"Zur Reform des Allgemeinen Verwaltungsrechts in der

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"Neues Verwaltungsrechts im Wandel des sozialen
Rechtsstaats"
von
Universitätsprofessor Dr. Dr. h. c. Rainer Pitschas, Dipl.-Vww.
Deutsche Universität für Verwaltungswissenschaften Speyer
März 2013
2
Neues Verwaltungsrecht im Wandel des sozialen Rechtsstaates
von
Universitätsprofessor, Dr. jur. habil. Dr. h.c. Rainer Pitschas
Deutsche Universität für Verwaltungswissenschaften Speyer
I. Verwaltungstheorie als anwendungsorientierte Staats- und Verwaltungslehre
II. Staatliche Modernisierung und Funktionswandel der Verwaltung
1. Rekonstruktion der Staatsfunktionen: Vom „Government“ zur „Governance“
2. Auf dem Weg zum „situativen“ Rechtsstaat
3. Vom daseinssichernden zum wettbewerblichen Sozialstaat
4. Rahmenbedingungen rationalen Verwaltungshandelns
5. Neue Staatlichkeit und Aufgabenstrukturen der öffentlichen Verwaltung
5.1. Verwaltungsaufgaben als Gemeinschaftsaufgaben
5.2. Öffentliche Verwaltungen als Dienstleistungsunternehmen
5.3.Aufgabenentlastung durch Selbstregulierung: Selbstverwaltung und Selbsthilfe
III. Neuansätze verwaltungsrechtlicher Theoriebildung
1. Strukturwandel des Verwaltungsrechts
2. Dimensionen des Strukturwandels
3. Regulierungs- und Steuerungsparadigma
4. Rationalitätsbindungen der Verwaltungsmodernisierung
5. Europäisierung und Internationalisierung der öffentlichen Verwaltung
IV. Entwicklungsperspektiven der Verwaltungsrechtsdogmatik im Rahmen der neuen
Staatlichkeit
1. Perspektiven der verwaltungsrechtlichen Systembildung
2. Wandel der Verwaltungsrechtsdogmatik
2.1. Öffnung der Rechts- und Handlungsformen
2.2.Verwaltungsverfahrens- und Verwaltungsorganisationsrrecht als Steuerungspotenzial
2.3. Veränderungen in den Personalstrukturen
V. Verwaltungsrecht und Verwaltungsgerichtbarkeit
3
I.
Verwaltungsrechtstheorie als anwendungsorientierte Staats- und
Verwaltungslehre
Für den spätmodernen Verfassungsstaat gilt schon längst der Lehrsatz nicht
mehr, dass „Verwaltungsrecht besteht, Verfassungsrecht vergeht" (O. Mayer).
Denn die Verfahrensidee des Staates lässt dessen Modernisierung als
phasenweisen Vorgang einer kulturell und durch Tradition geprägten - aber
auch gebundenen Staats- und Verwaltungsentwicklung erkennen, die aus der
Vergangenheit in eine andersartige Zukunft führt. In diesem Prozess
bestimmen sich die staatliche Gegenwart und ihr (Verwaltungs- )Recht als
vergängliche Moderne funktional, d. h. nach Maßgabe und zur Bewältigung
der national, trans- supra- und international jeweils von neuem veranlassten
Aufgaben. Man spricht deshalb nicht von ungefähr von einer Neuen
Staatlichkeit in Deutschland.
Die Staatsfunktionen werden dabei aber nach wie vor an Recht gebunden.
Auch der moderne Staat ist in diesem Sinne "Rechtsstaat" oder er existiert
nicht. Man mag die ihm eigene Verknüpfung rechtlicher Grundsätze mit dem
Handeln rechtsförmig geprägter öffentlicher Institutionen als „rule of law", „due
process of law" oder als „état de droit" bezeichnen, doch meinen die
gewählten Begriffe jeweils dasselbe, nämlich die Unterordnung des Staates
unter die Herrschaft des Rechts. Dies geschieht zum Schutz der individuellen
Freiheit und zur Bindung staatlicher (Verwaltungs-)Macht an das in
geordneten
Verfahren
zustande
gekommene
und
verfassungsgemäß
angewendete Recht. In diesem umfassenden Verständnis fungiert das
.Rechtsstaatsprinzip" als eine universell akzeptierte Legitimation staatlicher
Herrschaft. Es gibt den Grundsätzen materieller Gerechtigkeit, allgemeiner
Gleichheit und dem Schutz vor staatlicher Willkür prinzipiellen Ausdruck.
Zugleich ist der Rechtsstaat ein Maßstab jeder Verwaltungstätigkeit und des
Rechtsschutzes. Staatliche Herrschaft und damit auch Verwaltungshandeln
erweisen sich deshalb letztlich als rational nur kraft ihrer Bindung an
Verfassung, Gesetz und Recht.
Diese Bindung prägt auch das Verwaltungsrecht. Es nimmt die Aussagen,
Intentionen bzw. Direktiven des Verfassungsrechts auf und es teilt dessen
4
Entwicklung durch die ständige eigene Anpassung seiner Handlungsformen,
Maßstäbe,
Organisations-
Verwaltungsrechtsverhältnisse.
und
Verfahrensregeln
Verwaltungsrecht
ist
sowie
der
konkretisiertes
Verfassungsrecht.
Vor diesem Hintergrund verstehen wir unter Verwaltungsrecht die Summe
funktionaler Rechtsbildung durch die Exekutive als Staatsfunktion. Insofern
stellt Verwaltungsrecht einerseits den Inbegriff der (geschriebenen und
ungeschriebenen) Rechtssätze dar, die in Anwendung und Durchsetzung der
Verfassung
für
die
Verwaltung
-
die
Verwaltungstätigkeit,
das
Verwaltungsverfahren und die Verwaltungsorganisation - gelten. Andererseits
gestaltet es unter Konkretisierung der verfassungsrechtlichen Maßgaben die
Beziehungen zwischen der Verwaltung und dem Bürger. Es begründet in
diesem Verhältnis spezifische Rechte und Pflichten. Diese wiederum sind in
eine
umfassende
Ordnungs-,
Planungs-,
Leistungs-,
Regulierungs-,
Gewährleistungs-, Vermittlungs- und Moderationsfunktion der öffentlichen
Verwaltung eingebettet. In diesem Sinne erweist sich Verwaltungsrecht als
verfassungsgeleitetes Steuerungsrecht In seinem Mittelpunkt steht das
Bewirken von Wirkungen durch rechtsförmiges Handeln und Entscheiden
sowie durch Planung, Regulierung, Vollzug und Kontrolle.
Für die Programm-, Regulierungs-, Organisations- und Verfahrensstruktur der
öffentlichen Verwaltung ergeben sich hieraus vielfältige Konsequenzen. Der
Wandel der Staatsidee, -funktionen und -verfassung führt zu einem
kontinuierlichen Veränderungsprozess des Verwaltungsrechts. In welchem
Ausmaß dies für die Verwaltung als "arbeitender Staat" (L. v. Stein) und für
das Verwaltungsrecht auch derzeit der Fall. ist, erweist der spezifische Blick
der
Staats-
und
Verwaltungslehre
auf
die
gegenwärtige
staatliche
Modernisierung in Deutschland und den aktuellen Funktionswandel der
deutschen Verwaltung.
II. Staatliche Modernisierung und Funktionswandel der
Verwaltung
1. Rekonstruktion der Staatsfunktionen: Vom Government zur
„Governance“
5
In der Bundesrepublik Deutschland, in der Europäischen Union (EU) sowie
weltweit ist das Verwaltungsrecht der Verschiebung staatlicher Funktionen
unterworfen. Im modernen Verfassungsstaat westlicher Prägung handelt es
sich dabei um einen Vorgang, dessen Verlauf mehrere Phasen erkennen läßt.
Diese richten schubweise neue Herausforderungen an das nationale und
grenzüberschreitende
(internationale)
Verwaltungsrecht.
Insofern
die
Funktionen des modernen Staates dabei und jeweils an das Recht und die
Rechtssetzungsprozesse gebunden sind, hat sich der moderne Staat zunächst
als ein formaler Rechtsstaat entwickelt, der sich für den Vollzug seiner
Regeln auf eine formale Bürokratie stützte, die ein entsprechend strukturiertes
Verwaltungsrecht angewendet hat. Der in relativ unabhängige Subsysteme
und Sphären des Handeins gegliederten Gesellschaft trat auf diese Weise ein
Staat gegenüber, der den Schutz der territorialen Integrität übernahm, die
Ordnung im Innern aufrecht erhielt und im übrigen auf der Grundlage eines
gesetzlichen Rahmenwerkes bestimmte öffentliche Aufgaben erfüllte. Jenseits
dessen anerkannte der formale Rechtsstaat die funktionale Differenzierung
der Gesellschaft, in deren Mitte sich vor allem das liberale Wirtschaftssystem
nach den ihm eigenen Prinzipien von Privateigentum, Markt und Wettbewerb
entfaltete. Das Rechtssystem war diesbezüglich darauf angelegt, dem "freien
Wirtschaften" Sicherheit und Ordnung zu geben; im übrigen war es von der
Zulässigkeit punktueller Interventionen („Lenkung“) in die relativ selbständigen
Handlungssphären der Gesellschaft geprägt.
Am Beginn des einundzwanzigsten Jahrhunderts sieht sich indessen in
Europa und in Deutschland das klassische Rechtsstaatsmodell vor
neuartige Herausforderungen gestellt. Es trifft auf einen Prozess der
staatlichen und administrativen Modernisierung, der in der Bundesrepublik
Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg einsetzte und zunächst zu einer
sozial-ökologischen und marktwirtschaftlichen Prägung des materiellen
Rechtsstaates geführt hat. Dem entsprach ein Umbau des Staats- und
Verwaltungsrechts ebenso wie ein Strukturwandel der öffentlichen Verwaltung
und die Fortschreibung des bürokratischen Handlungsmodells. Wesentliche
Kennzeichen dieser Entwicklung waren die Interpretation der Grundrechte als
6
Leistungsrechte
der
und
ihre
Gewaltenteilung
zur
objektiv- rechtliche Deutung, die Entwicklung
staatlichen
Funktionenverschränkung,
die
Entwicklung einer "Systemfunktion" des subjektiv-öffentlichen Rechts und
daneben der Ausbau des Wohlfahrtsstaates unter gleichzeitiger Akzentuierung
des Umweltschutzes. Die Verwirklichung einer "Staatsidee der sozialen
Reform"
(Sozialstaat)
mit
darauf
ausgerichteten
Entscheidungs-
und
Handlungsoptionen führte über die etablierte und rechtsstaatlich gestützte
Ordnung hinaus und machte ständige staatliche Interventionen in soziale
Lebens- und Problemlagen erforderlich. Kennzeichnend hierfür war der Begriff
des "sozialen lnterventionsstaates".
Die nächste Phase der staatlichen Modernisierung verkörperte der explizite
Einbezug gesellschaftlicher Akteure bzw. Institutionen in die Handlungsebene
des Staates, ihre konkrete Ausgestaltung und ihre prozessualen Elemente
("Governance"). Die Autonomie des Rechtsstaates, die als solche schon
immer prekär war, wird in dieser Phase zugunsten kooperativer Strukturen
zwischen Staat und gesellschaftlichen Handlungsträgern aufgelöst. Im
"kooperativen Rechtsstaat" übernimmt die öffentliche Verwaltung in der
Zusammenarbeit
mit
privaten
Akteuren
zahlreiche
Koordinations-,
Kooperations-, Vermitllungs- und Moderationsfunktionen; sie muss sich
zugleich die Legitimation ihrer Maßnahmen zunehmend selbst im Rahmen
einer
eigenständigen
Verwaltungs-
und
Verfahrensverantwortung
für
Kooperation, Koordination, Kommunikation und Konsens ("Strategie der vier
'K"') beschaffen. Dem entspricht ein breiter Wandel der Handlungsformen
unter Zurückdrängung des Verwaltungsakts, der noch zu Zeiten O. Mayers die
formale Rationalität der Bürokratie nach außen widerspiegelte.
In den letzten Jahren ist allerdings eine neue Phase der Staats- und
Verwaltungsreform angebrochen: Die nicht mehr finanzierbare Entwicklung
des Wohlfahrtsstaates und der zunehmende Freiheitsverlust des Individuums
durch
Verrechtlichung
andererseits
haben
einerseits,
dazu
geführt,
die
wachsende
daß
Rekonstruktion der Staatsfunktionen
heute
bürokratische
der
Ruf
nach
Enge
einer
i. S. eines Gewährleistungsstaats
erneut und laut erschallt. Er findet sich in mehr oder weniger ausgeprägter
7
Deutlichkeit auch in anderen Regionen dieser Welt wahrgenommen. Kulturelle
Differenzen treten dabei zunehmend zurück. Denn die Überlastung des
Wohlfahrtsstaates ist allgemein offenbar. Mehr noch, der Übergang zu einer
neuen Staatlichkeit ist erkennbar. Dies gilt selbst für den Sektor der inneren
Sicherheit.
Viele Staaten haben inzwischen entsprechende Modernisierungsschritte
eingeleitet. Auch in der Bundesrepublik Deutschland ist es auf der staats- und
verwaltungsrechtlichen
Ebene
zu
entsprechenden
Rechts-
und
Verwaltungsreformen gekommen, die bestimmten „Schlankheitskonzepten"
folgen. Offen ist einstweilen – im europäischen Verwaltungsraum und
jedenfalls in Deutschland - aber immer noch, wohin die Entwicklung des
Verwaltungsrechts geht. Nähere Aussagen hierzu müssen sich auf die
prinzipiellen Veränderung der Zwecke des modernen Staates besinnen. Die
Orientierung daran ermöglicht es, die Zukunft von Staat, Recht und
Verwaltung auch in Europa neu zu bestimmen. Darüber hinaus gibt es für
staatliches
Handeln
spezifische
Rahmenbedingungen,
die
den
Funktionswandel der Verwaltung und die verwaltungsrechtliche Theoriebildung
beeinflussen. Sie lassen sich im Begriff der "Vier Modernisierungen"
zusammenfassen.
Diese kennzeichnen den funktionalen Wandel des
spätmodernen Staates.
2.
Auf dem Weg zum situativen" Rechtsstaat
Auch für diesen gilt allerdings, dass heute der Rechtsstaat aus seinem Alltag
nicht mehr hinweg zu denken ist. Die auf ihn bezogene Gesetzgebung hat in
Deutschland eine Vielzahl subjektiv-öffentlicher Rechte ausgeformt, auf die
sich die Bürger in ihrem Handeln gegenüber Staat und Verwaltung berufen
können. Es ist nicht übertrieben zu behaupten, daß die Modernität der
okzidentalen Gesellschaften auf diesem Funktionsprinzip des Rechtsstaates
(„Systemfunktion des subjektiv-öffentlichen Rechts“) beruht. Es garantiert die
Verwirklichung der ökonomischen, beruflichen und individuellen Freiheiten
schlechthin in den Teil-Systemen der Gesellschaft. In diesem Sinne
übernehmen die subjektiv-öffentlichen Rechte des Bürgers eine tragende
8
Systemfunktion
im
Zusammenhang der
funktionalen
Differenzierung
moderner Gesellschaften.
Allerdings tritt komplementär hierzu immer deutlicher mit dem Übergang zur
Regulierung die defizitäre Programmfunktion des Rechtsstaats und seines
Verwaltungsrechts in den Vordergrund. Der Gesetzgeber geht im heutigen
Rechtsstaat immer öfter dazu über, "offene Normen" zu schaffen. Diese
enthalten weder Konditional- noch Finalprogramme, sondern der Gesetzgeber
gibt
mit
seinen
Rechtssätzen
lediglich
Ziele
und
allenfalls
.Reqelunqskonzepte" vor; er legt eine Programmverantwortung fest und er
regelt Organisation und Verfahren der Gesetzesverwirklichung, dabei immer
öfter auf hybride Organisationsformen zurückgreifend.
Auf diese Weise gibt der Gesetzgeber der Verwaltung immer seltener eine
einzige bzw. aus dem Gesetz nur abzulesende Rechtsfolge zur Verwirklichung
auf. Verwaltungsrecht allein garantiert deshalb die "lückenlose" Entscheidung
des konkreten Problemfalles nicht mehr; die fertige Entscheidung ist einer
gesetzlichen Norm oft kaum noch zu entnehmen. Im modernen Rechtsstaat
kommt deshalb der Rechtskonkretisierung durch die Verwaltung und ihre
externen Partner notwendig ein rechtsbildender und rechtsfortbildender
Charakter zu. Die öffentliche Verwaltung sieht sich auf diese Weise in den
Stand versetzt, bei der Lösung von Einzelproblemen nicht nur von der
gesetzlichen Bestimmung ausgehen und deduktiv die Folgerungen aus dem
Gesetz ableiten zu müssen. Vielmehr konstituieren der reale Sachverhalt - das
Anliegen des Bürgers oder Unternehmens - und der offene „Normtext" eine
Situation, in der ein anwendungsbezogenes .Normprogramm" für die
nachgefragte konkrete Entscheidung entwickelt werden kann.
Der
in
diesem
Sinne
gestaltungsbewusste
und
–fähige,
seiner
Regulierungsfunktion gewisse situative Rechtsstaat hat denn auch längst
seinem Schutzauftrag eine entsprechende Steuerungsfunktion zugesellt. Sie
ermöglichte
die
Entwicklung
der
westlichen
Industrieländer
zu
„Umweltstaaten", denen - wie in der Bundesrepublik Deutschland (Art. 20 a
GG) - "der Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen" aufgegeben ist.
9
Daneben steht die zum Sozial- und Umweltstaat nicht immer konfliktfreie
Entwicklung
des
Wirtschaftsstaates.
Auch
in
der
Verfassung
des
Informationsstaates spielt das rechtsstaatliche Fundament eine wesentliche
Rolle. Allerdings sind die Grundleistungen des Rechtsstaates im Verlauf dieser
.Modernisierung" nicht etwa hinfällig geworden. So stellt z. B. die Verfassung
moderner Märkte in Übereinstimmung mit den europäischen Normen
erhebliche Anforderungen an die Gewährleistung von Rechtssicherheit und flexibilität. Auch müssen etwa die vom Technikstaat ausgehenden materiellen
Risiken rechtsförmig "aufgefangen" werden.
„Recht“ als solches und das Produkt seiner Konkretisierung lösen sich also
nicht völlig vom Gesetz ab. Im Gegenteil findet sich einerseits der Versuch, die
Effizienz des Gesetzes samt der Gesetzgebung zu steigern sowie den
empfindlichen Ausfall gesetzlich-parlamentarischer Steuerungsmöglichkeiten
durch
die
zu
Forderung
Grundrechten
jedenfalls
vorzubehalten.
Zum
kompensieren,
"wesentliche"
anderen
hat
für
die
Verwirklichung
Regelungen
sich
in
dem
den
von
Gesetzgeber
hochkomplexen
Industriegesellschaften des Westens ein außerordentlich hoher Grad an
Verrechtlichung ergeben. Auch darin liegt der Versuch, die "Situation" der
notwendigen Problemlösung durch Verwaltungshandeln über die Vermehrung
von Recht in ein rechtliches Gehäuse zu zwingen. Schließlich verlangt der
Rechtsstaat vor allem Rechtssicherheit und Voraussehbarkeit. Im übrigen
sorgen auch die Verwaltungsgerichte mit manchen ihrer Entscheidungen
dafür,
daß
die
Kontrolldichte
noch
immer
wächst
und
damit
der
Handlungsspielraum für die Behörden nicht größer, sondern kleiner geworden
ist. Die Gefahren dieser Entwicklung sind offenkundig; die krebsartige
Überformung der Gesellschaft durch rechtliche Regeln erstickt das individuelle
Leben und erdrosselt freies Wirtschaften.
3.
Vom daseinssichernden zum wettbewerblichen Sozialstaat
mit Gewährleistungsfunktion
In dem Maße, in dem heute und zukünftig der situative Rechtsstaat nicht das
Gesetz zum Ausgangspunkt des Handeins, sondern die Lösung eines
Problems unter Einhaltung des rechtlichen Rahmens zum entscheidenden
10
Angelpunkt des Verwaltungshandelns wählt,
ändert
sich
auch
das
Verständnis des Sozialstaatsprinzips in der Bundesrepublik Deutschland. Der
"neue" Sozialstaat zieht die Konsequenz daraus, dass seine bisherige
Ausprägung als Leistungsstaat zahlreiche Überlastungssymptome offenbart
hat. Für die Lasten des Sozialstaates als Wohlfahrtsstaat ist vor allem die
Ausgabenquote, also der Anteil der staatlichen Gesamtausgaben am
Bruttoinlandsprodukt kennzeichnend. Schon während des Ersten Weltkrieges
begannen zwar die öffentlichen Ausgaben nach und nach zu steigen;
tatsächlich schnellten sie aber nach 1960 und vor allem angesichts steigender
Sozialausgaben in die Höhe. Der Zeitraum zwischen 1960 und 1980 wird
durch eine beispiellose aktive Ausgabenpolitik der westlichen Industrieländer
und auch Deutschlands geprägt. Heute stellt sich die Frage, ob das Wachstum
des Staates über die letzten 35 Jahre hinweg tatsächlich nennenswert zu einer
Erhöhung
der
sozialen
Wohlfahrt
geführt
hat.
In
den
westlichen
Industriestaaten herrscht jedenfalls heute allgemein Klarheit darüber, daß
angesichts
des
zunehmenden
weltweiten
ökonomischen
Wettbewerbs
insbesondere die sozialen Sicherungsnetze nicht mehr in dem bisherigen
Ausmaß
finanzierbar
sind
und
durch
private
Sicherung
gegen
die
Lebensrisiken von Krankheit, Alter, Arbeitslosigkeit u. a. m. ergänzend
abgesichert werden müssen..
Auch der Sozialstaat gerät auf diese Weise in seinem wohlfahrtsstaatlichen
Verständnis unter Modernisierungsdruck. Dabei stellt vor allem die Berufung
individueller Sozialverantwortung ein unverzichtbares Instrument der
Krisenreaktion dar. In den Bereichen sozialer Sicherung muss künftig die
individuelle Sozialverantwortung zu Lasten bisheriger Solidarverantwortung
noch stärker erhöht werden. Deutlich kündigt sich der Übergang vom
proaktiven zum wohlfahrtsdistanzierten und wettbewerblichen Sozialstaat
an. Letzterer setzt auf die Konkurrenz mit privaten Leistungsanbietern. Er zieht
sich mehr und mehr auf die Funktion als Gewährleistungsstaat zurück.
Dessen Begriff und ermächtigende Reichweite konstituieren sich im Wandel
der Verantwortung für soziale Sicherung.
Auf diese Weise ist im Begriff des "distanzierten" sozialen Rechtsstaats der
11
Ruf nach einer Gesamtreform des öffentlichen Sektors geborgen. Denn
die Staats- und Verwaltungsverantwortung erdrückt bisher nicht nur im
ökonomischen Bereich die Eigenverantwortung des Bürgers und die
individuelle Freiheitsentfaltung, sondern in nahezu allen Freiheitsbezirken.
Deshalb gewinnt für die Rekonstruktion der Staatsfunktionen auch die interne
Rationalisierung des öffentlichen Sektors
Effektivität
und
Effizienz
der
im Sinne einer Steigerung von
Behördenarbeit
und
kommunalen
Selbstverwaltungen zu Beginn des neuen Jahrtausends an Bedeutung. Die
hierzu bislang vorgelegten anglo-amerikanischen Modernisierungskonzepte
öffentlicher Verwaltungen wie z. B. das "New Public Management",
„Reinventing Government" u. a. sind zwar einflussreich geworden. Sie
vermögen jedoch nicht über eine schlichte Reduktionspolitik ("Cost Cutting",
"Down Sizing") hinaus zu führen.
4.
Rahmenbedingungen rationalen Verwaltungshandelns
Die Reform des Staatssektors mit Auswirkungen auf das Verwaltungsrecht hat
damit freilich erst begonnen. Sie endet nicht bei Governance-Konzepten. Ihre
theoretische Aufarbeitung und Konzeption hat nicht nur die Veränderung der
verfassungsrechtlichen Staatszielbestimmungen und die Verschiebung der
Staatsfunktionen zu berücksichtigen, sondern auch die Rahmenbedingungen
in Rechnung zu stellen, innerhalb deren die Staats- und Verwaltungsreform in
Deutschland und im europäischen Verwaltungsraum zu verwirklichen ist.
Zu
diesen
Rahmenbedingungen
zählt
zunächst
der
Werte-
und
Verantwortungswandel in der Gesellschaft und in den Verwaltungen selbst.
Zu verstehen ist hierunter der Bodengewinn der Selbstentfaltungswerte in den
letzten Jahrzehnten. Er beschränkt sich nicht nur auf die anglo-europäische
Region. Alle modernen Gesellschaften sind mehr als je zuvor auf individuelle
Initiative, Einsatzbereitschaft und "Motivation" ihrer Bürger angewiesen. Und
schon längst ist der "subjektivistische" Anspruch, der in diesem Wandel
sozialer und solidarischer Einstellungen gegenüber der Gesellschaft zum
Ausdruck kommt, von den Staaten vielfach akzeptiert und in wachsende
Spielräume für eine Mitverantwortung der Bürger an der Gestaltung von
12
Gesellschaftszuständen
überführt worden. Hervorzuheben ist vor allem
das Bürgerengagement in der kommunalen Selbstverwaltung, das mit
wachsenden Ansprüchen nach einer Vorhabenspartizipation einhergeht.
Daneben und andererseits steht die Neubestimmung des Verhältnisses von
Staat und Wirtschaft. Das Modell der Marktwirtschaft hat heute nicht nur eine
globale Attraktivität entfaltet, die auch die ehemals sozialistischen Staaten
nach und nach zur Absage an die Staatswirtschaft gezwungen hat. Der
Dynamik der Marktwirtschaft ist zugleich ein weltweiter Wettbewerbs- und
Modernisierungsdruck auf die nationalstaatlichen Wirtschafts-, Umwelt-,
Sozial- und Verwaltungspolitiken zuzuschreiben: Die „Globalisierung" der
Wirtschaft gehört heute zu den prinzipiellen Herausforderungen an die
Wettbewerbsfähigkeit nationaler Volkswirtschaften und die Gestaltung des
Rechts. Daraus folgt etwa für die Entwicklung des Wirtschaftsrechts, dass
weltweite Wettbewerbsregeln erforderlich werden und deshalb die World
Trade Organization (WTO) zum Ausgangspunkt für eine künftige rechtliche
Verfassung der Weltwirtschaft heranreift.
In diesen Zusammenhang gehört auch und drittens die Rekonstruktion der
internationalen Beziehungen. Dies gilt einerseits in Bezug auf die
europäische Integration. Die Neugestaltung der internationalen Ordnung reicht
freilich weit darüber hinaus. Denn in allen Regionen und Religionen werden
traditionale Lebensformen kosmopolitisch aufgebrochen. Die Folge dessen ist
ein
globaler
Kulturdialog,
der
dazu
zwingt,
sich
mit
Situationen
auseinanderzusetzen, für die der jeweils eigene Traditions- und Kulturraum
keine
Antworten
bereithält.
Zudem
und
andererseits
führen
diese
Konsequenzen der Moderne zu einer Intensivierung der Entwicklung
internationaler Rechtsregeln, zu denen auch das supranationale und
internationale Verwaltungsrecht gehören.
Zu einem revolutionären Wandel der ökonomischen, sozialen und politischen
Verhältnisse führt schließlich der technologische Fortschritt, der sich vor
allem in der Informations- und Kommunikationstechnik mit der Öffnung zum
Web 2.0 und zu sozialen Internetbeziehungen offenbart. Nicht nur die
13
Industrienationen,
sondern
alle Staaten dieser Erde befinden sich auf
dem Weg in die globale Informationsgesellschaft. Ein bedeutsamer Teil dieser
künftigen
Entwicklung
ist
die
Informatisierung
der
öffentlichen
Verwaltungen. Das bekannte Thema über "Recht und Automation in der
öffentlichen Verwaltung" (N. Luhmann) dehnt damit in der globalen
Informationsgesellschaft seine Bedeutung noch aus. Dies gilt umso mehr, als
wir
uns
heute
im
öffentlichen
Sektor
mit
der
Notwendigkeit
einer
grundlegenden Verwaltungsmodernisierung auseinandersetzen müssen, die
jedenfalls in den Industrienationen unter der griffigen Bezeichnung eines .New
Public Management" internationale Zusammenhänge herstellt.
5.
Neue Staatlichkeit und Aufgabenstrukturen der öffentlichen
Verwaltung
5.1. Verwaltungsaufgaben in „Public Private Partnership (PPP)“
Die aufgezeigten "vier Modernisierungen" stellen eine komplexe Maßgabe
neuer Staatlichkeit für den Funktions- und Strukturwandel der öffentlichen
Verwaltung dar. So wird, um den "distanzierten" Sozialstaat im voraufgehend
skizzierten Sinne zu erreichen, eine effektive (De-)Regulierung durch den
Staat erforderlich. Diese bedingt den Übergang zu einem .neuen" Sozialstaat,
der
in
erheblichem
Maße
die
individuellen
und
gesellschaftlichen
Verantwortungen für die Wirtschafts-, Umwelt- und Sozialpolitik stärkt. In
diesem Prozess wandelt sich zugleich die Verantwortung des Staates: Er
übernimmt statt der eigenen Handlungs- bzw. Produktionsverantwortung nur
mehr noch eine Rolle als Aufsichtsinstanz. d. h. er gewährleistet die Erfüllung
der von ihm für notwendig gehaltenen ökonomischen, ökologischen und
sozialen Ziele durch privates Handeln. Verbunden damit ist ein Rückgang
staatlicher Aufgaben und der verteilenden Verwaltung. Statt bisheriger
Interessenschlichtung, Betreuung und Mitberücksichtigung durch diese kommt
es zu einer anderen „Verantwortungsverteilung" und .“Verantwortunqspartnerschaft" mit der Gesellschaft.
Der Weg hierzu ist bereits beschritten, wie zwei Beispiele zeigen mögen. Im
Bereich der "Technischen Sicherheit" hat sich u. a. im Arzneimittelrecht,
Gentechnikrecht, Chemikalienrecht und auch im Atomrecht eine rechtliche
14
Risikovorsorge
entwickelt,
Risikokommunikation
ist.
deren Kennzeichen eine institutionalisierte
Diese
ersetzt
weitgehend
die
materielle
Überwachung der Risikoproduzenten. Ferner sehen sich im Sektor der
"Inneren Sicherheit" Bund und Länder in der Bundesrepublik Deutschland vor
die dringliche und tendenziell bejahte Frage gestellt, ob die Aufgabe der
vorbeugenden Bekämpfung von Kriminalität privaten Sicherheitsunternehmen
zu großen Teilen zu übertragen sei. Schließlich wird auch der Leistungsstaat
in diesen Umbau der Verantwortung für soziales Handeln einbezogen, soweit
nicht die „Daseinsvorsorge“ in private Hände übergegangen ist: Nicht von
ungefähr sind die Sozialpartner sowohl in Deutschland als auch in der EU im
Rahmen
von
Bemühungen
.Beschäftunqspakten"
um
den
Kampf
bzw.
gegen
"Sozialen
die
Dialogen"
wachsende
in
die
Arbeitslosigkeit
einbezogen. Deutlich offenbaren sich jeweils Verwaltungsaufgaben als
Partnerschaftsaufgaben von Staat und Bürgern.
5.2. Öffentliche Verwaltungen als Dienstleistungsunternehmen mit
Gewährleistungsauftrag
Der
darin
liegende
und
Funktions-
Strukturwandel
öffentlicher
Verwaltungen sieht sich durch die Neubestimmung des Verhältnisses
von Staat und Wirtschaft bzw. von Staat und Bürgern noch verstärkt.
Aufgegeben ist, Verwaltung vom Bürger her zu "denken". In Bezug auf
die Unternehmenswirtschaft bedeutet dies, sich in die jeweiligen
Antragsteller
hineinzudenken
und
die
Belange
der
Verwaltungskreativität auf die Frage zu konzentrieren, wie dem Anliegen
entsprochen werden und der gestellte Antrag genehmigt werden kann.
Öffentliche Verwaltungen bilden aus dieser Sicht Dienstleistungsunternehmen
bzw. -betriebe. Diesen sind eine zu schwache Organisation, Reibungsverluste
zwischen
beteiligten
Haushaltsrechts
unüberschaubare
und
Behörden,
die
Normenflut
Ressortegoismen,
Zwänge
ein
des
die
Personalrechts
Hemmschuh
bei
der
Enge
des
sowie
die
erfolgreichen
Bewältigung öffentlicher Aufgaben. Ihn gilt es abzustreifen. Die Aufgabe der
öffentlichen Verwaltungen heute und in Zukunft ist es statt dessen, dem
15
Bürger
oder
Unternehmen
als "Kunden" der Verwaltung mit dem
Selbstverständnis eines Dienstleisters gegenüberzutreten.
5.3. Aufgabenentlastung durch regulierte Selbstregulierung,
Selbstverwaltung und Selbsthilfe
Der skizzierte
Einbezug
der Wirtschaftsverbände einerseits und der
Sozialpartner andererseits in die Regulierung sozialer Sicherung oder die
Vertiefung partnerschaftlicher Zusammenarbeit mit den Unternehmen im
Bereich
des
Umweltschutzes
selbstregulierungsfreundlichen
sind
jeweils
Rechtsgestaltung.
Ausdruck
Diese
führt
einer
zur
Aufgabenentlastung für die öffentlichen Verwaltungen. Dahinter steht das
Leitbild
eines
Staates,
Aufgabenverständnis
sowie
der
sich
in
in
seinen
seinem
Funktions-
Handlungsformen
und
vom
Interventionsdenken weg und auf den Weg zur Motivation und Organisation
von Selbstorganisationsprozessen im Rahmen seiner Regulierung begibt, zu
einer Vermittlungsfunktion. Darin eingeschlossen ist das Bemühen, die
Selbststeuerungspotentiale durch Bürgermitverantwortung in Gestalt der
Selbstverwaltung zu stärken. Dabei wird der Schwerpunkt im Prozess der
Rechtsbildung institutionell auf die Träger der Selbstverwaltung verlagert.
Dazu gehört auch die Selbsthilfe als Form des individuellen bzw. kollektiven
Helfens innerhalb der Gesellschaft bei sozialen Notlagen. Auch hierbei handelt
es sich um "gelebte" Bürgermitverantwortung.
Wird auf diese Weise dem "schlanken" Staat die Kraft eines qualitativ „neuen"
Rechts abgewonnen, das in seinem "Gehäuse" ebenso der Entwicklung einer
Kultur der Rechtsvereinfachung wie der Rechtsentlastung hinreichend
Raum gibt, dann vermag sich die öffentliche Verwaltung auf ihren eigentlichen
Auftrag zu besinnen, neben der Gewährleistung von Daseinsvorsorge
komplexe Verwaltungsaufgaben zu übernehmen und zu bewältigen. Denn
im Rollen- und Gestaltwandel von Gesetz und Recht müssen immer häufiger
komplexe Entscheidungen vor dem Hintergrund nur grobmaschig vorgeformter
gesetzlicher Grundlagen getroffen werden. Deren typischer Gehalt ist das
Abwägen innerhalb gesetzlicher Zielorientierungen unter Neubesinnung auf
den Wert der Verwaltungseffizienz bei gleichzeitiger Rücknahme der
16
Systemfunktion
des
subjektiv- öffentlichen Rechts.
III.
Neuansätze verwaltungsrechtlicher Theoriebildung
1.
Strukturwandel des Verwaltungsrechts
Für die öffentlichen Verwaltungen in den Nationalstaaten und im europäischen
Verwaltungsraum hat die staatliche Modernisierung einen tiefgreifenden
Strukturwandel des Verwaltungsrechts bewirkt. Hierbei handelt es sich um
eine prozeßhafte Vervollkommnung der Ordnungsidee des Verwaltungsrechts,
die den jeweiligen Einflußfaktoren der Verwaltungsrealität folgt und dabei stets
auf früheren Entwicklungsstufen des Verwaltungsrechts aufbaut.
In diesem Sinne hatte sich zu Beginn des Jahrhunderts das Verwaltungsrecht
auf der Grundlage des formalen Rechtsstaats als ein Gefüge vornehmlich
gefahrenabwehrender
Vorschriften
entwickelt
("Armenpolizey,
Gewerbepolizey" u.a.m.). Zu der zentralen Handlungsform reifte der
.Verwaltunqsakt" als außenwirksamer Abschluss des formalisierten internen
Entscheidungsverfahrens
über
Anträge
des
Bürgers
oder
von
Wirtschaftsunternehmen heran. Er war das Produkt einer klassisch hoheitlich
(bürokratisch) organisierten Verwaltung, die als rationale Bürokratie das
gesetzte, formale Recht in einem System von Ämtern nach Maßgabe
eindeutiger
Zuständigkeitsvorschriften
und
kraft
Spezialisierung
durch
hauptamtliches Personal vollzog. Die Mitarbeiter wurden in hierarchischer
Über- und Unterordnung bei strikter Unterscheidung von Amt und Person in
strenger Regelgebundenheit tätig. Die formale Rationalität dieser Bürokratie
wurde
überdies
durch
Aktenmäßigkeit
und
Schriftlichkeit
des
Verwaltungshandelns garantiert.
Auch wenn diese Handlungsmodi der "Bürokratie" des formalen Rechtsstaats
nicht durchweg die Wirklichkeit des Verwaltens zu ihrer Zeit widerspiegeln, so
geben sie doch der inneren Verbindung von Staat, Verwaltung und Recht in
jener Modernisierungsphase Ausdruck. Doch schon in der sog. Weimarer
Republik, spätestens aber nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs führte die
anschließende Phase der staatlichen Modernisierung in der Bundesrepublik
17
Deutschland
mit
tiefgreifenden
einem
breiten Aufgabenwachstum
Aufgabenwandel
zu
und
einem
Funktionsveränderungen
des
Verwaltungsrechts. Bemerkenswert ist dabei vor allem der Übergang zum
Leistungs- und Wohlfahrtsstaat sowie die Entwicklung der "Planung" als einer
prinzipiellen staatlichen Handlungsform.
Das Verwaltungsrecht folgte sowohl dem Aufgabenwachstum als auch dem
Aufgabenwandel. Die neuen Verwaltungsaufgaben führten dazu, dass der
soziale
Leistungsstaat
ein
Recht
der
Transferleistungen
und
Wirtschaftssubventionen entwickelte, der Umweltstaat über lange Jahre zu
einem spezifischen Umweltverwaltungsrecht fand und im Informations- und
Technikstaat die Kompensation technischer Risiken im Zusammenhang der
technischen
Realisation
neue
Gebiete
eines
Risikoverwaltungsrechts
erschloss. Ebenso auffällig gestaltete sich im Regulierungsstaat der Wandel
der Handlungsformen im Vergleich zum früheren Verwaltungsrecht: Der
„Verwaltungsakt" verlor seine Funktion als bestimmende Handlungsform,
obwohl er weiterhin zu einem bevorzugten Handlungsinstrument der
öffentlichen Verwaltung gehört. An seine Seite trat der „Verwaltungsvertrag"
als eigenständige weitere Handlungsform.
Als solcher ist der öffentlich-rechtliche Vertrag ein unverwechselbarer
Ausdruck dafür, dass im materiellen Rechtsstaat die Verwaltung in
Abstimmung mit dem Bürger eigene materielle Rationalitätskriterien für die
Anwendung des Verwaltungsrechts entwickeln muss. Anders als im formalen
Rechtsstaat hält nämlich das inzwischen "geöffnete" Verwaltungsrecht mit
seinen Ermessensnormen und unbestimmten Rechtsbegriffen, das Konzepte
und Zweck- statt Konditionalprogramme bevorzugt, immer seltener konkrete
Rechtsfolgen bereit. Der Bodengewinn des öffentlich-rechtlichen Vertrags war
dann die Konsequenz daraus, dass sich zwischen Verwaltung und Bürger
bzw.
Unternehmen
immer
häufiger
formale
und
informale
Aushandlungsprozesse unter gleichzeitiger Erweiterung des alten zweipoligen
Verwaltungsverhältnisses
entwickelt
haben.
zum
Zugleich
drei-
und
mehrpoligen
konstituierte
die
Rechtsverhältnis
Verlagerung
der
Interventionsverantwortung auf die Verwaltung eine neue Aufgabenstruktur
18
des
Verwaltens,
die
man
als verteilende Verwaltung bezeichnen
kann. Mit dieser ging die Zunahme subjektiver öffentlicher Rechte einher. Die
notwendigen
zugleich
binnenadministrativen
auf
die
Existenz
Abstimmungsverfahren
eines
neuen
Typs
von
verwiesen
komplexen
Verwaltungsentscheidungen.
Nunmehr unterwirft die Rekonstruktion der Staatsfunktionen im „situativen"
Rechtsstaat und „distanzierten" Sozial- bzw. Wohlfahrtsstaat von neuem das
Verwaltungs- und Verfahrensrecht spezifischen Ausstrahlungswirkungen.
Neue Verwaltungskonzepte, die zur Modernisierung der Verwaltung führen
sollen, verändern zugleich ihr Recht. Dabei geht es einerseits - und
vornehmlich
nach
innen
gerichtet
um
die
Weiterentwicklung
des
Verwaltungsorganisations- und Verwaltungsverfahrensrechts einerseits, des
Rechts des öffentlichen Dienstes andererseits. Darüber hinaus - und
aussengewendet - bedürfen das allgemeine und besondere Verwaltungsrecht
in den jeweiligen Handlungsfeldern öffentlicher Verwaltung einer tiefgreifenden
Reform nach Maßgabe der Regulierungsziele bzw. –zwecke.
Skizziert
man
deren
Grundlinien,
so
erweisen
sich
zunächst
die
Reaktionsfähigkeit des Rechts, seine Flexibilität und (soziale) Gerechtigkeit als
wesentliche Voraussetzungen für eine erfolgversprechende Staats- und
Verwaltungsmodernisierung
in
Ansehung
des
Wandels
der
realen
Verhältnisse. Dazu gehört auch, dass bei Bedarf und auf angemessene Weise
das Verwaltungsrecht die erforderlichen Innovationen in der Verwaltung und
in Bezug auf die durch das Verwaltungsrecht gesteuerten gesellschaftlichen
Teilsektoren ermöglicht. Hierfür werden Regelsetzung und die Durchführung
der neuen Regelungen zu jeweils eigenen Anknüpfungspunkten von
Flexibilität.
In der Bundesrepublik Deutschland lassen sich in diesem Sinne gegenwärtig
eine
Reihe
von
Entwicklungslinien
bei
den
Innovationen
des
Verwaltungsrechts erkennen. Zu ihnen gehört einerseits der Umbau des
Besonderen Verwaltungsrechts, insbesondere in den Referenzgebieten des
Umwelt-, Wirtschafts-, Technik- und Sozialrechts. Daneben und auf der
19
anderen
Seite
kommt
es
im Zusammenhang
der
Verwaltungs-
modernisierung zu einem Wandel der Handlungsformen und -maßstäbe im
Allgemeinen
Verwaltungsrecht.
Dabei
spielt
insbesondere
vor
dem
Hintergrund des Wandels der Staatlichkeit der Übergang zu einem Konzept
der .Verwaltunqspartnerschaft" mit eigenen Handlungsformen eine besondere
Rolle. Darüber hinaus und schließlich entwickelt die zunehmende Verzahnung
mit
dem
Zivilrecht,
aber
auch
mit
dem
Europarecht
eigene
Integrationsimpulse, die im Europäischen Verwaltungsverbund das deutsche
Verwaltungsrecht nachhaltig zu verändern beginnen.
2.
Dimensionen des Strukturwandels
Bei alledem lassen sich fünf große Entwicklungslinien feststellen. Zunächst
wird deutlich, dass trotz aller Umwertung der demokratie-, rechts- und
sozialstaatlichen
Grundlagen
das
anlagen-
und
produktbezogene
Ordnungsrecht vor allem im Energiewirtschaftsrecht, Immissionsschutz-,
Atom-, Abfall-, Gentechnik- und Chemikalienrecht ein weiterhin tragender
Pfeiler des Verwaltungsrechts bleiben wird. In den Vordergrund der
Veränderungen
des
Verwaltungsrechts
rücken
Flexibilisierung
und
die
Verlagerung
instrumentelle
allerdings
der
dessen
bisherigen
Verwaltungsverantwortung auf die gesellschaftliche Selbstregulierung und
die individuelle Eigenverantwortung der Bürger unter gleichzeitiger
Gewährleistungsverwaltung und Regulierung durch „Agenturen“.
Die Verwaltung hat hierzu förderliche Rahmenbedingungen zu schaffen. Diese
sind einerseits im Zusammenhang der staatlichen Kontextsteuerung
gesellschaftlichen Handeins geborgen. Staat und Kommunen installieren mit
diesem Steuerungsansatz selbstregulative, Gemeinwohl fördernde Projekte,
die den Bürgern die Freiheit lassen, ob sie sich hieran beteiligen und wie sie
die
vorgegebenen
verwirklichen
Projektziele
wollen.
Ein
und
anderer
-anforderungen
Typus
erreichen
nicht-imperativer
oder
staatlicher
Einwirkung gründet auf der reflexiven Steuerung: Diese sieht sich dadurch
gekennzeichnet,
dass
selbstverantworteten
Staat
und
Informations-,
Kommunen
Lern-
und
interessierte
Private
Selbstkontrollprozessen
20
aussetzen - wie z. B. im Rahmen der Umweltpolitik
durch
die
Tätigkeit
freiberuflicher Umweltgutachter mit Zertifizierungsbefugnissen.
Die Frage ist allerdings, in welche Richtung sich diese Entwicklung bewegen
wird. Gegenwärtig und. einerseits zielen einzelne Reformansätze auf die
Beschleunigung der Verwaltungsverfahren für umweltrechtliche Planungs- und
Genehmigungsvorgänge.
Dahinter
steht
der
Gedanke,
durch
eine
.kundenfreundlichere" Genehmigungspraxis privaten Unternehmen größere
Investitionen zu erleichtern. Auf der anderen Seite geht es darum, den
Rechtsschutz
der
Bürger
zu
modifizieren,
weil
dieser
bei
dessen
Inanspruchnahme die Dauer der Genehmigungsverfahren ausweitet.
In diesem Sinne ist die Verwaltungsgerichtsordnung als Prozessgesetz für die
Inanspruchnahme der Verwaltungsgerichtsbarkeit bei Rechtsschutzbegehren
mittlerweile geändert worden; der ebenso neugeschaffene „Güterichter“ tritt im
übrigen für die Verwirklichung von Mediationszielen hinzu. Die Reform des
Staatssektors
mit
Auswirkungen
auf
das
Verwaltungs-
und
Verwaltungsverfahrens- bzw. -prozessrecht hat damit freilich erst begonnen.
Ein darüber hinausreichender Funktionswandel des Verwaltungsrechts muss
sich an den übergreifenden Zielen der Modernisierung der Bundesrepublik
Deutschland ausrichten.
3.
Defizitäres Regulierungs- und Steuerungsparadigma
Die Zukunft von Staat, Verwaltung und Recht in der Bundesrepublik
Deutschland daran neu auszurichten, stößt allerdings auf ein Kernproblem:
Es besteht darin, dass eine hoch komplexe Industriegesellschaft ihre
Konfliktbewältigung nahezu ausnahmslos in Regulierungszusammenhänge
eingebettet und damit in Rechtsprobleme überführt hat. Die Neudefinition der
Bewältigung dieser Rechtsprobleme unterliegt aber immer auch und zugleich
der Steuerungskraft von Recht. (Verwaltungs- )Recht erscheint jedoch
insoweit als ein prekäres Steuerungsinstrument. Denn zu fragen ist, inwieweit
und nach Maßgabe welcher Bedingungen das Recht überhaupt noch in der
Lage ist, als ein zentrales „Steuerungsinstrument" der gesellschaftlichen
Entwicklung in Regulierungszusammenhängen zu fungieren.
21
Im
übrigen
müssen
die Leistungsgrenzen einer Steuerung
durch Recht im Auge behalten werden. Denn Steuerungsüberlegungen und modelle stehen in der Gefahr, vereinfachte Ursache-Wirkungs-Beziehungen
herzustellen.
Der
rechtswissenschaftliche
Umgang
mit
vornehmlich
sozialwissenschaftlich inspirierten Steuerungsüberlegungen und ökonomisch
begründeten Regulierungsansätzen darf sich nicht in sozialtechnologischen
Überlegungen erschöpfen. Das Recht ist zwar Steuerungsmedium; aber es ist
auch materiale Wertordnung und Grenzziehung aller Steuerung.
4.
Rationalitätsbindungen der Verwaltungsmodernisierung
In diesem Sinne sucht heute Verwaltungshandeln durchweg nach materialen
und materiellen Rationalitätskriterien in einem System der dezentralen
Rechtsbildung, in dem es neben den Beiträgen einer an Bedeutung
zurücktretenden Gesetzgebung und denen der exekutivischen Normsetzung
bzw.
der
Rechtsprechung
auch
eine
eigenständige
Verwaltungs-
verantwortung, d. h. „Verwaltungsautonomie" gibt.
Der
darin
offenbare
Übergang
zu
materiellen
und
werthaften
Rationalitätsmaßstäben des öffentlichen Handelns hat sich freilich nicht völlig
von
den
bürokratischen
Anforderungen
des
rechtsstaatlichen
Verwaltungsverständnisses gelöst. Der Kern der modernen Verwaltung beruht
auch in Zukunft auf den Merkmalen einer hierarchischen Über- und
Unterordnung der Mitarbeiter beim Aufgabenvollzug, der Trennung von Amt
und Person, der Bindung an Recht und Gesetz, der Aktenmäßigkeit und
Schriftlichkeit des VerwaltungshandeIns. Dies entspricht der „rule of law": Wer
wollte z. B. auf eine strikte Neutralität der öffentlichen Verwaltung in Zeiten
des politisierten staatlichen und gesellschaftlichen Wandels verzichten?
Es ist deshalb zu einfach, .überholtes rechtsstaatliches Denken" für
Modernisierungsdefizite verantwortlich zu machen. Ganz im Gegenteil beläßt
das Recht des modernen, sozialen und demokratischen Rechtsstaates der
"schlanken"
Verwaltung
breite
„Spielräume":
Die
Rechtmäßigkeit
des
Verwaltungshandelns ist eine notwendige und grundlegende, aber nicht die
alleinige Voraussetzung für dessen Qualität und Erfolg. So ist etwa die
22
Wirtschaftlichkeit
öffentliches
der
Handeln
öffentlichen Verwaltung ein anerkanntes Thema;
muss
darüber
hinaus
kommunikationsfähig,
bürgerorientiert und effizient sein. Die Kunst der öffentlichen Verwaltung liegt
dann darin, die aus der gleichzeitigen Anwendung dieser vielgestaltigen
Grundsätze
folgenden
Konflikte
–
falls
notwendig;
durch
Mediation
auszutarieren. In der gegenwärtigen Modernisierungsdebatte über die
öffentliche Verwaltung ist deshalb und angesichts der Komplexität des damit
verbundenen
Optimierungsproblems
Verwaltungstätigkeit
bedürfe
organisatorisch-institutioneller
die
durchweg
Forderung
einer
zurückzuweisen,
"Ökonomisierung"
Vereinfachungen,
die
mit
und
einem
entsprechenden Abbau von Verfahren einhergehen müssten.
Eher mag der Hinweis richtig sein, dass wir bislang die Konkurrenz der
Handlungsgrundsätze und -maßstäbe nicht angemessen aufgelöst haben. So
ist in diesem Sinne die Bemühung um Wirksamkeit und Wirtschaftlichkeit des
Verwaltungshandelns ein auch verwaltungsrechtlich drängendes und legitimes
Anliegen. Rechtmäßigkeit ist auch kein K. O.-Maßstab; umgekehrt darf
unwirtschaftliches Verhalten nicht als rechtmäßig angesehen werden: Dies
untersagt das verfassungsrechtliche Wirtschaftlichkeitsprinzip.
Solchen Erkenntnissen trägt der gegenwärtig in der Bundesrepublik
Deutschland festzustellende Übergang des Verwaltungshandelns von einem
bürokratischen
Vollzugsmodell
zu
einer
dezentralen
Leistungs-
und
Ressourcenverantwortung Rechnung. Diesem Konzept zufolge soll die
Leistungskraft und Wirtschaftlichkeit der Behörden gestärkt werden. Ihr
Dienstleistungscharakter ist zu verbessern; die gesamte Verwaltungstätigkeit
wird einer laufenden Überprüfung von Notwendigkeit, Effektivität und Effizienz
unterzogen.
5.
Europäisierung und Internationalisierung der öffentlichen
Verwaltung
Sowohl
in
die
verwaltungsinterne
Rationalisierung
als
auch
in
die
außenbezogene Reform des öffentlichen Staatssektors ist die wachsende
supra- und internationale Verflechtung der Rechts- und Verwaltungsstrukturen
einbezogen. Vor allem die Mitgliedschaft Deutschlands in der EU hat auf der
23
einen
Seite
zu
des
einem Anwendungsvorrang
europä-
ischen Rechts geführt. Verfassungsrechtlich spiegelt sich diese rechtliche
Entwicklung für die Bundesrepublik Deutschland in der Neufassung des Art.
23 GG wider.
Die Entwicklung der modernen Verwaltung auf europäischem Boden nimmt
damit
eine
neue
Wendung.
Sie
hängt
nicht
mehr
nur
mit
den
nationalstaatlichen Funktionsveränderungen zusammen. Zugleich erhalten wir
ein anderes Bild von den grenzüberschreitenden Verwaltungsbeziehungen, als
wir es noch zu Beginn unseres Jahrhundert gezeichnet hätten. Dabei sind
transnationale von supra- und internationalen Entwicklungslinien zu trennen.
In den souveränitätsgeprägten Sektoren der Außen-, Innen- und Justizpolitik
der Nationalstaaten kommt es zu transgouvernementalen Beziehungen, die
eine
eigene
Rechtsordnung
für
die
Vertragspartner
mit
je
eigenen
Rechtssetzungsregeln und Anwendungsbestimmungen ohne individuelle
Entsprechungsrechte für die Europabürger formulieren. Ein gewichtiges
Beispiel hierfür sind die sog. „Schengener Abkommen", mit denen versucht
wird, Sicherheitskontrollen an den Grenzen Deutschlands zu den nördlichen,
westlichen und südlichen Nachbarn abzubauen.
Zu gleicher Zeit sind aber auch die supranationalen Auswirkungen der
europäischen Integration auf das deutsche Verwaltungsrecht zur Kenntnis
zu nehmen. Auf der einen Seite entwickelt sich in der EU eine eigene
"europäische Rechtsetzung", die über eigene Entscheidungsprozeduren im
Zusammenwirken
der
Handlungsinstrumentarium
europäischen
verfügt.
Dabei
Organe
und
bevorzugt
ein
die
eigenes
Europäische
Kommission den Erlass von Richtlinien, weil dann die Wege zur Erreichung
der angestrebten Ziele jeweils den Mitgliedstaaten der EU überlassen bleiben.
Auf der anderen Seite hat der Anwendungsvorrang des europäischen
Rechts in den Nationalstaaten mit seinen vielfältigen Phasen der Entstehung,
Beschlussfassung, Anwendung und Durchsetzung auf nationaler Ebene zu
einer anhaltenden und sich verstärkenden „Europäisierung" des deutschen
Verwaltungsrechts geführt. Überdies gibt es mittlerweile ein "Europäisches
Verwaltungsrecht": Aus der Supranationalität erwächst ein autonome
24
Rechtsordnung,
die
sich
nach Regelungsumfang
wie
Regelungs-
funktionen bis hin zum Individualrecht vom traditionellen Völkerrecht
unterscheidet und eher dem Bundesrecht in einem föderativen Staat
vergleichbar ist.
Von den transnationalen Verwaltungs- und Rechtsbeziehungen und der
supranationalen Rechtsordnung der europäischen Integration unterscheidet
sich die Internationalisierung der Verwaltung. Die vertraglichen Bindungen der
Nationalstaaten auf wirtschaftlichen, sozialen, umwelt- und verkehrspolitischen
wie auch auf sonstigen Feldern hat heute dazu geführt, dass sich zahlreichen
nationale Verwaltungen "nach außen", d. h. als Mitglieder in über tausend
internationalen Organisationen der Staatenwelt betätigen müssen. Es handelt
sich
um
weltweite
Verwaltungsbeziehungen,
die
regelmäßig
auf
völkerrechtlichen Verträgen beruhen und die in diesen Verträgen ein eigenes
Partialrecht,
das
internationale
Verwaltungsrecht
entfalten.
Als
ein
hervorragendes Beispiel aus den letzten Jahren sei hierzu die Gründung der
"Word Trade Organization (WTO)" genannt. Sie hat dazu geführt, dass die
Dienstleistungen, Umweltstandards, sozialen Standards u. a. m., die im
Rahmen der GATT-Verhandlungen vereinbart wurden, eine entsprechende
Umstrukturierung des je nationalen Rechts in den je nationalen Verwaltungen
bedingen - z. B. des Wirtschaftsrechts und der Wirtschaftsverwaltung, des
Umweltrechts und der Umweltverwaltung oder auch des Patentrechts und der
Patentverwaltung.
IV. Entwicklungsperspektiven der Verwaltungsrechtsdogmatik im
Rahmen der neuen Staatlichkeit
1.
Perspektiven der verwaltungsrechtlichen Systembildung
Die Zwischenbilanz der Ansätze zu einer rechtsstaatlich gebundenen
Neuorientierung des Verwaltungsrechts ergibt ein durchaus inhomogenes Bild.
Einerseits führt die Internationalisierung von Verwaltung und Recht in den
hochkomplexen Industriegesellschaften zu dem weiteren Wachstum an
Verrechtlichung. Denn deren Organisation als Rechtsstaaten gibt ihnen auf
zu versuchen, die Entwicklungsprozesse des internationalen Verwaltungs- und
europäischen Rechts parlamentarisch zu steuern, woraus sich wiederum
25
jeweils neue Rechtssätze ergeben. Nach wie vor ist nämlich das "Recht"
neben dem "Geld" - sowie ergänzt durch die Steuerungsressource
"Information" ein unverzichtbares Steuerungsmedium .
Auf der anderen Seite sind die "Kosten" des Rechtsstaats für die Prozesse
der Verrechtlichung beträchtlich gewachsen. Sie treten dort auf, wo ein
langsam
und
genau
arbeitender
Rechtsstaat
Bauvorhaben
und
Forschungsanlagen blockiert, für endlose Genehmigungsverfahren sorgt und
arbeits-
und
sozialrechtliche
Schutzvorschriften
schafft,
die
rasche
unternehmerische Entscheidungen zur Illusion machen. Der skizzierte
Strukturwandel des Verwaltungsrechts will hier Abhilfe schaffen. Doch
schließen die
Neuansätze verwaltungsrechtlicher Theoriebildung auch die Erkenntnis ein,
dass die "innere" Rechtsbindung und Gemeinwohlfunktion der öffentlichen
Verwaltung diese in der rechtsstaatlichen und sozialen Demokratie von der
privaten Unternehmenswirtschaft prinzipiell unterscheidet. Die Gleichstellunq
mit dieser ist ausgeschlossen. Zwar bedeutet dies nicht, dass sich der
moderne Rechtsstaat einem Effektivitäts- und Effizienzdenken verschließt. Mit
der
allgemeinen
"Öffnung"
des
Rechts
erweisen
sich
auch
die
rechtsstaatlichen Direktiven für die Gestaltung einer öffentlichen Verwaltung
auf
der
Programm-,
Organisations-,
Verfahrens-
und
Personalebene
effektivitäts- und effizienzgebunden. Der moderne Rechtsstaat bildet insofern
ein weitläufiges "Gehäuse", in dessen Mauern auch der Strukturwandel des
Verwaltungsrechts
und
die
Rationalitätsbindungen
der
Verwaltungs-
modernisierung ihre Heimstatt finden.
Dies erkannt zu haben, führt zu Veränderungen im verwaltungsrechtlichen
Systemdenken. Denn die Ordnungsidee des Verwaltungsrechts wandelt
sich: Mit dem Bild vom "situativen" Rechts- und "distanzierten" Sozialstaat
drängen
sich
die
künftig
notwendigen
Strategien
der
Staats-
und
Verwaltungsführung deutlich auf. Zu diesen gehört der Aufgabenverzicht, ein
vernünftige Aufgabenteilung zwischen Bund, Ländern und Gemeinden sowie
eine
Konzentration
des
Staatssektors
auf
unabweisbare
staatliche
26
Verantwortungen.
Der
soziale Wohlfahrtsstaat
noch
wird
stärker
dem "Imperativ des Wandels" unterworfen. Deutschland knüpft hierzu seit
einigen Jahren an die weltweit existente und breite internationale Strömung
der „Ökonomisierung" des öffentlichen Sektors an. Zwischen öffentlichen
Einheiten und Privaten werden neue Partnerschaften eingegangen; die
Finanzierung öffentlicher Projekte wie Straßen oder Universitäten wird durch
Leasing ermöglicht. Mit Maßnahmen der Deregulierung zieht sich nach einer
Aufgabenkritik der Staat mehr und mehr aus Interventionen in das Verhalten
von Unternehmen und Konsumenten zurück. Ein Beispiel hierfür ist der
Übergang zu einer dualen Umweltverantwortung von Staat und Wirtschaft
auf dem Gebiet des Umweltschutzrechts.
Die internen Rationalisierungsprozesse der öffentlichen Verwaltung führen bei
alledem zu Veränderungen der Verwaltungsstrukturen auf der Organisation-,
Verfahrens-
und
Personalebene.
Dort
bestehen
unausgeschöpfte
Rationalisierungsreserven. Dementsprechend bedarf es der Reform des
administrativen Binnenrechts. Schließlich stellen sich aus der Perspektive der
verwaltungsrechtlichen
Systembildung
neue
Fragen
zu
den
Steuerungsmöglichkeiten globalisierter Rechts- und Verwaltungsentwicklung
sowie zu dem Fortbestand des Netzes subjektiver Rechte, das in seiner
Gesamtheit
als
Einschnürung
und
Verlust
an
staatlichen
Entscheidungsspielräumen verstanden werden kann. In allen diesen Belangen
bedarf
die
verwaltungsrechtliche
Theoriebildung
einer
entsprechenden
Umsetzung in neue verwaltungsrechtliche Instrumente. Dies gilt zunächst und
einerseits für die Rechts- und Handlungsformen, andererseits aber auch für
das Verwaltungsverfahrens- und für das VerwaItungsorganisationsrecht als
SteuerungspotentiaI.
2.
Wandel der Verwaltungsrechtsdogmatik
2.1. Öffnung der Rechts- und Handlungsformen
Im Strukturwandel des Verwaltungsrechts ändern sich vor allem die
Handlungsformen öffentlichen Verwaltens. Das Verwaltungshandeln muß
sich stärker am Bürger orientieren; es ist eine Dienstleistung. In diesem
27
Sinne sieht sich Regelorientierung durch
ein
entsprechendes
Verfahrensmanagement ergänzt. Dabei steht die Qualität des Handelns
kontinuierlich zu verbessern.
Zugleich wandeln sich die rechtlichen Handlungsformen. Beispiele hierfür sind
einerseits
die
zunehmende
Bedeutung
des
Informationshandeins,
andererseits die wachsende Rolle einer verwaltungsvertraglichen PublicPrivate Partnership. Die Gründe hierfür sind klar. Verwaltungshandeln ist als
Entscheidungshandeln auf die Verfügbarkeit von Informationen und die
Sicherung einer angemessenen Kommunikation angewiesen. Damit werden
Informationsaufnahme
und
-verarbeitung,
Kommunikationsfähigkeit,
Kommunikationsnetzwerke und Interaktionsstile zur Ressource "richtiger"
Entscheidungen.
Insbesondere
im
Bereich
des
sog.
Risikoverwaltungsrechts hat die Bedeutung der Informationen für die
vorbeugende Risikoabwehr zugenommen. Dementsprechend haben sich
spezielle Handlungsformen einer öffentlich-rechtlichen Risikokommunikation entwickelt.
Den Wandel der Handlungsformen illustriert auf der anderen Seite die schon
erwähnte verwaltungsvertragliche Public-Private-Partnership.
Wir begegnen diesbezüglich Fragen komplexer Vertragsgestaltungen, mit
denen umfangreiche schwierige Sachprobleme unter Beteiligung mehrerer
Rechtsobjekte und zum Teil mit Wirkung für eine Vielzahl von Personen einer
Lösung zugeführt werden sollen. Als Beispiele dafür seien u. a. Mantel- und
Gesamtverträge im Kassenarztrecht oder auch die umweltrechtlichen
„Grundverträge" genannt, mit denen etwa die Beseitigung von Sonderabfällen
durch privatrechtliche Gesellschaften begründet werden kann. Solche
öffentlich-rechtlichen Vertragsstrukturen deuten eine weitere Richtung an, in
die sich das deutsche Verwaltungsrecht im funktionalen Wandel des
spätmodernen Staates bewegt.
28
2.2. Verwaltungsverfahrensund Verwaltungsorganisationsrecht als Steuerungspotential
In diesem Wandel kommt auch der Re-Organisation der öffentlichen
Verwaltung in der Bundesrepublik Deutschland eine prinzipielle Bedeutung zu.
Sie
führt
zu
einer
organisatorischen
Verselbständigung
von
Verwaltungsträgern durch Organisationsprivatisierung bzw. zur sonstigen
Ausgliederung
von
Verwaltungseinheiten aus dem Gesamtkörper der
öffentlichen Verwaltung. Daneben tritt die Einrichtung flacher Hierarchien und
der Übergang zu Leistungs- und Verantwortungszentren für öffentliches
Dienstleistungsmanagement hervor. Beide Beispiele machen deutlich, dass
Verwaltungsorganisationsrecht als Steuerungsressource eingesetzt wird.
Der
Ausgangspunkt
hierfür
ist
die
Überlegung,
wie
institutionell-
organisatorisch die Programmfunktionen rechtlich so erfasst, abgestützt und
beeinflusst werden können, dass sie ihrerseits einen Entscheidungsprozeß
steuern
können,
Organisationen
der
und
dem
Ziel
der
Entscheidungsrichtigkeit
Organisationsrecht
prägen
hierfür
dient.
eigene
Rationalitätsmuster aus; sie sind die rechtlich-strukturellen Voraussetzungen
eines erfolgreichen Entscheidungshandelns der Verwaltung. Ein gutes Beispiel
hierfür ist die Errichtung des Gemeinsamen Bundesausschusses im
deutschen Gesundheitswesen.
Von besonderer Bedeutung sind deshalb auch die Re-Organisation der
Informationsvorgänge
sowie
die
„Personalisierung"
des
Rechte-
und
Pflichtenbezugs von Mitarbeitern im Organisationsrecht. Der einzelne
Mitarbeiter steht nunmehr im Mittelpunkt des organisatorischen Handelns.
Darin liegt eine Absage an das Verständnis der Verwaltungsorganisation als
ein nur hierarchisches System. Besonderes Interesse gilt dann dem
Willensbildungsprozess innerhalb der Verwaltungsorganisation. Hier dominiert
das Prinzip der individuellen Verantwortung, d. h. die Verwaltungsentscheidung wird bereits von dem zuständigen Sachbearbeiter getroffen.
Gleichwohl
wird sein Entscheidungshandeln nach außen immer der
zuständigen Behörde bzw. Dienststelle zugerechnet. Denn nur in dieser
Interpretation verfügt die Entscheidung der Verwaltung über die erforderliche
29
Legitimation. Im Zweifel ist deshalb trotz
des
heute
vorgeschlagenen
Kontraktmanagements und der abzuschließenden Zielvereinbarung das
Aufhebungsrecht garantiert.
Hierbei
drohenden
Konflikten
entgegenzuwirken,
ist
Aufgabe
des
Verfahrensmanagements. Dazu gehören die Betonung der Bedeutung von
Vorphasen im Genehmigungsverfahren, der ständige Erfahrungsaustausch
und entsprechende Transparenz. Durch Abbau rechtlicher Regulierung
werden umwelt-, gewerbe- und anlagenrechtliche Prüfungen beschleunigt.
Koordinationsmängel zwischen den Fach- und Genehmigungsbehörden finden
sich abgebaut. Statt dessen werden den Prüfbehörden nunmehr feste Fristen
vorgegeben, die mit vorläufigen Genehmigungen verbunden sind.
Darüber hinaus sieht sich das rechtsstaatlich geordnete Verwaltungsverfahren
intern mit einem Dialog- und Projektmanagement verknüpft. Während das
erstere
durch
Beratungs-
und
Antragskonferenzen
die
Kommunika-
tionsprozesse innerhalb der Verwaltungseinheiten und zwischen Verwaltung
und Bürger bzw. Unternehmen strafft, meint das letztere die Verpflichtung der
Verwaltung zur Erfüllung einer definierten Aufgabe in einem begrenzten
Zeitrahmen mit teamförmigen Strukturen. Insgesamt finden sich bei den
Prozessstrukturen der öffentlichen Verwaltung nunmehr starke Präferenzen
für
eine
Ergebnissteuerung
bei
gleichzeitiger
Verringerung
der
verfahrensrechtlichen Regelbindung.
2.3. Veränderungen in den Personalstrukturen
Die skizzierten Entwicklungslinien in der Verwaltungsrechtsdogmatik lassen
schließlich Veränderungen in den Personalstrukturen unabdingbar erscheinen.
Allgemein gesprochen, geht es hierbei darum, die Personalarbeit an den
voraufgehend genannten Strukturveränderungen auszurichten. Den Rahmen
dafür bietet die Reform des öffentlichen Dienstrechts. Sie institutionalisiert
ein Neues Personalmanagement im Wandel des Beamtenrechts.
Zu diesem Zweck sind geeignete Personalplanungs-, Mobilitäts- und
Entwicklungskonzepte
gefragt.
Sie
sollen
mit
einer
dynamisierten
Stellenbesetzungspolitik verknüpft sein. Betrachtet man diese Anstrengungen
30
als
Bestandteil
der
erforderlichen Humanpotential-Bildung, so geht es
für die öffentlichen Verwaltungen vor allem um die allmähliche Verstärkung
des Dienstleistungsbewusstseins, um die Entwicklung spezifischer Anreize zur
Übernahme dezentraler Verantwortung sowie um die Bereitschaft zu erhöhter
Mobilität und um die Einführung eines Kontraktmanagements. In dessen
Mittelpunkt stehen Zielvereinbarungen zwischen den Führungskräften und
ihren Mitarbeitern darüber, wie bestimmte Arbeitsergebnisse unter Festlegung
von Fördermaßnahmen und in Abstimmung mit den je individuellen
Entwicklungsperspektiven der Mitarbeiter erreicht werden können. Die
rechtliche Qualität dieser Vereinbarungen ist indessen noch unklar.
V.
Verwaltungsrecht und Verwaltungsgerichtsbarkeit
Der Anwendung des Verwaltungsrechts wird im Rechtsstaat seit langem unter
Rechtsschutzaspekten
zugeordnet.
Die
Justiz
eine
wird
spezifische
insofern
als
Verwaltungsgerichtsbarkeit
bewegende
Kraft
des
Verwaltungsrechtssystems verstanden. Wir sprechen von einer funktionalen
Zuordnung von Verwaltungshandeln und VerwaItungsrechtsschutz.
Mit Blick auf diesen funktionalen Wechselbezug lässt sich auch für die
Verwaltungsrechtsprechung ein Aufgaben- und Funktionswandel feststellen.
Im Kern wird man diesen und einerseits als Zunahme der richterrechtlichen
Rechtsbildung
im Gefolge der Verrechtlichung des
staatlichen und
administrativen Handelns kennzeichnen müssen. In Deutschland spricht man
hierbei
häufig
von
einem
"subsidiären"
Funktionszuwachs
der
Verwaltungsrechtsprechung. Richtiger dürfte es sein, das Zusammenspiel von
Gerichtsbarkeit, Gesetzgeber und Verwaltung nunmehr als gemeinsames
Handeln in einem System dezentraler Rechtsbildung zu verstehen.
Der Umfang zulässiger Rechtserzeugung durch Verwaltungsgerichtsbarkeit
muß dann nicht durchweg über die Gesetzgebung bestimmt werden. Der
Rechtsprechung
kommt
eine
"partielle
Rechtsbildungsautonomie"
zu.
Innerhalb des solchermaßen bestimmten Auftrags der Rechtsprechung verfügt
die öffentliche Verwaltung bei der Gesetzeskonkretisierung über keinen
31
Vorrang.
Vielmehr
Gesamthand"
bei
der
handeln Rechtsprechung und Verwaltung "in
Konkretisierung
des
durch
den
Gesetzgeber
geschaffenen Rechts.
Auch dann bleibt aber noch die Frage: Haben wir zuviel Rechtsprechung?
Sollten wir also die Gerichtsgebühren heraufsetzen, auf Tatsacheninstanzen
verzichten, die richterlichen Spruchkörper verkleinern oder sogar die
aufgesplitterten Fachgerichtsbarkeiten noch stärker zusammenzuführen? M. a.
W. ist der Gedanke vom "schlanken" Staat, der sich in Bezug auf den Umfang
seiner Funktionen einer Diät unterzieht, auch für die Rechtsprechung zu
verfolgen.
Gegenwärtig
beziehen
sich
allerdings
die
Neuansätze
verwaltungsrechtlicher Theoriebildung nur sehr zurückhaltend auf dieses
Themenfeld.
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