Artikel für das SPK-Magazin Nr. 1 / 2009 Seid umschlungen, Millionen Von Barbara Schneider-Kempf Die Originalpartitur der Sinfonie Nr. 9, d-Moll op.125 von Ludwig van Beethoven, ein Schlüsselwerk der sinfonischen Musik, gehört zu den kostbarsten Schätze des musikalischen Welterbes. Im Jahr 2001 nahm die UNESCO sie in das Register Memory of the World auf. Die Partitur ist das Herzstück der großen Beethoven-Sammlung der Staatsbibliothek zu Berlin. Sie ist zugleich ein Dokument mit hoher Symbolkraft für die Nachkriegszeit und die Wiedervereinigung Deutschlands. Kein anderes Werk der sinfonischen Literatur entfaltete eine so breite und vielschichtige Rezeptionsgeschichte wie Ludwig van Beethovens 9. Sinfonie. Im 19. Jahrhundert markierte sie eine bedeutsame Entwicklung, als zum ersten Mal in ein sinfonisches Werk die menschliche Stimme einbezogen wurde, indem Beethoven die "Ode an die Freude" von Friedrich Schiller im Finale vertonte. Das Werk und seine zahlreichen Interpretationen wirken weit über den musikalischen Bereich hinaus, inspirieren stets auch ästhetische und philosophische Erörterungen. Die von Beethoven gefertigte Partitur – sie liegt im Haus Unter den Linden in der Musikabteilung der Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz - ist nahezu vollständig. Ergänzt wird sie durch zwei im Beethoven-Haus Bonn und drei in der Bibliothèque National in Paris aufbewahrte Blätter. - Über Jahrhunderte hinweg erwarben die hiesigen Bibliothekare mit großer Umsicht und Entschlossenheit bedeutende Werke des europäischen Musikschaffens und schufen so eine der bedeutendsten Musiksammlungen weltweit: Neben vielem anderen besitzt die Bibliothek auch die Sinfonien Nr. 4, 5 und 8 von Ludwig van Beethoven, die größte Sammlung von Mozart-Autographen sowie rund 80% aller überlieferten Kompositionen Johann Sebastian Bachs. Nach einigen Verzögerungen nahm Ludwig van Beethoven (1770 – 1827) im Herbst 1822 die konzentrierte Arbeit an der Sinfonie Nr. 9, d-Moll op.125 auf. Zunächst schrieb er Entwürfe in Skizzenbüchern und auf losen Blättern nieder, bevor er zum wichtigsten Arbeitsschritt, der Ausarbeitung der Partitur, überging. Zu Beginn des Jahres 1824 lag die Partitur des gesamten Werkes vor. Man hat sie sich zu diesem Zeitpunkt als einen Packen von mehr als 200 unbeschnittenen Notenblättern vorzustellen, die zu mehreren Bündeln zusammengeheftet waren. Das Papier war nicht durchweg von einheitlichem Format: Überwiegend war das Werk auf 16-zeiligem Notenpapier im Querformat niedergeschrieben; für einige Abschnitte des Schlusssatzes jedoch, in denen das Solistenquartett, der Chor und das groß besetzte Orchester zusammenwirken, griff Beethoven auf Blätter im Hochformat mit 23 Notensystemen zurück. Das Manuskript Beethovens war eine Arbeitspartitur, welche mit ihren zahlreichen Streichungen, Rasuren, Überschreibungen und Verweisungen eindrückliche Spuren des Kompositionsprozesses trägt. Für Aufführungszwecke mussten versierte Kopisten, die mit Beethovens Handschrift und seine Notierungsgewohnheiten vertraut waren, die Sinfonie zunächst abschreiben. Die erste Aufführung der Sinfonie fand am 7. Mai 1824 im Wiener Kärntnertortheater statt, im selben Jahr erklang sie erneut in Wien bevor sie auch in anderen Städten das Publikum begeisterte: 1825 in London, Frankfurt und Aachen, 1826 in Leipzig, Bremen und Berlin. Nach Beethovens Tod besaß sein Sekretär Anton Schindler neben anderen Werken auch die Partitur der 9. Sinfonie, jedoch war sie nicht mehr vollständig, insbesondere große Teile des 4. Satzes, des Finalsatzes, fehlten. Gegen Zahlung einer Leibrente überließ Schindler im Jahr 1846 der Königlichen Bibliothek zu Berlin, heute Staatsbibliothek zu Berlin, seine überaus wertvolle Beethoven-Sammlung. - Die vermissten Teile des Finalsatzes waren jedoch nicht etwa verloren gegangen: Sie befanden sich in Beethovens Nachlass, der vom Wiener Verleger Domenico Artaria ersteigert worden war. Der Königlichen Bibliothek gelang es, auch die äußerst bedeutende Sammlung von Musikhandschriften der Familie Artaria 1901 nach Berlin zu holen, sodass die fehlenden Abschnitte des Finalsatzes der 9. Sinfonie ebenfalls in die Bibliothek gelangten. Zum ersten Mal seit Beethovens Tod waren nun die wesentlichen Teile des Autographs seiner 9. Sinfonie in 204 Blättern wieder an einem Ort vereint. Aber der glückliche Zustand dauerte nicht länger als vier Jahrzehnte an. Ab 1941 brachte die Bibliothek ihre kostbarsten Schätze an verschiedene Orte des damaligen Deutschen Reiches, um sie vor Kriegsschäden in Berlin zu bewahren. Das sechsteilige Autograph der 9. Sinfonie wurde – im Bemühen, das Risiko eines etwaigen Totalverlustes so gering wie möglich zu halten– auf drei weit auseinander liegende Orte verteilt, was den Beginn einer langwierigen, Jahrzehnte währenden Odyssee bedeutete. Der Hauptkorpus der Sinfonie kam nach Schlesien, zuletzt in das Kloster Grüssau, welches nach Kriegsende polnisches Gebiet wurde. Alle in Grüssau vorgefundenen Sammlungen befinden sich seit 1946 in der Jagiellonen-Bibliothek in Krakau, bis in die späten 70er Jahre hinein galten sie jedoch als verschollen. - Die Faszikel I bis III des Finalsatzes lagen kurz vor Kriegsende in Schönebeck an der Elbe um und konnten von dort 1946 direkt in das Bibliotheksgebäude Unter den Linden in Ost-Berlin zurückgeführt werden. - Für die Faszikel IV und V des Finalsatzes war das Kloster Beuron im oberen Donautal ausgewählt worden, wo sie bis 1947 verblieben, bevor sie für zwanzig Jahre in die Universitätsbibliothek Tübingen kamen. 1967 fand auch dieser Teil des Finalsatzes der Sinfonie nach Berlin zurück, kam allerdings in die im Westteil der Stadt unter dem Dach der Stiftung Preußischer Kulturbesitz neu errichtete Staatsbibliothek. – Für die Weltöffentlichkeit völlig überraschend übergab 1977 die polnische Regierung einige der in Krakau verwahrten Meisterhandschriften an die DDR. So kam zusammen mit dem Klavierkonzert c-Moll (BWV 1062) und der Sonate III A-Dur von J. S. Bach (BWV 1032), der Jupiter-Sinfonie C-Dur (KV 551), der Messe c-Moll (KV 427) und der Oper Die Zauberflöte (KV 620) von W. A. Mozart sowie L. v. Beethovens 3. Klavierkonzert c-Moll, op. 37 das Hauptkorpus der Sinfonie Nr. 9, d-Moll op. 125 endlich wieder nach Berlin in das Haus Unter den Linden zurück. Doch obgleich die Partitur der Sinfonie sich nun wieder vollständig in einer Stadt befand, blieb sie viele weitere Jahre lang ein Symbol des Kalten Krieges und der Teilung Deutschlands: Denn genau durch jenen Höhepunkt des Schlusssatzes, auf dem Beethoven die beiden musikalischen und ideellen Hauptthemen - Freude und weltumspannende Brüderlichkeit unter den Menschen - in kontrapunktischer Verflechtung gleichzeitig erklingen lässt, verlief die Berliner Mauer. Je ein Teil des Finales befand sich - nur zwei Kilometer voneinander entfernt – in politisch vollkommen verschiedenen Welten. Bald nach der deutschen Wiedervereinigung fanden die beiden Bibliotheken zusammen. Und in der vereinigten Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz wurden endlich auch die Bestände der Musikabteilung im Haus Unter den Linden wieder ineinander geordnet - das Autograph der 9. Sinfonie, durch Krieg und Kalten Krieg viel zu lange "streng geteilt" (um hier noch einmal den Schillerschen Odentext aufzugreifen), ist seither erneut vereint.