"Neues Verwaltungsrechts im Wandel des sozialen Rechtsstaats" von Universitätsprofessor Dr. Dr. h. c. Rainer Pitschas, Dipl.-Vww. Deutsche Universität für Verwaltungswissenschaften Speyer März 2013 2 Neues Verwaltungsrecht im Wandel des sozialen Rechtsstaates von Universitätsprofessor, Dr. jur. habil. Dr. h.c. Rainer Pitschas Deutsche Universität für Verwaltungswissenschaften Speyer I. Verwaltungstheorie als anwendungsorientierte Staats- und Verwaltungslehre II. Staatliche Modernisierung und Funktionswandel der Verwaltung 1. Rekonstruktion der Staatsfunktionen: Vom „Government“ zur „Governance“ 2. Auf dem Weg zum „situativen“ Rechtsstaat 3. Vom daseinssichernden zum wettbewerblichen Sozialstaat 4. Rahmenbedingungen rationalen Verwaltungshandelns 5. Neue Staatlichkeit und Aufgabenstrukturen der öffentlichen Verwaltung 5.1. Verwaltungsaufgaben als Gemeinschaftsaufgaben 5.2. Öffentliche Verwaltungen als Dienstleistungsunternehmen 5.3.Aufgabenentlastung durch Selbstregulierung: Selbstverwaltung und Selbsthilfe III. Neuansätze verwaltungsrechtlicher Theoriebildung 1. Strukturwandel des Verwaltungsrechts 2. Dimensionen des Strukturwandels 3. Regulierungs- und Steuerungsparadigma 4. Rationalitätsbindungen der Verwaltungsmodernisierung 5. Europäisierung und Internationalisierung der öffentlichen Verwaltung IV. Entwicklungsperspektiven der Verwaltungsrechtsdogmatik im Rahmen der neuen Staatlichkeit 1. Perspektiven der verwaltungsrechtlichen Systembildung 2. Wandel der Verwaltungsrechtsdogmatik 2.1. Öffnung der Rechts- und Handlungsformen 2.2.Verwaltungsverfahrens- und Verwaltungsorganisationsrrecht als Steuerungspotenzial 2.3. Veränderungen in den Personalstrukturen V. Verwaltungsrecht und Verwaltungsgerichtbarkeit 3 I. Verwaltungsrechtstheorie als anwendungsorientierte Staats- und Verwaltungslehre Für den spätmodernen Verfassungsstaat gilt schon längst der Lehrsatz nicht mehr, dass „Verwaltungsrecht besteht, Verfassungsrecht vergeht" (O. Mayer). Denn die Verfahrensidee des Staates lässt dessen Modernisierung als phasenweisen Vorgang einer kulturell und durch Tradition geprägten - aber auch gebundenen Staats- und Verwaltungsentwicklung erkennen, die aus der Vergangenheit in eine andersartige Zukunft führt. In diesem Prozess bestimmen sich die staatliche Gegenwart und ihr (Verwaltungs- )Recht als vergängliche Moderne funktional, d. h. nach Maßgabe und zur Bewältigung der national, trans- supra- und international jeweils von neuem veranlassten Aufgaben. Man spricht deshalb nicht von ungefähr von einer Neuen Staatlichkeit in Deutschland. Die Staatsfunktionen werden dabei aber nach wie vor an Recht gebunden. Auch der moderne Staat ist in diesem Sinne "Rechtsstaat" oder er existiert nicht. Man mag die ihm eigene Verknüpfung rechtlicher Grundsätze mit dem Handeln rechtsförmig geprägter öffentlicher Institutionen als „rule of law", „due process of law" oder als „état de droit" bezeichnen, doch meinen die gewählten Begriffe jeweils dasselbe, nämlich die Unterordnung des Staates unter die Herrschaft des Rechts. Dies geschieht zum Schutz der individuellen Freiheit und zur Bindung staatlicher (Verwaltungs-)Macht an das in geordneten Verfahren zustande gekommene und verfassungsgemäß angewendete Recht. In diesem umfassenden Verständnis fungiert das .Rechtsstaatsprinzip" als eine universell akzeptierte Legitimation staatlicher Herrschaft. Es gibt den Grundsätzen materieller Gerechtigkeit, allgemeiner Gleichheit und dem Schutz vor staatlicher Willkür prinzipiellen Ausdruck. Zugleich ist der Rechtsstaat ein Maßstab jeder Verwaltungstätigkeit und des Rechtsschutzes. Staatliche Herrschaft und damit auch Verwaltungshandeln erweisen sich deshalb letztlich als rational nur kraft ihrer Bindung an Verfassung, Gesetz und Recht. Diese Bindung prägt auch das Verwaltungsrecht. Es nimmt die Aussagen, Intentionen bzw. Direktiven des Verfassungsrechts auf und es teilt dessen 4 Entwicklung durch die ständige eigene Anpassung seiner Handlungsformen, Maßstäbe, Organisations- Verwaltungsrechtsverhältnisse. und Verfahrensregeln Verwaltungsrecht ist sowie der konkretisiertes Verfassungsrecht. Vor diesem Hintergrund verstehen wir unter Verwaltungsrecht die Summe funktionaler Rechtsbildung durch die Exekutive als Staatsfunktion. Insofern stellt Verwaltungsrecht einerseits den Inbegriff der (geschriebenen und ungeschriebenen) Rechtssätze dar, die in Anwendung und Durchsetzung der Verfassung für die Verwaltung - die Verwaltungstätigkeit, das Verwaltungsverfahren und die Verwaltungsorganisation - gelten. Andererseits gestaltet es unter Konkretisierung der verfassungsrechtlichen Maßgaben die Beziehungen zwischen der Verwaltung und dem Bürger. Es begründet in diesem Verhältnis spezifische Rechte und Pflichten. Diese wiederum sind in eine umfassende Ordnungs-, Planungs-, Leistungs-, Regulierungs-, Gewährleistungs-, Vermittlungs- und Moderationsfunktion der öffentlichen Verwaltung eingebettet. In diesem Sinne erweist sich Verwaltungsrecht als verfassungsgeleitetes Steuerungsrecht In seinem Mittelpunkt steht das Bewirken von Wirkungen durch rechtsförmiges Handeln und Entscheiden sowie durch Planung, Regulierung, Vollzug und Kontrolle. Für die Programm-, Regulierungs-, Organisations- und Verfahrensstruktur der öffentlichen Verwaltung ergeben sich hieraus vielfältige Konsequenzen. Der Wandel der Staatsidee, -funktionen und -verfassung führt zu einem kontinuierlichen Veränderungsprozess des Verwaltungsrechts. In welchem Ausmaß dies für die Verwaltung als "arbeitender Staat" (L. v. Stein) und für das Verwaltungsrecht auch derzeit der Fall. ist, erweist der spezifische Blick der Staats- und Verwaltungslehre auf die gegenwärtige staatliche Modernisierung in Deutschland und den aktuellen Funktionswandel der deutschen Verwaltung. II. Staatliche Modernisierung und Funktionswandel der Verwaltung 1. Rekonstruktion der Staatsfunktionen: Vom Government zur „Governance“ 5 In der Bundesrepublik Deutschland, in der Europäischen Union (EU) sowie weltweit ist das Verwaltungsrecht der Verschiebung staatlicher Funktionen unterworfen. Im modernen Verfassungsstaat westlicher Prägung handelt es sich dabei um einen Vorgang, dessen Verlauf mehrere Phasen erkennen läßt. Diese richten schubweise neue Herausforderungen an das nationale und grenzüberschreitende (internationale) Verwaltungsrecht. Insofern die Funktionen des modernen Staates dabei und jeweils an das Recht und die Rechtssetzungsprozesse gebunden sind, hat sich der moderne Staat zunächst als ein formaler Rechtsstaat entwickelt, der sich für den Vollzug seiner Regeln auf eine formale Bürokratie stützte, die ein entsprechend strukturiertes Verwaltungsrecht angewendet hat. Der in relativ unabhängige Subsysteme und Sphären des Handeins gegliederten Gesellschaft trat auf diese Weise ein Staat gegenüber, der den Schutz der territorialen Integrität übernahm, die Ordnung im Innern aufrecht erhielt und im übrigen auf der Grundlage eines gesetzlichen Rahmenwerkes bestimmte öffentliche Aufgaben erfüllte. Jenseits dessen anerkannte der formale Rechtsstaat die funktionale Differenzierung der Gesellschaft, in deren Mitte sich vor allem das liberale Wirtschaftssystem nach den ihm eigenen Prinzipien von Privateigentum, Markt und Wettbewerb entfaltete. Das Rechtssystem war diesbezüglich darauf angelegt, dem "freien Wirtschaften" Sicherheit und Ordnung zu geben; im übrigen war es von der Zulässigkeit punktueller Interventionen („Lenkung“) in die relativ selbständigen Handlungssphären der Gesellschaft geprägt. Am Beginn des einundzwanzigsten Jahrhunderts sieht sich indessen in Europa und in Deutschland das klassische Rechtsstaatsmodell vor neuartige Herausforderungen gestellt. Es trifft auf einen Prozess der staatlichen und administrativen Modernisierung, der in der Bundesrepublik Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg einsetzte und zunächst zu einer sozial-ökologischen und marktwirtschaftlichen Prägung des materiellen Rechtsstaates geführt hat. Dem entsprach ein Umbau des Staats- und Verwaltungsrechts ebenso wie ein Strukturwandel der öffentlichen Verwaltung und die Fortschreibung des bürokratischen Handlungsmodells. Wesentliche Kennzeichen dieser Entwicklung waren die Interpretation der Grundrechte als 6 Leistungsrechte der und ihre Gewaltenteilung zur objektiv- rechtliche Deutung, die Entwicklung staatlichen Funktionenverschränkung, die Entwicklung einer "Systemfunktion" des subjektiv-öffentlichen Rechts und daneben der Ausbau des Wohlfahrtsstaates unter gleichzeitiger Akzentuierung des Umweltschutzes. Die Verwirklichung einer "Staatsidee der sozialen Reform" (Sozialstaat) mit darauf ausgerichteten Entscheidungs- und Handlungsoptionen führte über die etablierte und rechtsstaatlich gestützte Ordnung hinaus und machte ständige staatliche Interventionen in soziale Lebens- und Problemlagen erforderlich. Kennzeichnend hierfür war der Begriff des "sozialen lnterventionsstaates". Die nächste Phase der staatlichen Modernisierung verkörperte der explizite Einbezug gesellschaftlicher Akteure bzw. Institutionen in die Handlungsebene des Staates, ihre konkrete Ausgestaltung und ihre prozessualen Elemente ("Governance"). Die Autonomie des Rechtsstaates, die als solche schon immer prekär war, wird in dieser Phase zugunsten kooperativer Strukturen zwischen Staat und gesellschaftlichen Handlungsträgern aufgelöst. Im "kooperativen Rechtsstaat" übernimmt die öffentliche Verwaltung in der Zusammenarbeit mit privaten Akteuren zahlreiche Koordinations-, Kooperations-, Vermitllungs- und Moderationsfunktionen; sie muss sich zugleich die Legitimation ihrer Maßnahmen zunehmend selbst im Rahmen einer eigenständigen Verwaltungs- und Verfahrensverantwortung für Kooperation, Koordination, Kommunikation und Konsens ("Strategie der vier 'K"') beschaffen. Dem entspricht ein breiter Wandel der Handlungsformen unter Zurückdrängung des Verwaltungsakts, der noch zu Zeiten O. Mayers die formale Rationalität der Bürokratie nach außen widerspiegelte. In den letzten Jahren ist allerdings eine neue Phase der Staats- und Verwaltungsreform angebrochen: Die nicht mehr finanzierbare Entwicklung des Wohlfahrtsstaates und der zunehmende Freiheitsverlust des Individuums durch Verrechtlichung andererseits haben einerseits, dazu geführt, die wachsende daß Rekonstruktion der Staatsfunktionen heute bürokratische der Ruf nach Enge einer i. S. eines Gewährleistungsstaats erneut und laut erschallt. Er findet sich in mehr oder weniger ausgeprägter 7 Deutlichkeit auch in anderen Regionen dieser Welt wahrgenommen. Kulturelle Differenzen treten dabei zunehmend zurück. Denn die Überlastung des Wohlfahrtsstaates ist allgemein offenbar. Mehr noch, der Übergang zu einer neuen Staatlichkeit ist erkennbar. Dies gilt selbst für den Sektor der inneren Sicherheit. Viele Staaten haben inzwischen entsprechende Modernisierungsschritte eingeleitet. Auch in der Bundesrepublik Deutschland ist es auf der staats- und verwaltungsrechtlichen Ebene zu entsprechenden Rechts- und Verwaltungsreformen gekommen, die bestimmten „Schlankheitskonzepten" folgen. Offen ist einstweilen – im europäischen Verwaltungsraum und jedenfalls in Deutschland - aber immer noch, wohin die Entwicklung des Verwaltungsrechts geht. Nähere Aussagen hierzu müssen sich auf die prinzipiellen Veränderung der Zwecke des modernen Staates besinnen. Die Orientierung daran ermöglicht es, die Zukunft von Staat, Recht und Verwaltung auch in Europa neu zu bestimmen. Darüber hinaus gibt es für staatliches Handeln spezifische Rahmenbedingungen, die den Funktionswandel der Verwaltung und die verwaltungsrechtliche Theoriebildung beeinflussen. Sie lassen sich im Begriff der "Vier Modernisierungen" zusammenfassen. Diese kennzeichnen den funktionalen Wandel des spätmodernen Staates. 2. Auf dem Weg zum situativen" Rechtsstaat Auch für diesen gilt allerdings, dass heute der Rechtsstaat aus seinem Alltag nicht mehr hinweg zu denken ist. Die auf ihn bezogene Gesetzgebung hat in Deutschland eine Vielzahl subjektiv-öffentlicher Rechte ausgeformt, auf die sich die Bürger in ihrem Handeln gegenüber Staat und Verwaltung berufen können. Es ist nicht übertrieben zu behaupten, daß die Modernität der okzidentalen Gesellschaften auf diesem Funktionsprinzip des Rechtsstaates („Systemfunktion des subjektiv-öffentlichen Rechts“) beruht. Es garantiert die Verwirklichung der ökonomischen, beruflichen und individuellen Freiheiten schlechthin in den Teil-Systemen der Gesellschaft. In diesem Sinne übernehmen die subjektiv-öffentlichen Rechte des Bürgers eine tragende 8 Systemfunktion im Zusammenhang der funktionalen Differenzierung moderner Gesellschaften. Allerdings tritt komplementär hierzu immer deutlicher mit dem Übergang zur Regulierung die defizitäre Programmfunktion des Rechtsstaats und seines Verwaltungsrechts in den Vordergrund. Der Gesetzgeber geht im heutigen Rechtsstaat immer öfter dazu über, "offene Normen" zu schaffen. Diese enthalten weder Konditional- noch Finalprogramme, sondern der Gesetzgeber gibt mit seinen Rechtssätzen lediglich Ziele und allenfalls .Reqelunqskonzepte" vor; er legt eine Programmverantwortung fest und er regelt Organisation und Verfahren der Gesetzesverwirklichung, dabei immer öfter auf hybride Organisationsformen zurückgreifend. Auf diese Weise gibt der Gesetzgeber der Verwaltung immer seltener eine einzige bzw. aus dem Gesetz nur abzulesende Rechtsfolge zur Verwirklichung auf. Verwaltungsrecht allein garantiert deshalb die "lückenlose" Entscheidung des konkreten Problemfalles nicht mehr; die fertige Entscheidung ist einer gesetzlichen Norm oft kaum noch zu entnehmen. Im modernen Rechtsstaat kommt deshalb der Rechtskonkretisierung durch die Verwaltung und ihre externen Partner notwendig ein rechtsbildender und rechtsfortbildender Charakter zu. Die öffentliche Verwaltung sieht sich auf diese Weise in den Stand versetzt, bei der Lösung von Einzelproblemen nicht nur von der gesetzlichen Bestimmung ausgehen und deduktiv die Folgerungen aus dem Gesetz ableiten zu müssen. Vielmehr konstituieren der reale Sachverhalt - das Anliegen des Bürgers oder Unternehmens - und der offene „Normtext" eine Situation, in der ein anwendungsbezogenes .Normprogramm" für die nachgefragte konkrete Entscheidung entwickelt werden kann. Der in diesem Sinne gestaltungsbewusste und –fähige, seiner Regulierungsfunktion gewisse situative Rechtsstaat hat denn auch längst seinem Schutzauftrag eine entsprechende Steuerungsfunktion zugesellt. Sie ermöglichte die Entwicklung der westlichen Industrieländer zu „Umweltstaaten", denen - wie in der Bundesrepublik Deutschland (Art. 20 a GG) - "der Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen" aufgegeben ist. 9 Daneben steht die zum Sozial- und Umweltstaat nicht immer konfliktfreie Entwicklung des Wirtschaftsstaates. Auch in der Verfassung des Informationsstaates spielt das rechtsstaatliche Fundament eine wesentliche Rolle. Allerdings sind die Grundleistungen des Rechtsstaates im Verlauf dieser .Modernisierung" nicht etwa hinfällig geworden. So stellt z. B. die Verfassung moderner Märkte in Übereinstimmung mit den europäischen Normen erhebliche Anforderungen an die Gewährleistung von Rechtssicherheit und flexibilität. Auch müssen etwa die vom Technikstaat ausgehenden materiellen Risiken rechtsförmig "aufgefangen" werden. „Recht“ als solches und das Produkt seiner Konkretisierung lösen sich also nicht völlig vom Gesetz ab. Im Gegenteil findet sich einerseits der Versuch, die Effizienz des Gesetzes samt der Gesetzgebung zu steigern sowie den empfindlichen Ausfall gesetzlich-parlamentarischer Steuerungsmöglichkeiten durch die zu Forderung Grundrechten jedenfalls vorzubehalten. Zum kompensieren, "wesentliche" anderen hat für die Verwirklichung Regelungen sich in dem den von Gesetzgeber hochkomplexen Industriegesellschaften des Westens ein außerordentlich hoher Grad an Verrechtlichung ergeben. Auch darin liegt der Versuch, die "Situation" der notwendigen Problemlösung durch Verwaltungshandeln über die Vermehrung von Recht in ein rechtliches Gehäuse zu zwingen. Schließlich verlangt der Rechtsstaat vor allem Rechtssicherheit und Voraussehbarkeit. Im übrigen sorgen auch die Verwaltungsgerichte mit manchen ihrer Entscheidungen dafür, daß die Kontrolldichte noch immer wächst und damit der Handlungsspielraum für die Behörden nicht größer, sondern kleiner geworden ist. Die Gefahren dieser Entwicklung sind offenkundig; die krebsartige Überformung der Gesellschaft durch rechtliche Regeln erstickt das individuelle Leben und erdrosselt freies Wirtschaften. 3. Vom daseinssichernden zum wettbewerblichen Sozialstaat mit Gewährleistungsfunktion In dem Maße, in dem heute und zukünftig der situative Rechtsstaat nicht das Gesetz zum Ausgangspunkt des Handeins, sondern die Lösung eines Problems unter Einhaltung des rechtlichen Rahmens zum entscheidenden 10 Angelpunkt des Verwaltungshandelns wählt, ändert sich auch das Verständnis des Sozialstaatsprinzips in der Bundesrepublik Deutschland. Der "neue" Sozialstaat zieht die Konsequenz daraus, dass seine bisherige Ausprägung als Leistungsstaat zahlreiche Überlastungssymptome offenbart hat. Für die Lasten des Sozialstaates als Wohlfahrtsstaat ist vor allem die Ausgabenquote, also der Anteil der staatlichen Gesamtausgaben am Bruttoinlandsprodukt kennzeichnend. Schon während des Ersten Weltkrieges begannen zwar die öffentlichen Ausgaben nach und nach zu steigen; tatsächlich schnellten sie aber nach 1960 und vor allem angesichts steigender Sozialausgaben in die Höhe. Der Zeitraum zwischen 1960 und 1980 wird durch eine beispiellose aktive Ausgabenpolitik der westlichen Industrieländer und auch Deutschlands geprägt. Heute stellt sich die Frage, ob das Wachstum des Staates über die letzten 35 Jahre hinweg tatsächlich nennenswert zu einer Erhöhung der sozialen Wohlfahrt geführt hat. In den westlichen Industriestaaten herrscht jedenfalls heute allgemein Klarheit darüber, daß angesichts des zunehmenden weltweiten ökonomischen Wettbewerbs insbesondere die sozialen Sicherungsnetze nicht mehr in dem bisherigen Ausmaß finanzierbar sind und durch private Sicherung gegen die Lebensrisiken von Krankheit, Alter, Arbeitslosigkeit u. a. m. ergänzend abgesichert werden müssen.. Auch der Sozialstaat gerät auf diese Weise in seinem wohlfahrtsstaatlichen Verständnis unter Modernisierungsdruck. Dabei stellt vor allem die Berufung individueller Sozialverantwortung ein unverzichtbares Instrument der Krisenreaktion dar. In den Bereichen sozialer Sicherung muss künftig die individuelle Sozialverantwortung zu Lasten bisheriger Solidarverantwortung noch stärker erhöht werden. Deutlich kündigt sich der Übergang vom proaktiven zum wohlfahrtsdistanzierten und wettbewerblichen Sozialstaat an. Letzterer setzt auf die Konkurrenz mit privaten Leistungsanbietern. Er zieht sich mehr und mehr auf die Funktion als Gewährleistungsstaat zurück. Dessen Begriff und ermächtigende Reichweite konstituieren sich im Wandel der Verantwortung für soziale Sicherung. Auf diese Weise ist im Begriff des "distanzierten" sozialen Rechtsstaats der 11 Ruf nach einer Gesamtreform des öffentlichen Sektors geborgen. Denn die Staats- und Verwaltungsverantwortung erdrückt bisher nicht nur im ökonomischen Bereich die Eigenverantwortung des Bürgers und die individuelle Freiheitsentfaltung, sondern in nahezu allen Freiheitsbezirken. Deshalb gewinnt für die Rekonstruktion der Staatsfunktionen auch die interne Rationalisierung des öffentlichen Sektors Effektivität und Effizienz der im Sinne einer Steigerung von Behördenarbeit und kommunalen Selbstverwaltungen zu Beginn des neuen Jahrtausends an Bedeutung. Die hierzu bislang vorgelegten anglo-amerikanischen Modernisierungskonzepte öffentlicher Verwaltungen wie z. B. das "New Public Management", „Reinventing Government" u. a. sind zwar einflussreich geworden. Sie vermögen jedoch nicht über eine schlichte Reduktionspolitik ("Cost Cutting", "Down Sizing") hinaus zu führen. 4. Rahmenbedingungen rationalen Verwaltungshandelns Die Reform des Staatssektors mit Auswirkungen auf das Verwaltungsrecht hat damit freilich erst begonnen. Sie endet nicht bei Governance-Konzepten. Ihre theoretische Aufarbeitung und Konzeption hat nicht nur die Veränderung der verfassungsrechtlichen Staatszielbestimmungen und die Verschiebung der Staatsfunktionen zu berücksichtigen, sondern auch die Rahmenbedingungen in Rechnung zu stellen, innerhalb deren die Staats- und Verwaltungsreform in Deutschland und im europäischen Verwaltungsraum zu verwirklichen ist. Zu diesen Rahmenbedingungen zählt zunächst der Werte- und Verantwortungswandel in der Gesellschaft und in den Verwaltungen selbst. Zu verstehen ist hierunter der Bodengewinn der Selbstentfaltungswerte in den letzten Jahrzehnten. Er beschränkt sich nicht nur auf die anglo-europäische Region. Alle modernen Gesellschaften sind mehr als je zuvor auf individuelle Initiative, Einsatzbereitschaft und "Motivation" ihrer Bürger angewiesen. Und schon längst ist der "subjektivistische" Anspruch, der in diesem Wandel sozialer und solidarischer Einstellungen gegenüber der Gesellschaft zum Ausdruck kommt, von den Staaten vielfach akzeptiert und in wachsende Spielräume für eine Mitverantwortung der Bürger an der Gestaltung von 12 Gesellschaftszuständen überführt worden. Hervorzuheben ist vor allem das Bürgerengagement in der kommunalen Selbstverwaltung, das mit wachsenden Ansprüchen nach einer Vorhabenspartizipation einhergeht. Daneben und andererseits steht die Neubestimmung des Verhältnisses von Staat und Wirtschaft. Das Modell der Marktwirtschaft hat heute nicht nur eine globale Attraktivität entfaltet, die auch die ehemals sozialistischen Staaten nach und nach zur Absage an die Staatswirtschaft gezwungen hat. Der Dynamik der Marktwirtschaft ist zugleich ein weltweiter Wettbewerbs- und Modernisierungsdruck auf die nationalstaatlichen Wirtschafts-, Umwelt-, Sozial- und Verwaltungspolitiken zuzuschreiben: Die „Globalisierung" der Wirtschaft gehört heute zu den prinzipiellen Herausforderungen an die Wettbewerbsfähigkeit nationaler Volkswirtschaften und die Gestaltung des Rechts. Daraus folgt etwa für die Entwicklung des Wirtschaftsrechts, dass weltweite Wettbewerbsregeln erforderlich werden und deshalb die World Trade Organization (WTO) zum Ausgangspunkt für eine künftige rechtliche Verfassung der Weltwirtschaft heranreift. In diesen Zusammenhang gehört auch und drittens die Rekonstruktion der internationalen Beziehungen. Dies gilt einerseits in Bezug auf die europäische Integration. Die Neugestaltung der internationalen Ordnung reicht freilich weit darüber hinaus. Denn in allen Regionen und Religionen werden traditionale Lebensformen kosmopolitisch aufgebrochen. Die Folge dessen ist ein globaler Kulturdialog, der dazu zwingt, sich mit Situationen auseinanderzusetzen, für die der jeweils eigene Traditions- und Kulturraum keine Antworten bereithält. Zudem und andererseits führen diese Konsequenzen der Moderne zu einer Intensivierung der Entwicklung internationaler Rechtsregeln, zu denen auch das supranationale und internationale Verwaltungsrecht gehören. Zu einem revolutionären Wandel der ökonomischen, sozialen und politischen Verhältnisse führt schließlich der technologische Fortschritt, der sich vor allem in der Informations- und Kommunikationstechnik mit der Öffnung zum Web 2.0 und zu sozialen Internetbeziehungen offenbart. Nicht nur die 13 Industrienationen, sondern alle Staaten dieser Erde befinden sich auf dem Weg in die globale Informationsgesellschaft. Ein bedeutsamer Teil dieser künftigen Entwicklung ist die Informatisierung der öffentlichen Verwaltungen. Das bekannte Thema über "Recht und Automation in der öffentlichen Verwaltung" (N. Luhmann) dehnt damit in der globalen Informationsgesellschaft seine Bedeutung noch aus. Dies gilt umso mehr, als wir uns heute im öffentlichen Sektor mit der Notwendigkeit einer grundlegenden Verwaltungsmodernisierung auseinandersetzen müssen, die jedenfalls in den Industrienationen unter der griffigen Bezeichnung eines .New Public Management" internationale Zusammenhänge herstellt. 5. Neue Staatlichkeit und Aufgabenstrukturen der öffentlichen Verwaltung 5.1. Verwaltungsaufgaben in „Public Private Partnership (PPP)“ Die aufgezeigten "vier Modernisierungen" stellen eine komplexe Maßgabe neuer Staatlichkeit für den Funktions- und Strukturwandel der öffentlichen Verwaltung dar. So wird, um den "distanzierten" Sozialstaat im voraufgehend skizzierten Sinne zu erreichen, eine effektive (De-)Regulierung durch den Staat erforderlich. Diese bedingt den Übergang zu einem .neuen" Sozialstaat, der in erheblichem Maße die individuellen und gesellschaftlichen Verantwortungen für die Wirtschafts-, Umwelt- und Sozialpolitik stärkt. In diesem Prozess wandelt sich zugleich die Verantwortung des Staates: Er übernimmt statt der eigenen Handlungs- bzw. Produktionsverantwortung nur mehr noch eine Rolle als Aufsichtsinstanz. d. h. er gewährleistet die Erfüllung der von ihm für notwendig gehaltenen ökonomischen, ökologischen und sozialen Ziele durch privates Handeln. Verbunden damit ist ein Rückgang staatlicher Aufgaben und der verteilenden Verwaltung. Statt bisheriger Interessenschlichtung, Betreuung und Mitberücksichtigung durch diese kommt es zu einer anderen „Verantwortungsverteilung" und .“Verantwortunqspartnerschaft" mit der Gesellschaft. Der Weg hierzu ist bereits beschritten, wie zwei Beispiele zeigen mögen. Im Bereich der "Technischen Sicherheit" hat sich u. a. im Arzneimittelrecht, Gentechnikrecht, Chemikalienrecht und auch im Atomrecht eine rechtliche 14 Risikovorsorge entwickelt, Risikokommunikation ist. deren Kennzeichen eine institutionalisierte Diese ersetzt weitgehend die materielle Überwachung der Risikoproduzenten. Ferner sehen sich im Sektor der "Inneren Sicherheit" Bund und Länder in der Bundesrepublik Deutschland vor die dringliche und tendenziell bejahte Frage gestellt, ob die Aufgabe der vorbeugenden Bekämpfung von Kriminalität privaten Sicherheitsunternehmen zu großen Teilen zu übertragen sei. Schließlich wird auch der Leistungsstaat in diesen Umbau der Verantwortung für soziales Handeln einbezogen, soweit nicht die „Daseinsvorsorge“ in private Hände übergegangen ist: Nicht von ungefähr sind die Sozialpartner sowohl in Deutschland als auch in der EU im Rahmen von Bemühungen .Beschäftunqspakten" um den Kampf bzw. gegen "Sozialen die Dialogen" wachsende in die Arbeitslosigkeit einbezogen. Deutlich offenbaren sich jeweils Verwaltungsaufgaben als Partnerschaftsaufgaben von Staat und Bürgern. 5.2. Öffentliche Verwaltungen als Dienstleistungsunternehmen mit Gewährleistungsauftrag Der darin liegende und Funktions- Strukturwandel öffentlicher Verwaltungen sieht sich durch die Neubestimmung des Verhältnisses von Staat und Wirtschaft bzw. von Staat und Bürgern noch verstärkt. Aufgegeben ist, Verwaltung vom Bürger her zu "denken". In Bezug auf die Unternehmenswirtschaft bedeutet dies, sich in die jeweiligen Antragsteller hineinzudenken und die Belange der Verwaltungskreativität auf die Frage zu konzentrieren, wie dem Anliegen entsprochen werden und der gestellte Antrag genehmigt werden kann. Öffentliche Verwaltungen bilden aus dieser Sicht Dienstleistungsunternehmen bzw. -betriebe. Diesen sind eine zu schwache Organisation, Reibungsverluste zwischen beteiligten Haushaltsrechts unüberschaubare und Behörden, die Normenflut Ressortegoismen, Zwänge ein des die Personalrechts Hemmschuh bei der Enge des sowie die erfolgreichen Bewältigung öffentlicher Aufgaben. Ihn gilt es abzustreifen. Die Aufgabe der öffentlichen Verwaltungen heute und in Zukunft ist es statt dessen, dem 15 Bürger oder Unternehmen als "Kunden" der Verwaltung mit dem Selbstverständnis eines Dienstleisters gegenüberzutreten. 5.3. Aufgabenentlastung durch regulierte Selbstregulierung, Selbstverwaltung und Selbsthilfe Der skizzierte Einbezug der Wirtschaftsverbände einerseits und der Sozialpartner andererseits in die Regulierung sozialer Sicherung oder die Vertiefung partnerschaftlicher Zusammenarbeit mit den Unternehmen im Bereich des Umweltschutzes selbstregulierungsfreundlichen sind jeweils Rechtsgestaltung. Ausdruck Diese führt einer zur Aufgabenentlastung für die öffentlichen Verwaltungen. Dahinter steht das Leitbild eines Staates, Aufgabenverständnis sowie der sich in in seinen seinem Funktions- Handlungsformen und vom Interventionsdenken weg und auf den Weg zur Motivation und Organisation von Selbstorganisationsprozessen im Rahmen seiner Regulierung begibt, zu einer Vermittlungsfunktion. Darin eingeschlossen ist das Bemühen, die Selbststeuerungspotentiale durch Bürgermitverantwortung in Gestalt der Selbstverwaltung zu stärken. Dabei wird der Schwerpunkt im Prozess der Rechtsbildung institutionell auf die Träger der Selbstverwaltung verlagert. Dazu gehört auch die Selbsthilfe als Form des individuellen bzw. kollektiven Helfens innerhalb der Gesellschaft bei sozialen Notlagen. Auch hierbei handelt es sich um "gelebte" Bürgermitverantwortung. Wird auf diese Weise dem "schlanken" Staat die Kraft eines qualitativ „neuen" Rechts abgewonnen, das in seinem "Gehäuse" ebenso der Entwicklung einer Kultur der Rechtsvereinfachung wie der Rechtsentlastung hinreichend Raum gibt, dann vermag sich die öffentliche Verwaltung auf ihren eigentlichen Auftrag zu besinnen, neben der Gewährleistung von Daseinsvorsorge komplexe Verwaltungsaufgaben zu übernehmen und zu bewältigen. Denn im Rollen- und Gestaltwandel von Gesetz und Recht müssen immer häufiger komplexe Entscheidungen vor dem Hintergrund nur grobmaschig vorgeformter gesetzlicher Grundlagen getroffen werden. Deren typischer Gehalt ist das Abwägen innerhalb gesetzlicher Zielorientierungen unter Neubesinnung auf den Wert der Verwaltungseffizienz bei gleichzeitiger Rücknahme der 16 Systemfunktion des subjektiv- öffentlichen Rechts. III. Neuansätze verwaltungsrechtlicher Theoriebildung 1. Strukturwandel des Verwaltungsrechts Für die öffentlichen Verwaltungen in den Nationalstaaten und im europäischen Verwaltungsraum hat die staatliche Modernisierung einen tiefgreifenden Strukturwandel des Verwaltungsrechts bewirkt. Hierbei handelt es sich um eine prozeßhafte Vervollkommnung der Ordnungsidee des Verwaltungsrechts, die den jeweiligen Einflußfaktoren der Verwaltungsrealität folgt und dabei stets auf früheren Entwicklungsstufen des Verwaltungsrechts aufbaut. In diesem Sinne hatte sich zu Beginn des Jahrhunderts das Verwaltungsrecht auf der Grundlage des formalen Rechtsstaats als ein Gefüge vornehmlich gefahrenabwehrender Vorschriften entwickelt ("Armenpolizey, Gewerbepolizey" u.a.m.). Zu der zentralen Handlungsform reifte der .Verwaltunqsakt" als außenwirksamer Abschluss des formalisierten internen Entscheidungsverfahrens über Anträge des Bürgers oder von Wirtschaftsunternehmen heran. Er war das Produkt einer klassisch hoheitlich (bürokratisch) organisierten Verwaltung, die als rationale Bürokratie das gesetzte, formale Recht in einem System von Ämtern nach Maßgabe eindeutiger Zuständigkeitsvorschriften und kraft Spezialisierung durch hauptamtliches Personal vollzog. Die Mitarbeiter wurden in hierarchischer Über- und Unterordnung bei strikter Unterscheidung von Amt und Person in strenger Regelgebundenheit tätig. Die formale Rationalität dieser Bürokratie wurde überdies durch Aktenmäßigkeit und Schriftlichkeit des Verwaltungshandelns garantiert. Auch wenn diese Handlungsmodi der "Bürokratie" des formalen Rechtsstaats nicht durchweg die Wirklichkeit des Verwaltens zu ihrer Zeit widerspiegeln, so geben sie doch der inneren Verbindung von Staat, Verwaltung und Recht in jener Modernisierungsphase Ausdruck. Doch schon in der sog. Weimarer Republik, spätestens aber nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs führte die anschließende Phase der staatlichen Modernisierung in der Bundesrepublik 17 Deutschland mit tiefgreifenden einem breiten Aufgabenwachstum Aufgabenwandel zu und einem Funktionsveränderungen des Verwaltungsrechts. Bemerkenswert ist dabei vor allem der Übergang zum Leistungs- und Wohlfahrtsstaat sowie die Entwicklung der "Planung" als einer prinzipiellen staatlichen Handlungsform. Das Verwaltungsrecht folgte sowohl dem Aufgabenwachstum als auch dem Aufgabenwandel. Die neuen Verwaltungsaufgaben führten dazu, dass der soziale Leistungsstaat ein Recht der Transferleistungen und Wirtschaftssubventionen entwickelte, der Umweltstaat über lange Jahre zu einem spezifischen Umweltverwaltungsrecht fand und im Informations- und Technikstaat die Kompensation technischer Risiken im Zusammenhang der technischen Realisation neue Gebiete eines Risikoverwaltungsrechts erschloss. Ebenso auffällig gestaltete sich im Regulierungsstaat der Wandel der Handlungsformen im Vergleich zum früheren Verwaltungsrecht: Der „Verwaltungsakt" verlor seine Funktion als bestimmende Handlungsform, obwohl er weiterhin zu einem bevorzugten Handlungsinstrument der öffentlichen Verwaltung gehört. An seine Seite trat der „Verwaltungsvertrag" als eigenständige weitere Handlungsform. Als solcher ist der öffentlich-rechtliche Vertrag ein unverwechselbarer Ausdruck dafür, dass im materiellen Rechtsstaat die Verwaltung in Abstimmung mit dem Bürger eigene materielle Rationalitätskriterien für die Anwendung des Verwaltungsrechts entwickeln muss. Anders als im formalen Rechtsstaat hält nämlich das inzwischen "geöffnete" Verwaltungsrecht mit seinen Ermessensnormen und unbestimmten Rechtsbegriffen, das Konzepte und Zweck- statt Konditionalprogramme bevorzugt, immer seltener konkrete Rechtsfolgen bereit. Der Bodengewinn des öffentlich-rechtlichen Vertrags war dann die Konsequenz daraus, dass sich zwischen Verwaltung und Bürger bzw. Unternehmen immer häufiger formale und informale Aushandlungsprozesse unter gleichzeitiger Erweiterung des alten zweipoligen Verwaltungsverhältnisses entwickelt haben. zum Zugleich drei- und mehrpoligen konstituierte die Rechtsverhältnis Verlagerung der Interventionsverantwortung auf die Verwaltung eine neue Aufgabenstruktur 18 des Verwaltens, die man als verteilende Verwaltung bezeichnen kann. Mit dieser ging die Zunahme subjektiver öffentlicher Rechte einher. Die notwendigen zugleich binnenadministrativen auf die Existenz Abstimmungsverfahren eines neuen Typs von verwiesen komplexen Verwaltungsentscheidungen. Nunmehr unterwirft die Rekonstruktion der Staatsfunktionen im „situativen" Rechtsstaat und „distanzierten" Sozial- bzw. Wohlfahrtsstaat von neuem das Verwaltungs- und Verfahrensrecht spezifischen Ausstrahlungswirkungen. Neue Verwaltungskonzepte, die zur Modernisierung der Verwaltung führen sollen, verändern zugleich ihr Recht. Dabei geht es einerseits - und vornehmlich nach innen gerichtet um die Weiterentwicklung des Verwaltungsorganisations- und Verwaltungsverfahrensrechts einerseits, des Rechts des öffentlichen Dienstes andererseits. Darüber hinaus - und aussengewendet - bedürfen das allgemeine und besondere Verwaltungsrecht in den jeweiligen Handlungsfeldern öffentlicher Verwaltung einer tiefgreifenden Reform nach Maßgabe der Regulierungsziele bzw. –zwecke. Skizziert man deren Grundlinien, so erweisen sich zunächst die Reaktionsfähigkeit des Rechts, seine Flexibilität und (soziale) Gerechtigkeit als wesentliche Voraussetzungen für eine erfolgversprechende Staats- und Verwaltungsmodernisierung in Ansehung des Wandels der realen Verhältnisse. Dazu gehört auch, dass bei Bedarf und auf angemessene Weise das Verwaltungsrecht die erforderlichen Innovationen in der Verwaltung und in Bezug auf die durch das Verwaltungsrecht gesteuerten gesellschaftlichen Teilsektoren ermöglicht. Hierfür werden Regelsetzung und die Durchführung der neuen Regelungen zu jeweils eigenen Anknüpfungspunkten von Flexibilität. In der Bundesrepublik Deutschland lassen sich in diesem Sinne gegenwärtig eine Reihe von Entwicklungslinien bei den Innovationen des Verwaltungsrechts erkennen. Zu ihnen gehört einerseits der Umbau des Besonderen Verwaltungsrechts, insbesondere in den Referenzgebieten des Umwelt-, Wirtschafts-, Technik- und Sozialrechts. Daneben und auf der 19 anderen Seite kommt es im Zusammenhang der Verwaltungs- modernisierung zu einem Wandel der Handlungsformen und -maßstäbe im Allgemeinen Verwaltungsrecht. Dabei spielt insbesondere vor dem Hintergrund des Wandels der Staatlichkeit der Übergang zu einem Konzept der .Verwaltunqspartnerschaft" mit eigenen Handlungsformen eine besondere Rolle. Darüber hinaus und schließlich entwickelt die zunehmende Verzahnung mit dem Zivilrecht, aber auch mit dem Europarecht eigene Integrationsimpulse, die im Europäischen Verwaltungsverbund das deutsche Verwaltungsrecht nachhaltig zu verändern beginnen. 2. Dimensionen des Strukturwandels Bei alledem lassen sich fünf große Entwicklungslinien feststellen. Zunächst wird deutlich, dass trotz aller Umwertung der demokratie-, rechts- und sozialstaatlichen Grundlagen das anlagen- und produktbezogene Ordnungsrecht vor allem im Energiewirtschaftsrecht, Immissionsschutz-, Atom-, Abfall-, Gentechnik- und Chemikalienrecht ein weiterhin tragender Pfeiler des Verwaltungsrechts bleiben wird. In den Vordergrund der Veränderungen des Verwaltungsrechts rücken Flexibilisierung und die Verlagerung instrumentelle allerdings der dessen bisherigen Verwaltungsverantwortung auf die gesellschaftliche Selbstregulierung und die individuelle Eigenverantwortung der Bürger unter gleichzeitiger Gewährleistungsverwaltung und Regulierung durch „Agenturen“. Die Verwaltung hat hierzu förderliche Rahmenbedingungen zu schaffen. Diese sind einerseits im Zusammenhang der staatlichen Kontextsteuerung gesellschaftlichen Handeins geborgen. Staat und Kommunen installieren mit diesem Steuerungsansatz selbstregulative, Gemeinwohl fördernde Projekte, die den Bürgern die Freiheit lassen, ob sie sich hieran beteiligen und wie sie die vorgegebenen verwirklichen Projektziele wollen. Ein und anderer -anforderungen Typus erreichen nicht-imperativer oder staatlicher Einwirkung gründet auf der reflexiven Steuerung: Diese sieht sich dadurch gekennzeichnet, dass selbstverantworteten Staat und Informations-, Kommunen Lern- und interessierte Private Selbstkontrollprozessen 20 aussetzen - wie z. B. im Rahmen der Umweltpolitik durch die Tätigkeit freiberuflicher Umweltgutachter mit Zertifizierungsbefugnissen. Die Frage ist allerdings, in welche Richtung sich diese Entwicklung bewegen wird. Gegenwärtig und. einerseits zielen einzelne Reformansätze auf die Beschleunigung der Verwaltungsverfahren für umweltrechtliche Planungs- und Genehmigungsvorgänge. Dahinter steht der Gedanke, durch eine .kundenfreundlichere" Genehmigungspraxis privaten Unternehmen größere Investitionen zu erleichtern. Auf der anderen Seite geht es darum, den Rechtsschutz der Bürger zu modifizieren, weil dieser bei dessen Inanspruchnahme die Dauer der Genehmigungsverfahren ausweitet. In diesem Sinne ist die Verwaltungsgerichtsordnung als Prozessgesetz für die Inanspruchnahme der Verwaltungsgerichtsbarkeit bei Rechtsschutzbegehren mittlerweile geändert worden; der ebenso neugeschaffene „Güterichter“ tritt im übrigen für die Verwirklichung von Mediationszielen hinzu. Die Reform des Staatssektors mit Auswirkungen auf das Verwaltungs- und Verwaltungsverfahrens- bzw. -prozessrecht hat damit freilich erst begonnen. Ein darüber hinausreichender Funktionswandel des Verwaltungsrechts muss sich an den übergreifenden Zielen der Modernisierung der Bundesrepublik Deutschland ausrichten. 3. Defizitäres Regulierungs- und Steuerungsparadigma Die Zukunft von Staat, Verwaltung und Recht in der Bundesrepublik Deutschland daran neu auszurichten, stößt allerdings auf ein Kernproblem: Es besteht darin, dass eine hoch komplexe Industriegesellschaft ihre Konfliktbewältigung nahezu ausnahmslos in Regulierungszusammenhänge eingebettet und damit in Rechtsprobleme überführt hat. Die Neudefinition der Bewältigung dieser Rechtsprobleme unterliegt aber immer auch und zugleich der Steuerungskraft von Recht. (Verwaltungs- )Recht erscheint jedoch insoweit als ein prekäres Steuerungsinstrument. Denn zu fragen ist, inwieweit und nach Maßgabe welcher Bedingungen das Recht überhaupt noch in der Lage ist, als ein zentrales „Steuerungsinstrument" der gesellschaftlichen Entwicklung in Regulierungszusammenhängen zu fungieren. 21 Im übrigen müssen die Leistungsgrenzen einer Steuerung durch Recht im Auge behalten werden. Denn Steuerungsüberlegungen und modelle stehen in der Gefahr, vereinfachte Ursache-Wirkungs-Beziehungen herzustellen. Der rechtswissenschaftliche Umgang mit vornehmlich sozialwissenschaftlich inspirierten Steuerungsüberlegungen und ökonomisch begründeten Regulierungsansätzen darf sich nicht in sozialtechnologischen Überlegungen erschöpfen. Das Recht ist zwar Steuerungsmedium; aber es ist auch materiale Wertordnung und Grenzziehung aller Steuerung. 4. Rationalitätsbindungen der Verwaltungsmodernisierung In diesem Sinne sucht heute Verwaltungshandeln durchweg nach materialen und materiellen Rationalitätskriterien in einem System der dezentralen Rechtsbildung, in dem es neben den Beiträgen einer an Bedeutung zurücktretenden Gesetzgebung und denen der exekutivischen Normsetzung bzw. der Rechtsprechung auch eine eigenständige Verwaltungs- verantwortung, d. h. „Verwaltungsautonomie" gibt. Der darin offenbare Übergang zu materiellen und werthaften Rationalitätsmaßstäben des öffentlichen Handelns hat sich freilich nicht völlig von den bürokratischen Anforderungen des rechtsstaatlichen Verwaltungsverständnisses gelöst. Der Kern der modernen Verwaltung beruht auch in Zukunft auf den Merkmalen einer hierarchischen Über- und Unterordnung der Mitarbeiter beim Aufgabenvollzug, der Trennung von Amt und Person, der Bindung an Recht und Gesetz, der Aktenmäßigkeit und Schriftlichkeit des VerwaltungshandeIns. Dies entspricht der „rule of law": Wer wollte z. B. auf eine strikte Neutralität der öffentlichen Verwaltung in Zeiten des politisierten staatlichen und gesellschaftlichen Wandels verzichten? Es ist deshalb zu einfach, .überholtes rechtsstaatliches Denken" für Modernisierungsdefizite verantwortlich zu machen. Ganz im Gegenteil beläßt das Recht des modernen, sozialen und demokratischen Rechtsstaates der "schlanken" Verwaltung breite „Spielräume": Die Rechtmäßigkeit des Verwaltungshandelns ist eine notwendige und grundlegende, aber nicht die alleinige Voraussetzung für dessen Qualität und Erfolg. So ist etwa die 22 Wirtschaftlichkeit öffentliches der Handeln öffentlichen Verwaltung ein anerkanntes Thema; muss darüber hinaus kommunikationsfähig, bürgerorientiert und effizient sein. Die Kunst der öffentlichen Verwaltung liegt dann darin, die aus der gleichzeitigen Anwendung dieser vielgestaltigen Grundsätze folgenden Konflikte – falls notwendig; durch Mediation auszutarieren. In der gegenwärtigen Modernisierungsdebatte über die öffentliche Verwaltung ist deshalb und angesichts der Komplexität des damit verbundenen Optimierungsproblems Verwaltungstätigkeit bedürfe organisatorisch-institutioneller die durchweg Forderung einer zurückzuweisen, "Ökonomisierung" Vereinfachungen, die mit und einem entsprechenden Abbau von Verfahren einhergehen müssten. Eher mag der Hinweis richtig sein, dass wir bislang die Konkurrenz der Handlungsgrundsätze und -maßstäbe nicht angemessen aufgelöst haben. So ist in diesem Sinne die Bemühung um Wirksamkeit und Wirtschaftlichkeit des Verwaltungshandelns ein auch verwaltungsrechtlich drängendes und legitimes Anliegen. Rechtmäßigkeit ist auch kein K. O.-Maßstab; umgekehrt darf unwirtschaftliches Verhalten nicht als rechtmäßig angesehen werden: Dies untersagt das verfassungsrechtliche Wirtschaftlichkeitsprinzip. Solchen Erkenntnissen trägt der gegenwärtig in der Bundesrepublik Deutschland festzustellende Übergang des Verwaltungshandelns von einem bürokratischen Vollzugsmodell zu einer dezentralen Leistungs- und Ressourcenverantwortung Rechnung. Diesem Konzept zufolge soll die Leistungskraft und Wirtschaftlichkeit der Behörden gestärkt werden. Ihr Dienstleistungscharakter ist zu verbessern; die gesamte Verwaltungstätigkeit wird einer laufenden Überprüfung von Notwendigkeit, Effektivität und Effizienz unterzogen. 5. Europäisierung und Internationalisierung der öffentlichen Verwaltung Sowohl in die verwaltungsinterne Rationalisierung als auch in die außenbezogene Reform des öffentlichen Staatssektors ist die wachsende supra- und internationale Verflechtung der Rechts- und Verwaltungsstrukturen einbezogen. Vor allem die Mitgliedschaft Deutschlands in der EU hat auf der 23 einen Seite zu des einem Anwendungsvorrang europä- ischen Rechts geführt. Verfassungsrechtlich spiegelt sich diese rechtliche Entwicklung für die Bundesrepublik Deutschland in der Neufassung des Art. 23 GG wider. Die Entwicklung der modernen Verwaltung auf europäischem Boden nimmt damit eine neue Wendung. Sie hängt nicht mehr nur mit den nationalstaatlichen Funktionsveränderungen zusammen. Zugleich erhalten wir ein anderes Bild von den grenzüberschreitenden Verwaltungsbeziehungen, als wir es noch zu Beginn unseres Jahrhundert gezeichnet hätten. Dabei sind transnationale von supra- und internationalen Entwicklungslinien zu trennen. In den souveränitätsgeprägten Sektoren der Außen-, Innen- und Justizpolitik der Nationalstaaten kommt es zu transgouvernementalen Beziehungen, die eine eigene Rechtsordnung für die Vertragspartner mit je eigenen Rechtssetzungsregeln und Anwendungsbestimmungen ohne individuelle Entsprechungsrechte für die Europabürger formulieren. Ein gewichtiges Beispiel hierfür sind die sog. „Schengener Abkommen", mit denen versucht wird, Sicherheitskontrollen an den Grenzen Deutschlands zu den nördlichen, westlichen und südlichen Nachbarn abzubauen. Zu gleicher Zeit sind aber auch die supranationalen Auswirkungen der europäischen Integration auf das deutsche Verwaltungsrecht zur Kenntnis zu nehmen. Auf der einen Seite entwickelt sich in der EU eine eigene "europäische Rechtsetzung", die über eigene Entscheidungsprozeduren im Zusammenwirken der Handlungsinstrumentarium europäischen verfügt. Dabei Organe und bevorzugt ein die eigenes Europäische Kommission den Erlass von Richtlinien, weil dann die Wege zur Erreichung der angestrebten Ziele jeweils den Mitgliedstaaten der EU überlassen bleiben. Auf der anderen Seite hat der Anwendungsvorrang des europäischen Rechts in den Nationalstaaten mit seinen vielfältigen Phasen der Entstehung, Beschlussfassung, Anwendung und Durchsetzung auf nationaler Ebene zu einer anhaltenden und sich verstärkenden „Europäisierung" des deutschen Verwaltungsrechts geführt. Überdies gibt es mittlerweile ein "Europäisches Verwaltungsrecht": Aus der Supranationalität erwächst ein autonome 24 Rechtsordnung, die sich nach Regelungsumfang wie Regelungs- funktionen bis hin zum Individualrecht vom traditionellen Völkerrecht unterscheidet und eher dem Bundesrecht in einem föderativen Staat vergleichbar ist. Von den transnationalen Verwaltungs- und Rechtsbeziehungen und der supranationalen Rechtsordnung der europäischen Integration unterscheidet sich die Internationalisierung der Verwaltung. Die vertraglichen Bindungen der Nationalstaaten auf wirtschaftlichen, sozialen, umwelt- und verkehrspolitischen wie auch auf sonstigen Feldern hat heute dazu geführt, dass sich zahlreichen nationale Verwaltungen "nach außen", d. h. als Mitglieder in über tausend internationalen Organisationen der Staatenwelt betätigen müssen. Es handelt sich um weltweite Verwaltungsbeziehungen, die regelmäßig auf völkerrechtlichen Verträgen beruhen und die in diesen Verträgen ein eigenes Partialrecht, das internationale Verwaltungsrecht entfalten. Als ein hervorragendes Beispiel aus den letzten Jahren sei hierzu die Gründung der "Word Trade Organization (WTO)" genannt. Sie hat dazu geführt, dass die Dienstleistungen, Umweltstandards, sozialen Standards u. a. m., die im Rahmen der GATT-Verhandlungen vereinbart wurden, eine entsprechende Umstrukturierung des je nationalen Rechts in den je nationalen Verwaltungen bedingen - z. B. des Wirtschaftsrechts und der Wirtschaftsverwaltung, des Umweltrechts und der Umweltverwaltung oder auch des Patentrechts und der Patentverwaltung. IV. Entwicklungsperspektiven der Verwaltungsrechtsdogmatik im Rahmen der neuen Staatlichkeit 1. Perspektiven der verwaltungsrechtlichen Systembildung Die Zwischenbilanz der Ansätze zu einer rechtsstaatlich gebundenen Neuorientierung des Verwaltungsrechts ergibt ein durchaus inhomogenes Bild. Einerseits führt die Internationalisierung von Verwaltung und Recht in den hochkomplexen Industriegesellschaften zu dem weiteren Wachstum an Verrechtlichung. Denn deren Organisation als Rechtsstaaten gibt ihnen auf zu versuchen, die Entwicklungsprozesse des internationalen Verwaltungs- und europäischen Rechts parlamentarisch zu steuern, woraus sich wiederum 25 jeweils neue Rechtssätze ergeben. Nach wie vor ist nämlich das "Recht" neben dem "Geld" - sowie ergänzt durch die Steuerungsressource "Information" ein unverzichtbares Steuerungsmedium . Auf der anderen Seite sind die "Kosten" des Rechtsstaats für die Prozesse der Verrechtlichung beträchtlich gewachsen. Sie treten dort auf, wo ein langsam und genau arbeitender Rechtsstaat Bauvorhaben und Forschungsanlagen blockiert, für endlose Genehmigungsverfahren sorgt und arbeits- und sozialrechtliche Schutzvorschriften schafft, die rasche unternehmerische Entscheidungen zur Illusion machen. Der skizzierte Strukturwandel des Verwaltungsrechts will hier Abhilfe schaffen. Doch schließen die Neuansätze verwaltungsrechtlicher Theoriebildung auch die Erkenntnis ein, dass die "innere" Rechtsbindung und Gemeinwohlfunktion der öffentlichen Verwaltung diese in der rechtsstaatlichen und sozialen Demokratie von der privaten Unternehmenswirtschaft prinzipiell unterscheidet. Die Gleichstellunq mit dieser ist ausgeschlossen. Zwar bedeutet dies nicht, dass sich der moderne Rechtsstaat einem Effektivitäts- und Effizienzdenken verschließt. Mit der allgemeinen "Öffnung" des Rechts erweisen sich auch die rechtsstaatlichen Direktiven für die Gestaltung einer öffentlichen Verwaltung auf der Programm-, Organisations-, Verfahrens- und Personalebene effektivitäts- und effizienzgebunden. Der moderne Rechtsstaat bildet insofern ein weitläufiges "Gehäuse", in dessen Mauern auch der Strukturwandel des Verwaltungsrechts und die Rationalitätsbindungen der Verwaltungs- modernisierung ihre Heimstatt finden. Dies erkannt zu haben, führt zu Veränderungen im verwaltungsrechtlichen Systemdenken. Denn die Ordnungsidee des Verwaltungsrechts wandelt sich: Mit dem Bild vom "situativen" Rechts- und "distanzierten" Sozialstaat drängen sich die künftig notwendigen Strategien der Staats- und Verwaltungsführung deutlich auf. Zu diesen gehört der Aufgabenverzicht, ein vernünftige Aufgabenteilung zwischen Bund, Ländern und Gemeinden sowie eine Konzentration des Staatssektors auf unabweisbare staatliche 26 Verantwortungen. Der soziale Wohlfahrtsstaat noch wird stärker dem "Imperativ des Wandels" unterworfen. Deutschland knüpft hierzu seit einigen Jahren an die weltweit existente und breite internationale Strömung der „Ökonomisierung" des öffentlichen Sektors an. Zwischen öffentlichen Einheiten und Privaten werden neue Partnerschaften eingegangen; die Finanzierung öffentlicher Projekte wie Straßen oder Universitäten wird durch Leasing ermöglicht. Mit Maßnahmen der Deregulierung zieht sich nach einer Aufgabenkritik der Staat mehr und mehr aus Interventionen in das Verhalten von Unternehmen und Konsumenten zurück. Ein Beispiel hierfür ist der Übergang zu einer dualen Umweltverantwortung von Staat und Wirtschaft auf dem Gebiet des Umweltschutzrechts. Die internen Rationalisierungsprozesse der öffentlichen Verwaltung führen bei alledem zu Veränderungen der Verwaltungsstrukturen auf der Organisation-, Verfahrens- und Personalebene. Dort bestehen unausgeschöpfte Rationalisierungsreserven. Dementsprechend bedarf es der Reform des administrativen Binnenrechts. Schließlich stellen sich aus der Perspektive der verwaltungsrechtlichen Systembildung neue Fragen zu den Steuerungsmöglichkeiten globalisierter Rechts- und Verwaltungsentwicklung sowie zu dem Fortbestand des Netzes subjektiver Rechte, das in seiner Gesamtheit als Einschnürung und Verlust an staatlichen Entscheidungsspielräumen verstanden werden kann. In allen diesen Belangen bedarf die verwaltungsrechtliche Theoriebildung einer entsprechenden Umsetzung in neue verwaltungsrechtliche Instrumente. Dies gilt zunächst und einerseits für die Rechts- und Handlungsformen, andererseits aber auch für das Verwaltungsverfahrens- und für das VerwaItungsorganisationsrecht als SteuerungspotentiaI. 2. Wandel der Verwaltungsrechtsdogmatik 2.1. Öffnung der Rechts- und Handlungsformen Im Strukturwandel des Verwaltungsrechts ändern sich vor allem die Handlungsformen öffentlichen Verwaltens. Das Verwaltungshandeln muß sich stärker am Bürger orientieren; es ist eine Dienstleistung. In diesem 27 Sinne sieht sich Regelorientierung durch ein entsprechendes Verfahrensmanagement ergänzt. Dabei steht die Qualität des Handelns kontinuierlich zu verbessern. Zugleich wandeln sich die rechtlichen Handlungsformen. Beispiele hierfür sind einerseits die zunehmende Bedeutung des Informationshandeins, andererseits die wachsende Rolle einer verwaltungsvertraglichen PublicPrivate Partnership. Die Gründe hierfür sind klar. Verwaltungshandeln ist als Entscheidungshandeln auf die Verfügbarkeit von Informationen und die Sicherung einer angemessenen Kommunikation angewiesen. Damit werden Informationsaufnahme und -verarbeitung, Kommunikationsfähigkeit, Kommunikationsnetzwerke und Interaktionsstile zur Ressource "richtiger" Entscheidungen. Insbesondere im Bereich des sog. Risikoverwaltungsrechts hat die Bedeutung der Informationen für die vorbeugende Risikoabwehr zugenommen. Dementsprechend haben sich spezielle Handlungsformen einer öffentlich-rechtlichen Risikokommunikation entwickelt. Den Wandel der Handlungsformen illustriert auf der anderen Seite die schon erwähnte verwaltungsvertragliche Public-Private-Partnership. Wir begegnen diesbezüglich Fragen komplexer Vertragsgestaltungen, mit denen umfangreiche schwierige Sachprobleme unter Beteiligung mehrerer Rechtsobjekte und zum Teil mit Wirkung für eine Vielzahl von Personen einer Lösung zugeführt werden sollen. Als Beispiele dafür seien u. a. Mantel- und Gesamtverträge im Kassenarztrecht oder auch die umweltrechtlichen „Grundverträge" genannt, mit denen etwa die Beseitigung von Sonderabfällen durch privatrechtliche Gesellschaften begründet werden kann. Solche öffentlich-rechtlichen Vertragsstrukturen deuten eine weitere Richtung an, in die sich das deutsche Verwaltungsrecht im funktionalen Wandel des spätmodernen Staates bewegt. 28 2.2. Verwaltungsverfahrensund Verwaltungsorganisationsrecht als Steuerungspotential In diesem Wandel kommt auch der Re-Organisation der öffentlichen Verwaltung in der Bundesrepublik Deutschland eine prinzipielle Bedeutung zu. Sie führt zu einer organisatorischen Verselbständigung von Verwaltungsträgern durch Organisationsprivatisierung bzw. zur sonstigen Ausgliederung von Verwaltungseinheiten aus dem Gesamtkörper der öffentlichen Verwaltung. Daneben tritt die Einrichtung flacher Hierarchien und der Übergang zu Leistungs- und Verantwortungszentren für öffentliches Dienstleistungsmanagement hervor. Beide Beispiele machen deutlich, dass Verwaltungsorganisationsrecht als Steuerungsressource eingesetzt wird. Der Ausgangspunkt hierfür ist die Überlegung, wie institutionell- organisatorisch die Programmfunktionen rechtlich so erfasst, abgestützt und beeinflusst werden können, dass sie ihrerseits einen Entscheidungsprozeß steuern können, Organisationen der und dem Ziel der Entscheidungsrichtigkeit Organisationsrecht prägen hierfür dient. eigene Rationalitätsmuster aus; sie sind die rechtlich-strukturellen Voraussetzungen eines erfolgreichen Entscheidungshandelns der Verwaltung. Ein gutes Beispiel hierfür ist die Errichtung des Gemeinsamen Bundesausschusses im deutschen Gesundheitswesen. Von besonderer Bedeutung sind deshalb auch die Re-Organisation der Informationsvorgänge sowie die „Personalisierung" des Rechte- und Pflichtenbezugs von Mitarbeitern im Organisationsrecht. Der einzelne Mitarbeiter steht nunmehr im Mittelpunkt des organisatorischen Handelns. Darin liegt eine Absage an das Verständnis der Verwaltungsorganisation als ein nur hierarchisches System. Besonderes Interesse gilt dann dem Willensbildungsprozess innerhalb der Verwaltungsorganisation. Hier dominiert das Prinzip der individuellen Verantwortung, d. h. die Verwaltungsentscheidung wird bereits von dem zuständigen Sachbearbeiter getroffen. Gleichwohl wird sein Entscheidungshandeln nach außen immer der zuständigen Behörde bzw. Dienststelle zugerechnet. Denn nur in dieser Interpretation verfügt die Entscheidung der Verwaltung über die erforderliche 29 Legitimation. Im Zweifel ist deshalb trotz des heute vorgeschlagenen Kontraktmanagements und der abzuschließenden Zielvereinbarung das Aufhebungsrecht garantiert. Hierbei drohenden Konflikten entgegenzuwirken, ist Aufgabe des Verfahrensmanagements. Dazu gehören die Betonung der Bedeutung von Vorphasen im Genehmigungsverfahren, der ständige Erfahrungsaustausch und entsprechende Transparenz. Durch Abbau rechtlicher Regulierung werden umwelt-, gewerbe- und anlagenrechtliche Prüfungen beschleunigt. Koordinationsmängel zwischen den Fach- und Genehmigungsbehörden finden sich abgebaut. Statt dessen werden den Prüfbehörden nunmehr feste Fristen vorgegeben, die mit vorläufigen Genehmigungen verbunden sind. Darüber hinaus sieht sich das rechtsstaatlich geordnete Verwaltungsverfahren intern mit einem Dialog- und Projektmanagement verknüpft. Während das erstere durch Beratungs- und Antragskonferenzen die Kommunika- tionsprozesse innerhalb der Verwaltungseinheiten und zwischen Verwaltung und Bürger bzw. Unternehmen strafft, meint das letztere die Verpflichtung der Verwaltung zur Erfüllung einer definierten Aufgabe in einem begrenzten Zeitrahmen mit teamförmigen Strukturen. Insgesamt finden sich bei den Prozessstrukturen der öffentlichen Verwaltung nunmehr starke Präferenzen für eine Ergebnissteuerung bei gleichzeitiger Verringerung der verfahrensrechtlichen Regelbindung. 2.3. Veränderungen in den Personalstrukturen Die skizzierten Entwicklungslinien in der Verwaltungsrechtsdogmatik lassen schließlich Veränderungen in den Personalstrukturen unabdingbar erscheinen. Allgemein gesprochen, geht es hierbei darum, die Personalarbeit an den voraufgehend genannten Strukturveränderungen auszurichten. Den Rahmen dafür bietet die Reform des öffentlichen Dienstrechts. Sie institutionalisiert ein Neues Personalmanagement im Wandel des Beamtenrechts. Zu diesem Zweck sind geeignete Personalplanungs-, Mobilitäts- und Entwicklungskonzepte gefragt. Sie sollen mit einer dynamisierten Stellenbesetzungspolitik verknüpft sein. Betrachtet man diese Anstrengungen 30 als Bestandteil der erforderlichen Humanpotential-Bildung, so geht es für die öffentlichen Verwaltungen vor allem um die allmähliche Verstärkung des Dienstleistungsbewusstseins, um die Entwicklung spezifischer Anreize zur Übernahme dezentraler Verantwortung sowie um die Bereitschaft zu erhöhter Mobilität und um die Einführung eines Kontraktmanagements. In dessen Mittelpunkt stehen Zielvereinbarungen zwischen den Führungskräften und ihren Mitarbeitern darüber, wie bestimmte Arbeitsergebnisse unter Festlegung von Fördermaßnahmen und in Abstimmung mit den je individuellen Entwicklungsperspektiven der Mitarbeiter erreicht werden können. Die rechtliche Qualität dieser Vereinbarungen ist indessen noch unklar. V. Verwaltungsrecht und Verwaltungsgerichtsbarkeit Der Anwendung des Verwaltungsrechts wird im Rechtsstaat seit langem unter Rechtsschutzaspekten zugeordnet. Die Justiz eine wird spezifische insofern als Verwaltungsgerichtsbarkeit bewegende Kraft des Verwaltungsrechtssystems verstanden. Wir sprechen von einer funktionalen Zuordnung von Verwaltungshandeln und VerwaItungsrechtsschutz. Mit Blick auf diesen funktionalen Wechselbezug lässt sich auch für die Verwaltungsrechtsprechung ein Aufgaben- und Funktionswandel feststellen. Im Kern wird man diesen und einerseits als Zunahme der richterrechtlichen Rechtsbildung im Gefolge der Verrechtlichung des staatlichen und administrativen Handelns kennzeichnen müssen. In Deutschland spricht man hierbei häufig von einem "subsidiären" Funktionszuwachs der Verwaltungsrechtsprechung. Richtiger dürfte es sein, das Zusammenspiel von Gerichtsbarkeit, Gesetzgeber und Verwaltung nunmehr als gemeinsames Handeln in einem System dezentraler Rechtsbildung zu verstehen. Der Umfang zulässiger Rechtserzeugung durch Verwaltungsgerichtsbarkeit muß dann nicht durchweg über die Gesetzgebung bestimmt werden. Der Rechtsprechung kommt eine "partielle Rechtsbildungsautonomie" zu. Innerhalb des solchermaßen bestimmten Auftrags der Rechtsprechung verfügt die öffentliche Verwaltung bei der Gesetzeskonkretisierung über keinen 31 Vorrang. Vielmehr Gesamthand" bei der handeln Rechtsprechung und Verwaltung "in Konkretisierung des durch den Gesetzgeber geschaffenen Rechts. Auch dann bleibt aber noch die Frage: Haben wir zuviel Rechtsprechung? Sollten wir also die Gerichtsgebühren heraufsetzen, auf Tatsacheninstanzen verzichten, die richterlichen Spruchkörper verkleinern oder sogar die aufgesplitterten Fachgerichtsbarkeiten noch stärker zusammenzuführen? M. a. W. ist der Gedanke vom "schlanken" Staat, der sich in Bezug auf den Umfang seiner Funktionen einer Diät unterzieht, auch für die Rechtsprechung zu verfolgen. Gegenwärtig beziehen sich allerdings die Neuansätze verwaltungsrechtlicher Theoriebildung nur sehr zurückhaltend auf dieses Themenfeld.