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Steuerstrafverteidigung unter verschärfter Rechtsprechung
- der 1. Strafsenat des BGH und das Steuerstrafrecht -
Vortragsveranstaltungen am :
29.09.2012 – HAMBURG
20.10.2012 – FRANKFURT
17.11.2012 – BERLIN
08.03.2013 – LEIPZIG
03.05.2013 – KÖLN
Referent:
Boris Kuder LL.M., Rechtsanwalt und Fachanwalt für Steuerrecht
Boris Kuder ist Partner der auf Steuer- und Wirtschaftsrecht spezialisierten Kanzlei
SCHARLACH I KUDER I RECHTANWÄLTE I PARTNERSCHAFT in Essen.
Kontaktdaten:
SCHARLACH I KUDER
RECHTSANWÄLTE I PARTNERSCHAFT
Alfredstraße 102
45131 Essen
Tel.: 0201 / 79 98 60
Fax: 0201 / 79 98 6-50
E-Mail: [email protected]
Internet: www.steuer-wirtschaftsanwaelte.de
2
GLIEDERUNG
A.
Einleitung
B.
Die wesentlichen Entscheidungen des 1. Strafsenats zur Steuerhinterziehung
I.
Zur Strafzumessung bei Steuerstraftaten
1.
Strafzumessung bei Steuerhinterziehung „großen Ausmaßes“
a.
Die „Ausgangsentscheidung“ 1 StR 416/08 vom 02.12.2008
aa.
Strafzumessungssystem des 1. Strafsenats
bb.
„Großes Ausmaß“ einer Steuerhinterziehung
cc.
Strafzumessungserwägungen
b. Die „Folgeentscheidungen“
aa.
1 StR 332/10 vom 28.07.2010:Versuchte Steuerhinterziehung
„großen Ausmaßes“
bb.
1 StR 116/11 vom 05.05.2011: Urteilsgründe und „großes
Ausmaß“
cc.
1 StR 579/11 vom 15.12.2011: Wertgrenze beim Griff in die
Kasse
dd.
1 StR 525/11 vom 07.02.2012: Steuerhinterziehung in
Millionenhöhe
ee.
1 StR 103/12 vom 22.05.2012: Hinterziehung von Einfuhroder Ausfuhrabgaben nach § 373 AO in Millionenhöhe
ff.
1 StR 257/12 vom 21.08.2012: „Grober Eigennutz“ bei
Steuerhinterziehung in Millionenhöhe
gg.
1 StR 423/12 vom 26.09.2012: Hinterziehung in NichtMillionenhöhe
hh.
1 StR 317/12 vom 22.08.2012: Vollendung der
Steuerhinterziehung bei Schätzungsbescheiden
ii.
1 StR 407/12 vom 25.09.2012: Großes Ausmaß bei
unberechtigten Vorsteuerabzug
3
c. Kritische Würdigung und Bedeutung der Entscheidungen für die Praxis
2.
b.
II.
Einheitliche Schwellenwerte statt Strafmaßtabellen
bb.
Strafverfolgungsverjährung
cc.
Selbstanzeigeberatung
dd.
Rechtliche Bindung der Vorgaben
ee.
Verteidigungsstrategien
Strafzumessung bei Steuerhinterziehung auf Zeit und bei Tatserien
a.
3.
aa.
Die Entscheidung 1 StR 627/08 vom 17.03.2009
aa.
Schadensberechnung bei Umsatzsteuerhinterziehung
bb.
Strafzumessung bei Tatserien
Kritische Würdigung und Bedeutung der Entscheidung für die Praxis
Zur Strafzumessung bei Ketten- oder Karussellgeschäften
a.
Die Entscheidung 1 StR 342/08 vom 30.04.2009
b.
Kritische Würdigung und Bedeutung der Entscheidung für die Praxis
Zur strafbewehrten Berichtigungspflicht nach § 153 AO
1.
2.
Die Entscheidung 1 StR 479/08 vom 17.03.2009
a.
Berichtigungspflicht bei Hinterziehungsvorsatz
b.
Keine Selbstbelastung
Kritische Würdigung und Bedeutung der Entscheidung für die Praxis
4
III.
Zur strafbefreienden Selbstanzeige nach § 371 AO
1.
2.
C.
Fazit
Die Entscheidung 1 StR 577/09 vom 20.05.2010
a.
Teilselbstanzeige reicht für Strafbefreiung nicht aus
b.
Sperrwirkungen nach § 371 Abs. 2 AO
Kritische Würdigung und Bedeutung der Entscheidung für die Praxis
a.
Vollständige Rückkehr zur Steuerehrlichkeit
b.
Anwendbarkeit des Beschlusses
c.
Selbstanzeige nach der Selbstanzeige
d.
Unsichere Sperrgründe
e.
Zukünftige Selbstanzeigeberatung
5
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Wulf, Martin, § 153 AO: Die strafbewehrte Berichtigungspflicht - eine Kritik an der neuen BGHRechtsprechung, in: PStR 8 (2009), 190-196
Wulf, Martin, Auf dem Weg zur Abschaffung der strafbefreienden Selbstanzeige (§ 371 AO) in:
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8
A.
Einleitung
Zum 01. Juni 2008 wechselte die Zuständigkeit für alle neu eingehenden Revisionen in
Steuerstrafsachen vom 5. Strafsenat zum 1. Strafsenat des BGH. Bereits kurze Zeit danach äußerte
sich der 1. Strafsenat in einer „obiter dicta“ Entscheidung grundlegend zur Strafzumessung bei
Steuerhinterziehungsdelikten.
Allein schon die Pressemitteilung des BGH entfachte ein breites Medienecho1 und wurde in der
steuerstrafrechtlichen Literatur zum Anlass genommen, eine veränderte Justizpraxis anzunehmen2.
Mindestens ebenso großes mediales Aufsehen erregte die Entscheidung des 1. Strafsenats aus Mai
2010 zu den Wirksamkeitsvoraussetzungen einer Selbstanzeige und deren Reichweite3.
Die diesbezüglichen Ausführungen des 1. Strafsenats zu den Wirksamkeitsvoraussetzungen einer
Selbstanzeige wurden in den darauf folgenden Monaten Gegenstand politischer Bestrebungen zur
gesetzlichen Neuregelung der Selbstanzeige, die letztendlich zur Novellierung der
Selbstanzeigevorschriften durch das Gesetz zur Verbesserung der Bekämpfung der Geldwäsche
und Steuerhinterziehung führten4.
Gut über zweieinhalb Jahre nach dem Zuständigkeitswechsel zum 1. Strafsenat leitet daher die
überwiegende Meinung der steuerstrafrechtlichen Literatur aus einer Reihe von Entscheidungen
des 1. Strafsenats eine Tendenz zu einer strengeren Ahndung von Steuerstraftaten ab5.
Nachfolgend soll untersucht werden, welche Konsequenzen die seit dem Zuständigkeitswechsel
ergangenen Urteile des 1. Strafsenats auf Steuerstrafverfahren in der Praxis haben werden.
Hierbei soll anhand der Darstellung der wesentlichen und „richtungsweisenden“ Entscheidungen
diese anhand der steuerstrafrechtlichen Literatur kritisch hinterfragt und die Auswirkungen auf die
Praxis untersucht werden, wobei sowohl materiell-rechtlichen als auch verfahrensrechtlichen
Fragen nachgegangen wird.
so z.B. FAZ vom 02.12.2008 „Steuersündern droht Gefängnisstrafe“;
DIE WELT vom 03.12.2008 „Steuersünder kommen schneller hinter Gitter“; SÜDDEUTSCHE vom
02.12.2008 „Gefängnis für Steuerhinterzieher“
2 Vgl. Salditt, PStR 2009, 15 - 19
3 so z.B. SÜDDEUTSCHE vom 28.05.2010 „Steuerbetrug - nur die totale Reue zählt“; FAZ vom 28.05.2010
„Steuerbetrüger müssen reinen Tisch machen“; DIE WELT vom 28.05.2010 „BGH erschwert Straferlass für
Steuerbetrüger“
4 Gesetz zur Verbesserung der Bekämpfung der Geldwäsche und Steuerhinterziehung vom 28.04.2011,
BGBL I, 676
5 so z.B. Salditt, PStR 2009, 25, Bielefeld / Prinz, StB 2009, 112,11
1
9
B.
Die wesentlichen Entscheidungen des 1. Strafsenats zur Steuerhinterziehung
I.
Strafzumessung bei Steuerstraftaten
1.
Strafzumessung bei Steuerhinterziehung „großen Ausmaßes“
a.
Die „Ausgangsentscheidung“ 1 StR 416/08 vom 02.12.2008
Dem Urteil lag ein Fall zugrunde, der in der steuerstrafrechtliche Praxis häufig anzutreffen ist.
Nach den Urteilsfeststellungen der Vorinstanz6 beschäftigte der Angeklagte einen Großteil seiner
Arbeitnehmer „schwarz“, ohne Lohnsteuern und Sozialversicherungsbeiträge abzuführen. Die so
erzielten Umsatzerlöse wurden ebenfalls nicht erklärt. Über die von seinen Arbeitnehmern
„schwarz“ erbrachten Leistungen stellte der Unternehmer sogenannte Abdeckrechungen - also
Scheinrechnungen mit gesondertem Vorsteuerausweis - aus, um den Auftraggebern dadurch die
Möglichkeit des Betriebsausgaben- und Vorsteuerabzugs zu ermöglichen. Insgesamt verkürzte der
Angeklagte auf diese Weise Umsatzsteuer in Höhe von mehr als € 373.000,00, Lohnsteuer in Höhe
von € 354.000,00 und ermöglichte durch das Ausstellen der Scheinrechnungen seinen
Auftraggebern die Geltendmachung unberechtigter Vorsteuern in Höhe von mehr als €
220.000,00.
Die Vorinstanz verurteilte den Angeklagten wegen Steuerhinterziehung, Beihilfe zur
Steuerhinterziehung sowie Vorenthalten von Arbeitsentgelt zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von 1
Jahr und 11 Monaten, deren Vollstreckung - aufgrund einer einschlägigen Vorstrafe des
Angeklagten - nicht zur Bewährung ausgesetzt wurde.
Die vom Angeklagte eingelegte Revision verwarf der 1. Strafsenat als offensichtlich unbegründet.7
In den Urteilsgründen äußerte sich der 1. Strafsenat hierbei – obiter dicta – grundlegend zur
Strafzumessung bei Steuerhinterziehungsdelikten und legte Schwellenwerte fest, ab wann nach
seiner Auffassung ein schwerer Fall der Steuerhinterziehung durch Verwirklichung des
Regelbeispiels des § 370 Abs. 3 Satz 2 Nr. 1 AO durch Steuerverkürzung „großen Ausmaßes“
vorliege.
aa.
Strafzumessungssystem des 1. Strafsenats
Die Strafe für Steuerhinterziehung ist gem. § 370 Abs. 1 AO Geldstrafe oder Freiheitsstrafe bis zu
5 Jahren.
Besonders schwere Fälle der Steuerhinterziehung bedroht § 370 Abs. 3 Satz 1 AO jedoch
ausschließlich mit Freiheitsstrafe von 6 Monaten bis zu 10 Jahren. Ein besonders schwerer Fall
liegt nach dem Regelbeispiel des § 370 Abs. 3 Satz 2 Nr. 1 AO u.a. vor, wenn der Täter in großem
Ausmaß Steuern verkürzt oder nicht gerechtfertigte Steuervorteile erlangt.
6
7
LG Landshut 3 KLs 54 Js 18017/06 vom 21.04.2008
BGH 1 StR 416/08 vom 02.12.2008, NJW 2009, 528 - 534
10
Auch bei einer Steuerhinterziehung soll nach dem 1. Strafsenat Grundlage für die Zumessung der
Strafe - wie bei jeder anderen Straftat auch – nach § 46 StGB die persönliche Schuld des Täters
sein, wobei hierbei dem von § 46 Abs. 2 Satz 2 StGB vorgegebenen Kriterium der „verschuldeten
Auswirkung der Tat“ im Rahmen der erforderlichen Gesamtwürdigung besonderes Gewicht
zukommen soll.8
„Auswirkungen der Tat“ seien hierbei insbesondere die Folgen für das durch die Strafnorm
geschützte Rechtsgut, was bei der Steuerhinterziehung nach ständiger Rechtsprechung des BGH
die Sicherung des staatlichen Steueranspruchs, d. h. des rechtzeitigen und vollständigen
Steueraufkommens sei.9
Deshalb stellt nach Auffassung des 1. Strafsenats die Höhe der verkürzten Steuern einen
bestimmenden Strafzumessungsgrund im Sinne des § 267 Abs. 3 Satz 1 StPO dar10. Dieses gilt
nach Auffassung des 1. Strafsenats hierbei nicht nur für die konkrete Strafzumessung im
Strafrahmen des § 370 Abs. 1 AO, sondern bereits für die Strafrahmenwahl des § 370 Abs. 3 Satz
2 Nr. 1 AO11.
Gerade auch bei der Bemessung der schuldangemessenen Strafe kommt nach Auffassung des 1.
Strafsenats daher dem Merkmal „großes Ausmaß“ eine entscheidende Bedeutung zu, weil es
aufzeigt, wann der Gesetzgeber eine Freiheitsstrafe für angebracht hält12.
Der 1. Strafsenat sah sich daher in seiner Entscheidung veranlasst, das Merkmal des „großen
Ausmaßes“ im Sinne des § 370 Abs. 3 Satz 2 Nr. 1 AO durch konkrete Schwellenwerte
„auszufüllen“.
bb.
„Großes Ausmaß“ einer Steuerhinterziehung
Der 1. Strafsenat vertritt die Auffassung, dass zur Konkretisierung des „großen Ausmaßes“ der
Steuerhinterziehung grundsätzlich das insoweit vergleichbare Kriterium wie für das wortgleiche
Merkmal des Betruges mit „Vermögensverlusten großen Ausmaßes“ in § 263 Abs. 3 Satz 2 Nr. 2
1. Alternative StGB zur Anwendung kommen müsse13.
Nach der Rechtsprechung des BGH erfülle beim Betrug ein Vermögensverlust von mehr als €
50.000,00 das Regelbeispiel „Vermögensverlust großen Ausmaßes“ des besonders schweren
Falles des Betruges nach § 263 Abs. 3 Satz 2 Nr. 2 1. Alternative StGB14.
8
BGH 1 StR 416/08 vom 02.12.2008, wistra 3/2009, 110
so schon BGH St 36, 100, 102; 40, 109, 111; 41, 1, 5; 46, 107, 120
10 siehe auch BGH 5 StR 693/97 vom 18.03.1998, wistra 1998, 269, 270
11 BGH 1 StR 416/08 vom 02.12.2008, wistra 3/2009, 110
12 BGH 1 StR 416/08 vom 02.12.2008, wistra 3/2009, 110
13 BGH 1 StR 416/08 vom 02.12.2008, wistra 3/2009, 110
14 so z. B. BGH 1 StR 274/03 vom 07.10.2003, BGHSt 48,360, BGH 5 StR 511/03 vom 04.02.2004, wistra
2004, 262, 263; BGH 2 StR 388/06 vom 17.11.2006, StV 2007, 132
9
11
Für eine Vergleichbarkeit der beiden Regelbeispiele spricht nach Auffassung des 1. Strafsenats
insbesondere, dass bereits der 5. Strafsenat in einer früheren Entscheidung ausgeführt habe, dass es
geboten sei, „dem drohenden Ungleichgewicht zwischen der Strafpraxis bei der allgemeinen
Kriminalität und der Strafpraxis in Steuer- und Wirtschaftsstrafverfahren entgegenzutreten und
dem berechtigten besonderen öffentlichen Interesse an einer effektiven Strafverfolgung
schwerwiegender Wirtschaftskriminalität gerecht zu werden“15.
Dass - anders als bei der Einführung des § 263 Abs. 3 Satz 2 Nr. 2 1. Alternative StGB – sich in
den Materialien zur Gesetzesentstehung des § 370 Abs. 3 Satz 2 1. Alternative AO keine
Anhaltspunkte dafür finden lassen, ab welchem Grenzwert der Gesetzgeber eine
Steuerhinterziehung von „großem Ausmaß“ als gegeben erachtet, stehe einer Vergleichbarkeit
hierbei nicht entgegen, da der Gesetzgeber bereits mit der Einführung des § 370 Abs. 3 AO zum
Ausdruck bringen wolle, dass die Steuerhinterziehung „hinsichtlich ihrer Gefährlichkeit und ihrer
Strafwürdigkeit nicht geringer zu bewerten sei als der Betrug“16.
Nach Auffassung des 1. Strafsenats ist der Begriff des „großen Ausmaßes“ in § 370 Abs. 3 Satz 2
Nr. 1 AO daher genauso wie der Begriff des „Vermögensverlustes großes Ausmaßes“ in § 263
Abs. 3 Satz 2 Nr. 2 1. Alternative StGB allein nach objektiven Kriterien zu bestimmen17.
Nur eine solche Abgrenzung, die sich an einer „eindeutigen Betragsgrenze“ ausrichtet,
gewährleiste hierbei nach Auffassung des 1. Strafsenats größere Rechtssicherheit für die Praxis18.
Der Umstand, dass sich die Betragsgrenze von € 50.000,00 nach Auffassung des 1. Strafsenats an
derjenigen des Vermögensverlustes großen Ausmaßes im Sinne von § 263 Abs. 3 Satz 2 Nr. 2 1.
Alternative StGB orientiere, gebiete nach Auffassung des 1. Strafsenats jedoch zugleich, dass auch
bei der Steuerhinterziehung - ähnlich wie beim Betrug - zwischen schon eingetretenem
Vermögensverlust einerseits und einem Gefährdungsschaden anderseits zu differenzieren sei19.
Die Betragsgrenze von € 50.000,00 soll daher nach Auffassung des 1. Strafsenats nur dann zur
Anwendung kommen, wenn der Täter bereits ungerechtfertigte Zahlungen vom Finanzamt erlangt
hat, etwa bei Steuererstattung durch sogenannte Umsatzsteuerkarusselle, Kettengeschäfte oder
durch Einschaltung von sogenannten Serviceunternehmen. In diesen Fällen, wo der „Steuerbetrug“
bereits zu einem „Vermögensverlust“ geführt habe und diese Wertgrenze überschritten sei, sei
nach Auffassung des 1. Strafsenats das Merkmal des großen Ausmaßes im Sinne von § 370 Abs. 3
Satz 2 Nr. 1 AO erfüllt.
15
BGH St 50, 299, 309
BGH 1 StR 416/08 vom 02.12.2008, wistra 3/2009, 110 unter Hinweis auf BGH 3 StR 280/83 vom
28.09.1983, BGHSt 32, 95, 99 mit Hinweis auf BR-Drucks. 23/71 Seite 194
17 BGH 1 StR 416/08 vom 02.12.2008, wistra 3/2009, 111
18 BGH 1 StR 416/08 vom 02.12.2008, wistra 3/2009, 111 unter Hinweis auf die Entscheidung des BGH 1
StR 274/03 vom 07.10.2003, BGHSt 48, 360 zum Vermögensverlust großen Ausmaßes
19 BGH 1 StR 416/08 vom 02.12.2008, wistra 3/2009, 111
16
12
Beschränke sich das Verhalten des Täters aber lediglich darauf, die Finanzbehörden pflichtwidrig
über steuerlich erhebliche Tatsachen in Unkenntnis zu lassen, was zunächst nur quasi zu einer
Gefährdung des Steueranspruches führe, kann der Schwellenwert des „großen Ausmaß“ nach
Auffassung des 1. Strafsenats auch höher angesetzt werden, wobei er hier eine Wertgrenze von €
100.000,00 für angemessen ansieht20.
Ob die Schwelle des „großen Ausmaßes“ überschritten sei, ist nach Auffassung des 1. Strafsenats
hierbei für jede einzelne Tat im materiellen Sinne gesondert zu bestimmen.
Nur bei einer mehrfachen tateinheitlichen Verwirklichung des Tatbestandes der
Steuerhinterziehung sei das „Ausmaß“ des jeweiligen Taterfolgs nach zu addieren, da (nur) in
solchen Fällen eine einheitliche Handlung im Sinne des § 52 StGB vorliege, die für die
Strafzumessung einer einheitlichen Bewertung bedarf 21.
cc.
Strafzumessungserwägungen
Liegt nach den von dem 1. Strafsenat entwickelten Maßstäben eine Hinterziehung „großen
Ausmaßes“ vor, so habe dies unabhängig von der Frage, ob die Regelwirkung einer besonders
schweren Steuerhinterziehung im konkreten Fall zur Anwendung kommt, auf jeden Fall
„Indizwirkung“ für die zu findende Strafhöhe.
Ab einem sechsstelligen Hinterziehungsbetrag soll daher die Verhängung einer Geldstrafe nur bei
Vorliegen
gewichtiger
Milderungsgründen
noch
schuldangemessen
sein,
bei
Hinterziehungsbeträgen in Millionenhöhe eine aussetzungsfähige Freiheitsstrafe nur bei Vorliegen
besonders gewichtiger Milderungsgründe überhaupt noch in Betracht kommen, weshalb in
letzteren Fällen ein Strafbefehlsverfahren regelmäßig nicht mehr als geeignet erscheine 22.
Da auch bei der Steuerhinterziehung die persönliche Schuld des Täters Grundlage der
Strafzumessung nach § 46 StGB ist, will der 1. Strafsenat jedoch allein die Höhe der
hinterzogenen Steuern nicht als alleiniges Kriterium der Strafzumessung verstanden wissen. Auch
wenn der Hinterziehungsbetrag ein bestimmender Strafzumessungsgrund für die
Steuerhinterziehung sei, soll die Strafe nicht gestaffelt nach der Höhe des Hinterziehungsbetrages
schematisch und quasi „tarifmäßig“ verhängt werden23. Die „Indizwirkung“ einer
Steuerhinterziehung „großen Ausmaßes“ nach den von dem 1. Strafsenat entwickelten Kriterien
könne einerseits durch sonstige Milderungsgründe beseitigt, andererseits aber auch durch andere
Strafschärfungsgründe verstärkt werden.
Milderungsgründe können z. B. gegeben sein, wenn sich der Täter im Tatzeitraum im
Wesentlichen steuerehrlich verhalten hat, die Tat nur einen verhältnismäßig geringen Teil seiner
steuerlich relevanten Betätigung betrifft und er ein frühzeitiges Geständnis abgelegt hat, verbunden
mit der Nachzahlung verkürzter Steuern oder jedenfalls dem ernsthaften Bemühen hierzu.
20
BGH 1 StR 416/08 vom 02.12.2008, wistra 3/2009, 111
BGH 1 StR 416/08 vom 02.12.2008, wistra 3/2009, 111
22 BGH 1 StR 416/08 vom 02.12.2008, wistra 3/2009, 111
23 BGH 1 StR 416/08 vom 02.12.2008, wistra 3/2009, 111
21
13
Ebenso sei die Lebensleistung zu würdigen.
Strafschärfungsgründe sollen dagegen vorliegen, wenn der Täter besondere Aktivitäten entfaltet
hat, die von vornherein auf die Schädigung des Steueraufkommens im großen Umfang ausgelegt
waren, z. B. durch Vorspiegelung erfundener Sachverhalte in erheblichem Umfang
ungerechtfertigte Vorsteuererstattungen erlangt wurden oder die Steuerhinterziehung in sonstiger
Weise gewerbsmäßig betrieben oder ein aufwendiges Täuschungssystem aufgebaut wurde, wie
z.B. Unternehmensstrukturen, die der Bereicherung durch Steuerhinterziehung dienen sollen,
Einschaltung von Domizilfirmen im Ausland oder durch Gewinnverlagerung ins Ausland schwer
aufklärbare Sachverhalte geschaffen werden, wie dieses regelmäßig bei den sogenannten
Umsatzsteuerkarussellgeschäften oder bei Kettengeschäften unter Einschaltung sogenannter
„Serviceunternehmen“ gegeben sei.
Die „Folgeentscheidungen“
b.
An seine Entscheidung vom 02.12.2008 hat der 1. Strafsenat sodann in folgenden Entscheidungen
„angeknüpft“ und mit diesen noch einmal nachdrücklich auf die von ihm entwickelten
Schwellenwerte zur Abgrenzung der einfachen von der besonders schweren Steuerhinterziehung
verwiesen.
aa.
Versuchte Steuerhinterziehung „großen Ausmaßes“ - 1 StR 332/10 vom 28.07.2010
Dass auch der Versuch einer Steuerhinterziehung „großen Ausmaßes“ entsprechend den vom ihm
ausgeführten Schwellenwerten möglich und als Versuch der Verwirklichung des Regelbeispiels
des § 370 Abs. 3 Satz 2 Nr. 1 AO strafbar ist, hat der 1. Strafsenat in seinem Beschluss vom
28.07.2010 noch einmal ausdrücklich bekräftigt.
Diesem Beschluss lag ein Sachverhalt zugrunde, wonach der Angeklagte beim Finanzamt eine
Umsatzsteuervoranmeldung eingereicht hatte, mit der er zu Unrecht einen Vorsteuerbetrag in Höhe
von mehr als € 534.000,00 aus gefälschten Rechnungen geltend machte, das Finanzamt die geltend
gemachte Vorsteuer jedoch nicht als Erstattungsbetrag auszahlte, sondern eine
Umsatzsteuersonderprüfung einleitete.
Wie der 1. Strafsenat in seinem Beschluss vom 28.07.201024 ausführte, durfte das Landgericht,
auch wenn der Angeklagte nicht im großen Ausmaß Steuern verkürzt oder nicht gerechtfertigte
Steuervorteile i.S.d. § 370 Abs. 3 Satz 2 Nr. 1 AO erlangt hat, weil eine Auszahlung des geltend
gemachten Erstattungsbetrages vom Finanzamt verweigert worden war, dennoch die Strafe dem nach § 23 Abs. 2 i.V.m. § 49 Abs. 1 StGB gemilderten - Strafrahmen des § 370 Abs. 3 AO
entnehmen.
24
BGH 1 StR 332/10 vom 28.07.2010, wistra 11/2010, 449 f.
14
Unter Bezugnahme auf seine Entscheidung vom 02.12.200825 führte der BGH aus, dass die
Geltendmachung eines unberechtigten Vorsteuerbetrages von mehr als € 534.000,00 auf einen
nicht gerechtfertigten Steuervorteil im „großen Ausmaß“ i.S.v. § 370 Abs. 3 Satz 2 Nr. 1 AO
abziele.
Der Umstand, dass ebenso wie das Grunddelikt des § 370 Abs. 1 Nr. 1 AO auch das Regelbeispiel
des § 370 Abs. 3 Satz 2 Nr. 1 AO nur versucht worden sei, stünde dem nicht entgegen. Auch für
den Eintritt der Regelwirkung der Regelbeispiele besonders schwerer Steuerhinterziehung gem. §
370 Abs. 3 Satz 2 AO kann es bei der versuchten Steuerhinterziehung i.S.d. § 370 Abs. 2 AO nur
darauf ankommen, ob der Täter nach seiner Vorstellung zur Verwirklichung des Regelbeispiels
bereits unmittelbar angesetzt hat. Denn bei der versuchten Steuerhinterziehung sei auch für die
Indizwirkung der Regelbeispiele auf die subjektive Tatseite abzustellen 26.
Gegenteiliges ergebe sich auch nicht aus einem Vergleich mit dem Regelbeispiel des § 263 Abs. 3
Satz 2 Nr. 2 Var.1 StGB, für den der BGH bisher angenommen habe, dass ein bloßer
Betrugsversuch die Voraussetzung des Regelbeispiels des „Herbeiführens eines
Vermögensverlustes großen Ausmaßes“ nicht erfüllen kann27, denn der dort vom Gesetzgeber
verwendete Begriff des Vermögensverlustes sei nach Auffassung des 1. Strafsenats nach dem
Wortsinn enger zu verstehen als die in anderem Zusammenhang verwendeten Begriffe des
Vermögensschadens oder -nachteils und verbietet daher eine Ausdehnung auf bloße
Gefährdungsschäden28.
Nach Auffassung des 1. Strafsenats, nimmt im Gegensatz hierzu § 370 Abs. 3 Satz 2 Nr. 1 AO
ausdrücklich Bezug auf den Begriff der Steuerverkürzung und damit auf die Legaldefinition in §
370 Abs. 4 Satz 1 AO29.
bb.
Urteilsgründe und „großes Ausmaß“ - 1 StR 116/11 vom 05.05.2011
Auch in einem aktuellen Beschluss vom 05.05.201130 weist der 1. Strafsenat noch einmal
eindringlich auf die von ihm geforderte Auseinandersetzung des Tatgerichts mit den
Feststellungen zu einer Steuerhinterziehung „großen Ausmaßes“ hin.
Diesem Beschluss lag ein Sachverhalt zugrunde, wonach der Angeklagte insgesamt Umsatzsteuern
in Höhe von über € 2 Millionen hinterzogen hatte, wobei bei einer Vielzahl von Taten die
25
BGH 1 StR 416/08 vom 02.12.2008, BGHSt 53, 71, 84 ff.
BGH 1 StR 332/10 vom 28.07.2010, wistra 2010, 449, 450
27 so BGH 2 StR 388/06 vom 17.11.2006 und 4 StR 428/06 vom 09.01.2007, wistra 2007, 183
28 BGH 1 StR 212/03 vom 07.10.2003, BGHSt 48, 354, 358 f.
29 BGH 1 StR 332/10 vom 28.07.2010, wistra 2010, 449, 450
30 BGH 1 StR 116/11 vom 05.05.2011; Lexitus.com/2011, 2546
26
15
Hinterziehungsbeträge über € 100.000,00 lagen, das Tatgericht den Angeklagten zu einer
Gesamtfreiheitsstrafe von einem Jahr und zehn Monaten verurteilte, deren Vollstreckung es zur
Bewährung ausgesetzt hat.
Dem 1. Strafsenat, dem dieses Strafmaß sichtlich missfiel und die Strafzumessung daher in
mehrfacher Hinsicht – zugunsten des Angeklagten - als rechtsfehlerhaft bezeichnete, wies darauf
hin, dass die Urteilsgründe, soweit dazu Anlass besteht, ergeben müssen, ob Steuern in großen
Ausmaß i.S.d. § 370 Abs. 3 Satz 2 Nr. 1 AO verkürzt worden sind und für diesen Fall sich aus den
Urteilsgründen auch ergeben müsse, weshalb trotz des Vorliegens dieses Regelbeispiels ein
besonders schwerer Fall des § 370 Abs. 3 AO nicht angenommen wurde 31.
cc.
Wertgrenze beim Griff in die Kasse – 1 StR 579/11 vom 15.12.2011
In seiner Entscheidung vom 15.12.2011 (wistra 5/2012, Seite 191 ff.) stellt der BGH fest, dass bei
zu Unrecht gemachten Vorsteuerbeträgen oder Betriebsausgaben, die „Wertgrenze“ für eine
Hinterziehung großen Ausmaßes bei € 50.000,00 liegt („Griff in die Kasse“) und zwar auf jeden
Fall, wenn es zu einer solchen Auszahlung oder Verrechnung mit anderen
Steuererstattungsansprüchen kommt. In seiner Entscheidung 1 StR 407/12 vom 25.09.2012 (wistra
2/2013, Seite 67 ff.) hat der BGH hierzu ergänzend klargestellt, dass bei der Beurteilung nicht auf
die Auszahlung ankommt, sondern allein auf die Höhe der durch zu Unrecht gemachten
Vorsteuerbeträgen oder Betriebsausgaben verkürzten Steuern.
dd.
Steuerhinterziehung in Millionenhöhe – 1 StR 525/11 vom 07.02.2012
In seiner Entscheidung vom 07.02.2012 (wistra 6/2012, Seite 236 ff.) hat der BGH noch einmal
auf die Strafzumessung bei Hinterziehung in Millionenhöhe dargestellt und im Übrigen begründet,
weshalb sowohl ein Geständnis als auch die Nachzahlung der Steuern, keine „besonders
gewichtigen Milderungsgründe“ darstellen, die eine Freiheitsstrafe zur Bewährung noch
begründen könnten.
ee.
Hinterziehung von Einfuhr- oder Ausfuhrabgaben in Millionenhöhe – 1 StR 103/12
vom 22.05.2012
In seiner Entscheidung vom 22.05.2012 (wistra 9/2012, Seite 350 ff.) hat der BGH klargestellt,
dass seine Strafzumessung bei Hinterziehung in Millionenhöhe auch für den Schmuggel nach §
373 AO gelten.
31
BGH 1 StR 116/11 vom 05.05.2011; Lexitus.com/2011, 2546
16
ff.
„Grober Eigennutz“ bei Steuerhinterziehung in Millionenhöhe – 1 StR 257/12 vom
21.08.2012
In seiner Entscheidung vom 21.08.2012 (wistra 1/2013, Seite 28 ff.) hat der BGH klargestellt, dass
seine Strafzumessung bei Hinterziehung in Millionenhöhe auch für den Schmuggel nach § 373 AO
gilt.
gg.
Hinterziehung in Nicht-Millionenhöhe – 1 StR 423/12 vom 26.09.2012
In seiner Entscheidung vom 26.09.2012 (wistra 1/2013, Seite 31) hat der BGH klargestellt, dass
aus seiner Rechtsprechung zur Strafzumessung bei Hinterziehung in Millionenhöhe nicht- quasi im
Umkehrschluss - geschlossen werden kann, dass bei einer Hinterziehung in Nicht-Millionenhöhe
eine Freiheitsstrafe von über 2 Jahren ohne Bewährung rechtlich fehlerhaft ist
hh.
Vollendung der Steuerhinterziehung bei Schätzungsbescheiden – 1 StR 317/12 vom
22.08.2012
In seiner Entscheidung vom 22.08.2012 (wistra 2/2013, Seite 65 ff.) hat der BGH klargestellt, dass
in Schätzungsfällen wegen Nichtabgabe der Steuererklärungen Tatvollendung mit der
Bekanntgabe des Schätzungsbescheides eintritt, mit dem die Steuer zu niedrig festgesetzt wird.
Wird die Steuer mit dem Schätzungsbescheid aber richtig oder zu hoch festgesetzt, kann die Tat
nicht mehr vollendet werden, da kein Verkürzungserfolg mehr eintritt.
ii.
Großes Ausmaß bei unberechtigten Vorsteuerabzug – 1 StR 407/12 vom 25.09.2012
In seiner Entscheidung 1 StR 407/12 vom 25.09.2012 (wistra 2/2013, Seite 67 ff.) hat der BGH –
ergänzend zu seiner Entscheidung vom 15.12.2011 (wistra 5/2012, Seite 191 ff.) - klargestellt,
dass bei der Beurteilung einer Steuerhinterziehung großen Ausmaßes bei zu Unrecht gemachten
Vorsteuerbeträgen oder Betriebsausgaben es nicht auf die Auszahlung eines Guthaben ankommt,
sondern allein auf die Höhe der durch die zu Unrecht gemachten Vorsteuerbeträgen oder
Betriebsausgaben verkürzten Steuern.
c.
Kritische Würdigung und Bedeutung der Entscheidungen für die Praxis
Der BGH will mit seinen Entscheidung - wie seinen Urteilsgründen vom 02.12.2008 zu entnehmen
ist - ein seiner Auffassung nach bestehendes Ungleichgewicht zwischen der Strafpraxis bei der
allgemeinen Kriminalität und der Strafpraxis in Steuer- und Wirtschaftsstrafverfahren
entgegentreten.
17
Eine generell höhere Bestrafung fordert der 1. Strafsenat zwar ausdrücklich nicht, jedoch wurde
dieses bereits in den ersten Reaktionen auf das Urteil erwartet32 und scheint sich auch in den
Ausführungen seines Beschlusses vom 05.05.201133 zu bestätigen.
aa.
Einheitliche Schwellenwerte statt Strafmaßtabellen
Ab wann eine Steuerhinterziehung „großen Ausmaßes“ verwirklicht sein soll, war bislang
höchstrichterlich vom BGH offengelassen worden. Bisher hatte der BGH auf eine
Gesamtbetrachtung abgestellt34 und sich dementsprechend einer konkreten Summenfestschreibung
bislang verweigert, wobei ihm zuvor hierbei von Bedeutung war, ob sich das Ausmaß aus dem
noch durchschnittlich vorkommenden Verkürzungsumfang heraushebt und ob ein
„Täuschungsgebäude großen Ausmaßes“ vorliege35.
In der steuerstrafrechtlichen Literatur war hinsichtlich des „großen Ausmaßes“ bisher ein breites
Spektrum von weit auseinandergehenden Auffassungen vertreten. Überwiegend wurde - unter
Geltung des bis Ende 2007 geltenden § 370 Abs. 3 Satz 2 Nr. 1 AO a.F. bzw. zu dem mit Wirkung
zum 01.01.2008 wieder abgeschafften § 370 a AO - für die Annahme des großen Ausmaßes einer
Steuerhinterziehung das Überschreiten eines „Schwellenwertes“ von 1 Million für erforderlich
erachtet36.
Andere Literaturmeinungen hielten für das Merkmal des „großen Ausmaßen“ einen
Hinterziehungsbetrag von € 500.000,0037 für erforderlich. Vereinzelt wurde eine
Steuerhinterziehung in „großem Ausmaß“ bereits ab einem Mindestbetrag von € 50.000,00
bejaht38, wobei diese Literaturmeinungen insoweit in ihrer Auffassung Unterstützung von
vereinzelter Rechtsprechung39 erhielt, wonach „unterhalb einer Grenze von € 50.000,00 die
Anwendung der Vorschrift des § 370 Abs. 3 Satz 2 Nr. 1 AO a priori nicht in Betracht kommen
solle“.
Dass der 1. Strafsenat in seiner obiter dicta Entscheidung nunmehr zur Konkretisierung des großen
Ausmaßes auf die von der Rechtsprechung zu § 263 Abs. 3 Satz 2 Nr. 2 1. Alternative StGB
entwickelten Konkretisierung zurückgreift, verwundert nicht allzu sehr 40, auch wenn dieses in der
Literatur mit dogmatischen Bedenken kritisiert wurde 41.
32
Bielefeld / Prinz, StB 2009, 112, 116; ebenso Saldit, PStR 2009, 25; Bielsdorfer, NJW 2009, 476 ,478;
andere Einschätzung: Geuenich, BB 2009, 312, 316
33 BGH 1 StR 116/11 vom 05.05.2011; lexitus.com/2011, 2546
34 BGH 5 StR 466/92 vom 13.01.2992, wistra 1993, 109, 110
35 BGH, 2 StR 280/86 vom 07.11.1986, wistra 1987, 71, 72
36 Joecks in Franzen/Gast/Joecks, § 370 AO, Rdn. 270;; so ähnlich auch Salditt, StV 2002, 214, 215
37 Bläsinger in Kühn/v. Wedelstädt, AO und FGO, § 370 AO, Rdn. 114
38 Schauf in Kohlmann, 370 AO, Rn. 1099.7;
39 LG Saarbrücken 5 Js 141/02 vom 10.05.2005, wistra 2005, 355
40 vgl. hierzu Rolletschke / Jope, wistra 2009, 219, 220, die die Grenze zwischen Betrug und
Steuerhinterziehung als fließend bezeichnen
41 Erb/Schmitt, PStR 2011, 144; Schaefer, NJW Spezial 2009, 88, der es als Vergleich zwischen Äpfel und
Birnen bezeichnet
18
Der 1. Strafsenat hatte selber bereits mit seinem Urteil vom 07.10.200342 in Bezug auf das große
Ausmaß des § 263 Abs. 3 Satz 2 Nr. 2 1. Alternative StGB ausgeführt, es erscheine dem Senat
vorstellbar, „bei Verweisung ... oder gar Deliktsgruppen eine einheitliche Grenzziehung zu
bevorzugen“.
Die „obiter dicta“ Entscheidung des BGH wird daher vor allem als Versuch angesehen, den
Instanzengerichten bundeseinheitliche Leitlinien zur Strafzumessung an die Hand zu geben 43, was
in der Literatur als Hauptpunkt der BGH-Entscheidung vom 02.12.2008 gewertet44 und teilweise
sogar ausdrücklich begrüßt wurde45.
Folge der vom 1. Strafsenat des BGH vorgenommenen „Katalogisierung“ nach
„Hinterziehungstarifen“ dürfte daher auf jeden Fall nach einhelliger Auffassung der
steuerstrafrechtlichen Literatur sein, dass sich die Strafzumessungspraxis deutschlandweit
annähern, die teilweise erhebliche Unterschiede bei der Strafzumessung, insbesondere zwischen
nord- und süddeutschen Strafgerichten angleichen werden und die in der Vergangenheit von den
finanzbehördlichen Strafverfolgungsorganen gehandhabte Praxis, die Strafe anhand sogenannter
Strafmaßtabellen der Oberfinanzdirektionen mit zu bestimmen, überholt sein dürfte 46.
Zwar führt der 1. Strafsenat in seinen Entscheidungsgründen aus, dass die von ihm benannten
Beträge keine starren Grenzen darstellen, sondern es nach wir vor einer Gesamtabwägung aller
relevanten Umstände bedarf.
Die von dem 1. Strafsenat aber mit seiner Entscheidung benannten exakten Beträge als
Schwellenwerte lassen jedoch befürchten, dass sowohl Strafverfolgungsbehörden als auch die
Instanzengerichte zukünftig zunächst jeden Fall nach einem Raster anhand der von dem BGH
genannten Grenzzahlen bewerten werden47.
bb.
Strafverfolgungsverjährung
Entscheidende Auswirkung hat das Urteil mit den dort genannten Schwellenwerten zur
Abgrenzung einer Steuerhinterziehung „großen Ausmaßes“ zur einfachen Steuerhinterziehung für
die Strafverfolgungsverjährung.
Zeitlich fast parallel zu der Entscheidung ging das Gesetzgebungsverfahren „Jahressteuergesetz
2009“ vonstatten. Durch das Jahressteuergesetz 2009 vom 19.12.200848 wurde die neue
Verjährungsvorschrift des § 376 Abs. 1 AO eingeführt.
42
BGH 1 StR 274/03 vom 07.10.2003, BGH St 48, 360, wistra 2004, 22
so z.B. Salditt, PStR 2009, 15, 18; Bilsdorfer, NJW 2009, 476, 478; Bielefeld / Prinz, StB 2009, 112; Wulf,
DStR 2009, 459, 464
44 Spatschek / Engler, Steueranwaltsmagazin 2009, 122, 125
45 so z.B. Salditt, PStR 2009, 15, 19
46 Bielefeld / Prinz, StB 2009, 112, Bilsdorfer, NJW 2009, 476, 478
47 so die Befürchtung von Bielefeld / Prinz, StB 2009, 112, 116
48 BGBl 2008I, 2794 - 2845
43
19
Mit dieser Vorschrift hat der Gesetzgeber die Verjährungsfrist für bestimmte Fälle der
Steuerhinterziehung von 5 auf 10 Jahre verdoppelt. Die zuvor geltende normale Verjährungsfrist
für Steuerhinterziehung betrug in den Fällen des § 370 AO einheitlich gem. § 78 Abs. 3 Nr. 4
StGB 5 Jahre.
Anders als ursprünglich von der Bundesregierung geplant und in das Gesetzgebungsverfahren
eingebracht49 gilt künftig zwar nicht für alle Fälle des § 370 AO eine eigenständige zehnjährige
Strafverfolgungsverjährungsfrist50, sondern nur für die § 370 Abs. 3 Satz 2 Nr. 1 – 5 AO in
benannten Fälle, umfasst somit also auch die Steuerhinterziehung „großen Ausmaßes“ des § 370
Abs. 3 Satz 2 Nr. 1 AO.
Wird somit – nach der nunmehrigen Rechtsprechung des 1. Strafsenats – eine Steuerhinterziehung
großen Ausmaßes bereits ab € 50.000,00 bzw. € 100.000,00 bejaht, gilt hierfür die eigenständige
zehnjährige Strafverfolgungsverjährungsfrist des § 376 Abs. 1 AO.
Nach Artikel 39 Abs. 1 JStG 2009 ist die Neuregelung am 25.12.2008 - somit unmittelbar nach
dem Urteil des 1. Strafsenats vom 02.12.2008 - in Kraft getreten und umfasst in ihrem
Anwendungsbereich alle Fälle, die bis zu diesem Zeitpunkt noch nicht verjährt waren (§ 23
EGAO).
Auch wenn vereinzelt die Auffassung vertreten wird, dass diese Verlängerung der
Verjährungsvorschriften verfassungswidrig sind, da der Gesetzgeber die Verjährungsverlängerung
an Regelbeispiele angeknüpft habe51, wird – sofern die Verfassungswidrigkeit dieser Vorschrift
nicht gerichtlich festgestellt wurde - der steuerstrafrechtliche Berater von der
Verfassungsmäßigkeit zunächst auf jeden Fall weiter ausgehen und seine Beratung / Verteidigung
daran ausrichten müssen.
cc.
Selbstanzeigeberatung
Die Frage, welche Strafverfolgungsverjährung (5 Jahre für die einfache Steuerhinterziehung i.S.d.
§ 370 Abs. 1 AO gem. § 78 Abs. 3 Nr. 4 StGB oder 10 Jahre für die Steuerhinterziehung „großen
Ausmaßes“ i.S.d. § 370 Abs. 3 Satz 2 AO gem. § 376 AO) Anwendung findet, wird zukünftig
auch entscheidend sein für die Selbstanzeigeberatung bei Steuerhinterziehung.
Auch wenn die steuerliche Festsetzungsfrist bei Steuerhinterziehung gem. § 169 Abs. 2 Satz 2 AO
10 Jahre beträgt, wurde aufgrund des Umstandes, dass die strafrechtliche Verjährungsfrist für
Steuerhinterziehung bisher einheitlich gem. § 78 Abs. 3 Nr. 4 StGB 5 Jahre betrug, in der
Vergangenheit - unabhängig von der Höhe der begangenen Steuerhinterziehung - zunächst im
Rahmen einer Selbstanzeige nach § 371 AO nur für die strafbefangenen Jahre eine Selbstanzeige
zur Erlangung der Straffreiheit abgegeben.
49
vgl. Regierungsentwurf, BT-Drs. 16/10189, Seite 26
kritisch dazu Schaefer, NJW-Spezial 2008, 408
51 so Pelz, NJW 2009, 470, 471; wohl auch Wegener, PStR 2009, 33, 35; Wulf, DStR 2009, 459, 460
50
20
Vor dem Hintergrund, dass nunmehr seit dem 25.12.2008 durch Einführung des § 376 Abs. 1 AO
die Verjährung in den in § 370 Abs. 3 Satz 2 Nr. 1-5 AO genannten Fällen 10 Jahre beträgt, wird
nunmehr in der Praxis bei der geplanten Abgabe einer Selbstanzeige zunächst anhand der
Vorgaben des BGH zu den Schwellenwerten einer Steuerhinterziehung „großen Ausmaßes“
geprüft werden müssen, ob die Strafverfolgungsverjährung 5 oder 10 Jahre beträgt.
Hierzu wird anhand der vom BGH vorgegebenen Schwellenwerte von € 50.000,00 und €
100.000,00 im Vorfeld der Abgabe einer Selbstanzeige der Umfang der Steuerhinterziehung
jeweils ermittelt werden müssen.
Dieses hat sich auch nicht vor dem Hintergrund der Novellierung der Selbstanzeigevorschriften
durch das sog. „Schwarzgeldbekämpfungsgesetz“52 geändert, da der geänderte § 371 AO die
Berichtigung der unrichtigen Angaben zu „allen unverjährten“ Steuerstraftaten einer Steuerart
verlangt.
dd.
Rechtliche Bindung der Vorgaben
Es wird abzuwarten bleiben, ob die jeweiligen Instanzengerichte die „obiter dicta“ Vorgaben des
1. Strafsenats in Zukunft (bundeseinheitlich) umsetzen werden, rechtlich gebunden sind sie an
diese Vorgaben des BGH aufgrund ihrer in Artikel 97 GG statuierten Unabhängigkeit jedenfalls
nicht53.
Die Zumessung der Strafe ist zunächst Aufgabe der Tatrichter54.
Rechtliche Beurteilungen des Revisionsgerichts binden den Tatrichter gem. § 358 Abs. 1 StPO
nur, soweit sie die Aufhebung des angefochtenen Urteils tragen55.
Die Erfüllung eines Regelbeispiels – wie z.B. des Regelbeispiels des § 370 Abs. 3 Satz 2 Nr. 1 AO
- zwingt den Tatrichter zwar nicht dazu, einen besonders schweren Fall zwingend bejahen zu
müssen, jedoch gilt die widerlegbare Vermutung, dass der Tat ein erhöhter Unrechts- und
Schuldgehalt anhaftet und die Tat damit insgesamt als besonders schwer anzusehen ist56.
Der 1. Strafsenat hat in seinem Beschluss vom 05.05.201157 mit dem Hinweis, dass „bei der
Staatsanwaltschaft – auch im Rahmen der Dienstaufsicht – Anlass hätte bestehen können, zu
prüfen, ob Handlungsbedarf gemäß Nr. 147 Abs. 1 Satz 3 RiStBV besteht“ (Anm.: zur Einlegung
eines Rechtsmittels zur Nachprüfung des Strafmaßes) plastisch deutlich gemacht, was er von
52
Gesetz zur Verbesserung der Bekämpfung von Geldwäsche und Steuerhinterziehung vom 28.04.2011,
BGBL 2011 I, 676 - 677
53 Schaefer, NJW-Spezial 2009, 88, 89
54 Fischer, StGB, § 46 Rn. 146
55 Salditt, PStR 2009, 15, 18
56 BGH 1 StR 654/86 vom 13.01.1987, NJW 1987, 2450; vgl. auch Fischer, StGB, § 46 Rdn. 91
57 BGH 1 StR 116/11 vom 05.05.2011, lexitus.com/2011,2546
21
erstinstanzlichen Urteilen hält, die keine Feststellungen zum „großen Ausmaß“ einer
Steuerhinterziehung enthalten.
Dennoch besteht in der Praxis weiterhin die Möglichkeit für Tatrichter und Staatsanwaltschaft, die
Schwellenwerte des 1. Strafsenats durch Teileinstellungen gegebenenfalls zu unterlaufen.58
ee.
Verteidigungsstrategien
In der Praxis wird das Urteil des BGH vom 02.12.2008 zunächst Auswirkungen auf die Frage
haben, ob der Strafrahmen des § 370 Abs. 1 AO, der eine Freiheitsstrafe bis zu 5 Jahren oder
Geldstrafe vorsieht, oder des § 370 Abs. 3 AO, der keine Geldstrafe mehr, sondern nur noch eine
Freiheitsstrafe von 6 Monaten bis zu 10 Jahren vorsieht, anzuwenden ist.
Nach der vom BGH vorgenommenen Differenzierung, wonach die Betragsgrenze von € 50.000,00
nur zur Anwendung kommen soll, wenn der Täter ungerechtfertigte Zahlung vom Finanzamt
erlangt hat, während die Wertgrenze von € 100.000,00 zur Anwendung kommen soll, wenn sich
das Verhalten des Täters lediglich darauf beschränkt hat, die Finanzbehörden pflichtwidrig über
steuerlich erhebliche Tatsachen in Unkenntnis zu lassen, wird künftig die Unterscheidung von
Steuerhinterziehung durch Unterlassen i.S.d. § 370 Abs. 1 Nr. 2 AO einerseits und durch aktives
Tun i.S.d. § 370 Abs. 1 Nr. 1 AO andererseits wieder an Bedeutung zunehmen59.
Bei den „klassischen“ Fällen der Steuerhinterziehung verwirklicht der Täter die
Steuerhinterziehung dadurch, dass er steuerlich erhebliche Tatsachen verschweigt bzw. überhaupt
keine Steuererklärung abgibt, somit eine Steuerhinterziehung durch Unterlassen im Sinne des §
370 Abs. 1 Nr. 2 AO begeht. Bei dieser Tatbestandsverwirklichung soll nach der Rechtsprechung
des BGH das „große Ausmaß“ im Sinne des § 370 Abs. 3 AO erst ab einer Wertgrenze von €
100.000,00 vorliegen 60.
Nur dann, wenn der Täter steuerlich erhebliche Tatsachen nicht nur verschweigt, sondern weitere
Tätigkeiten entfaltet, um vom Finanzamt ungerechtfertigte Zahlungen zu erlangen, somit eine
Steuerhinterziehung durch aktives Tun im Sinne des § 370 Abs. 1 Nr. 1 AO begeht, soll eine
Steuerhinterziehung „großen Ausmaßes“ im Sinne des § 370 Abs. 3 AO bereits bei einer
Betragsgrenze von € 50.000,00 vorliegen.
Bei der Frage, ob eine Steuerhinterziehung „großen Ausmaßes“ im Sinne des § 370 Abs. 3 AO
vorliegt, wird daher in der steuerstrafrechtlichen Praxis zunächst auf die Tatbegehung abzustellen
sein, um die jeweilige vom 1. Strafsenat vorgegebene Wertgrenze im konkreten Fall ermitteln zu
können.
58
so Salditt, PStR 2009, 15, 18
Spatscheck, Engler, Steueranwaltsmagazin 2009, 122, 123
60 siehe hierzu die Kritik von Bach, PStR, 2010, 11, 12, der die Auffassung vertritt, dass ein Nichtstun
allenfalls zu einer Gefährdung des Steueranspruches führen könne, aber nicht zu einer Verwirklichung
einer Steuerhinterziehung großen Ausmaßes
59
22
In der Praxis wird hierbei aber darauf zu achten sein, dass die Frage des „großes Ausmaßes“ für
jede einzelne Tat im materiellen Sinne gesondert zu bestimmen ist.
Steuerstrafrechtliche Sachverhalte sind meistens Dauersachverhalte, die sich jährlich wiederholen,
somit vom Täter über mehrere Jahre hinweg begangen werden.
Die einzelne Tat im Sinne von § 370 AO wird dabei aber durch den Steuerpflichtigen, die
Steuerart und den jeweiligen Veranlagungszeitraum bestimmt 61.
Nach ständiger Rechtsprechung des BGH ist jede unrichtige Steuererklärung somit grundsätzlich
eine selbständige Tat im Sinne des § 53 StGB62.
Nur bei Steuerhinterziehung, die in einer Handlung im strafrechtlichen Sinne (§ 52 StGB)
zusammenfallen, addiert der BGH die hinterzogenen Beträge63. Dieses liegt dann vor, wenn
eigentlich mehrere Steuerhinterziehungen durch die selbe Erklärung bewirkt werden64, so z.B.
wenn mehrere Steuererklärungen in einem äußeren Vorgang zusammen abgegeben werden und die
Erklärung auf übereinstimmenden falschen Angaben über die Besteuerungsgrundlagen aufbauen65.
Für das Erreichen der vom 1. Strafsenat vorgegebenen Schwellenwerte ist somit zur Bestimmung
des „großen Ausmaßes“ im Sinne des § 370 Abs. 3 AO auch weiterhin jeweils die einzelne Tat
maßgeblich und nicht die Summe der hinterzogenen Steuern aus mehreren Taten 66. Dieses
entspricht im Übrigen der bisherigen Rechtsprechung zu § 70 Abs. 3 Nr. 1 AO67.
Die Verteidigung wird sich zukünftig daher mit dem Erreichen der vom 1. Strafsenat entwickelten
Schwellenwerte auseinandersetzen müssen und – sofern dazu Anlass besteht – vor dem
Hintergrund der unterschiedlichen Strafandrohungen herausarbeiten müssen, für welche Tat ein
„großes Ausmaß“ i.S.d. § 370 Abs. 3 AO vorliegt und für welche Tat nicht.
Sofern die von dem 1. Strafsenat vorgegebenen Wertgrenzen hierbei nicht durch die jeweilige
materielle Tat überschritten wurden, sondern nur die Summe der Steuerhinterziehung aus
mehreren Taten zum Überschreiten der Schwellenwerte führt, erfüllt dieses nicht den Tatbestand
der Steuerhinterziehung großen Ausmaßes i.S.d. § 370 Abs. 3 Satz 2 Nr. 1 AO 68.
Sofern nur durch die Summe von mehreren materiellen Taten die vom 1. Strafsenat aufgeführten
Schwellenwerte überschritten sind, somit mehrere Taten vorliegen, kann dieses nur bei der
Bildung einer Gesamtstrafe nach §§ 53, 54 StGB berücksichtigt werden. Hierbei ist jedoch zu
61
h.M.: vgl. BGH 5 StR 226/99 vom 05.04.2000, wistra 2000, 219, 225
BGH 5 StR 220/04 vom 24.11.2004, NStZ 2005, 516, Rn. 4
63 BGH 1 StR 416/08 vom 02.12.2008, NJW 2009, 528
64 BGH 5 StR 220/04 vom 24.11.2004, NStZ 2005, 516, Rn. 4
65 BGH 5 StR 73/96 vom 05.03.1996, wistra 1996, 231, Rn.3; BGH 5 StR 220/04 vom 24.11.2004, NStZ
2005, 516, RdNr. 4
66 so Bielefeld / Prinz, StB 2009, 112, 114; Spatscheck / Engler, Steueranwaltsmagazin 2009, 122, 124
67 BGH 5 StR 5801/03 vom 05.02.2004, wistra 2004, 185 und BGH 5 StR 301/04 vom 12.01.2005, wistra
2005, 144, 145
68 Spatscheck / Engler, Steueranwaltsmagazin 2009, 122, 124, Rolletschke / Jope, wistra 2009, 219, 221;
Wulf, DStR 2009, 459, 460
62
23
berücksichtigen, dass in den Fällen der Tatmehrheiten, in denen als Einzelstrafen ausschließlich
Geldstrafen vom Tatrichter verhängt werden, auch im Rahmen der Gesamtstrafenbildung nicht auf
eine Freiheitsstrafe erkannt werden kann69.
Wohl auch nur im Rahmen einer so zu bildenden Gesamtstrafenbildung nach §§ 53, 54 StGB bei
Tatmehrheiten kann nur die vom 1. Strafsenat genannte Wertgrenze von 1 Million Euro zu
verstehen sein, wonach eine aussetzungsfähige Bewährungsstrafe nur bei Vorliegen besonders
gewichtiger Milderungsgründe noch in Betracht komme, da ein Steuerschaden in Höhe von über 1
Million Euro nur durch eine materielle Tat eher unwahrscheinlich ist 70.
Auch die weiteren vom 1. Strafsenat in seiner Entscheidung vom 02.12.2008 erwähnten
Strafzumessungserwägungen werden in der Praxis verstärkt Auswirkungen auf das Strafmaß aber
auch auf die Verteidigung in Steuerstrafsachen haben, insbesondere in solchen Fällen, wo einer
Steuerhinterziehung „großen Ausmaßes“ vorliegt und daher mit – eventuell nicht mehr
aussetzungsfähigen – Freiheitsstrafen gerechnet werden muss.
Soweit der 1. Strafsenat es als strafverschärfend ansieht, wenn der Täter Steuerhinterziehung
gewerbsmäßig betreibt, in dem er z. B. besondere Unternehmensstrukturen aufbaut, systematische
Scheingeschäfte tätigt, oder gezielt Domizilgesellschaften einschaltet, so waren diese
Strafzumessungserwägungen bereits in den „Anweisung für das Straf- und Bußgeldverfahren
(Steuer) - AstBV (St)“71 aufgeführt, so dass sie schon die bisherige Strafzumessungspraxis zumindest der Finanzbehörden - mitbestimmt haben.
Auch die vom 1. Strafsenat genannten Strafmilderungsgründe des frühzeitigen Geständnisses, der
Zahlung der Steuern oder zumindest das ernsthafte Bemühen um Zahlung der verkürzten Steuern,
deckt sich mit der bisherigen Rechtsprechung72 und sind insoweit nicht neu.
Als neuen und bislang so noch nicht aus der veröffentlichten Rechtsprechung bekannten
strafmildernden Umstand wird man jedoch das vom 1. Strafsenat ausdrücklich als strafmildernden
Umstand zu wertende „übrige steuerliche Verhalten des Täters“ zukünftig insbesondere in der
steuerstrafrechtlichen Verteidigung berücksichtigen können 73. Ist der Täter sonst steuerehrlich
oder betrifft die Tat nur einen verhältnismäßig geringen Teil seiner steuerlich relevanten
Betätigung, so wird dieses in Zukunft die Strafe mildern können.
Es steht zu befürchten, dass die Strafverfolgungsbehörden mit Blick auf die Entscheidung des 1.
Strafsenats zukünftig - anstelle der Strafmaßtabellen - schematisch anhand der vorgegebenen
Schwellenwerte vorgehen. Im Gegenzug wird die Verteidigung insbesondere bei Vorliegen einer
Steuerhinterziehung „großen Ausmaßes“ die besonderen Strafmilderungsgründe des Einzelfalles
herauszustellen haben. Bei einem Überschreiten der vom 1. Strafsenat vorgegebenen
69
Fischer, StGB, § 54, Rz. 4
so Spatscheck / Engler, Steueranwaltsmagazin 2009, 122, 125; Wulf. DStR 2009, 459, 465
71 AstBV (St) 2010, BStBl 2009 I, Seite 1532
72 zum Geständnis: BGH 1 StR 563/99 vom 14.12.1999, NStZ 2000, 366;
zur Nachzahlung der Steuern: BGH 5 StR 269/01 vom 07.11.2001, wistra 2002, 98; zum ernsthaften
Bemühen um Schadenswiedergutmachung: BGH 2 StR 42/06 vom 07.06.2006, wistra 2006, 343
73 Bielefeld / Prinz, StB 2009, 112, 115, 116
70
24
Schwellenwerte wird es künftig maßgeblich auf den jeweiligen Tatrichter ankommen, ob noch
eine Geld- oder schon eine Freiheitsstrafe erkannt wird.
Es ist jedoch zu befürchten, dass die Gerichte bei Überschreiten dieser vom BGH vorgegebenen
Schwellenwerte von einer Steuerhinterziehung „großen Ausmaßes“ ausgehen werden und
vermehrt (ggf. noch aussetzungsfähige) Freiheitsstrafen verhängen werden.
Die vom 1. Strafsenat gewählte Formulierung, wonach bei einem Gesamthinterziehungsbetrag von
€ 1 Millionen eine „aussetzungsfähige Bewährungsstrafe nur bei Vorliegen besonders gewichtiger
Minderungsgründe noch in Betracht kommt“, wird zukünftig sowohl die steuerstrafrechtlichen
Verteidiger als auch die Untergerichte zu einer entsprechenden Darlegung der besonders
gewichtigen Minderungsgründe bei Hinterziehung von Millionenbeträgen fordern, wenn eine noch
aussetzungsfähige Freiheitsstrafe gegen eine Revision der Staatsanwaltschaft sicher gemacht
werden soll.
2.
Strafzumessung bei Steuerhinterziehung auf Zeit und bei Tatserien
a.
Die Entscheidung 1 StR 627/08 vom 17.03.2009
Nach den Urteilsfeststellungen der Vorinstanz erklärte der Angeklagte über mehrere Jahre hinweg
einen erheblichen Teil seiner Umsätze nicht, indem er keine Umsatzsteuervoranmeldungen abgab.
Die Gesamtsumme der verkürzten Umsatzsteuern hat die Vorinstanz mit € 80.500,00 beziffert,
wobei es im Hinblick auf die nicht eingereichten Umsatzsteuervoranmeldungen lediglich von
einem „Zinsverlust als Hinterziehungsschaden“ ausging.
Die Vorinstanz hat den Angeklagten wegen Steuerhinterziehung in 59 Fällen zu einer
Gesamtfreiheitsstrafe von 2 Jahren, deren Vollstreckung es zur Bewährung ausgesetzt hat und zu
einer Gesamtgeldstrafe von 360 Tagessätzen verurteilt, wobei die Einzelstraftaten den Strafrahmen
des § 370 Abs. 1 AO entnommen wurden und von der Bildung einer einheitlichen
Gesamtfreiheitsstrafe gem. § 53 Abs. 2 Satz 2 StGB abgesehen wurde.
Der hiergegen auf den Strafausspruch beschränkten Revision der Staatsanwaltschaft, die damit
begründet wurde, dass das Landgericht statt kurzer Freiheitsstrafen gem. § 47 Abs. 1 StGB
lediglich Geldstrafen verhängt und bei der Gesamtstrafenbildung keine einheitliche
Gesamtfreiheitsstrafe festgesetzt hat, gab der 1. Strafsenat in seinem Urteil vom 17.03.200974 statt,
wobei er - unter ausdrücklicher Aufgabe der bisherigen Rechtsprechung des BGH - einer
74
BGH 1 StR 627/08 vom 17.03.2009, NJW 2009, 1979 ff.
25
„Steuerverkürzung auf Zeit“ eine klare Absage erteilte und zudem die erstinstanzliche
Handhabung zur Strafzumessung bei Steuerdelikten in Tatserien deutlich rügte.
aa.
Schadensberechnung bei Umsatzsteuerhinterziehung
Der 1. Strafsenat rügte die Strafzumessung der Vorinstanz, weil als „Hinterziehungsschaden“ der
nicht rechtzeitig abgegebenen Umsatzsteuervoranmeldungen allein der sich aus der verspäteten
Steuerfestsetzung ergebenden „Zinsverlust“ des Fiskus angesehen wurde.
Zwar führe nach der bisherigen Rechtsprechung des BGH die Abgabe einer unrichtigen
Umsatzsteuervoranmeldung ebenso wie das pflichtwidrige Unterlassen der Abgabe einer
Umsatzsteuervoranmeldung zunächst lediglich zu einer Steuerhinterziehung „auf Zeit“ und erst
die Abgabe einer unrichtigen Umsatzsteuerjahreserklärung oder die pflichtwidrige Nichtabgabe
einer Umsatzsteuerjahreserklärung bewirke die endgültige Steuerverkürzung, d. h. die Verkürzung
„auf Dauer“75, jedoch folge aus dieser Differenzierung insbesondere nicht, dass bei einer nicht
rechtzeitigen Steuerfestsetzung die tatbestandliche Steuerverkürzung allein im Zinsverlust der
Fiskus bestehen würde76.
Zwar entspreche der durch eine Steuerverkürzung „auf Zeit“ verursachte Verspätungsschaden der
Höhe nach dem Zinsverlust, der sich nach der Rechtsprechung nach Maßgabe der Vorschriften
über die Hinterziehungszinsen mit 0,5 % des nicht rechtzeitig festgesetzten Steuerbetrags pro
Monat errechnet77, jedoch halte der 1. Strafsenat soweit der BGH in früheren Entscheidungen
möglicherweise abweichende Aussagen getroffen habe78, aus denen sich lediglich eine
Differenzierung in eine Steuerverkürzung „auf Zeit“ und eine solche „auf Dauer“ ergeben könnte,
an dieser Rechtsprechung nicht weiter fest.
Der tatbestandsmäßige Erfolg der Steuerhinterziehung sei vielmehr ausgehend vom Schutzzweck
des verwirklichten Straftatbestandes zu bestimmen79.
Die Steuerhinterziehung sei zwar Erfolgsdelikt, jedoch - wie die Vorschrift des § 370 Abs. 4 1 AO
zeige - nicht notwendig Verletzungsdelikt80.
Die im Festsetzungsverfahren begangenen Steuerhinterziehungen ist vielmehr konkretes
Gefährdungsdelikt81, wobei die geschuldete Steuer bereits dann verkürzt sei, wenn lediglich die
Steuer nicht rechtzeitig festgesetzt wird.
75
so noch BGH 5 StR 443/01 vom 06.02.2002, wistra 2002, 185, BGH 5 StR 223/97 vom 22.10.1997, NJW
1998, 391
76 BGH 1 StR 627/08 vom 17.03.2009, NJW 2009, 1979, 1982
77 so BGH 5 StR 223/97 vom 22.10.1997, NJW 1998, 390, BGH 5 StR 624/97 vom 17.02.1998, wistra
1998, 225, 226
78 BGH 5 StR 223/97 vom 22.10.1997, NJW 1998, 390, BGH NStZ 1997, 451, wistra 1997, 262, 263
79 BGH 1 StR 627/08 vom 17.03.2009, NJW 2009, 1979, 1983
80 BGH 1 StR 322/08 vom 10.12.2008, NJW 2009, 381, 384; wistra 2009, 114, 117
26
Bei einer Verletzung der Pflichten zur Einreichung von Umsatzsteuervoranmeldungen bestehe die
gem. § 370 AO strafbewehrte Gefährdung des sich aus § 18 Abs. 1 und Abs. 2 UStG ergebenden
Steueranspruchs unabhängig davon, ob der Steuerschuldner beabsichtige, zu einem späteren
Zeitpunkt - etwa in der Umsatzsteuerjahreserklärung - falsche Angaben zu berichtigen bzw.
fehlende Angaben nachzuholen oder ob er eine Steuerverkürzung auf Dauer anstrebt82.
In jedem Fall bezwecke der Täter zunächst eine unrichtige Festsetzung. Unterschiedlich sei
insoweit lediglich - in Abhängigkeit von dem Planen des Täters - die Intensität der Gefährdung.
Dieser Umstand sei zwar für die Strafzumessung von Bedeutung, lasse aber den Umfang des
tatbestandsmäßigen Erfolgs unberührt, in beiden Fällen sei das Erfolgsunrecht identisch.
Im Hinblick auf den Charakter der Steuerhinterziehung als Gefährdungsdelikt unterscheide sich
daher nach Auffassung des 1. Strafsenats bei der Umsatzsteuerhinterziehung die Verkürzung „auf
Dauer“ und derjenigen „auf Zeit“ nicht im Erfolgs-, sondern - im Hinblick auf das
Vorstellungsbild des Täters - ausschließlich nur im Handlungsunrecht83.
Für die Fälle der Nichtabgabe von Umsatzsteuervoranmeldungen oder der Abgabe unrichtiger
Umsatzsteuervoranmeldungen gelte daher nach den Ausführungen des 1. Strafsenat Folgendes:
Berichtige der Täter - seinem Tatplan entsprechend - in der Umsatzsteuerjahreserklärung seine
unrichtigen Angaben und zahle er die zunächst hinterzogenen Steuern nach, stelle sich die Frage,
wie die Steuerhinterziehung „auf Zeit“ zur ahnden sei, regelmäßig nicht, da in solchen Fällen
zumeist die Voraussetzungen einer Strafbefreienden Selbstanzeige gem. § 371 AO vorliegen84.
Berichtige der Täter seine in den Voranmeldung gemachten unrichtigen Angaben entgegen seinem
ursprünglichen Vorhaben in der Umsatzsteuerjahreserklärung jedoch nicht, gehe die als
Verkürzung „auf Zeit“ geplante Hinterziehung in eine solche „auf Dauer“ über. Das bereits in den
unrichtigen Voranmeldungen liegende Erfolgsunrecht der Gefährdung des Steueranspruches werde
dadurch jedoch nicht berührt, es finde lediglich keine Schadenswiedergutmachung statt85.
bb.
Strafzumessung bei Tatserien
Der 1. Strafsenat nahm in seiner Entscheidung die Revision ebenfalls zum Anlass, um den von der
Vorinstanz ausgesprochenen Strafausspruch, wonach neben einer Gesamtfreiheitsstrafe von 2
Jahren, deren Vollstreckung zur Bewährung ausgesetzt worden war, noch eine weitere
Gesamtgeldstrafe von 360 Tagessätzen ausgesprochen war, zu rügen.
Zwar liege in Fällen sachlich und zeitlich ineinander verschränkter Vermögensdelikte, von denen
die gewichtigeren die Verhängung von Einzelfreiheitsstrafen von 6 Monaten und mehr bieten, die
81
vgl. auch Joecks in Franzen/Gast/Joecks, § 370 AO, Rn. 15
BGH 1 StR 627/08 vom 17.03.2009, NJW 2009, 1979, 1983
83 BGH 1 StR 627/08 vom 17.03.2009, NJW 2009, 1979, 1983
84 vgl. dazu Kohlmann, § 371 AO, Rn. 64.2
85 BGH 1 StR 627/08 vom 17.03.2009, NJW 2009, 1979, 1983
82
27
Verhängung kurzfristiger Freiheitsstrafen nach § 47 StGB in den Einzelfällen mit geringeren
Schäden nahe, da auch bei der Zumessung der Einzelstrafen die Gesamtserie und der dadurch
verursachte Gesamtschaden in den Blick genommen werden soll, so dass es auch bei Tatserien
nicht ausgeschlossen ist, neben Freiheitsstrafen auch Einzelgeldstrafen zu verhängen86.
Jedoch müssen dann die Urteilsgründe für das Revisionsgericht nachprüfbar erkennen lassen, dass
das Tatgericht bei der Zumessung der Einzelstrafen die Tatserie als solche und den durch sie
verursachten Schaden gesehen und gewertet hat und aus welchen Gründen es gleichwohl in einem
Teil der Fälle Freiheitsstrafe für geboten, im Übrigen aber Geldstrafen für ausreichend erachtet
hat.
Der Umstand, dass nach § 47 Abs. 1 StGB die Verhängung kurzer Freiheitsstrafen die Ausnahme
ist, rechtfertige für sich allein bei einer Tatserie nicht, von einer näheren Begründung des
Nebeneinanders von Geld und Freiheitsstrafen abzusehen87.
Angesichts der im Entscheidungsfall im Wesentlichen gleichgelagerten Fällen - bei denen die
Bildung einer gesonderten Gesamtgeldstrafe nach der Rechtsprechung des BGH fern liege 88 erwecken die ausgesprochenen Einzelstraftaten nach Auffassung des 1. Strafsenats den Eindruck,
„dass das Tatgericht nur deshalb von einer an sich schuldangemessenen Gesamtfreiheitsstrafe von
über 2 Jahren abgesehen habe, damit die Vollstreckung nach § 56 Abs. 2 StGB zur Bewährung
ausgesetzt werden konnte“89. Dieses sei aber nach der Rechtsprechung des BGH rechtlich zu
beanstanden90.
b.
Kritische Würdigung und Bedeutung der Entscheidung für die Praxis
Der 1. Strafsenat hat mit seiner Entscheidung vom 17.03.2009, wonach auch in den Fällen der
Steuerhinterziehung, bei denen zunächst nur eine Steuerhinterziehung „auf Zeit“ vorliegt, sich der
Umfang der verkürzten Steuern nach deren Nominalbeträgen richtet und nicht lediglich in der
Höhe der Hinterziehungszinsen, einer seit langem in Rechtsprechung und Literatur geführten
Diskussion (zumindest vorläufig) ein Ende gesetzt. Gem. § 370 Abs. 4 Satz 1 AO genügt als
Taterfolg auch die nicht rechtzeitige Steuerfestsetzung.
Das Gesetz stellt damit die zeitliche der endgültigen Steuerverkürzung gleich.
Angesichts der Tatsache, dass es wegen verspäteter Anmeldung in der Praxis zu einer Unzahl von
Steuerstraftaten kommt, differenzierte die überwiegende Ansicht in Rechtsprechung und Literatur
nach den subjektiven Vorstellungen des Täters91.
86
BGH 5 StR 490/00 vom 19.12.2000, NStZ 2001, 311; BGH 3 StR 465/03 vom 08.04.2004, NStZ 2004,
554
87 BGH 1 StR 627/08 vom 17.03.2009, NJW 2009, 1979, 1984
88 BGH, NStZ 2001, 311
89 BGH 1 StR 627/08 vom 17.03.2009, NJW 2009, 1979, 1984
90 so z.B. schon BGH 2 StR 355/80 vom 17.09.1980, NJW 1981, 692
91 BGH 2 StR 190/86 vom 11.11.1986, StV 1987, 100; vgl. Joecks in Franzen/Gast/Joecks, § 370, Rn. 77
28
Will der Täter danach den hinterzogenen Betrag dem Steuerfiskus von Anfang an auf Dauer
vorenthalten (z. B. keine Umsatzsteuerjahreserklärung abgeben) liegt eine endgültige
Steuerverkürzung vor. Hier ist der Verkürzungserfolg in dem (in den Voranmeldungen) verkürzten
Steuerbetrag zu sehen.
Verfolgt der Täter lediglich das Ziel, dass der richtige Steuerbetrag später festgesetzt wird, will er
also nur Zeit gewinnen, so liegt eine Verkürzung auf Zeit vor.
Allein der Umstand, dass letztlich ein Dauerschaden, also ein endgültiger Steuerausfalls
eingetreten ist, genüge hiernach nicht, wenn nicht eine Verkürzung auf Dauer gewollt war, wofür
objektive Indizien zu berücksichtigen seien. So soll z.B. eine falsche Buchführung die Annahme
begründen, dass endgültig und nicht nur vorübergehend Steuern hinterzogen werden sollten92. In
der Praxis wirken sich die Unterschiede der zeitigen und dauerhaften Verkürzung als verschuldete
Auswirkungen der Tat nach § 46 Abs. 2 StGB auf der Strafzumessungsebene aus. Der hierfür
maßgebliche Steuerschaden bemesse sich nach Auffassung von Teilen der Literatur bei einer
zeitlichen Verkürzung nicht nach dem Nominalbetrag der hinterzogenen Steuern, sondern nach der
Verzögerung der Steuerfestsetzung93, der nach überwiegender Ansicht im - unter Beachtung der
Zinsregel der §§ 235, 238 AO mit 0,5 % pro Monat des nicht rechtzeitig festgesetzten
Steuerbetrags zu errechnenden - Zinsverlustes des Fiskus zu sehen94 sei.
Dieser - bisher teilweise vertretenen Auffassung - ist der 1. Strafsenat des BGH in deutlicher
Abkehr zu der bisherigen Rechtsprechung des 5. Strafsenats des BGH entgegen getreten, in dem er
auch im Falle einer Steuerhinterziehung „auf Zeit“ den tatbestandsmäßigen Erfolg nicht in der
Höhe der Hinterziehungszinsen erblickt, sondern in dem Nominalbetrag der eigentlich
geschuldeten Steuer im Falle der pflichtwidrigen Nichtabgabe bzw. der Abgabe einer unrichtigen
Steueranmeldung. Auch dieses stellt eine deutliche Verschärfung in der Praxis dar, da diese
Wertung insbesondere bei typischen Fällen der Steuerhinterziehung bei Tatserien (z. B. der
Nichtabgabe bzw. unrichtiger Abgabe von Umsatzsteuervoranmeldungen) im Rahmen der
Strafzumessung zu einer deutlichen Verschärfung der Strafen führen kann.
Dieses insbesondere, sofern durch das pflichtwidrige Unterlassen entsprechender
Steueranmeldungen die nach der Rechtsprechung des 1. Strafsenats des BGH in seinem Urteil I
StR 416/08 vom 02.12.2008 entwickelten Schwellenwerte für eine Steuerhinterziehung großen
Ausmaßes erreicht würden und damit für jede Nichtabgabe bzw. falsche Abgabe einer
entsprechenden Anmeldung bereits nach dem Strafrahmen des § 370 Abs. 3 AO eine Geldstrafe
nicht mehr in Betracht kommen würde.
92
BGH 5 StR 624/97 vom 17.02.1998, NStZ-RR 1998, 185
so noch Wulf, DStR 2009, 459, 461; Joecks in Franzen/Gast/Joecks, Rn. 78; auch BGH 5 StR 223/97
vom 22.10.1997, StV 1998, 4
94 BGH 5 StR 443/01 vom 06.02.2002, wistra 2002, 185; BGH 5 StR 587/00 vom 26.04.2001, wistra 2001,
341; BGH 5 StR 178/99 vom 19.10.1999, BStBl II 1999, 854
93
29
Das Tatgericht wird daher zukünftig im Rahmen der Strafzumessung das Vorstellungsbild des
Täters zu ermitteln haben, wenn dieser sich darauf beruft, sich lediglich auf Zeit einen
Liquiditätsvorteil haben verschaffen wollen.95
Die Verteidigung stellt dieses vor die Anforderung, in Zukunft in solchen Fällen dem Tatgericht
glaubhaft gegenüber darzulegen, dass aufgrund der äußeren Umstände (nur) eine Hinterziehung
auf Zeit beabsichtigt war.
Ausdrücklich gerügt hat der 1. Strafsenat in dieser Entscheidung auch eine in der Praxis häufig
anzutreffende Strafzumessung bei Tatserien, wonach bei im Wesentlichen gleichgelagerten Fällen
anstelle einer einheitlichen Gesamtfreiheitsstrafe neben einer zur Bewährung ausgesetzten
Gesamtfreiheitsstrafe noch eine Gesamtgeldstrafe nach § 53 Abs. 2 Satz 2 StGB gebildet wird.
Bislang wurden bei den im Steuerstrafrecht häufigen Tatserien Taten mit geringerem Gewicht
häufig mit Einzelgeldstrafen geahndet, Taten mit höherem Gewicht daneben mit
Einzelfreiheitsstrafen, was den – für den Angeklagten angenehmen und aus Verteidigersicht daher
beabsichtigten - Effekt hatte, dass aus den Einzelgeldstrafen eine Gesamtgeldstrafe neben einer
Gesamtfreiheitsstrafe mit dem Ziel gebildet werden konnte (§ 53 Abs. 2 Satz 2 StGB), die
Gesamtfreiheitsstrafe noch unter 2 Jahren zu bemessen und zur Bewährung auszusetzen.
Dieser Praxis ist der 1. Strafsenat mit seiner Entscheidung deutlich entgegengetreten. Er verlangt,
dass das Tatgericht bei Tatserien auch in Einzelfällen mit geringerem Schaden in der Regel kurze
Freiheitsstrafen unter 6 Monaten nach § 47 StGB verhangen soll, wenn innerhalb einer Tatserie
schwerwiegendere Delikte abzuurteilen sind, für die Einzelfreiheitsstrafen über 6 Monate verwirkt
sind, denn auch bei der Strafzumessung für Delikte mit geringerem Hinterziehungsbetrag sei stets
die Gesamtserie und damit der Gesamtschaden in den Blick zu nehmen.
Der Hinweis des 1. Strafsenats, dass „bei im Wesentlichen gleichgelagerten Fällen die Bildung
einer gesonderten Gesamtgeldstrafe fern liege und die Bildung einer gesonderten Gesamtgeldstrafe
in solchen Fällen daher den Eindruck erwecke, dass das Tatgericht nur deshalb von einer an sich
schuldangemessenen Gesamtfreiheitsstrafe über 2 Jahre abgesehen habe, damit die Vollstreckung
nach § 56 Abs. 2 StGB noch zur Bewährung ausgesetzt werden könne“ kann nur als deutlicher
Wunsch an die Tatgerichte zu einer schärferen Strafzumessung bei Tatserien gewertet werden.
Dies dürfte für die Zukunft eine ausführliche Begründung des Tatgerichts zur Folge haben,
weshalb bei im Wesentlichen gleichgelagerten Fällen im konkreten Fall das Gericht in einem Teil
der Fälle Freiheitsstrafe für geboten, in übrigen aber Geldstrafen für ausreichend erachtet habe.
3.
Strafzumessung bei Ketten- oder Karussellgeschäften
a.
Die Entscheidung 1 StR 342/08 vom 30.04.2009
95
so Lipsky, PStR 2009, 150, 151
30
Dem Urteil des BGH vom 30.04.2009 lag ein Fall eines sog. „Kettengeschäfts“ zugrunde. Da eine
Vielzahl von Lieferanten des Angeklagte nicht den vollständigen Kaufpreis in der Rechnung
ausgewiesen haben wollten, entwickelte der Angeklagte ein System von Scheinfirmen und
Scheingeschäften.
Die ursprünglichen Lieferanten erstellten für Firmen, die zum Schein als unmittelbare Käufer
(Erstankäufer) auftraten, eine Rechnung mit Umsatzsteuerausweis über einen Teil des
tatsächlichen Kaufpreises.
Der verbleibende Rest des Kaufpreises wurde von dem Angeklagten bar gezahlt, ohne dass dieser
Teilbetrag versteuert wurde.
Der Erstankäufer wiederum stellte einem Zwischenhändler eine Scheinrechnung mit
Umsatzsteuerausweis, wobei der dort angeführte Nettobetrag über dem Kaufpreis lag, der
tatsächlich - als Rechnungsbetrag zzgl. Schwarzgeldbetrag - an den Lieferanten gezahlt worden
war.
Der Zwischenhändler seinerseits stellte dann wiederum der Gesellschaft des Angeklagten eine
Rechnung, in der er einen nochmals höheren Nettopreis sowie die darauf anfallende Umsatzsteuer
auswies. Hierdurch wurde der Gesellschaft des Angeklagten ermöglicht, Vorsteuer aus Beträgen
geltend zu machen, die noch über dem tatsächlich gezahlten Kaufpreis lagen.
Sowohl die Gesellschaft des Angeklagten als auch die Zwischenhändler erklärten die Umsätze, die
in ihren Rechnungen ausgewiesen wurden und führten die ausgewiesene Umsatzsteuer ab. Die
Erstankäufer wiederum erklärten die in den Rechnungen an die Zwischenhändler ausgewiesenen
Umsätze nicht und führten auch die dort ausgewiesene Umsatzsteuer nicht ab.
Die Vorinstanz verurteilte den Angeklagten wegen Steuerhinterziehung in 10 Fällen sowie wegen
Untreue in 2 Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von 2 Jahren, deren Vollstreckung es zur
Bewährung ausgesetzt hatte, wobei sie die Umsatzsteuer, die in den Rechnungen der Erstankäufer
an die Zwischenhändler und in den Rechnungen der Zwischenhändler an die Gesellschaft des
Angeklagten ausgewiesen wurde, nicht als strafzumessungsrelevanten Hinterziehungsschaden
ansah.
Die Vorinstanz vertrat die Auffassung, dass bei einer Verurteilung wegen Vergehen nach § 370
AO im Rahmen der Strafzumessung nach Sinn und Zweck der Vorschrift nur auf die Verkürzung
solcher Steuersummen abzustellen sei, die bei ordnungsgemäßem Verhalten von vornherein an den
Fiskus abzuführen gewesen wären. Der gegen das Urteil eingelegten Revision der
Staatsanwaltschaft, die sich gegen den Rechtsfolgenausspruch gewandt hatte, gab der 1. Strafsenat
des BGH in seiner Entscheidung vom 30.04.2009 statt.
Ausgehend davon, dass bei der Zumessung einer Strafe wegen Steuerhinterziehung das in § 46
Abs. 2 Satz 2 StGB genannte Kriterium der „verschuldeten Auswirkung der Tat“ im Rahmen der
erforderlichen Gesamtwürdigung besonderes Gewicht zukommt und die Höhe der verkürzten
31
Steuern nach ständiger Rechtsprechung des BGH96 einen bestimmenden Zumessungsumstand
darstellt, stellt der 1. Strafsenat in seiner Entscheidung darauf ab, dass eine nur auf das einzelne
Scheinrechnungsverhältnis
beschränkte
Betrachtung dem
Gesamtunrechtserhalt
des
Hinterziehungssystems nicht gerecht wird97, denn der Gesamtunrechtsgehalt des Hintersystems bei
solchen Ketten- und Karussellgeschäften wird nach Auffassung des 1. Strafsenats nicht durch das
einzelne Rechtsverhältnis geprägt, sondern durch das System als Ganzes.
Es sei anerkannt, dass in solchen Kettengeschäften den einzelnen Beteiligten die Struktur und die
Funktionsweise des Gesamtsystems bekannt sei, so dass dies auch bei der Feststellung der für die
Strafzumessung bestimmenden verschuldeten Auswirkungen der Tat Gewicht erlangen kann98.
Maßgeblich sei deshalb der vom Vorsatz umfasste, aus dem Gesamtsystem erwachsene deliktische
Schaden, der in dem Überschuss von gezogener Vorsteuer im Vergleich zu gezahlter Umsatzsteuer
bestehe99.
Nach Auffassung des 1. Strafsenats sei es daher rechtsfehlerhaft, allein die Umsatzsteuer, die
durch die ursprünglichen Lieferanten hinterzogen wurde, der Strafzumessung zugrunde zu legen.
Denn hierdurch würde der aus dem Gesamthinterziehungssystem erwachsene Schaden nicht
vollständig erfasst werden100.
Nach Auffassung des 1. Strafsenats sei daher bei der verschuldeten Auswirkung der Tat als
Strafzumessungskriterium bei fingierten Ketten- oder Karussellgeschäften auch die von den
Erstankäufern hinterzogene Umsatzsteuer einzubeziehen, da bei der Ausstellung einer
Scheinrechnung mit gesondert ausgewiesener Umsatzsteuer eine Gefährdung des
Steueraufkommens jedenfalls dann gegeben sei, wenn diese Rechnungen zum Vorsteuerabzug
benutzt werden können und der Rechnungsaussteller die gesondert ausgewiesene Umsatzsteuer
nicht an das Finanzamt abgeführt hat101.
Ebenfalls einzubeziehen sei die von den Zwischenhändlern aus den von den Scheinfirmen
ausgestellten Rechnungen aus unberechtigt geltend gemachten Vorsteuern, da insoweit auch eine
Steuerverkürzung vorliege.
b.
Kritische Würdigung und Bedeutung der Entscheidung für die Praxis
Das Urteil befasst sich mit einer von vielen Varianten eines fingierten Kettengeschäfts. Bei diesen
ist - ebenso wie bei Umsatzsteuerkarussellen - typisch, dass bei jedem der beteiligten
Unternehmen nur ein Teil des Gesamtsteuerschadens entsteht und häufig bei einzelnen
Unternehmen gar kein Schaden102.
96
BGH 1 StR 416/08 vom 02.12.2008, NJW 2009, 528, 531 m. w. Nachweisen
BGH 1 StR 342/08 vom 30.04.2009, NJW 2009, 3379, 3381
98 BGH 1 StR 342/08 vom 30.04.2009, NJW 2009, 3379, 3381
99 so auch schon BGH 5 StR 516/01 vom 11.07.2002, NJW 2002, 3036, 3039
100 BGH 5 StR 516/01 vom 11.07.2002, NJW 2002, 3036, 3039
101 so schon BGH 5 StR 544/00 vom 20.02.2011, NJW 2001, 3349; NStZ 2001, 380
102
vgl. allgemein zu Umsatzsteuerkarussell Hentschel, DStR 2003, 102 – 105, Joecks in
Franzen/Gast/Joecks, § 370 AO Rn. 233 n; Schauf in Kohlmann, § 370 AO, Rn. 1394 ff. m.w. Nachweisen
97
32
Hier erkennt der 1. Strafsenat, dass jedenfalls soweit den einzelnen Beteiligten die Struktur und die
Funktionsweise des Gesamtsystems bekannt sind, für die verschuldeten Auswirkungen der Tat der
vom Vorsatz umfasste, aus dem Gesamtsystem erwachsene deliktische Schaden maßgeblich ist.
Dieses entsprach im Wesentlichen auch schon der bisherigen Rechtsprechung 103.
Es verwundert in diesem Zusammenhang nicht, dass der 1. Strafsenat in seinem Urteil vom
30.04.2009 daher erkennen lässt, dass er die erstinstanzliche Strafaussetzung zur Bewährung der
Gesamtfreiheitsstrafe von 2 Jahren missbilligt.
Der 1. Strafsenat führt hierzu unter Hinweis auf § 56 StGB generalpräventive Erwägungen ins
Feld. Sog. „Ketten- und Karussellgeschäften“, bei denen durch Umsatzsteuerhinterziehung große
Steuerausfälle durch komplexe und aufwendige Täuschungssysteme entstehen, weisen nach seiner
Auffassung Merkmale einer organisierten Kriminalität im Sinne des § 110 a Abs. 1 Satz 1 Nr. 4
StPO auf104.
Der 1. Strafsenat hebt in seiner Entscheidung hervor, dass der BGH bereits mehrfach
ausgesprochen habe, dass bei Steuerhinterziehung beträchtlichen Umfangs auch von Gewicht sei,
die Rechtstreue der Bevölkerung, auch auf dem Gebiet des Steuerrechts zu erhalten105.
Die Vollstreckung einer Freiheitsstrafe könne sich daher „zur Verteidigung der Rechtsordnung als
notwendig erweisen, wenn die Tat Ausdruck einer verbreiteten Einstellung ist, die eine durch einen
erheblichen Unrechtserhalt gekennzeichnete Norm nicht ernstnimmt und von vornherein auf die
Strafaussetzung vertraut“106.
Die Vollstreckung einer Freiheitsstrafe zur Verteidigung der Rechtsordnung sei insbesondere dann
geboten, wenn eine Aussetzung der Strafe zur Bewährung im Hinblick auf schwerwiegende
Besonderheiten des Einzelfalls für das allgemeine Rechtsempfinden unverständlich erscheinen
müsste und dadurch das Vertrauen der Bevölkerung in die Unverbrüchlichkeit des Rechts
erschüttert werden könnte107.
Auch damit hat der 1. Strafsenat in Richtung der Tatrichter ein deutliches Signal zu einer von ihm
gewünschten höheren Strafe für Teilnehmer von Ketten- und Karussellgeschäften gesetzt.
Aufgrund der Zurechung des Gesamtschadens als verschuldete Auswirkung der Tat wird hier
daher zukünftig bei Ketten- und Karussellgeschäften wahrscheinlich häufiger – zumindest nach
dem Wunsch des 1. Strafsenats - eine zu vollziehende Freiheitsstrafe ausgesprochen werden.
Dem so tatrichterlich festzustellenden (höheren) Gesamtsteuerschaden wird zukünftig bei der
Strafzumessung als verschuldete Auswirkung der Tat nach § 46 Abs. 2 Satz 2 StGB daher ein
strafschärfenderes Gewicht zukommen.
103
so auch schon BGH 5 StR 516/01 vom 11.07.2002, NJW 2002, 3036, 3039
BGH 1 StR 342/08 vom 30.04.2009, NJW 2009, 3379, 3383
105 BGH 1 StR 342/08 vom 30.04.2009, NJW 2009, 3379, 3383
106 BGH 3 StR 280/83 vom 28.09.1983, NJW 1984, 2588, 2589
107 BGH 1 StR 342/08 vom 30.04.2009, NJW 2009, 3379, 3383
104
33
II.
Zur strafbewehrten Berichtigungspflicht nach § 153 AO
a.
Die Entscheidung 1 StR 479/08 vom 17.03.2009
Nach den Urteilsfeststellungen der Vorinstanz war der Angeklagte Geschäftsführer eines
Unternehmens, in dem seit Mitte des Jahres 2001 in der Buchhaltung Buchungsrückstände
bestanden, was zur Folge hatte, dass die erzielten Umsätze und gezahlten Vorsteuerbeträge
spätestens seit dem Jahr 2002 der EDV-Buchhaltung des Unternehmens nicht mehr entnommen
werden konnten, so dass aus diesem Grunde in den Jahren 2002 und 2003 die beim Finanzamt
eingereichten Umsatzsteuervoranmeldungen von einer angestellten Buchhaltungskraft manuell
anhand der vorliegenden Eingangs- und Ausgangsrechnungen erstellt wurden, wobei diese zu
geringe Umsatzsteuerbeträge enthielten.
Der Angeklagte erfuhr spätestens im 1. Halbjahr 2002 von den Rückständen in der Buchhaltung
und davon, dass die Umsatzsteuervoranmeldungen manuell erstellt wurden. Gleichwohl überprüfte
er die Voranmeldungen nicht.
Aufgrund einer für das Jahr 2003 angeordneten Umsatzsteuer-Nachschau durch das Finanzamt
wurde festgestellt, dass die angemeldeten Umsätze für die Monate Februar bis Mai 2003
tatsächlich hinter den erzielten Umsätzen zurücklagen, was dem Angeklagten mitgeteilt wurde und
von diesem auch als richtig anerkannt wurde.
Aufgrund der Mitteilung des Finanzamts rechnete der Angeklagte daher damit, dass auch die
Umsatzsteuervoranmeldungen für das Jahr 2002 unrichtig waren, gleichwohl unterließ er die
Abgabe einer richtigen Umsatzsteuerjahreserklärung, mit der er zugleich der sich aus § 153 AO
ergebenden Berichtigungspflicht hätte nachkommen können.
Die Vorinstanz verurteilte den Angeklagten daher wegen Steuerhinterziehung hinsichtlich des
Jahres 2002 zu einer Geldstrafe von 270 Tagessätzen. Die hiergegen eingelegte Revision des
Angeklagten hatte keinen Erfolg.
aa.
Berichtigungspflicht bei Hinterziehungsvorsatz
Bei der Anzeige- und Berichtigungspflicht nach § 153 AO handelt es sich nach Auffassung des 1.
Strafsenats um eine Erklärungspflicht im Sinne des § 370 Abs. 1 AO, deren gänzliche
Nichterfüllung ebenso strafbar ist wie die nur scheinbare Berichtigung mit erneut falschen
Angaben.
Ob eine solche Berichtigungspflicht gem. § 153 AO entsteht, hänge maßgeblich davon ab, ob und
ggf. wann der Steuerpflichtige von der Unrichtigkeit einer von ihm oder für ihn abgegebenen
Erklärung Kenntnis erlangt hat108, da ein nachträgliches „Erkennen“ begrifflich schon nur möglich
sei, wenn der Steuerpflichtige die Unrichtigkeit zunächst nicht gekannt hat.
108
BGH 1 StR 479/08 vom 17.03.2009, NJW 2009, 1984, 1985
34
Voraussetzung für eine Anzeige- und Berichtigungspflicht gem. § 153 AO sei somit, dass der
Steuerpflichtige zum Zeitpunkt der Abgabe der Erklärung keine Kenntnis von der Unrichtigkeit
der Erklärung hatte109. Nach Auffassung des 1 Strafsenats lassen sich daher - je nach
Kenntnisstand des Steuerpflichtigen - 3 Fallgruppen mit unterschiedlichen strafrechtlichen Folgen
unterscheiden.
Kennt der Steuerpflichtige bei Abgabe einer Steuererklärung deren Unrichtigkeit nicht und nimmt
er eine solche auch nicht billigend in Kauf, erlangt aber nachträglich Kenntnis von der
Unrichtigkeit der Angaben, trifft ihn die Anzeige- und Berichtigungspflicht des § 153 AO.
Kommt er dieser Pflicht vorsätzlich nicht nach, ist er strafbar wegen Steuerhinterziehung durch
Unterlassen gem. § 370 Abs. 1 Nr. 2 AO110. Hat der Steuerpflichtige „bewusst“ unrichtige
Steuererklärungen abgegeben, bestehe keine steuerrechtliche Anzeige- und Berichtigungspflicht
gem. § 153 AO, da er die Unrichtigkeit der Angaben von Anfang an kannte, somit bereits eine mit
direktem Vorsatz begangene Steuerhinterziehung vorliege und in diesem Falle ein nachträgliches
Erkennen bereits begrifflich ausgeschlossen sei111.
Anders sei der Fall aber zu beurteilen, wenn der Steuerpflichtige zunächst bei Abgabe der
Steuererklärung die Unrichtigkeit seiner Angaben nur „billigend in Kauf genommen“ habe, ohne
eine positive Kenntnis zu haben, sich somit bereits wegen einer bedingt vorsätzlich begangener
Steuerhinterziehung im Sinne des § 370 AO strafbar gemacht habe, und erst nachträglich erfährt,
dass die Angaben unrichtig waren.
Auch in diesem Fall besteht nach Auffassung des 1. Strafsenats eine steuerrechtliche Anzeige- und
Berichtigungspflicht nach § 153 AO, deren Unterlassen zu einer weiteren
Tatbestandsverwirklichung des § 370 Abs. 1 Nr. 2 AO führt112. Nach dem insoweit eindeutigen
Wortlaut des § 153 Abs.1 Satz 1 Nr. 1 AO erkenne auch derjenige die Unrichtigkeit seiner
Angaben nachträglich, der die Unrichtigkeit der Angaben zwar nicht sicher gekannt habe, sondern
nur damit gerechnet habe, wenn er später positiv erfährt, dass seine Angaben tatsächlich unrichtig
waren113.
Auch nach dem Sinn und Zweck der Vorschrift des § 153 Abs. 1 Nr. 1 AO sollen auch solche
Steuerpflichtige, die bereits bedingt vorsätzlich unrichtige Steuererklärungen abgebeben haben,
von der steuerrechtlichen Anzeige- und Berichtigungspflicht nicht ausgenommen werden.
Die Norm des § 153 AO diene der gesetzesmäßigen Besteuerung, in dem sie die in §§ 150 Abs. 2
AO, § 90 Abs. 1 Satz 2 AO konstituierte Wahrheitspflicht für Angaben in der Steuererklärung und
in anderen Erklärungen auch nach deren Abgabe fortbestehen lasse. Zudem solle durch § 153 AO
gewährleistet werden, dass die Finanzbehörde von Besteuerungsgrundlagen Kenntnis erhalte, die
ihr bislang noch nicht bekannt waren.
109
BGH 1 StR 479/08 vom 17.03.2009, NJW
BGH 1 StR 479/08 vom 17.03.2009, NJW
111 BGH 1 StR 479/08 vom 17.03.2009, NJW
112 BGH 1 StR 479/08 vom 17.03.2009, NJW
113 BGH 1 StR 479/08 vom 17.03.2009, NJW
110
2009, 1984, 1985
2009, 1984, 1985
2009, 1984, 1986
2009, 1984, 1986
2009, 1984, 1986
35
Die Verpflichtung zur Berichtigung nach bedingt vorsätzlicher Abgabe unrichtiger
Steuererklärungen führe auch nicht dazu, dass die Steuerhinterziehung damit zu einem Dauerdelikt
wurde114, denn sie treffe den Steuerpflichtigen erst dann, wenn er von der Unrichtigkeit seiner
Erklärung tatsächlich Kenntnis erlange, dann verwirkliche er aber nicht mehr den Tatbestand des §
370 Abs. 1 Nr. 1 AO, sondern aufgrund eines neuen Tatentschlusses den des § 370 Abs. 1 Nr. 2
AO115.
bb.
Keine Selbstbelastung
Auch der Umstand, dass der Steuerpflichtige mit der Berichtigung seine zunächst begangene
Steuerhinterziehung aufdecke, die er bei der Abgabe der unrichtigen Steuererklärung begangen
hat, stehe einer Strafbarkeit nach § 370 AO durch Nichtbeachtung der steuerrechtlichen Pflicht des
§ 153 AO nicht entgegen116. Nach Auffassung des 1. Strafsenats steht der verfassungsrechtlich
verankerte Grundsatz der Selbstbelastungsfreiheit („nemo tenetur se ipsum accussare“)117 dem
nicht entgegen, da Artikel 2 Abs. 1 GG keine lückenlosen Schutz gegen staatlichen Zwang zur
Selbstbelastung vorschreibe, ohne Rücksicht darauf, ob dadurch schutzwürdige Belange Dritter
beeinträchtigt würden118.
Es sei daher sachlich gerechtfertigt, dem Steuerpflichtigen eine wahrheitsgemäße Auskunft auch
dann abzuverlangen, wenn er damit eine Steuerstraftat oder eine Steuerordnungswidrigkeit
offenbaren muss119. Dieses gelte nach Auffassung des 1. Strafsenats auch für die
Berichtigungspflicht gem. § 153 AO nach vorangegangener bedingter Steuerhinterziehung. Denn
der Steuerpflichtige könne durch eine Selbstanzeige Straf- bzw. Sanktionsfreiheit erlangen, so dass
er sich nicht mehr in einer unauflösbaren Konfliktlage befinde, die im Hinblick auf den Grundsatz
der Selbstbelastungsfreiheit der steuerrechtlichen Berichtigungspflicht entgegenstehen könnte120.
Soweit in Einzelfällen - etwa weil wegen des Vorliegens eines Sperrgrundes (z. B. §§ 371 Abs. 2)
eine wirksame Selbstanzeige ausgeschlossen sei - ein unzumutbarer Zwang zur Selbstbelastung
bestehe, könnte diesem Umstand bei einer (bedingt) vorsätzlich begangenen Steuerstraftat durch
Annahme eines Beweismittelverwertungs- oder Verwertungsverbotes Rechnung getragen
werden121.
114
so aber die Wertung von Joecks in Franzen/Gast/Joecks, § 370 AO, Rn. 182
BGH 1 StR 479/08 vom 17.03.2009, NJW 2009, 1984, 1986
116 BGH 1 StR 479/08 vom 17.03.2009, NJW 2009, 1984, 1986
117 dazu grundlegend BGH 5 StR 587/00 vom 26.04.2001, NJW 2001, 3638, 3640 f.; BVerfG 1 BvR 116/77
vom 13.01.1981, NJW 1981, 1431
118 BGH 1 StR 479/08 vom 17.03.2009, NJW 2009, 1984, 1986
119 BverfG 2 BvR 330/88 vom 21.04.1998, wistra 1988, 302
120 BGH 1 StR 479/08 vom 17.03.2009, NJW 2009, 1984, 1986
121 BGH 1 StR 479/08 vom 17.03.2009, NJW 2009, 1984, 1987 unter Hinweis auf BVerfG, NJW 1981,
1431; BGH 5 StR 191/04 vom 12.01.2005, NJW 2005, 763
115
36
Nur wenn dem Täter wegen seiner mit bedingtem Hinterziehungsvorsatz abgegebenen
Steuererklärung bereits die Einleitung eines Steuerstrafverfahrens bekannt gegeben worden ist,
bejaht der 1. Strafsenat für die Dauer des Steuerstrafverfahrens eine Suspendierung der
Berichtigungspflicht nach § 153 AO122.
2.
Kritische Würdigung und Bedeutung der Entscheidung für die Praxis
Durch die Entscheidung wurde nunmehr erstmals höchstrichterlich entschieden, dass eine
Berichtigungspflicht nach § 153 AO auch dann besteht, wenn der Steuerpflichtige die
Unrichtigkeit seiner Angaben billigend in Kauf genommen hat und sich deshalb bereits durch die
Abgabe der unrichtigen Erklärung wegen bedingt vorsätzlich begangener Steuerhinterziehung
strafbar gemacht hat.
Dies war bisher vom BGH nicht entschieden worden.
Höchstrichterliche Rechtsprechungen zu steuerstrafrechtlichen Fragen im Zusammenhang mit §
153 AO sind eher selten 123.
In der Literatur war die Frage, ob eine solche steuerrechtliche Anzeige- und Berichtigungspflicht
gem. § 153 AO auch dann besteht, wenn der Steuerpflichtige erst nachträglich erfährt, dass er
unrichtige Angaben gemacht hat, er diese aber bereits bei Abgabe der Steuererklärung in Kauf
genommen hat und sich schon deshalb wegen bedingt vorsätzlich begangener Steuerhinterziehung
im Sinne des § 370 Abs. 1 Nr. 1 AO bereits strafbar gemacht hat umstritten, wobei das Schrifttum
diese Frage überwiegend verneint hat124.
Die Rechtsauffassung des 1. Strafsenats in seinem Beschluss vom 17.03.2009 ist daher in der
Literatur deutlich kritisiert worden, insbesondere unter dem Gesichtspunkt der
Selbstbelastungsfreiheit aber vor allem auch aufgrund der damit verbundenen
verjährungsrechtlichen Probleme125.
Gegen die Entscheidung wird zum einen eingewandt, dass die von dem 1. Strafsenat
vorgenommene Auslegung gegen den Wortlaut und Sinn und Zweck von § 153 AO verstoße126.
Die Auslegung des 1. Strafsenats, wonach auch noch der Steuerpflichtige zur „sicheren
Erkenntnis“ im Sinne des § 153 AO kommen kann, der zuvor bereits die Unrichtigkeit seiner
Angaben bei Abgabe der Steuererklärung billigend in Kauf genommen hat, widerspreche dem
Wortlaut und dem Sinn und Zweck von § 153 AO, wonach ein nachträgliches Erkennen zwar bei
122
BGH 1 StR 479/08 vom 17.03.2009, NJW 2009, 1984, 1987 unter Hinweis auf BGHSt 47, 8, 14
vgl. zur Übersicht der Rechtsprechung zu § 153 AO: Sackreuther, PStR 2009, 185 - 189
124 verneinend u.a.: Kohlmann, SteuerstrafR, § 370 AO, Rn. 332; Joecks in Franzen/Gast/Joecks, § 370 AO
Rn. 182; Cöster in Pahlke/Koenig, § 153, Rn. 19 f.; bejahend aber: Heuermann in
Hübschman/Hepp/Spitala, AO, § 253, Rn. 13
125 Siehe z.B. Wulf, PStR 2009, 190 f.; Sackreuther, PStR 2009, 185 ff.
126 Wulf, PStR 2009, 190, 192
123
37
einfach fahrlässigem und leichtfertigem Verhalten vorliegen kann, nicht aber noch bei einer (auch
bedingt) vorsätzlicher Abgabe einer unrichtigen oder unvollständigen Erklärung127.
Es könne naturgemäß nur derjenige etwas nachträglich erkennen, der nicht bereits die
entsprechende Kenntnis besitze128. Soweit der 1. Strafsenat unter „Kenntnis“ im Sinne des § 153
AO die „sichere Erkenntnis“ verlangt, hätte dieses als Umkehrschluss wiederum zur Folge, dass
die für einen Eventualvorsatz ausreichende Möglichkeitsvorstellung über das Vorliegen einer
falschen Erklärung als solche nicht mehr ausreichen würde, um die Pflichten des § 153 AO
auszulösen.
Dieses verstoße aber gegen den Sinn und Zweck von § 153 AO, da danach auch derjenige der
Anzeigepflicht des § 153 AO unterliegen solle, der das Vorliegen einer unrichtigen
Steuererklärung billigend in Kauf nehme129 .
Dieser Auslegung des Wortlauts des § 153 AO wird im Ergebnis zuzustimmen sein.
Die Auslegung des 1. Strafsenats, wonach auch derjenige noch „Kenntnis“ im Sinne des § 153 AO
erlangt, wenn er nach billigend in Kauf genommener Abgabe einer falschen Steuererklärung
nachträglich die „sichere Erkenntnis“ hinsichtlich der Unrichtigkeit erlangt, erscheint konstruiert
und ist dem Wortlaut des § 153 AO so nicht entnehmbar. Hätte der Gesetzgeber auch denjenigen,
der – auch bedingt - vorsätzlich unrichtige oder unvollständige Erklärungen abgibt, nach § 153 AO
in die strafrechtliche Verantwortung nehmen wollen, hätte er nicht die Formulierung „nachträglich
erkennen“ verwandt. Denn ein nachträgliches Erkennen ist begrifflich nur möglich, wenn zuvor
die Unrichtigkeit nicht gekannt wurde, wie auch der 1. Strafsenat einige Textziffern vor seiner
Auslegung erst ausgeführt hatte130.
Der 1. Strafsenat bleibt hinsichtlich seiner Auslegung auch eine nachvollziehbare Begründung
schuldig, sondern begründet seine Auslegung nachfolgend nur mit den besseren
Erkenntnismöglichkeiten des Steuerpflichtigen, aus denen er eine Garantenpflicht herleitet, die
ihre Rechtfertigung in dem „Fehler“ verursachenden Tun findet 131. Wer aber zuvor einen
„Fehler“ begangen hat, hat nicht bedingt vorsätzlich gehandelt. Gegen die Auffassung des 1.
Strafsenats bestehen auch erhebliche Bedenken wegen des verfassungsrechtlich verankerten
Grundsatzes der Selbstbelastungsfreiheit (nemo tenetur se ipsum accussare)132.
Der 1. Strafsenat begegnete – wohl erahnend, dass diese Bedenken gegen seine Auffassung
erhoben werden - in seiner Entscheidung diesen Bedenken mit dem Hinweis darauf, dass Artikel 2
Abs. 1 GG keinen lückenlosen Schutz gegen staatlichen Zwang zur Selbstbelastung vorschreibe
und der Steuerpflichtige durch eine Selbstanzeige die Möglichkeit hätte, regelmäßig Straf- bzw.
Sanktionsfreiheit zu erlangen und im Übrigen der Staat darauf angewiesen sei, die ihm gesetzlich
zustehenden Steuereinnahmen tatsächlich zu erzielen133.
127
so die h. M., vgl. Joecks in Franzen/Gast/Joecks, § 379, Rn. 182; Schuhmann, wistra 1994, 45, 46;
Samson, wistra 1990, 245, 246; Cöster in Pahlke/Koenig, AO, § 153, Rn. 19 f.
128 Helmrich, DStR 2009, 2132, 2134; Wulf, PStR 2009, 190, 191
129 Wulf, PStR 2009, 190, 192 mit Verweis auf FG München vom 06.09.2006, 1 K 55/06, EFG 2007, 161
130 BGH 1 StR 479/08 vom 17.03.2009, NJW 2009, 1984, 1985, Tz. 14.
131 BGH 1 StR 479/08 vom 17.03.2009, NJW 2009, 1984, 1985, Tz. 22.
132 so Wessing/Biesgen, NJW 2010, 2689, 2691, Helmrich, DStR 2009, 2132, 2134
133 BGH 1 StR 479/08 vom 17.03.2009, NJW 2009, 1984, 1986
38
Der Begründung, dass der Staat darauf angewiesen sei, die ihm gesetzlich zustehenden
Steuereinnahmen tatsächlich zu erzielen, ist entgegenzuhalten, dass bezweifelt werden muss, ob
eine Ausnahme von dem nemo-tenetur-Grundsatz allein wegen des fiskalischen Interesses des
Staates auf die ihm gesetzlich zustehenden Steuereinnahmen geboten sein kann134.
Auch das Argument des 1. Strafsenats, dass kein Verstoß gegen den nemo-tenetur-Grundsatz
vorliege, da der Steuerpflichtige ja regelmäßig die Möglichkeit habe, Straf- bzw. Sanktionsfreiheit
durch eine Selbstanzeige zu erlangen, vermag im Ergebnis nicht zu überzeugen.
Die Auffassung des 1. Strafsenats, wonach sich der Steuerpflichtige aufgrund der Möglichkeit
einer Selbstanzeige nicht in einer unauflösbaren Konfliktlage befindet, die mit dem nemo-teneturGrundsatz kollidieren würde, wird vielmehr durch § 371 Abs. 1 AO nicht gedeckt.
Mit der Möglichkeit der Selbstanzeige eröffnet der Gesetzgeber den Beteiligten einer
Steuerhinterziehung einen Weg zurück in die Legalität, zwingt sie aber gerade nicht dazu, sich
selbst einer Straftat bzw. Ordnungswidrigkeit zu bezichtigen135.
Darüber hinaus ist zur Erlangung der Straffreiheit durch eine Selbstanzeige nicht nur erforderlich,
dass der Steuerpflichtige seine Angaben gegenüber den Finanzbehörden berichtigt (i.S.d. § 153
AO), sondern zusätzlich noch die aus der Berichtigung resultierenden Steuern fristgerecht
nachzahlen kann136.
Genau dieses ist in der Praxis aber vielen Steuerpflichtigen, die zuvor eine Steuerhinterziehung
begangen haben, nicht möglich, so dass aus diesem Grund in solchen Fällen schon Selbstanzeigen
unterbleiben.
Das Argument des 1. Strafsenats, dass kein Verstoß gegen den nemo-tenetur-Grundsatz vorliegt,
da ja die Möglichkeit der Selbstanzeige bestehe, kann somit nur für den Steuerhinterzieher gelten,
der auch tatsächlich in der finanziellen Lage ist, die aus einer Berichtigung seiner Angaben
resultierenden Steuern zahlen zu können.
Der Steuerhinterzieher, der nach Auffassung des 1. Strafsenats und dessen Interpretation des § 153
AO sich selbst der Steuerhinterziehung bezichtigen muss, um nicht eine weitere
Steuerhinterziehung zu begehen, aber über die finanziellen Mittel zur Erlangung der Straffreiheit
nicht verfügt, befindet sich jedoch trotz der – theoretischen - Möglichkeit einer Selbstanzeige
weiter in einer unauflösbaren Konfliktlage, da er sich zwar selber einer vorherigen
Steuerhinterziehung bezichtigen müsse, jedoch die mit einer Selbstanzeige erhoffte Straffreiheit
nicht wird erlangen können.
134
Wessing/Biesgen, NJW 2010, 1589, 2691
Helmrich, DStR 2009, 2132, 2134
136 vgl. § 371 Abs. 3 AO und § 398a AO n.F., der bei Überschreiten von Hinterziehungsbeträgen von €
50.000 noch einen weiteren Geldbetrag von 5 % der hinterzogenen Steuer vorsieht, damit von der
Verfolgung der Tat abgesehen wird
135
39
Der 1. Strafsenat, der dieses Problem wohl zumindest gesehen hat, versucht diese Zwangslage
durch den Hinweis auf ein Beweismittelverwertungs- oder -verwendungsverbot zu lösen137 ohne
dieses jedoch näher zu beschreiben oder zu erklären, wie dieses außergesetzliche
Beweismittelverwertungs- oder -verwendungsverbot in der Praxis angewandt werden soll.
Ein solches Beweismittelverwertungs- oder –verwendungsverbot unterstellt, hätte zur Folge, dass
der Steuerhinterzieher, der seine falschen Angaben gegenüber dem Finanzamt berichtigt, ohne in
der Lage zu sein, die darauf entfallenden Steuern zu zahlen, hinsichtlich seiner ersten (bedingt)
vorsätzlich begangenen Steuerhinterziehung einem Beweismittelverwertungs- oder verwendungsverbotes
unterliegen
würde
und
hinsichtlich
seiner
nachfolgenden
Berichtigungspflicht nach § 153 AO durch diese eine weitere Steuerstraftat durch Unterlassen
verhindert hätte, so dass er - trotz vorheriger bedingter Steuerhinterziehung - straffrei bleiben
müsste.
Dieses würde in der Praxis zu einem Ergebnis führen, dass weder dem Sinn und Wortlaut des §
371 AO noch des § 153 AO entsprechen würde.
Im Ergebnis würde dieses dazu führen, dass der Steuerhinterzieher, der über nicht ausreichende
liquide Mittel verfügt, um von der Selbstanzeige Gebrauch zu machen, von der
Berichtigungspflicht des § 153 AO Gebrauch machen würde und – zumindest den Versuch
unternehmen würde – sich bei der Abgabe der falschen Steuererklärung auf bedingten Vorsatz zu
berufen, um doch noch die Straffreiheit zu erlangen.
Gegen das vom 1. Strafsenat als Argument gegen die Bedenken des Grundsatzes der
Selbstbelastungsfreiheit angeführte „Verwertungsverbot“ wird daher zurecht eingewandt, dass
dieses in der Praxis keine Wirksamkeit entfalten kann138. Darüber hinaus hätte die Auslegung des
1. Strafsenats zur Folge, dass der Steuerpflichtige, welcher zunächst mit direktem Vorsatz eine
unrichtige Steuererklärung abgibt, unter dem Gesichtspunkt der Strafverfolgungsverjährung besser
gestellt wäre als der zunächst bedingt vorsätzlich handelnde Steuerpflichtige.
Strafrechtliche Verjährung tritt in den Fällen einfacher Steuerhinterziehung gemäß § 78 Abs. 3 Nr.
4 StGB in 5 Jahre - bzw. in Fällen eines verwirklichten Regelbeispiels des § 370 Abs. 3 Satz 2 Nr.
1 - 5 AO – gemäß § 376 Abs. 1 AO in 10 Jahren nach Bekanntgabe des auf die unrichtige
Steuererklärung folgenden Steuerbescheids ein139. Die Tat des mit direktem Vorsatz handelnden
Steuerhinterziehers verjährt somit – mangels einer Berichtigungspflicht nach § 153 AO – in 5 bzw.
10 Jahren.
Der Auffassung des 1. Strafsenats folgend, wonach ein zunächst (nur) bedingt vorsätzlich
handelnder Täter, der die Unrichtigkeit der von ihm falsch abgegebenen Steuererklärung „mit
sicherer Erkenntnis“ nachträglich erkennt und dennoch seiner Berichtigungspflicht nach § 153 AO
nicht nachkommt, hierdurch eine (weitere) Steuerhinterziehung durch Unterlassen gem. § 370
Abs. 1 Nr. 2 AO verwirklicht, würde zum Lauf einer neuen 5- bzw. 10jährige strafrechtliche
Verjährungsfrist führen.
137
BGH 1 StR 479/08 vom 17.03.2009, NJW 2009, 1984, 1987
Wulf, PStR, 2009, 190, 195
139 vgl. zur Verjährungsproblematik die Ausführungen unter B., I.,1.,c., bb.
138
40
Im Ergebnis würde dieses für den zunächst bedingt vorsätzlich handelnden und nachträglich
erkennenden Steuerhinterzieher bedeuten, dass seine strafrechtliche Verjährung vielleicht erst 10
oder 20 Jahre nach Einreichung der unrichtigen Steuererklärung eintreten würde, sich seine
Strafverfolgungsverjährung – gegenüber dem bei Abgabe bewusst handelnden Täter – sogar
verdoppeln könnte.
Die Konsequenz der Auffassung des 1. Strafsenats würde somit - für diesen Fall - quasi zur
Abschaffung der gesetzlich vorgesehenen Strafverfolgungsverjährung führen140.
Auch verfahrensrechtlich hätte die Auffassung des 1. Strafsenats weitere Folgen für die
Feststellungen des Tatgerichts. Dieses hätte für den Fall, dass dem Angeklagten (nur) eine bedingt
vorsätzliche Steuerhinterziehung nach § 370 Abs. 1 Nr. 1 AO nach den Feststellungen des
Tatgerichts zur Last gelegt werden kann, die Pflicht auch zu untersuchen, ob der Angeklagte nach
Abgabe der unrichtigen Erklärung später die sichere Kenntnis erlangt hat, dass seine Erklärung
unrichtig war.
Dieses wird in der Praxis zu erschwerten Sachverhaltsermittlungen für die gerichtliche
Feststellung führen.
III.
Zur strafbefreienden Selbstanzeige nach § 371 AO
1.
Die Entscheidung 1 StR 577/09 vom 20.05.2010
Nach den Urteilsfeststellungen der Vorinstanz wurde in dem gegen den Angeklagten geführten
Ermittlungsverfahren wegen des Verdachts der Hinterziehung von Einkommensteuer für die
Veranlagungszeiträume 2001 und 2002 die Wohnung des Angeklagten und die Kanzlei seines
Steuerberaters durchsucht.
Hierbei ergaben sich Anhaltspunkte dafür, dass der Angeklagte auch bereits für die Jahre 1999 und
2000 Einkommensteuer verkürzt hatte. Nachdem dem Angeklagten mündlich die
Verfahrenserweiterung für die Jahre 1999 und 2000 eröffnet war, übergab der Steuerberater des
Angeklagten den Fahndungsbeamten aufbereitete Unterlagen zur Höhe der in den
Veranlagungszeiträume 1999 und 2000 erzielten Einkünfte.
Die Verteidigung des Angeklagten versuchte, die für die Jahre 1999 und 2000 im Rahmen der
Durchsuchung abgegebenen Unterlagen als Selbstanzeige zu werten, um so eine Verurteilung
wegen Steuerhinterziehung auch für diese Jahre zu verhindern.
Die Vorinstanz verneinte ebenso wie der 1. Strafsenat das Vorliegen einer wirksamen
Selbstanzeige. Seinen die Revision des Angeklagten zurückweisenden Beschluss vom 20.05.2010
140
so ausdrücklich Wulf, PStR 2009, 190, 194
41
nahm der 1. Strafsenat zum Anlass - wiederum in einer „obiter dicta“ Entscheidung –
umfangreiche Ausführungen zu den Voraussetzungen einer strafbefreienden Selbstanzeige nach §
371 AO zu machen141.
a.
Teilselbstanzeige reicht für Strafbefreiung nicht aus
Unter Berufung auf die ständige Rechtsprechung des BGH142 führt der 1. Strafsenat in seiner
Entscheidung zunächst aus, dass mit der Selbstanzeige nach § 371 AO als persönlicher
Strafaufhebungsgrund aus fiskalischen Gründen für den Steuerhinterzieher ein Anreiz geschaffen
werden soll, von sich aus den Finanzbehörden bisher verheimlichte Steuerquellen durch
wahrheitsgemäße Angaben zu erschließen. Allein fiskalische Interessen an der Entrichtung
hinterzogener Steuern könnten diese Privilegierung aber schwerlich rechtfertigen, hinzu kommen
muss nach seiner Auffassung vielmehr die Rückkehr zur Steuerehrlichkeit; diese solle honoriert
werden143.
Im Hinblick darauf, dass der fiskalische Zweck, noch unbekannte Steuerquellen zu erschließen,
angesichts der heute bestehenden Ermittlungsmöglichkeiten und der verbesserten internationalen
Zusammenarbeit zunehmend an Bedeutung verloren hat, erlange der weitere Zweck der
Selbstanzeige, die Rückkehr zur Steuerehrlichkeit zusätzliches Gewicht für den Verzicht auf den
gesetzlichen Strafanspruch.144.
Eine Rückkehr zur Steuerehrlichkeit sei nach Auffassung des 1. Strafsenats aber nur dann
gegeben, wenn der Täter vollständige und richtige Angaben, mithin „reinen Tisch“, so die
Formulierung des 1. Strafsenats, mache. Erst dann liege eine strafbefreiende Selbstanzeige im
Sinne des § 371 Abs. 1 AO vor145.
Diese Interpretation des § 371 Abs. 1 AO leitet der 1. Strafsenat aus dem Wortlaut des § 371 Abs.
1 AO ab. Danach mache die Benennung aller denkbaren Handlungsvarianten in § 371 Abs. 1 AO
zur Korrektur von unrichtigen und unvollständigen Angaben deutlich, dass das Gesetz die
vollständige Rückkehr zur Steuerehrlichkeit will146.
Dass eine Teilselbstanzeige zulässig sein könnte, lasse sich nach seiner Auffassung auch nicht aus
dem Wortlaut des § 371 AO ableiten, wonach derjenige, der Angaben berichtigt, „insoweit“
straffrei wird, denn diese Einschränkung beziehe sich nicht auf den Umfang der gemachten
Angaben, sondern allein auf den Umfang der Strafbefreiung, „insoweit“ bedeute daher namentlich
nur, dass neben der Straffreiheit für Steuerdelikte ein Täter, der zusätzlich andere Straftaten
141
BGH 1 StR 577/09 vom 20.05.2010, DStR 2010, 1133 ff.
BGH 3 StR 10/87 vom 12.08.1987, BGHSt 35, 36, 37, NJW 1988, 1679;
BGH, wistra 2004, 309, 310 m.w.N.
143 BGH 1 StR 577/09 vom 20.05.2010, DStR 2010, 1133 unter Verweis auf
BGH 1 StR 370/58 vom 11.11.1958, BGHSt 12, 100, 101 zu § 410 AbgO,
BGH 3 StR 315/84 vom 24.10.1984, wistra 1985, 74 zu § 371 AO
144 BGH 1 StR 577/09 vom 20.05.2010, DStR 2010, 1133
145 BGH 1 StR 577/09 vom 20.05.2010, DStR 2010, 1133
146 BGH 1 StR 577/09 vom 20.05.2010, DStR 2010, 1133
142
42
begangen habe, Straffreiheit nur wegen der Steuerhinterziehung erlangen könne147. Der 1.
Strafsenat hält daher eine Teilselbstanzeige nicht für ausreichend, um die Strafbefreiung zu
erlangen, denn hier fehle gerade die Rückkehr zur vollständigen Steuerehrlichkeit148.
Soweit in der Rechtsprechung des BGH bislang eine solche Teilselbstanzeige als wirksam
angesehen worden sei, weil das Wort „insoweit“ in § 371 Abs. 1 AO eine auch nur teilweise
Nachholung fehlender zutreffender Angaben erlaube149, hält der 1. Strafsenat an dieser
Rechtsprechung ausdrücklich nicht fest150.
Nach Auffassung des 1. Strafsenats sind insbesondere sogenannte dolose Selbstanzeigen, bei
denen ein Steuerpflichtiger seine unvollständigen Angaben nur dahingehend „berichtigt“, dass er
von bisher gänzlich verschwiegenen Zinseinkünften nur diejenigen eines Kontos angibt, aber
immer noch weitere Konten verschweigt, weil er insoweit keine Entdeckung durch die
Finanzbehörden befürchtet, nicht ausreichend, um die Strafbefreiung zu erlangen 151.
c.
Sperrwirkungen nach § 371 Abs. 2 AO
In seinem Beschluss vom 20.05.2010 nahm der 1. Strafsenat auch ausführlich zu den
Sperrwirkungen der § 371 Abs. 2 Nr. 1 a 2. Alt. AO und § 371 Abs. 2 Nr. 2 AO Stellung, wonach
eine Straffreiheit durch eine Selbstanzeige dann nicht eintritt, wenn ein Amtsträger der
Finanzbehörde zur Ermittlung einer Steuerstraftat oder Steuerordnungswidrigkeit erschienen ist
bzw. die Tat im Zeitpunkt der Berichtigung bereits entdeckt ist. Der 1. Strafsenat hält die
Strafbefreiung nach § 371 AO im Hinblick auf den Verzicht auf den staatlichen Strafanspruch für
eine Ausnahmevorschrift, die daher restriktiv auszulegen sei. Diese restriktive Auslegung habe
daher auch Auswirkungen auf die Auslegung der Sperrgründe des § 371 Abs. 2 AO152.
Nach seiner Auffassung erfordere der Normzweck des § 371 AO, bisher unbekannte Steuerquellen
zu erschließen, die Erstreckung der Sperrwirkung nach § 371 Abs. 2 Nr. 1 a 2. Alt. AO auch auf
solche steuerlichen Sachverhalte, bei denen - soweit sie nicht bereits von dem bisherigen
Ermittlungswillen erfasst sind - unter Berücksichtigung des bisherigen Überprüfungsziels
einerseits und den steuerlichen Gegebenheiten des beschuldigten Steuerpflichtigen andererseits bei
üblichem Gang des Ermittlungsverfahrens zu erwarten ist, dass sie ohnehin in die Überprüfung
einbezogen würden153.
Die Sperrwirkung nach § 371 Abs. 2 Nr. 1 a 2. Alt. AO erstrecke sich daher auch auf solche
Sachverhalte, bei denen sich die neuen Tatvorwürfe lediglich auf weitere Besteuerungszeiträume
147
BGH 1 StR 577/09 vom 20.05.2010, DStR 2010, 1133
BGH 1 StR 577/09 vom 20.05.2010, DStR 2010, 1133, unter Verweis auf BGH 5 StR 253/92 vom
13.10.1992, wistra 1993, 66, 68
149 so noch BGH 3 StR 583/87 vom 20.07.1988, wistra 1988, 356; BGH 5 StR 392/98 vom 13.10.1998,
wistra 1999, 27
150 BGH 1 StR 577/09 vom 20.05.2010, DStR 2010, 1133
151 BGH 1 StR 577/09 vom 20.05.2010, DStR 2010, 1133
152 BGH 1 StR 577/09 vom 20.05.2010, DStR 2010, 1133
153 BGH 1 StR 577/09 vom 20.05.2010, DStR 2010, 1133 unter Verweis auf Jäger, wistra 2000, 227, 228
148
43
hinsichtlich derselben Steuerart bei identischen Einkunftsquellen erstrecke, da der Amtsträger in
einem solchen Fall auch „zur Ermittlung“ zusammenhängender Taten erschienen sei154.
Der Sperrgrund des § 371 Abs. 2 Nr. 2 AO wiederum durch Entdecken der Tat sei nicht nur dann
erfüllt, wenn ein Abgleich mit den Steuererklärungen des Steuerpflichtigen ergibt, dass die
Steuerquelle nicht oder unvollständig angegeben wurde, sondern schon bereits vor einem Abgleich
denkbar, nämlich wenn Art und Weise der Verschleierung von Steuerquellen nach
kriminalistischer Erfahrung ein signifikantes Indiz für unvollständige oder unrichtige Angaben
ist155.
Entgegen einer früheren Auffassung156 sei hierzu ein hinreichender Tatverdacht zur Tatentdeckung
im Sinne des § 371 Abs. 2 Nr. 2 AO im Sinne der §§ 170 Abs. 1, 203 StPO gerade nicht
erforderlich, ebenso wenig wie die Täterermittlung, da das Gesetz - anders als bei § 203 StPO - nur
an die Entdeckung der Tat, nicht aber an der des Täters anknüpft157.
Ebenso wenig sei erforderlich, dass die tatsächlichen Besteuerungsgrundlagen bereits soweit
bekannt sind, dass der Schuldumfang verlässlich beurteilt werden kann158
Schon nach der bisherigen Rechtsprechung des BGH159 liege eine Tatentdeckung bereits dann vor,
wenn bei vorläufiger Tatbewertung die Wahrscheinlichkeit eines verurteilenden Erkenntnisses
gegeben ist. Ist das Vorliegen eines Sachverhalts wahrscheinlich, der die Aburteilung als
Steuerstraftat oder -ordnungswidrigkeit rechtfertigen würde, ist die Tat nach Auffassung des 1.
Strafsenats daher entdeckt und die Sperrwirkung des § 371 Abs. 2 Nr. 2 AO eingetreten160.
2.
Kritische Würdigung und Bedeutung der Entscheidung für die Praxis
Die für die Praxis bedeutsamsten Ausführungen des 1. Strafsenats in seinem Beschluss vom
20.05.2010 betreffen den – insoweit neuen - Ausschluss der strafbefreienden Wirkung sogenannter
„Teilselbstanzeigen“. Die diesbezüglichen Ausführungen des Strafsenats stießen überwiegend auf
Unverständnis in der Praxis, da der 1. Strafsenat wiederum in einer „obiter dicta“ Entscheidung
eine gravierende Änderung der bisherigen Rechtsprechung vollzogen hat. Ein fallbezogener
Anlass bestand hierzu aber nicht, da sich der 1. Strafsenat bei dem zu entscheidenden Fall damit
hätte begnügen können, die Strafaufhebung schlicht gem. § 371 Abs. 2 Nr. 1 b AO an der
Bekanntgabe des erweiterten Ermittlungsverfahrens für die Jahre 1999 und 2000 hätte scheitern
lassen und die Revision aus diesem Grunde schon gem. § 349 Abs. 2 StPO hätte verwerfen
können161.
154
BGH 1 StR 577/09 vom 20.05.2010, DStR 2010, 1133
BGH 1 StR 577/09 vom 20.05.2010, DStR 2010, 1133, 1135
156 vgl. hierzu Schauff in Kohlmann, § 371 AO, Rn. 204; Randt/Schauff, DStR 2008, 489, 490
157 BGH 1 StR 577/09 vom 20.05.2010, DStR 2010, 1133, 1135 unter Verweis auf BGH vom 04.05.1983 - 2
StR 661/82, NStZ 1983, 415; BGH 5 StR 548/03 vom 05.05.2004, wistra 2004, 309
158 BGH 1 StR 577/09 vom 20.05.2010, DStR 2010, 1133, 1135 unter Verweis auf BGH 5 StR 226/99 vom
05.04.2000, wistra 2000, 219, 226
159 BGH 5 StR 226/99 vom 05.04.2000 wistra 2000, 219, 225
160 BGH 1 StR 577/09 vom 20.05.2010, DStR 2010, 1133, 1135
161 so Saldit, PStR 2010, 168; Schmitz, Steuer Consultant 2011, 15
155
44
Stattdessen nahm der 1. Strafsenat so grundlegend zu dem Institut der Selbstanzeige Stellung, dass
nicht nur in der Literatur kontrovers über die Auslegung der Entscheidung und seine
Konsequenzen für die Praxis diskutiert wurde, sondern sich sowohl die Finanzverwaltung in einem
unmittelbar einen Monat nach dem Beschluss folgenden Erlass162 veranlasst sah, ihre Auslegung
des Beschlusses des 1. Strafsenats darzulegen als auch der Gesetzgeber unterstützt von den
Ausführungen des 1. Strafsenats dazu veranlasst sah, das Recht der Selbstanzeige mit dem
sogenannten „Schwarzgeldbekämpfungsgesetz“163 neu zu normieren.
a.
Vollständige Rückkehr zur Steuerehrlichkeit
Der 1. Strafsenat handhabt die Selbstanzeige als Verzicht auf den staatlichen Strafanspruch
restriktiv, indem er für diese Privilegierung des Straftäters gegenüber anderen Straftätern eine
doppelte Rechtfertigung fordert.
Allein fiskalische Interessen an der Entrichtung hinterzogener Steuern sollen für die Privilegierung
des Steuerstraftäters nicht ausreichen.
Hierzu beruft er sich auf Gesetzesmaterialien zu § 410 RAO, dem die Rückkehr zur
Steuerehrlichkeit, die mit dem Verzicht auf den staatlichen Strafanspruch letztendlich honoriert
werden solle, zu entnehmen seien164.
Unter Zugrundelegung dieser doppelten Rechtfertigung hält der 1. Strafsenat eine
Teilselbstanzeige nicht mehr für ausreichend, sondern fordert vielmehr die Rückkehr zur
„vollständigen Steuerehrlichkeit“165.
Bislang war es infolge des Wortlauts des § 371 Abs. 1 AO und im Hinblick auf den
primärfiskalischen Normzweck der Selbstanzeige allgemeine Meinung, dass auch eine
Teilselbstanzeige wirksam ist166.
So hatte noch der 5. Senat167 in der Vergangenheit - in Übereinstimmung mit der Literatur168 - das
Wort „insoweit“ in § 371 Abs. 1 AO dahingehend ausgelegt, dass der Steuerpflichtige straffrei
162
Erlass des Finanzministeriums Nordrhein-Westfalen vom 25.06.2010
(S 0702-9-V A 1)
163 Gesetz zur Verbesserung der Bekämpfung von Geldwäsche und Steuerhinterziehung vom 28.04.2011,
BGBL I, 676 ff.
164 BGH 1 StR 577/09 vom 20.05.2010, DStR 2010, 1133; so auch wohl auch die Auffassung von Meyberg,
PStR 2010, 162, 163; vgl. auch die Gesetzesmaterialien zu § 410 RAO 1951, BT-Drs. I/2395
165 BGH 1 StR 577/09 vom 20.05.2010, DStR 2010, 1133, 1134
166 BGH 3 StR 30/87 vom 12.08.1987, wistra 1987, 342 sowie BGH 3 StR 583/87 vom 20.07.1988, wistra
1988, 356 jeweils noch zur Selbstanzeige für einzelne Jahre im Zusammenhang mit einer fortgesetzten Tat
167 BGH 5 StR 392/98 vom 13.10.1998, wistra 1999, 27, 28
168 so nahezu einheitlich die Kommentarliteratur: Schauf in Kohlmann, § 371 Rn. 66.1; Joecks in
Franzen/Gast/Joecks, § 371 Rn. 75
45
werde, soweit seine Selbstanzeige reiche, also ggf. über den in der Selbstanzeige enthaltenen
Teilbetrag der Steuerhinterziehung.
Die vom 1. Strafsenat nunmehr geforderte doppelte Rechtfertigung, wonach nicht nur die
alleinfiskalischen Interessen an der Entrichtung der hinterzogenen Steuern ausreichen, wird daher
vom überwiegenden Teil der Literatur abgelehnt, da die nur im Abgabenstrafrecht zu findende
Selbstanzeige des § 371 AO als rein fiskalisch motiviert verstanden wird, mit dem Ziel,
unbekannte Finanzquellen zugunsten des Staates zu erschließen, wofür der Staat im Gegenzug auf
seinen Strafanspruch verzichtet169.
Darüber hinaus hatte der 1. Strafsenat selber noch in seinem Beschluss vom 17.03.2009
ausdrücklich den fiskalischen Zweck des § 153 AO betont 170 und mit dieser Begründung die
steuerrechtliche Anzeige- und Berichtigungspflicht des § 153 AO auch gefordert, wenn der
Steuerpflichtige sich dadurch einer vorherigen Steuerhinterziehung selber bezichtigen müsste.
Auch die Auslegung des 1. Strafsenats, dass der Wortlaut des § 371 Abs. 1 AO die Rückkehr zur
vollständigen Steuerehrlichkeit verlangt, vermag nicht zu überzeugen.
Der 1. Strafsenat vertritt die Auffassung, dass das in § 371 Abs. 1 AO enthaltene Wort „insoweit“
sich nicht auf den Umfang der gemachten Angaben bezieht, sondern allein auf den Umfang der
Strafbefreiung und lediglich ausdrücken soll, dass der Steuerhinterzieher durch seine
Nacherklärung keine Strafbefreiung für Nicht-Steuerstraftaten erlangen könne171.
Diese Auslegung erscheint auch schon deshalb nicht nachvollziehbar, weil sich bereits der
Wortlaut des § 371 Abs. 1 AO ausschließlich auf die Steuerhinterziehung des § 370 AO bezieht
(„Wer in den Fällen des § 370...“)172 und darüber hinaus nicht nachvollziehbar sei, weshalb der
Gesetzgeber in einem ausdrücklich nur für das Steuerrecht geltenden Gesetz (vgl. § 1 Abs. 1 AO)
Anordnung auch für außersteuerliche Zwecke und Straftaten getroffen haben sollte173.
Bezeichnenderweise ist in diesem Zusammenhang anzumerken, dass der Gesetzgeber bei der
Novellierung des § 371 Abs. 1 AO durch das am 03.05.2011 in Kraft getretene
Schwarzgeldbekämpfungsgesetz174 den Terminus „insoweit“ in § 371 Abs. 1 AO hat fallen
gelassen und nunmehr stattdessen die Berichtigung der unrichtigen Angaben „zu allen
169
Wegener, PStR 2010, 121, 122; Gaede, PStR 2010, 282, 284; so auch noch BGH 5 StR 548/03 vom
05.05.2004, wistra 2004, 309, 310; BGH 3 StR 10/87 vom 12.08.1987, BGHSt 35, 36, 37
170 Wessing/Briesken, NJW 2010, 2689, 2692
171 BGH 1 StR 577/09 vom 20.05.2010, DStR 2010, 1133, 1134
172 vgl. § 371 a.F.: „Wer in den Fällen des § 370 unrichtige oder unvollständige Angaben bei der
Finanzbehörde berichtigt oder ergänzt oder unterlassene Angaben nachholt, wird insoweit straffrei.“
173 so auch Webel, PStR 2010, 189, 190, Gaede, PStR 2010, 282, 284; Wulf, wistra 2010, 286, 290;
Schmitz, Steuer Consultant 2011, 15, 17; a.A. wohl Meyberg, PStR 2010, 162, 164
174 Gesetz zur Verbesserung der Bekämpfung von Geldwäsche und Steuerhinterziehung vom 28.04.2011,
BGBL I, 676 ff.
46
unverjährten Steuerstraftaten einer Steuerart“ verlangt und „wegen dieser Steuerstraftaten“ eine
Straffreiheit ankündigt175.
Der 1. Strafsenat fordert zur Wirksamkeit einer Selbstanzeige die „vollständige Rückkehr zur
Steuerehrlichkeit“. Er definiert diese jedoch nicht, sondern belässt es nur dabei, diese an einem
Beispiel mit zwei Konten zu verdeutlichen176. In der Literatur war somit fraglich, was der 1.
Strafsenat mit „vollständige Rückkehr zur Steuerehrlichkeit“ gemeint haben könnte, insbesondere,
weil er umgangssprachlich verlangte, dass „reiner Tisch“ gemacht werden müsse.
Die anfangs bestehende Unsicherheit in der Literatur177 wird verständlich, wenn man
berücksichtigt, dass die steuerrechtliche Festsetzungsverjährung bei Steuerhinterziehung nach §
169 Abs. 2 Satz 2 AO mit 10 Jahren anders geregelt ist als die strafrechtliche Verjährung, die nach
§ 78 Abs. 3 Nr. 4 StGB in Fällen einfacher Steuerhinterziehung 5 Jahre beträgt und erst in Fällen
schwerer Steuerhinterziehung gem. § 376 AO 10 Jahre.
Unklar war somit, ob der 1. Strafsenat mit der „vollständige Rückkehr zur Steuerehrlichkeit“ die
Berichtigung aller noch der steuerlichen Festsetzungsverjährung unterliegenden Jahre gemeint
haben könnte oder nur die strafrechtlich noch nicht verjährten Jahre berichtigt werden müssten.
Die Selbstanzeige ist sowohl nach herrschender Literaturmeinung178 als auch nach der
Rechtsprechung des BGH179 ein persönlicher Strafaufhebungsgrund des materiellen Rechts. Das
Vorliegen der Voraussetzung ist daher bezogen auf jede einzelne Tat im materiellen Sinne zu
prüfen180. Die materielle Tat wiederum wird im Steuerstrafrecht regelmäßig definiert durch den
Steuerpflichtigen, die Steuerart und den Veranlagungszeitraum181.
Während einzelne Vertreter von finanzbehördlichen Ermittlungsbehörden und Staatsanwaltschaft
den 1. Strafsenat so interpretieren, dass für den gesamtem strafrechtlich relevanten
Verfolgungszeitraum und für alle Steuerarten „reiner Tisch“ gemacht werden muss 182, um in den
Genuss der Straffreiheit zu kommen, geht die herrschende Literaturauffassung davon aus, dass
auch der 1. Strafsenat mit seinem Erfordernis der „vollständige Rückkehr zur Steuerehrlichkeit“
weiter abstellt auf die jeweilige materielle Tat, definiert durch die Steuerart und den
Veranlagungszeitraum183.
vgl. § 371 AO n.F.: „Wer gegenüber der Finanzbehörde zu allen unverjährten Steuerstraftaten einer
Steuerart in vollem Umfang die unrichtigen Angaben berichtigt, die unvollständigen Angaben ergänzt oder
die unterlassenen Angaben nachholt, wird wegen dieser Steuerstraftaten nicht nach § 370 bestraft“.
176 hierzu kritisch: Saldit, PStR 2010, 168, 173
177 Schmitz, Steuer Consultant 2011, 15, 17
178 Wulf, wistra 2010, 286, 290; Wegner, PStR 2010, 121, 122
179 BGH 5 StR 548/03 vom 05.05.2004, wistra 04, 310
180 Wulf, wistra 2010, 286, 290
181 h.M.: Wulf, wistra 2010, 286, 290; BGH 5 StR 226/99 vom 05.04.2000, 219, 225
182 so Roth /Schützeberg, PStR 2010, 214, 216
183 vgl. Wulf, wistra 2010, 286, 290; Salditt, PStR 2010, 168, 173; Roth / Schützeberg, PStR 2010, 214, 216
175
47
Unterstützt wird diese Auslegung auch durch die Äußerungen des an der Entscheidung
mitwirkenden Richters am BGH Prof. Dr. Jäger anlässlich des „12. IWW-Kongresses PraxisSteuerstrafrecht“ am 22.10.2010, mit denen dieser darauf hinwies, dass der 1. Strafsenat mit dem
Erfordernis „reinen Tisch“ zu machen keine Lebensbeichte meint, sondern sich dieses nur auf die
jeweilige Tat, definiert durch die Steuerart, Steuererklärung und Steuerjahr, beziehen kann 184.
Da der 1. Strafsenat in seinem Beschluss vom 20.05.2010 nicht von dem bisherigen Tatbegriff des
BGH bei der Steuerhinterziehung abgewichen ist, ist daher davon auszugehen, dass sich das
Erfordernis der „vollständige Rückkehr zur Steuerehrlichkeit“ weiter jeweils auf die jeweilige
materielle Tat bezieht und die von einzelne Vertreter von finanzbehördlichen Ermittlungsbehörden
und Staatsanwaltschaft geforderten weitergehenden Berichtigungen zur Wirksamkeit einer
Selbstanzeige – bezogen auf die jeweilige Tat – auch unter Zugrundelegung der Auffassung des 1.
Strafsenats nicht erforderlich ist.
Ob dieses aber auch für zukünftige Fälle unter Geltung des neuen § 371 AO gelten wird, muss
bezweifelt werden.
Der durch das am 03.05.2011 in Kraft getretene Schwarzgeldbekämpfungsgesetz185 novellierte §
371 Abs. 1 AO verlangt nunmehr die Berichtigung der unrichtigen Angaben „zu allen
unverjährten Steuerstraftaten einer Steuerart“ und kündigt „wegen dieser Steuerstraftaten“ eine
Straffreiheit an186.
Nach dem Willen des Gesetzgebers ist somit zur Erlangung der Straffreiheit durch eine
Selbstanzeige die vollständige Berichtigung / Nachholung aller strafrechtlich bisher noch nicht
verjährten Besteuerungszeiträume erforderlich 187.
Mit dem Erfordernis der Berichtigung aller strafrechtlich unverjährten Besteuerungszeiträume
einer Steuerart zur Erlangung der Straffreiheit ist der Gesetzgeber somit über das bisherige
Erfordernis – bezogen auf die jeweilige materielle Tat – hinausgegangen. Berichtigt ein
Steuerpflichtiger somit von mehreren strafrechtlich noch nicht verjährten Veranlagungsjahren
184
so auch der klarstellende Hinweis von RiBGH Prof. Dr. Markus Jäger anlässlich des 12. IWW
Congresses „Praxis Steuerstrafrecht“ am 22.10.2010, vgl. in Wegener, PStR 2010, 309, 310; a.A. aber: Der
Erlass des Finanzministeriums NRW vom 25.06.2010 (S 0702-9-VA 1)
185 Gesetz zur Verbesserung der Bekämpfung von Geldwäsche und Steuerhinterziehung vom 28.04.2011,
BGBL I, 676 ff.
186 vgl. § 371 AO n.F.: „Wer gegenüber der Finanzbehörde zu allen unverjährten Steuerstraftaten einer
Steuerart in vollem Umfang die unrichtigen Angaben berichtigt, die unvollständigen Angaben ergänzt oder
die unterlassenen Angaben nachholt, wird wegen dieser Steuerstraftaten nicht nach § 370 bestraft“.
187 Vgl. Die Begründung zum Gesetzesentwurf zum Schwarzgeldbekämpfungsgesetz, B, zu Art 2, zu
Buchstabe a, BT-Drs. 17/4182
48
hinsichtlich derselben Steuerart nur ein Veranlagungsjahr, ist die Selbstanzeige bezüglich dieser
Steuerart insgesamt unwirksam, während er noch unter der Geltung der alten Fassung des § 371
Abs. 1 AO – auch nach der Rechtsprechung des 1. Strafsenats – für dieses eine Jahr
(Vollständigkeit der Angaben vorausgesetzt) straffrei wurde 188
b.
Anwendbarkeit des Beschlusses
Ebenfalls kontrovers diskutiert in der Literatur wurde die zeitliche Anwendung der
Rechtsprechung des 1. Strafsenats. Einigkeit schien dahingehend zu herrschen, dass die neue
Rechtsprechung des 1. Strafsenats zumindest für alle ab dem 20.05.2010 neu eingegangenen
Selbstanzeigen gilt189.
Fraglich war die Anwendung der Rechtsprechung des 1. Strafsenats auf all die Altfälle, bei denen
eine Selbstanzeige vor dem 20.05.2010 erfolgte. Der in Artikel 103 Abs. 2 GG normierte
strafrechtliche Gesetzesvorbehalt verbietet die Anwendung verschärfter Rechtsvorschriften auf
Sachverhalte, die vor der Rechtsänderung bereits abgeschlossen waren.
Dieser Grundsatz gilt aber nicht für höchstrichterliche Entscheidungen190.
Zum Teil wurde daher - von Vertretern der Finanzbehörden und der Staatsanwaltschaft - die
Auffassung vertreten, dass auch vor dem 20.05.2010 erstattete Selbstanzeigen in noch laufenden
Verfahren nach den Grundsätzen des Beschlusses des 1. Strafsenats vom 20.05.2010 zu bewerten
sind, da es sich nur um eine Rechtsprechungsänderung und nicht um ein neues Gesetz handele und
somit eine unzulässige Rückwirkung nicht vorliege191.
Die überwiegende Auffassung in der Literatur vertrat jedoch die Auffassung, dass die
Entscheidung des 1. Strafsenats nicht auf Fälle angewendet werden dürfe, in denen Selbstanzeigen
vor der Verkündung der Entscheidung erfolgten192. Dieses wurde damit begründet, dass durch die
bisherige Auslegung des § 371 AO ein Anreiz zu Selbstbelastungen geschaffen wurde und die
Tatbeteiligten bis zur Entscheidung des 1. Strafsenats vom 20.05.2010 darauf vertrauen durften,
dass sie „insoweit“ Straffreiheit erlangen, als sie unrichtige Angaben berichtigen193.
Dieser Meinungsstreit hinsichtlich eines Vertrauensschutzes für Altfälle dürfte mittlerweile durch
die Novellierung des Selbstanzeigerechts hinfällig sein.
188
vgl. hierzu mit Beispielen: Prowatke / Felten, DStR 2011, 899, 900
Schmitz, Steuer Consultant 2011, 15, 17; Wulf, wistra 2010, 286, 290;
Saldit, PStR 2010, 168, 174; Roth/Schützeberg, PStR 2010, 214
190 Webel, PStR 2010, 189, 194; Schmitz, Steuer Consultant 2011, 15, 17,
Wulf, wistra 2010, 286, 290
191 Roth/Schützeberg, PStR 2010, 214; so auch Erlass des Finanzministeriums NRW vom 25.06.2010
192 Saldit, PStR 2010, 168, 174; Wulf, wistra 2010, 286, 290,
Gaede, PStR 2010, 282, 286
193 Gaede, PStR 2010, 282, 286; Schmitz, Steuer Consultant 2011, 15, 17;
Saldit, PStR 2010, 168, 174
189
49
Durch das Schwarzgeldbekämpfungsgesetz wurde dem Artikel 97 des Einführungsgesetzes zur
Abgabenordnung (EGAO) ein weiterer § 24 angefügt, wonach für Selbstanzeigen, die bis zum 28.
April 2011 bei der zuständigen Finanzbehörde eingegangen sind, § 371 AO in der bis zu diesem
Zeitpunkt geltenden Fassung mit der Maßgabe anzuwenden ist, dass „im Umfang der berichtigten
Angaben“ Straffreiheit eintritt 194.
In der Gesetzesbegründung wird zu dieser Übergangsregelung ausdrücklich ausgeführt, das damit
das Vertrauen der Steuerpflichtigen in die vormalige Auslegung und Anwendung des § 371 AO
berücksichtigt wird, die bereits eine Teilselbstanzeige erstattet haben, welches nach dem Prinzip
der Rechtssicherheit und der Verfahrensfairness zu schützen sei, weshalb für bereits erstattete
Teilselbstanzeigen der Status der Straffreiheit bestehen bleibe; Eine nach dem Tag der
Verkündung des Gesetzes erstattete (weitere) Selbstanzeige wird daher als erstmalige
Selbstanzeige gewertet 195.
Eine bis zur Verkündung des Schwarzgeldbekämpfungsgesetzes erstattete Teilselbstanzeige bleibt
somit auch – trotz des Beschlusses des 1. Strafsenats – im Falle einer nach Verkündung des
Schwarzgeldbekämpfungsgesetzes weiteren Selbstanzeige wirksam. Der Gesetzgeber hat hier den
von der Literatur angesprochenen Vertrauensschutz aufgegriffen und in eine gesetzliche Regelung
umgesetzt.
c.
Selbstanzeige nach der Selbstanzeige
Das in der Literatur im Anschluss an die Entscheidung diskutierte Problem der Wirksamkeit einer
ergänzenden (vollständigen) Selbstanzeige nach vorheriger (unvollständiger) Selbstanzeige dürfte
- angesichts der Übergangsregelung durch § 24 zu Art 97 EGAO – somit in der Praxis nur noch
Relevanz haben, wenn beide Selbstanzeigen (zeitlich getrennt) nach der Verkündung des
Schwarzgeldbekämpfungsgesetzes erfolgen.
Nach Auffassung des 1. Strafsenats reichte eine Teilselbstanzeige für eine Strafbefreiung nach §
371 a.F. AO nicht aus196.
Auch der geänderte § 371 n.F. AO verlangt nunmehr die Berichtigung im „vollen Umfang“ der
unrichtigen Angaben zu einer Steuerart.
Wird somit zukünftig zunächst nur eine Teilselbstanzeige (zu einer Steuerart) abgegeben und diese
dann mit einer weiteren Selbstanzeige ergänzt / berichtigt, stellt sich die Frage, welche
strafrechtlichen Konsequenzen sich aus der Unvollständigkeit der ersten (Teil-) Selbstanzeige für
beide Selbstanzeigen ergeben.
194
Vgl. Art 3 des Gesetzes zur Verbesserung der Bekämpfung von Geldwäsche und Steuerhinterziehung
vom 28.04.2011, BGBL I, 676
195 Vgl. die Begründung zum Gesetzesentwurf zum Schwarzgeldbekämpfungsgesetz, B, zu Art 3, BT-Drs.
17/4182
196 BGH 1 StR 577/09 vom 20.05.2010, DStR 2010, 1133, 1134
50
Die zweite Selbstanzeige könnte zum einen zur Unwirksamkeit der ersten Selbstanzeige führen, da
deren Unvollständigkeit nunmehr ersichtlich wird, aber auch die zweite Selbstanzeige könnte –
auch wenn sie nunmehr alle Angaben vollständig enthält - unwirksam sein, da die Tat bereits
durch die erste Selbstanzeige entdeckt sein könnte und damit der Sperrgrund des § 371 Abs. 2 Nr.
2 AO erfüllt sein könnte197.
Teilweise wird in der Literatur die Möglichkeit der Heilung der unwirksamen ersten
Teilselbstanzeige diskutiert für den Fall, dass nunmehr mit der zweiten Selbstanzeige alle Angaben
vollständig berichtigt werden198.
Es darf jedoch bezweifelt werden, dass die Rechtsprechung die Heilung einer Teilselbstanzeige
anerkennen wird. Der BGH als auch der Gesetzgeber verfolgten bei der Abschaffung der
Teilselbstanzeige ausdrücklich das Ziel, die Teilselbstanzeige als Bestandteil einer
Hinterziehungsstrategie zu unterbinden199.
Die erste Teilselbstanzeige dürfte insoweit nach der Rechtsprechung des 1. Strafsenat unwirksam
sein.
In der Praxis wird die Möglichkeit einer Bestrafung dieser unwirksamen Teilselbstanzeige jedoch
davon abhängen, ob das aufgrund der ersten Selbstanzeige eingeleitete Strafverfahren nach § 170
Abs. 2 StPO eingestellt wurde oder mit Strafklageverbrauch (z.B. Einstellung nach § 153 a StPO,
Strafbefehl) beendet wurde.
Wurde das - mit jeder Selbstanzeige eigentlich angestrebte Ziel - einer Verfahrenseinstellung nach
§ 170 Abs. 2 StPO ursprünglich erreicht, stellt sich dieses nachträglich für den Steuerpflichtigen
als die für ihn unglücklichste Verfahrensbeendigung heraus.
Sofern noch keine Strafverfolgungsverjährung für die erste unwirksame Selbstanzeige eingetreten
ist, muss er mit einer entsprechenden Bestrafung rechnen, da die damalige Verfahrenseinstellung
nach § 170 Abs. 2 StPO einer erneuten Einleitung eines Ermittlungsverfahrens nicht
entgegensteht, da sie nicht zu einem Strafklageverbrauch geführt hat.
Durch die Bekanntgabe der Einleitung des ursprünglichen Ermittlungsverfahrens wurde zudem die
Verjährung nach § 369 Abs. 2 AO i.V.m. § 78 c Abs. 1 Nr. 1 StGB unterbrochen. Mit dem Tag der
damaligen Bekanntgabe der Einleitung des Ermittlungsverfahrens läuft demnach die fünfjährige –
in besonders schweren Fällen die zehnjährige (376 Abs. 1 AO) Verjährungsfrist von Neuem.
Wurde das damals eingeleitete Strafverfahren dagegen durch eine Verfahrensbeendigung mit
Strafklageverbrauch (z.B. Einstellung nach § 153 a StPO) abgeschlossen, kann die insoweit
unvollständige erste Selbstanzeige nicht mehr strafrechtlich verfolgt werden.
197
vgl. zu dieser Problematik: Schwartz, PStR 2011, 150
so wohl Saldit, PStR 2010, 168, 173; Schwartz, PStR 2011, 150, 151
199 Schwartz, PStR 2011, 150, 151
198
51
Derjenige, dessen erste Teilselbstanzeige damals „verunglückt“ ist und dessen Strafverfahren nur
eine Beendigung gefunden hat, die einen Strafklageverbrauch beinhaltet, wäre in diesem Fall
besser gestellt, als derjenige, dessen Verfahren wegen (mutmaßlicher) Vollständigkeit nach § 170
Abs. 2 StPO eingestellt worden ist.
Umstritten ist aber, ob - auch im Falle vollständiger Angaben bei der zweiten Selbstanzeige - die
Unwirksamkeit der zweiten Selbstanzeige droht, da die Tat bereits durch die erste Selbstanzeige
entdeckt sein könnte und somit der Sperrgrund des § 371 Abs. 2 Nr. 2 AO erfüllt sein könnte.
Gemäß dem Erlass des Finanzministerium NRW sollen sowohl die erste als auch die zweite
Selbstanzeige unwirksam sein.200
In der Literatur wird vereinzelt – aber unter Anwendung eines abweichenden Tatbegriffes, der sich
nach Einkunftsquellen bestimmen soll - die Auffassung vertreten, dass zumindest die zweite
Teilselbstanzeige jedenfalls dann nicht unwirksam seien soll, wenn die Berichtigung eine andere
Einkunftsquelle beinhaltet als die mit der ersten Selbstanzeige berichtigten Einkunftsquellen201.
Da dieser Tatbegriff aber nicht dem herrschenden und von der Rechtsprechung vertretenen
Tatbegriff entspricht, wäre es somit - der Rechtsprechung des 1. Strafsenats folgend - folgerichtig,
die Wirksamkeit der zweiten (vollständigen) Selbstanzeige die Wirksamkeit zwar nicht nach § 371
Abs. 1 AO zu versagen, aber - da schon durch die vorherige Teilselbstanzeige die ursprüngliche
Steuerhinterziehung entdeckt worden war - bezüglich der zweiten Selbstanzeige den Sperrgrund
der Tatendeckung des § 371 Abs. 2 Nr. 2 AO als erfüllt anzusehen.
Noch gänzlich ungeklärt und in der Praxis mit großen Problemen behaftet ist die – auch in der
Literatur noch nicht aufgeworfene - Frage, der Wirksamkeit einer Selbstanzeige nach einer
vorherigen Berichtigung nach § 153 Abs. 1 AO.
In der Praxis kommt es immer wieder vor, dass z. B. durch den steuerlichen Berater des
Steuerpflichtigen Angaben nach § 153 Abs. 1 AO berichtigt werden. Dieses auch häufig, um die
Bezeichnung als Selbstanzeige zu vermeiden. In der Praxis wurde diese Berichtigung unter der
Geltung des alten Rechts und der vorherigen Rechtsprechung immer als Selbstanzeige gewertet,
ohne dass dadurch eine weitere Selbstanzeige ausgeschlossen wurde.
Dieses dürfte zukünftig problematisch und risikobehaftet sein.
Berichtigt z.B. der Steuerpflichtige zukünftig seine inländischen Kapitaleinkünfte im Rahmen
eines Berichtigungsantrages nach § 153 AO, weil er fahrlässig oder bedingt vorsätzlich nicht alle
Kapitalerträge erklärt hat und will er dann zu einem späteren Zeitpunkt „reinen Tisch“ machen und
zur „vollständigen Steuerehrlichkeit“ zurückkehren, indem er auch seine ausländischen
Kapitaleinkünfte nacherklärt, muss er damit rechnen, dass ihm dieser Weg zukünftig – zumindest
200
Erlass des Finanzministeriums NRW vom 25.06.2010 (S 0702-9-VA 1); so wohl auch Webel, PStR 10,
189, 190
201 vgl. insoweit Schwartz, PStR 2011, 150, 153; derselbe, wistra 2011, 81, 86 ff., der - entgegen der h. M. den Tatbegriff der Einkunftsquelle vertritt
52
straflos – verwehrt ist, da er nicht bei seiner ersten Berichtigung schon vollständig alle Angaben
gemacht hat.
Dies bedeutet aber im Umkehrschluss, dass zukünftig jedem Antrag auf Berichtigung nach § 153
AO die Gefahr immanent ist, eine spätere Selbstanzeige eventuell „zu sperren“. Ein Ergebnis, das
angesichts der Fehlerhäufigkeit von Steuererklärungen, die Berichtigungen notwendig machen,
nicht praktikabel ist.
d.
Unsichere Sperrgründe
Der 1. Strafsenat hat in seiner Entscheidung ebenfalls zu den Sperrwirkungen des § 371 Abs. 2 Nr.
1 a Alt. 2 AO durch Erscheinen eines Amtsträgers zur Ermittlung einer Steuerstraftat oder einer
Steuerordnungswidrigkeit und der Tatentdeckung im Sinne des § 371 Abs. 2 Nr. 2 AO Stellung
genommen.
Nach seiner Auffassung wird die Sperrwirkung des § 371 Abs. 2 Nr. 1 a Alt. 2 AO infolge eines
sachlichen Zusammenhangs bereits dann ausgelöst, wenn bei einem üblichen Gang des
Ermittlungsverfahrens die weiteren Taten ohnehin in die Überprüfung einbezogen würden, was
dann stets der Fall sein soll, wenn sich die neuen Tatvorwürfe nur auf weitere
Besteuerungszeiträume hinsichtlich derselben Steuerarten bei identischen Einkunftsquellen
erstrecken202.
Der BGH hatte bereits in früheren Entscheidungen zu dem Sperrgrund des § 371 Abs. 2 Nr. 1 a
Alt. 2 AO den Begriff des sachlichen und zeitlichen Zusammenhangs verwandt203.
Danach sollten auch die Taten von der Sperrwirkung erfasst sein, die in einem engen sachlichen
Zusammenhang mit den konkreten Vorwürfen stehen204. Mit seinem Beschluss vom 20.05.2010
konkretisiert der 1. Strafsenat das Kriterium des sachlichen Zusammenhangs, indem er einen
solchen – pauschal – zumindest bei weiteren Besteuerungszeiträumen hinsichtlich derselben
Steuerart bei identischen Einkunftsquellen bejaht.
In der Literatur wurde kritisiert, dass der 1. Strafsenat es versäumt hat, eine in der Praxis
anwendbare klare Regel zu formulieren205, da der Begriff des sachlichen Zusammenhangs nicht
geeignet sei, anlässlich konkreter Situationen, z.B. bei Durchsuchungen, verbindlich beurteilen zu
können, was bei welchem üblichen Gang der Ermittlungen entdeckt worden wäre.
Einigkeit scheint dagegen in der überwiegenden Literatur dahingehend zu bestehen, dass für die
Fälle der Sperrwirkung aufgrund einer steuerlichen Prüfung nach § 371 Abs. 2 Nr. 1 a Alt. 1 AO
202
BGH 1 StR 577/09 vom 20.05.2010, DStR 2010, 1133, 1134
BGH 1 StR 859/82 vom 19.04.1983, NStZ 1983, 559; BGH 5 StR 226/99 vom 05.04.2000, NStZ 2000,
427
204 BGH 5 StR 226/99 vom 05.04.2000, wistra 2000, 219, 225
205 so z.B. Wulf, wistra 2010, 286; mit Beispielen: Habammer, DStR 2010, 2425, 2431; Spatscheck /
Willems, Steueranwaltsmagazin 2010, 162, 165
203
53
auch nach der Rechtsprechung des 1. Strafsenats zu § 371 Abs. 2 Nr. 1 a Alt. 2 AO nach wie vor
ausschließlich das formale Kriterium der Prüfungsanordnung gelten kann206 und somit bei einer
steuerlichen Prüfung nur für die in Prüfungsanordnung genannten Steuerarten und
Steuerveranlagungszeiträume die Selbstanzeige gesperrt sein soll 207.
Auch der Versuch des 1. Strafsenats den Sperrgrund der Tatentdeckung gem. § 371 Abs. 2 Nr. 2
AO weiter zu konkretisieren, wird in der Literatur überwiegend nicht für gelungen gehalten 208.
Tatentdeckung liegt nach bisheriger Rechtsprechung des BGH schon vor, wenn nach vorläufiger
Tatbewertung die Wahrscheinlichkeit eines verurteilenden Erkenntnisses gegeben ist209. Bereits
bisher war einhellige Meinung, dass somit eine Tat zumindest dann entdeckt war, wenn der
Abgleich mit den Steuererklärungen des Steuerpflichtigen ergibt, dass eine Steuerquelle nicht oder
unvollständig angegeben wurde.
Der 1. Strafsenat verlagert diese Tatentdeckung nunmehr zeitlich vor, in dem er eine
Tatentdeckung – zumindest bei sogenannten verschleierten Steuerquellen - auch schon vor einem
etwaigen Abgleich annehmen will, wenn die Art und Weise der Verschleierung nach
kriminalistischer Erfahrung ein signifikantes Indiz für unvollständige oder unrichtige Angaben
sind210.
Zutreffend wurde in der Literatur kritisiert, dass diese Ausführungen in der Praxis kaum zur
Rechtssicherheit führen, da sich der 1. Strafsenat mit diesen Formulierungen letztlich dem Begriff
des Anfangsverdachts annähern würde211. Ob Steuerquellen verschleiert wurden, wird in der Regel
immer erst durch einen Abgleich mit den Steuererklärungen festgestellt werden können.
Allein der Umstand, dass bestimmte Steuerquellen (z.B. Auslandskonten) generell geeigneter sind
als andere, ihr Bestehen zu verschleiern, könnte zwar ein Indiz für unvollständige oder unrichtige
Angaben begründen, dürfe als solches jedoch nicht ausreichen, um nach vorläufiger Tatbewertung
schon die Wahrscheinlichkeit eines verurteilenden Erkenntnisses als gegeben zu betrachten.
e.
206
Zukünftige Selbstanzeigeberatung
Spatscheck / Willems, Steueranwaltsmagazin 2010, 162, 165; Habammer, DStR 2010, 2425, 2431
So z.B. Wulf, wistra 2010, 286, 287; Habammer, DStR 2010, 2425, 2431; a.A: Erlass des
Finanzministeriums NRW vom 25.06.2010 (S 0702-9-VA 1)
208 Spatscheck / Willems, Steueranwaltsmagazin 2010, 162, 165
Habammer, DStR 2010, 2425
209 BGH, NStZ 1983, 415; wistra 2000, 219, 225
210 BGH vom 20.05.2010 - 1 StR 577/09, DStR 2010, 1133, 1134
211 Habammer, DStR 2010, 2425, 2431, Spatscheck und Willems
Steueranwaltsmagazin 2010, 162, 166; Wulf, wistra 2010, 286, 289
207
54
Der Beschluss des 1. Strafsenats vom 20.05.2010 hat das Recht der Selbstanzeige erheblich
verschärft. Für die Steuerpflichtigen, die zukünftig eine Selbstanzeige erwägen und deren Berater
bringt die Entscheidung erhebliche Unwägbarkeiten mit sich.
Durch die klare Absage an die Strafbefreiung für eine Teilselbstanzeige hat der 1. Strafsenat eine
zweite (nunmehr vollumfängliche) Selbstanzeige bei vorheriger unvollständiger Teilselbstanzeige
für die Zukunft praktisch ausgeschlossen, wenn sich der Steuerpflichtige dadurch nicht selber der
vorherigen Straftat bezichtigen. Dies gilt zumindest dann, wenn die erste (Teil-)Selbstanzeige
nicht bereits der absoluten Strafverfolgungsverjährung unterlag.
Aber auch wenn letzteres der Fall sein sollte, dürfte aufgrund der restriktiven Handhabung des §
371 AO hinsichtlich der zweiten Selbstanzeige der Sperrgrund des § 371 Abs. 2 Nr. 2 AO
vorliegen.
Der Selbstanzeiger dürfte somit im Ergebnis – wie Habammer es pointiert bezeichnete - nur noch
„einen Schuss frei“ haben212. Die Selbstanzeigeberatung der Zukunft wird damit sowohl für
Berater und Mandant zur „gefahrgeneigten Arbeit“213.
Zukünftig wird im Vorfeld einer beabsichtigten Selbstanzeige zunächst immer zu klären sein, ob
bereits zuvor eine Selbstanzeige abgegeben worden ist.
Schwierigkeiten wird in der Praxis auch die Erweiterung der Sperrwirkung nach § 371 Abs. 2 Nr.
2 AO machen, sofern der 1. Strafsenat die Sperrwirkung bereits bejaht, wenn sich – unabhängig
von einem Abgleich mit den Steuererklärungen – bereits aus der Art und Weise der
Verschleierung der Steuerquellen ein signifikantes Indiz für unvollständige oder unrichtige
Angaben ergeben soll.
Dieses hätte in der Praxis zur Folge, dass z. B. bei den typischen Auslandssachverhalten aufgrund
kriminalistischer Erfahrung ein signifikantes Indiz für unvollständige oder unrichtige Angaben und
damit die Tatentdeckung bereits bejaht werden könnte, selbst noch keinerlei Ermittlungen
angestellt wurden.
Auch die erweiternde Auslegung der Sperrwirkung nach § 371 Abs. 2 Nr. 1 a Alt. 2 AO, wonach
das Erscheinen des Amtsträgers zur Ermittlung einer Steuerstraftat bereits den Sperrgrund für
andere Besteuerungszeiträume bewirkt, soweit es sich um dieselbe Steuerart bei identischen
Einkunftsquellen handelt, wird in der Praxis zu erheblichen Schwierigkeiten und Einschränkungen
von Selbstanzeigen führen.
Ermittlungsmaßnahmen erstrecken sich zu Beginn häufig nur auf einige der tatsächlich
strafrelevanten Jahre. Hier erfolgten bisher häufig Selbstanzeigen für die nicht im
Durchsuchungsbeschluss bzw. Einleitungsverfügung aufgeführten Jahre, die in der Praxis dann als
strafbefreiend akzeptiert wurden.
212
213
Habammer, DStR 2010, 2425, 2428
so die Befürchtung von Wessing / Biesgen, NJW 2010, 2689, 2692
55
Diese Möglichkeit wird nun durch die Rechtsprechung des 1. Strafsenat erheblich eingeschränkt.
Zu mehr Rechtssicherheit würde es hier führen, wie von Teilen der Literatur214 gefordert wird, die
Sperrwirkung einer Durchsuchungsmaßnahme auf die im richterlichen Beschluss genannten
Vorwürfe / Zeiträume zu beschränken.
C.
Fazit
Der 1. Strafsenat des BGH hat seit seinem Zuständigkeitswechsel für Steuerstrafsachen eine Reihe
von grundlegenden Entscheidungen zum Steuerstrafrecht verkündet, mit denen er bewusst obwohl dieses in den zu entscheidenden Fällen nicht erforderlich war - im Rahmen von obiter
dicta Entscheidungen von der bisherigen Rechtsprechung des 5. Strafsenats abgewichen ist.
Die größte Bedeutung für die Praxis dürften die Urteile zur Strafzumessung bei
Steuerhinterziehung großen Ausmaßes und zur Unwirksamkeit von Teilselbstanzeigen sein.
Beide werden eventuell in Zukunft nicht nur die Tatgerichte, sondern bereits die strafrechtlichen
Ermittlungsbehörden zu einer „schärferen“ Handhabung in Steuerhinterziehungsfällen veranlassen.
Verfolgt man den „roten Faden“ der Entscheidungen, so scheint dieses offensichtlich das erklärte
Ziel des 1. Strafsenats zu sein, auch wenn ein solcher Rechtsprechungswandel von dem
beisitzenden Mitglied des 1. Strafsenats Prof. Dr. Jäger anlässlich des „11. IWW
Steuerstrafrechtskongress“ am 23.10.2009 noch ausdrücklich bestritten wurde 215.
Die obiter dicta Entscheidungen des 1. Strafsenats werden in der Literatur daher als klare
Vorgaben an die Instanzengerichte216 und Appell an die Tatrichter und die Ermittlungsbehörden
verstanden, Steuerhinterziehung in Zukunft stärker zu ahnden217.
Diese Einschätzung wird bestätigt durch die Ausführungen im aktuellen Beschluss vom
05.05.2011218.
Offenkundig missfiel dem 1. Strafsenat das Strafmaß der Vorinstanz, das den Angeklagten wegen
16 Fällen von Umsatzsteuerhinterziehung mit einem Steuerschaden in Höhe von insgesamt €
2.287.737,00, wobei bei 13 Taten der Hinterziehungsbetrag jeweils über € 100.000,00 lag, nur zu
einer Gesamtfreiheitsstrafe von 1 Jahr und 10 Monate verurteilt hat, deren Vollstreckung es
zusätzlich noch zur Bewährung ausgesetzt hatte.
Mit dieser Entscheidung rügte der 1. Strafsenat die Strafzumessung der Vorinstanz in mehrfacher
Hinsicht als rechtsfehlerhaft, weil das Urteil keine Angaben dazu enthielt, ob im zu
entscheidenden Fall das gesetzliche Merkmal „in großem Ausmaß“ im Sinne des § 370 Abs. 3
214
Wulf, wistra 2010, 286, 287, Schmitz, Steuer Consultant 2011, 15, 16
siehe hierzu: Wegner, PStR 2009, 295, 297
216 so z.B. Wulf, DStR 2009, 459, 464
217 so z. B. Salditt, PStR 2009, 25
218 BGH vom 05.05.2011 - 1 StR 116/11, Lexitus.com/2011, 2546
215
56
Satz 2 Nr. 1 AO erfüllt war und weshalb trotz des Vorliegens dieses Regelbeispiels ein besonders
schwerer Fall des § 370 Abs. 3 AO nicht angenommen wurde.
Erstaunlich ist in diesem Zusammenhang der Hinweis in den Urteilsgründen, dass die
Staatsanwaltschaft „auch im Rahmen der Dienstaufsicht im vorliegenden Fall hätte Anlass gehabt
zu prüfen, ob nicht gem. Nr. 147 Abs. 1 Satz 3 RiStBV Handlungsbedarf bestanden hätte“ 219, ein
Rechtsmittel zur Nachprüfung des Strafmaßes einzulegen, da die Strafe im offensichtlichen
Missverhältnis zur Tat stand.
Ein stärkerer Einbezug der Staatsanwaltschaft in steuerstrafrechtlichen Verfahren, die gemäß § 386
Abs. 2 AO primär in eigenen Zuständigkeit von den Finanzbehörden geführt werden, ist
offensichtlich ein weiteres erklärtes „Anliegen“ des 1. Strafsenat, hatte er doch in einigen
Verfahren ausdrücklich die nach seiner Auffassung bestehende Notwendigkeit einer frühzeitigen
Zusammenarbeit zwischen den Finanzbehörden und der Staatanwaltschaft gefordert220.
Ob die Untergerichte die „Vorgaben“ des 1. Strafsenats in der Praxis umsetzen werden, bleibt
abzuwarten. Rechtlich gebunden sind sie hieran jeweils aufgrund der in Artikel 97 GG statuierten
richterlichen Unabhängigkeit nicht. Rechtliche Beurteilungen des Revisionsgerichts binden den
Tatrichter gem. § 358 Abs. 1 StPO nur, soweit sie die Aufhebung des angefochtenen Urteils
tragen. Rechtsmeinungen als „obiter dicta“ entfalten keinerlei Bindungswirkung und sind somit
nur „als der Versuch zu werten, durch geistige Überzeugungskraft Einfluss auf die Praxis zu
nehmen“221.
Gerade das Steuerstrafrecht ist aufgrund des erforderlichen Umfangs der Feststellungen zu den
hinterzogenen Steuern aufgrund der umfangreichen, über i.d.R. mehrere Jahre hinweg
festzustellenden Besteuerungsgrundlagen und der dafür erforderlichen Ermittlungen geprägt von
Verständigungen - unter den Voraussetzungen des § 275 c StPO oder auch ohne - zwischen
Verteidigung, Ermittlungsbehörde und Tatgericht.
In der Praxis werden daher sicherlich - trotz der Rechtsprechung des 1. Strafsenats – in einer
Vielzahl von Fällen weiter „praktikable“ Verständigungen erfolgen 222.
Die Befürchtung jedoch, dass die Strafverfolgungsbehörden, mit Blick auf die Entscheidung des 1.
Strafsenats zum großen Ausmaß einer Steuerhinterziehung zukünftig in solchen Fällen – statt der
bisherigen Strafmaßtabellen - schematisch vorgehen könnten223, erscheint berechtigt.
Hier wird die Praxis zeigen, ob die vom 1. Strafsenat zur Begründung der Schwellenwerte
hinsichtlich des großen Ausmaßes gewünschte Rechtssicherheit wirklich eintritt, wenn bei einer
Hinterziehung von € 49.999,00 hiernach kein „großes Ausmaß“ vorliegt, jedoch bei einem
Hinterziehungsbetrag von € 51.001,00.
219
BGH vom 05.05.2011 - 1 StR 116/11, Lexitus.com/2011, 2546
BGH vom 30.04.2009, NJW 2009, 2319; BGH 1 StR 577/09 vom 20.05.2010, DStR 2010, 1133, 1136
221 so ausdrücklich Salditt, PStR 2009, 15, 18
222 so wohl auch die Einschätzung von Salditt, PStR 2009, 25, 28
223 so z. B. Bielefeld / Prinz, StB 112, 116
220
57
Die Verteidigungspraxis wird sich jedoch an diesen – mit seinem aktuellen Beschluss vom
05.05.2011 noch einmal ausdrücklich vom 1. Strafsenat bekräftigten – Vorgaben orientieren
müssen.
Selbiges gilt auch für die Unwirksamkeit einer Teilselbstanzeige und den Voraussetzungen der
diesbezüglichen Sperrgründe.
Auch nach der Novellierung des § 371 AO wird die Rechtsprechung des 1. Strafsenats zur
Unwirksamkeit der Teilselbstanzeige in Zukunft für die Praxis der Erstattung von Selbstanzeigen
enorme Bedeutung haben. Vor einer (erneuten) Selbstanzeige werden in jedem Fall die gesamten
vorherigen steuerlichen Verhältnisse des Steuerpflichtigen daraufhin untersucht werden müssen,
ob dieser zuvor in noch nicht strafverfolgungsverjährter Zeit bereits eine Selbstanzeige abgegeben
hatte.
Darüber hinaus werden in der Beratungspraxis - im Hinblick auf die möglichen Konsequenzen der
Unwirksamkeit einer Teilselbstanzeige - verstärkt die vom 1. Strafsenat gestellten Anforderung
einer Selbstanzeige von dem Berater mit seinem Mandanten ausführlich erörtert werden müssen.
Insbesondere wird dieser - auch aus haftungsrechtlichen Gründen des Beraters - ausdrücklich auf
das Erfordernis der Vollständigkeit einer Selbstanzeige zur Erlangung der Straffreiheit
hingewiesen werden müssen.
Zugleich wird durch die Vorverlagerung zur Tatentdeckung bei vom 1. Strafsenat als sogenannte
verschleierte Steuerquellen bezeichnete Einkunftsquellen, bei denen die Art und Weise der
Verschleierung nach kriminalistischer Erfahrung ein signifikantes Indiz für unvollständige oder
unrichtige Angaben sein kann, der Zeitdruck zur Abgabe einer Selbstanzeige in vielen Fällen
erhöht. Ein solches Indiz könnte in der Praxis bei fast allen ausländischen Einkünften bejaht
werden, so dass zu befürchten ist, dass die ermittelnden Finanzbehörden zukünftig die
Wirksamkeit einer insoweit abgegebenen Selbstanzeige selbst dann schon in Abrede stellen
werden, wenn sie nur Kenntnis von solchen Einkünften haben, ohne dass bereits durch einen
entsprechenden Abgleich mit den Steuererklärungen festgestellt wurde, dass diese nicht erklärt
worden sind.
Die diesbezügliche Vorverlegung der Tatentdeckung des 1. Strafsenats widerspricht jedoch
teilweise vehement der bisherigen Handhabung der finanzbehördlichen Praxis, insbesondere in den
Fällen des Entdeckens ausländischer Kapitalerträge, die sich häufig für die Finanzbehörden als
„Massefälle“ (so z.B. die Luxemburg bzw. Schweiz-Fälle der letzten Jahre) herausstellen.
Da bei diesen aufgrund der Vielzahl der mit ausländischen Banken in Verbindung stehenden
deutschen Steuerpflichtigen mit einem sehr hohen Ermittlungsaufwand seitens der Finanzbehörden
zu rechnen ist, werden hier häufig - obwohl die Tat nach der Rechtsprechung des 1. Strafsenats
schon entdeckt ist und somit ein Sperrgrund nach § 371 Abs. 2 AO vorliegen würde -, die
entsprechenden Steuerpflichtigen angeschrieben, diesen noch Gelegenheit zur Nacherklärung
gegeben und ihnen in Aussicht gestellt, dass die Berichtigung als Selbstanzeige gewertet würde.
Dem 1. Strafsenat scheint diese Handhabung offensichtlich nicht unbekannt zu sein, weshalb er
auch in seinem Beschluss vom 20.05.2010 noch einmal ausdrücklich darauf hinwies, dass nach §
58
386 Abs. 4 Satz 2 AO eine Pflicht zur Beteiligung der Staatsanwaltschaft durch die
Finanzbehörden auch und gerade dann bestehen solle, wenn zu entscheiden sei, ob eine wirksame
Selbstanzeige im Sinne von § 371 AO gegeben sei224.
Ob dieses - angesichts der insbesondere im Zusammenhang mit ausländischen Kapitalerträgen
massenhaft vorkommenden Selbstanzeigen - tatsächlich geschehen wird, wird in der Praxis
abzuwarten bleiben.
Zweifellos müssen sich die Berater bei Selbstanzeigen bis auf weiteres an der Entscheidung des 1.
Strafsenats orientieren, um die Risiken für ihre Mandanten auszuschalten. Wie Wessing und
Biesgen225 es treffend beschrieben haben, ist die Selbstanzeigeberatung durch die Rechtsprechung
des 1. Strafsenats damit für den Berater und den Mandanten “noch mehr zur gefahrgeneigten
Arbeit“ geworden.
224
225
BGH 1 StR 577/09 vom 20.05.2010, DStR 2010, 1133, 1136
Wessing / Biesgen, NJW 2010, 2689, 2692
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