sind. Folglich führt kein Weg
daran vorbei, die Vielfalt denkbarer Rechtsanwendungssituationen auf einige Hauptmodelle zu reduzieren.
1.
Die Methoden einfacher Gesetzesanwendung
Das Grundmodell ist nach wie vor durch die Begriffe der Interpretation, der Tatsachenfeststellung und der Subsumtion zu bestimmen. Die verwaltungsrechtliche
Methodik darf in diesem Punkte traditioneller sein als eine auf das Verfassungsrecht ausgerichtete und an verfassungsgerichtlichen Entscheidungen orientierte juristische Methodenlehre – mehr noch: Sie muss es sogar sein; denn das einfache
Methodenmuster besitzt für die Verwaltung eine notwendige Disziplinierungsfunktion, indem es sie zwingt, sich mit den Rechtstexten intensiv auseinanderzusetzen.
Daran festzuhalten ist ein Gebot praktischer Jurisprudenz.
Schon dieser Kern stellt allerdings keinen Vollzugsschematismus dar. Alle drei
Erkenntnisschritte enthalten vielmehr wertende Elemente, die sich intersubjektiv
nicht immer eindeutig vermitteln lassen131.
-
Die zur Auslegung heranzuziehenden Methoden stellen keinen geschlossenen
Kanon dar, sondern sind vielfältig kombiniert. Sie werden zudem durch die
Pflicht zur verfassungsorientierten und verfassungskonformen Auslegung überlagert132. Hinzugetreten ist die unionsrechtskonforme, insbesondere die richtlinienkonforme Auslegung, als ein zwar anerkanntes, in seinen Voraussetzungen
und Konsequenzen aber nach wie vor unsicheres Instrument. Sie soll das gesamte nationale Recht, also nicht nur die zur Richtlinienumsetzung speziell ergangenen Gesetze erfassen und nicht nur für die Gerichte, sondern auch für die
mitgliedstaatlichen Verwaltungen verbindlich sein133. Das alles hat integrationspolitisch seinen guten Sinn. Doch lassen sich auch hier bedenkliche Entwicklungen nicht übersehen. Verfassungsrecht und Europarecht arbeiten häufig
mit sehr weiten und in diesem Sinne unbestimmten Begriffen. Bindung dage-
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Dazu Karl Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 3. Aufl., (Springer, Heidelberg, Berlin, 1991), S. 271
ff.; zu den Kriterien der Gesetzesauslegung eingehend Winfried Brugger, Konkretisierung des Rechts und
Auslegung der Gesetzes, in: Archiv des öffentlichen Rechts, Bd. 119 (1994), S. 1 ff.; Michael Holoubek, Gedanken zur Auslegungslehre, in: Festschrift für Heinz Mayer (Manzsche Verlagsbuchhandlung, Wien, 2011), S. 139
ff.
Vgl. BVerfGE 2, 266 (282); 101, 361 (387 f.); ständige Rechtsprechung; zur Unterscheidung Stern, Staatsrecht
Bd. I (Fn. 64), § 4 III 8 d, dort auch der Hinweis auf Gefahren der „Funktionsverwischung“ und der
Relativierung des gesetzlichen Steuerungsanspruchs.
Im Einzelnen vgl. von Danwitz, Europäisches Verwaltungsrecht (Fn. 124), S. 184 ff.
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gen setzt jedenfalls ein gewisses Maß an Stringenz voraus. Die Gefahr, dass
dadurch beliebige Interessen auf vage normative Gesichtspunkte gestützt und in
die gesetzliche Tatbestandsstruktur unkontrolliert eingeschleust werden, ist
nicht von der Hand zu weisen.
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Die Tatsachenfeststellung wird nur selten als Methodenthema behandelt. Hier
dominiert eher das Beweisrecht der Prozessordnungen. Ein prozedurales Methodenverständnis muss über dessen klassische Regeln hinaus darauf drängen,
dass die verwaltungsrechtliche Methodik Regeln für Prognosesituationen und
für die Typisierung von Sachverhaltsannahmen sowie Diskursregeln für den
Umgang mit verwaltungsexternem Sachverstand entwickelt. Dabei ist auch
darüber nachzudenken, inwieweit „vorläufige Sachverhalte“ zugrundegelegt
werden dürfen und zu welchen Maßnahmen sie die Behörden legitimieren134.
Europäisierung und Internationalisierung stellen mit ihren vielfältigen grenzüberschreitenden Sachverhalten Anforderungen, die in ihren Ausmaßen noch
kaum erkannt sind135.
-
Die sichere Subsumtion schließlich hängt davon ab, dass die Zahl der Eingaben
überschaubar bleibt. Das aber ist bei offenen Zielkatalogen und Abwägungsklauseln des Gesetzesrechts so wenig wie bei den Begründungserwägungen, die
die Anwendung des EU-Rechts dirigieren, der Fall. Selbst Tatbestände, die als
Programme gebundener Verwaltungsentscheidungen angesehen werden, gewährleisten daher regelmäßig nur eine relative Bindung der Exekutive. Auf der
anderen Seite können Verwaltungsvorschriften und Verwaltungsroutine das
Grundmodell der Gesetzesanwendung in diesem Punkte entlasten.
2.
Methoden für komplexe Entscheidungssituationen
Ein komplexeres Modell ist dort verlangt, wo die Exekutive offene Gesetzestatbestände, d.h. Abwägungs-, Gestaltungs- und Einschätzungsermächtigungen auszufüllen hat. Komplexe Situationen sind die Situationen administrativer Planung,
Normsetzung und Risikoabschätzung; auch Regulierungsaufgaben gehören hierher.
Sie alle sind dadurch gekennzeichnet, dass eine Vielzahl von Interessen zu berücksichtigen und unsichere Fern- und Folgewirkungen zu bedenken sind. Für diese Situation bietet es sich an, zwischen der Herstellung und der Darstellung der Ent-
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Dazu Christoph Brüning, Einstweilige Verwaltungsführung (Mohr Siebeck, Tübingen, 2003), S. 174 ff.
Vgl. z.B. das in Art. 16a Abs. 2 S. 2 GG zugrundegelegte „Konzept normativer Vergewisserung“, BVerfGE 94,
49 (95 ff.).
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scheidung zu differenzieren.136 Für den z.B. für das Umwelt- und Technikrecht
kennzeichnenden „Umgang mit Ungewißheit“ lassen sich unter Auswertung des
einschlägigen Gesetzesmaterials eigene Methodenangebote entwickeln.137 Ähnliches gilt für die bei administrativen Ermessenentscheidungen wichtige Folgenberücksichtigung.138 Als Grundlinie zeichnet sich für diese Problembereiche ein prozedurales Methodenverständnis ab, das die notwendigen Rationalisierungsleistungen, die Methoden erbringen sollen, nicht so sehr aus dem hermeneutischen Umgang mit den einschlägigen Gesetzesbestimmungen als vielmehr aus einem transparenten und interessengerecht gestalteten Verfahren der Rechtsanwendung gewinnt.
III.
Das Verhältnis zu den sog. Nachbarwissenschaften
Wenn das Verwaltungsrecht seine Steuerungsaufgaben in Gesellschaft, Staat und Wirtschaft wirksam wahrnehmen soll, dann ist die Verwaltungsrechtswissenschaft auf die
Erkenntnisse anderer Wissenschaften angewiesen.139 Das gilt zum einen für die Naturund Technikwissenschaften. Ein Informationsverwaltungsrecht und ein Risikoverwaltungsrecht lassen sich ohne intensive Beschäftigung mit den einschlägigen Fachdisziplinen nicht entwickeln. Das Recht kann der Eigendynamik der Technik nur dann etwas
entgegensetzen, wenn es deren Antriebskräfte und Mechanismen versteht.
Offenheit ist aber auch gegenüber den Wirtschafts- und Sozialwissenschaften angesagt140. Die Trennung von Sein und Sollen rechtfertigt keinen selbstgenügsamen juristischen Methodenkanon141. Verwehrt ist nur der ungefilterte und unreflektierte Import
fremder Theoreme. Dem kann jedoch mit dem Kontrollraster eines „differenziert integrativen Methodenverständnisses“ (Voßkuhle) entgegengewirkt werden, das in plausiblen
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Dazu Hans-Heinrich Trute, Methodik der Herstellung und Darstellung verwaltungsrechtlicher Entscheidungen,
in: Methoden (Fn. 130), S. 293 ff., sowie Wolfgang Hoffmann-Riem, Methoden einer anwendungsorientierten
Verwaltungsrechtswissenschaft, dort S. 9 ff.
Dazu Ivo Appel, Methodik des Umgangs mit Ungewissheit, in: Methoden (Fn. 130), S. 327 (336 ff.).
Dazu Georg Hermes, Folgenberücksichtigung in der Verwaltungspraxis und in anderen wirkungsorientierten
Verwaltungsrechtswissenschaft, in: Methoden (Fn. 130), S. 359 ff.
Ebenso Voßkuhle, in: GVwR Bd. 1 (Fn. 1), § 1 Rn. 37. Differenzierungen im Blick unterschiedliche
Wissenschaftsdisziplinen: Geschichtswissenschaften, Wirtschaftswissenschaften, Sozialwissenschaften,
Naturwissenschaften, Kulturwissenschaften bei Möllers, in: GVwR Bd. 1 (Fn. 3), § 3 Rn. 42 ff.
Vgl. nur Wolfgang Hoffmann-Riem (Hrsg.), Sozialwissenschaften im öffentlichen Recht (Luchterhand, Neuwied,
1981), S. 3 ff.; ders., Sozialwissenschaften im Verwaltungsrecht: Kommunikation in einer multidisziplinären
Scientific Community, in: Die Verwaltung 1999, Beiheft 2, S. 83 ff.; ausführlich Christian Bumke, Die
Entwicklung der verwaltungsrechtswissenschaftlichen Methodik in der Bundesrepublik Deutschland, in:
Methoden (Fn. 130), S. 73 ff.
Vgl. Christoph Möllers/Andreas Voßkuhle, Die deutsche Staatsrechtswissenschaft im Zusammenhang der
internationalisierten Wissenschaften, in: Die Verwaltung, Bd. 36 (2003), S. 321 (329).
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Prüfungsschritten Anlass, Umfang und Folgen der Rezeption fremden Wissens analysiert und methodisch bewusst hält142.
Zu beachten ist, dass Sozial- und Wirtschaftswissenschaften ihrerseits keinem einheitlichen Methodenkonzept folgen. Empirische, analytische und normative Methodenansätze gehen hier vielmehr weit auseinander. Verständigungs- oder gar Rezeptionsbemühungen von juristischer Seite müssen diese Aussagenunterschiede zur Kenntnis nehmen.
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Bei den empirischen Aussagen tritt das relativ klar zutage. Sie werden, sofern sie
überhaupt im Rahmen juristischer Argumentation wahrgenommen werden, üblicherweise dem Bereich der Rechtstatsachen zugeschlagen143. Wie diese wirken sie
bisher vorrangig in rechtspolitischen Diskussionen. Eine wesentlich größere Bedeutung erlangen sie, wenn man mit der strukturierenden Rechtslehre auch den (sachund fallbezogenen) Normbereich als zentralen Konkretisierungsbereich behandelt144.
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Bei analytischen Aussagen der Sozialwissenschaften muss methodisch vor allem ihre spezifische Aussageweise beachtet werden. Sie stellen etwas fest; aber sie sagen
nichts darüber, was sein soll. Der auf normative Aussagen ausgerichtete Jurist muss
sich hier vor Überinterpretationen hüten. Andernfalls kommt es zu unreflektierter
Rezeption von Aussagen, die schon nach ihren eigenen Maßstäben so nicht verstanden sein wollen.
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Am einfachsten sollte es methodisch sein, sich auf der Ebene der normativen Aussagen aufeinanderzu zu bewegen. Zu verlangen ist jedoch, dass die unterschiedlichen
Ausgangspunkte, von denen her die Normativität konstruiert ist, beachtet werden.
Wirtschaftlichkeit z.B. ist zwar ein Tatbestandsmerkmal zahlreicher Gesetze und hat
folglich eine juristische Normativität. Das besagt jedoch nicht, dass dafür dieselben
Annahmen prägend sind, wie sie die Wirtschaftswissenschaften mit der Modellvorstellung des homo oeconomicus entwickelt haben.
Andreas Voßkuhle, Methode und Pragmatik im Öffentlichen Recht, in: Bauer/Czybulka/Kahl/Voßkuhle (Hrsg.),
Umwelt, Wirtschaft und Recht, (Mohr Siebeck, Tübingen, 2002), S. 171 (188 ff.).
Zur Rechtstatsachenforschung Andreas Voßkuhle, Verwaltungsdogmatik und Rechtstatsachenforschung, in:
Verwaltungsarchiv, Bd. 85 (1994), S. 567 ff.
Friedrich Müller/Ralph Christensen, Juristische Methodik I, 8. Aufl., (Duncker und Humblot, Berlin, 2002), S.
297 ff.
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