Waltraud Schreiber, Eichstätt Zeitzeugengespräche führen und auswerten. Ein Leitfaden für Nicht-Historiker. Wer sollte genauer wissen, wie’s war, als die, die dabei waren? Zeitzeugen zu befragen ist ein nahe liegender Weg, um „etwas“ über bestimmte Ereignisse/ Situationen/Entwicklungen zu erfahren. – Allerdings macht schon das erste Gespräch die Einschränkungen deutlich: Sinnvoller Weise lassen sich z.B. nur solche Fragen über oral history beantworten, die Akteure und Betroffene ins Zentrum stellen. Und auch dann gilt, dass das Befragen von Zeitzeugen allein nie ausreicht, um sich ein Bild von vergangenen Entwicklungen und Zuständen zu machen. Zu ausschnitthaft waren die Erfahrungen, zu subjektiv und perspektivisch sind die Erinnerungen. Zugleich eröffnen Zeitzeugengespräche aber einen besonderen Zugang zur Vergangenheit. Der lebende Mitmensch gibt Einblick in seine konkreten Erfahrungen von damals. Dies verlangt, sich auf den Zeitzeugen einzulassen, ihn als Kommunikationspartner zu verstehen. Das heißt auch, Interesse an der Person und deren Auseinandersetzung mit ihrer eigenen Vergangenheit zu entwickeln und nicht nur an der „Quelle“ für damalige Ereignisse. Ziel dieses Beitrags ist, zu einer Auseinandersetzung mit den Chancen und Möglichkeiten, aber auch den Grenzen von Zeitzeugengesprächen anzuregen (I), vielleicht auch dazu, selbst solche Gespräche zu führen (II) und auszuwerten (III).1 Dabei konzentriere ich mich vorrangig auf Methoden und Ergebnisse der historischen Forschung und auf grundlegende geschichtstheoretische Einsichten.2 Die Erkenntnisse anderer Disziplinen 1 Zu Zeitzeugengesprächen und „oral history“ liegen zahlreiche Publikationen vor. Sie lassen sich unterschiedlichen Disziplinen zuordnen. Es handelt sich dabei einerseits um methodische Beiträge (vgl. u.a. Wierling, D.: Oral History, in: Maurer, M. (Hg.): Aufriss der Historischen Wissenschaften. Neue Themen und Methoden der Geschichtswissenschaft. Stuttgart 2003, S. 81‐151; Sieder, R.: Erzählungen analysieren – Analysen erzählen. Narrativ‐biographisches Interview, Textanalyse und Falldarstellung, in: Wernhart, K. R./Zips, W.: Ethnohistorie. Rekonstruktion und Kulturkritik. Eine Einführung. Wien 2001, S. 145‐172; Deppermann, A./Lucius‐Hoene, G.: Rekonstruktion narrativer Identität. Ein Arbeitsbuch zur Analyse narrativer Interviews, Opladen 2002; Küsters, Y.: Narrative Interviews. Grundlagen und Anwendungen, Wiesbaden 2006; Ritchie, D. A.: Doing oral history a practical guide, Oxford 22003). Eine Vielzahl von Beiträgen aus aller Welt konzentrieren sich auf Ergebnisse, die (u.a.) mit Hilfe von Zeitzeugengesprächen erarbeitet wurden. Schließlich befassen sich Autoren kritisch mit den Chancen und Möglichkeiten von Zeitzeugengesprächen (vgl. u.a. Welzer, H.: Das Interview als Artefakt. Zur Kritik der Zeitzeugenforschung, in: BIOS 13 (2000), H. 1, S.51‐63; Roseman, M.: Erinnern und Überleben. Wahrheit und Widerspruch im Zeugnis einer Holocaust‐Überlebenden, BIOS 11 (1998), H. 2, S. 263‐279. Einige Monografien und Sammelbände bündeln diese Zugänge (u.a. Niethammer, L. (Hg.): Lebenserfahrung und kollektives Gedächtnis. Die Praxis der ʺoral historyʺ; Frankfurt 1980; Vorländer, H. (Hg.): Oral history. Mündlich erfragte Geschichte, Göttingen 1990; Charlton, T.L. u.a. (Hgg.): Handbook of oral history, Lanham 2006; Niethammer, L.: Fragen an das deutsche Gedächtnis Aufsätze zur Oral History, Essen 2008. Eine Reihe von Beiträgen beziehen sich auf Oral History im Geschichtsunterricht: Vgl. exemplarisch Schreiber, W./ Arkossy, K. (Hgg.): Zeitzeugengespräche führen und auswerten – historische Kompetenzen schulen (Themenheft Geschichte 4), Neuried 22008 (im Druck); vgl. auch die Hinweise zu Unterrichtsprojekten in: http://www.lehrer‐online.de, Suchbegriff Oral history. 2 Zu Grunde liegt ein Verständnis von Geschichte als „historischer Narration“. Damit ist gemeint, dass „Geschichte“ und „Vergangenheit“ nie identisch sein können. „Historische Narrationen“ setzen sich ex post, also im Nachhinein, mit ausgewählten Vergangenheiten 2 (Volkskunde/Ethnologie, Soziologie/Sozialforschung Gedächtnisforschung, Psychologie) fließen nur am Rande ein. I. Was sind Zeitzeugengespräche eigentlich? 1. Zwischen „Quelle“ und „Darstellung“ Die Erfahrungen des Zeitzeugen, die dieser in bestimmten Situationen gemacht hat, sind eine mögliche Quelle für die Re-Konstruktion der entsprechenden Vergangenheit. Ohne Quellen, also ohne schriftliche, bildliche, gegenständliche „Überbleibsel“ aus der Zeit, ohne lebende Zeitzeugen, wäre es Geschichtsinteressierten – professionellen Historikern wie Laien – nicht möglich, sich im Nachhinein eine Vorstellung von Vergangenem zu machen. Die Erzählung eines Zeitzeugen im Jahre später geführten Interview ist notwendigerweise eine Darstellung über dessen Erfahrungen. Im Zeitzeugengespräch haben wir es also mit einer „historischen Narration“ zu tun und nicht mit den „originalen“ vergangenen Erfahrungen. Uns begegnet „Geschichte“ und nicht „Vergangenheit“. Der Zeitzeuge erzählt die Geschichte, indem er im Gespräch seine Erfahrungen in bestimmte Zusammenhänge einordnet, deutet und interpretiert. 2. Mensch als „Trägermedium“ der historischen Narration Zeitzeugen sind lebende Menschen. Sie haben nach dem Ereignis, über das sie berichten, weitergelebt. Der Zeitzeuge kann gar nicht verhindern, dass sich die „Folgeerfahrungen“ auf die Erinnerung der damaligen Erfahrungen auswirken, vor allem auf deren Einbindung in die Erzählung. Hierin steckt eine besondere Herausforderung für den Zuhörer: Er muss sich bewusst machen, dass zwar nicht das, was war, „anders“ wird, dass aber die Narration, in der die Erfahrung weiterlebt, sich verändern kann. Das Problem dabei ist: Der Zuhörer kennt nur die Narration, und nicht die damalige Situation. Und auch der Zeitzeuge selbst kann die damalige Erfahrung nicht sicher trennen von den Konstruktionen, die ihm seine Erinnerungen schaffen.3 Die Geschichten, die er erinnert, haben eben nie „nur“ mit dem vergangenen Ereignis/der damaligen Situation zu tun, sondern immer auch mit den darauf fußenden Erfahrungen. Sie hängen zudem auch mit der Gegenwart und Zukunft zusammen, in der nach der jeweiligen Vergangenheit gefragt wird und für die die Geschichte dieser Vergangenheit erzählt wird.4 Dabei geht es lange nicht immer um „Geschichtsklitterung“ oder gar bewusste Lüge und Manipulation. Es geht um alle Formen von Deutungen und Sinnbildungen, also z.B. auseinander, schildern Veränderungen und Entwicklungen. Dabei gelten einige Prinzipien. Michael Baumgartner (Baumgartner, Michael: Narrativität, in: Bergmann, Klaus et al. (Hgg.): Handbuch der Geschichtsdidaktik, Seelze‐Velber 51997, S. 157‐160) reduziert auf drei: Retro‐Perspektivität, Partikularität und Konstruktivität. Geschichte ist notwendig Konstruktion, sie wird aufgrund einer (selektiven) Fragestellung auf der Basis einer partikularen Überlieferungssituation im Nachhinein (retrospektiv) re‐konstruiert. „Perspektivität“ gehört zu den historischen Prinzipien, und zwar bezogen auf die Quellen, die Erarbeitung historischer Narrationen und die Rezeption von Vergangenheit wie von Geschichte. 3 Dies kann man sich z.B. mit Hilfe eines eigenen Kinderfotos bewusst machen: Oft weiß man nicht genau, ob man das Foto erinnert, die Erzählung der Eltern zum Foto oder das Ereignis selbst. 4 Vgl. hierzu u.a. Rüsen, Jörn: Kann gestern besser werden? Essays zum Bedenken der Geschichte, Berlin 2003. 3 • um vergangenheitsbezogene Deutungen, die ein Phänomen, eine Entwicklung „aus der Zeit heraus“5 zu erklären versuchen, • um gegenwarts- oder zukunftsbezogene Sinnbildungen, die die damalige Erfahrung einordnen in den Zeitfluss, der in die Gegenwart und Zukunft reicht, also um individuelle und kollektive Orientierung, die Leben und Handeln in der Gegenwart erst ermöglicht,6 • um historische Erkenntnis, die erst im Nachhinein, wenn die Zukunft nicht mehr „offen“ ist, möglich wird. Deutungen und Sinnbildungen zu historischen Entwicklungen und Veränderungen können verschiedene Akzente setzen, also bestimmte Aspekte betonen, andere zurücknehmen bzw. gar nicht thematisieren.7 Wissenschaftsdisziplinen, die sich mit Sinnbildungen befassen, erklären uns einerseits, dass Erinnerung jedes Mal neu abgerufen und konstruiert wird,8 belegen andererseits, dass sich dabei Muster für die Sinnbildung herausbilden können, die zugleich kulturell und individuell geprägt sind. Die Gedächtnisforschung macht uns bewusst, dass es eine besondere Leistung des Gedächtnisses ist, nicht nur zu erinnern, sondern auch zu vergessen oder zu verdrängen, dass diese Prozesse aber nur idealtypisch zu scheiden sind, und sich in der Realität vielfach überlagern. 5 Karl‐Ernst Jeismann bezeichnet sie als „Sachurteile“ ( Vgl. u.a. Jeismann, Karl‐Ernst: Rem tene – verba sequentur, in: Schreiber, Waltraud/ Baumgärtner, Ulrich (Hgg.): Museumskonzeptionen, München (Münchner Geschichtsdidaktisches Kolloquium, Band 2) München 1999, S. 9‐31. Jeismann, Karl‐Ernst: Geschichtsbewußtsein als zentrale Kategorie der Geschichtsdidaktik, in: Schneider, Gerhard (Hg.): Geschichtsbewußtsein und historisch‐politisches Lernen. Pfaffenweiler 1988, S. 1‐24. Jeismann, Karl‐Ernst: Grundfragen des Geschichtsunterrichts, in: Behrmann, Günther C. / Jeismann, Karl‐Ernst/ Süssmuth, Hans (Hgg.): Geschichte und Politik. Didaktische Grundlegung eines kooperativen Unterrichts, Paderborn 1978, S. 76‐107. ) 6 Vgl. hierzu u.a. die Arbeiten Jörn Rüsens, u.a. ders.: Historische Vernunft: Grundzüge der Historik I: Die Grundlagen der Geschichtswissenschaft, Göttingen 1983; ders.: Zeit und Sinn. Strategien historischen Denkens, Frankfurt/Main 1990; ders.: Kultur macht Sinn. Orientierung zwischen Gestern und Morgen, Köln u.a 2006. 7 Die Ursachen für Veränderungen können z.B. im konkreten Menschen oder „im Menschlich/Anthropologischen“ schlechthin gesehen werden, (vgl. u.a. Jäger, F./Staub, J. (Hgg.): Was ist der Mensch, was ist Geschichte? Bielefeld 2005), in strukturellen Rahmenbedingungen, in subjektiven Intentionen oder in nicht vorhersehbaren Zufällen, in Kontingenzen. Das jeweilige Verständnis von Veränderung ist zeit‐ und kulturabhängig, die Art der Darstellung zudem abhängig vom Adressaten, vom gewählten Medium und selbstverständlich auch vom Urheber, seinem Standort und seiner Kompetenz. – Die Auseinandersetzung mit aktueller und historischer Historiographie, ebenso wie mit Vergangenheitsbezügen in der öffentlichen Geschichtskultur zeigt, dass das Verständnis von „Entwicklung“ ebenso vielfältig, zudem ebenfalls zeit‐ und kulturabhängig, ist. Lange wurde ein „innewohnender Weltsinn“ angenommen, den es zu ent‐decken galt; es wurde und wird nach strukturellen Gesetzmäßigkeiten gesucht, die erklären können. Zunehmend geltend „historische Narrationen“ als Spezifikum für Geschichte, in denen Verläufe dargestellt werden, die in Teilen multikausal erklären, ohne Kontingenz aber nicht auskommen. Im Idealfall wird methodisch kontrolliert rekonstruiert, plausibel und triftig interpretiert und gedeutet und mit „Sinn“ für die heutige und zukünftige Orientierung ausgestattet. 8 Markowitsch, H.: Die Erinnerung von Zeitzeugen aus der Sicht der Gedächtnisforschung, BIOS 13 (2000), S.30‐50; ders.: Autobiographisches Gedächtnis aus neurowissenschaftlicher Sicht, BIOS 15 (2005), S. 187‐201; Welzer, H.: Das kommunikative Gedächtnis: Eine Theorie der Erinnerung, München 2002. 4 Zeitzeugen konfrontieren ihre Zuhörer nicht nur mit der schwierigen Gemengelage von gespeicherten Erfahrungen und Sinnbildungen über diese Erfahrungen, sondern zusätzlich mit unterschiedlichen Graden von Sprachfähigkeit oder Sprachlosigkeit, zudem mit einer generations-, kultur- und zeitspezifischen Sprache. Die Emotionen der Zeitzeugen, ihr Leid, ihre Trauer, aber auch Freude und Stolz treten den Zuhörern entgegen. Zudem sind die Rezipienten konfrontiert mit Absichten und Intentionen der Zeitzeugen, u.a. mit denen, die sie bewogen haben, sich für ein Interview zur Verfügung zu stellen. 3. Zeitzeugengespräche sind Kommunikation Kommunikation läuft zwischen Partnern ab. Sie kann funktionieren oder nicht. – Zeitzeugengespräche unter dem Aspekt der Kommunikation zu betrachten, macht uns bewusst, dass nicht nur der Zeitzeuge, sondern auch der Fragende Einfluss hat auf die Geschichte, die erzählt wird. • Die Konstruktion von Narrationen geht immer auf Fragestellungen zurück: Deshalb beeinflussen die Fragen des Interviewers die Erzählung des Zeitzeugen, die Auswahl, die er trifft, aber auch die Kontextualisierungen, die er wählt. – Jeder Zeitzeuge verfolgt zudem auch seine eigenen Fragestellungen. Dies kommt u.a. darin zum Ausdruck, dass er nicht nur auf die Fragen des Interviewers antwortet, sondern sie erweitert, über- oder unterschreitet, z.T. auch umgeht. Die Analyse des Gesprächs gibt Hinweise auf Fragestellungen, die dem Zeitzeugen (zusätzlich) wichtig waren. Wer begonnen hat zu erzählen, scheint einer Art von Erzählzwang9 zu unterliegen. • Der „common ground“10, den die Gesprächspartner bezogen auf ihre Kommunikation über Vergangenes haben bzw. im Gespräch aufbauen (also etwa der gemeinsame Wissensbestand, das Interesse an der Sache, die Sprachregister, über die die beiden Partner verfügen)11, hat Einfluss auf die Geschichte, die entsteht. • Von Bedeutung sind auch emotionale Aspekte, wie z.B. das Maß an Empathie und Fremdverstehen, zu dem Zeitzeuge und Interviewer fähig und bereit sind, der Grad an Sympathie, die sie füreinander empfinden, ihre Distanzierungsfähigkeit und bereitschaft, ihre eigene Betroffenheit/Parteilichkeit.12 In der empirischen Sozialforschung wird empfohlen, den Einfluss des Interviewers dadurch geringer zu halten, dass so genannte „narrative Interviews“ geführt werden, also offene Interviews, die mit einer Leitfrage zwar in Gang gesetzt werden, dann aber nicht unterbrochen 9 Das Phänomen des Erzählzwangs thematisiert der Soziologe Fritz Schütze im Zusammenhang mit offenen narrativen Interviews. Vgl. ders.: Zur Hervorlockung und Analyse von Erzählungen thematisch relevanter Geschichten im Rahmen soziologischer Feldforschung. In: Arbeitgruppe Bielefelder Soziologen (Hg.): Kommunikative Sozialforschung. München 1976, S. 159‐260; ders.: Biografieforschung und narratives Interview. Neue Praxis 13 (1983), S. 283‐293. 10 Vgl. Clark, H. H.: Using language. Cambridge 1996, vor allem: Chapter 4, Common ground, S. 91‐121. 11 Schöner, Alexander/Mebus, Sylvia: Kommunikationskompetenz als überfachliche Kompetenz, in: Körber, Andreas/Schreiber, Waltraud/Schöner Alexander (Hgg.): Kompetenzen historischen Denkens. Ein Struktur‐Modell als Beitrag zur Kompetenzorientierung in der Geschichtsdidaktik, Neuried 2007, S. 361‐388. 12 Der Soziologe Harald Welzer zeigt in seiner Studie, die er 2002 unter dem Titel „Opa war kein Nazi. Nationalsozialismus und Holocaust im Familiengedächtnis“ publiziert hat, u.a. die Bedeutung der Rezeption, des Zuhörens auf. Was im Familiengedächtnis bleibt, hat nicht nur mit dem zu tun, was „Opa erzählt“ bzw. erzählen könnte, sondern auch damit, was die Kinder und Enkel hören bzw. hören wollen und deshalb erfragen. 5 und strukturiert werden. Erst, wenn der Zeitzeuge seine Geschichte erzählt hat, kann der Interviewer nachfragen. Neben den narrativen stehen die strukturierten Interviews, die mit Leitfragen gegliedert werden. Ein Corpus an zentralen Fragen erleichtert den Vergleich von Interviews, bzw. den Vergleich mit der Historiographie. Zudem scheint, dass gerade Zeitzeugen, die wenig Erfahrung darin haben, sich zu artikulieren, auf Fragen förmlich „warten“. II. Vorbereitung und Durchführung der Interviews 1. Einarbeitung – Vorgespräch Unerlässlich ist, dass der Interviewer in das Thema eingearbeitet ist. Dabei geht es nicht nur darum, dass er das Gespräch bei Bedarf leiten und gezielt nachfragen kann, sondern auch um die Suche nach geeigneten Zeitzeugen.13 Sollen die Erfahrungen des Zeitzeugen als Quelle für bestimmte Situationen und Entwicklungen genutzt werden, sind z.B. die Dichte der relevanten Erfahrungen zu bedenken, die damalige Funktion und Rolle, die Vernetzung mit anderen Akteuren bzw. Betroffenen. Wenn (auch) die „Sinnbildungen“ von Interesse sind, mit denen der Zeitzeuge seine Erfahrungen einordnet und zur Orientierung für Gegenwart und Zukunft nutzt, dann muss bei der Auswahl des Zeitzeugen auch seine Funktion und Rolle in der Gegenwart einbezogen werden. Wenn die ersten Interviews geführt sind, ergibt sich in der Regel eine Art Schneeball-System. Im Gespräch werden weitere mögliche Zeitzeugen ins Spiel gebracht. Dem Interview sollte ein kurzes Vorgespräch vorausgehen, das für den Interviewer klärt, wofür der Zeitzeuge steht und dem Zeitzeugen verdeutlicht, was der Interviewer von ihm will. – In aller Regel bereitet auch der Zeitzeuge sich auf das Gespräch vor: Er „sortiert“ Erinnerungen, macht sich Gedanken über seine Intentionen und die Intentionen des Interviewers, sucht nach geeigneten zusätzlichen Materialien. Oft werden vorher auch Gespräche mit Zeitgenossen geführt, manchmal liest der Zeitzeuge zusätzlich in der Literatur nach. Zeitzeugengespräche sind so komplex (vgl. I), dass das einfache Zuhören nicht ausreicht, um ihre Struktur zu erschließen. Das ist der Grund, warum die Aufzeichnung des Gesprächs ein Muss ist. Videographien erlauben auch Nonverbales in die Kommunikation einzubeziehen, allerdings kann die Kamera gerade ältere Menschen irritieren. Nicht selten wird die Aufzeichnung mit öffentlicher Ausstrahlung in eins gesetzt, was zu Rücksichtnahmen gegenüber möglichen Zuschauern führt. – Tonaufzeichnungen, z.B. auch mit der unauffälligen MP3-Technik stören den Erzählfluss in der Regel viel weniger. Grundsätzlich gilt, dass gute Tonqualität von großer Wichtigkeit ist.14 2. Leitfaden/ Fragelandschaft Nach dem Vorgespräch sollte der Interviewer seine Fragestellungen präzisieren. Die Verfahren gehen hier weit auseinander: Manche Interviewer formulieren ihre Fragen aus, andere arbeiten mit Stichwortsammlungen, wieder andere mit Fragelandschaften, die mögliche Richtungen des Gesprächs zusammenstellen, es aber nicht im Detail vorstrukturieren. 13 Es handelt sich um dabei um eine spezifisch historische Kompetenz, um eine heuristische Kompetenz. 14 Hinweise zur Aufnahmetechnik enthält der Beitrag von Sibylla Leutner, in Schreiber/Arkossy, Zeitzeugengespräche, 22008. 6 3. Interview Eine kurze Warming-up Phase ist sinnvoll. Allerdings ist der Zeitzeuge darauf eingestellt, über seine Erfahrungen zu berichten; davon sollte man ihn nicht allzu lange abhalten. Im Laufe des Interviews sollten der Zeitzeuge und seine Erfahrungen im Zentrum stehen. Der Interviewer sollte sich bemühen, sich zurückzunehmen. Seine Fragen und Impulse sollen den Gesprächsfluss in Gang halten, aber nicht brechen. Wie lange ein Gespräch dauern soll, kann man nicht generell sagen. Es gibt Signale dafür, zum Schluss zu kommen, z.B. Ermüdungsanzeichen, gehäufte Wiederholungen, zunehmende Pausen, aber auch ein zu hohes Maß an Emotionalität. Wenn immer es möglich ist, sollte eine Schlussrunde dezidiert angekündigt werden. Der Zeitzeuge soll wissen, dass er noch einmal, für heute aber auch zum letzten Mal, die Gelegenheit erhält, sich zu äußern. Je nach Gesprächsverlauf kann es sinnvoll sein, sich die Möglichkeit für ein weiteres Nachfragen zu eröffnen. Manche Historiker verpflichten sich, dem Zeitzeugen die Ergebnisse der Auswertung mitzuteilen, andere tun das bewusst nicht. III. Auswertung In der Regel wird nicht das gesamte Interview ausgewertet, sondern einzelne Aspekte. Dennoch sollte auf eine kurze Gesamtanalyse nicht verzichtet werden; dies ermöglicht, die Ansatzpunkte für die Auswertung noch einmal zu überdenken. 1. Das Interview als Ganzes strukturieren Haben mehrere Zuhörer das Gespräch mitgehört, ist ein probater Weg, jeden zu bitten die Aspekte festzuhalten, die er als besonders interessant einschätzt. Darunter sollten auch Interpretationen/Deutungen des Zeitzeugen sein. Ein systematischerer Weg ist, eine Strukturierung des Gesprächs nach den „Fokussierungen“ vorzunehmen, die der Zeitzeuge eingenommen hat. Der Begriff „Fokussierung“ wird hier im Sinne der Forschergruppe „FUER Geschichtsbewusstsein“15 verwendet. Damit ist gemeint, dass jeder, der sich historischen Entwicklungen und Veränderungen zuwendet, dies in unterschiedlichen Hinsichten tun kann: Er kann sich auf Vergangenes fokussieren, sein Interesse damit vorrangig auf die Re-Konstruktion von Vergangenem legen, mit dem Ziel, sich bestimmten Entwicklungen und Phänomenen möglichst plausibel anzunähern. In der Fokussierung auf Geschichte liegt das Hauptinteresse dagegen auf unterschiedlichen Interpretations- und Deutungsmöglichkeiten, mit denen eingeordnet wird, und deren jeweiliger Plausibilität. In der Fokussierung auf die eigene Gegenwart/Zukunft ist das Ziel, sich mit Hilfe von Vergangenem/Geschichte in seiner Zeit zu orientieren. – Zu einem reflektierten Umgang mit Geschichte ist nur der fähig, der alle Fokussierungen einnehmen und verknüpfen kann. Das Interview sollte in diesem Fall noch einmal abgespielt werden und nach den folgenden Leitfragen, eventuell in Form einer Tabelle, untergliedert werden. Eine Zeitspalte erleichtert das Wiederauffinden der Stellen, die Themenspalte die Auswahl der Analyseschwerpunkte: Zeit Thema An welchen Stellen ging es um die eigenen An welchen Stellen hat der Zeitzeuge interWo wollte er eine Botschaft für die Zukunft weitergeben? 15 „FUER“ ist eine Abkürzung, die das Ziel der Forschung verdeutlicht, nämlich, sich mit der Förderung und Entwicklung eines reflektierten Geschichtsbewusstseins zu befassen. 7 Erfahrungen? (Stichpunkte, was der Zeitzeuge jeweils beschreibt) pretiert/gedeutet? An welchen Stellen hat er zusätzliche Erklärungen gegeben? In welcher Rolle gab er die Erläuterungen? Welche Orientierungsangebote bietet er an? Fokussierung auf Vergangenes Fokussierung auf die Art der Erzählung Fokussierung auf Gegenwart/Zukunft Nach dieser ersten Gesamtanalyse ist zu klären, welche Stellen des Interviews aufgrund ihres Quellenwertes bzw. aufgrund der auffälligen Deutungen und Sinnbildungen16 näher betrachtet werden sollen. 2. Den Zeitzeugen als Quelle nutzen Wenn Vergangenes im Zentrum stehen soll, wird im Sinne einer „äußeren Quellenkritik“ gezielt der „Quellenwert“ des Zeitzeugen geklärt: Wie alt war der Zeitzeuge damals? War er vor Ort? Wie lange? Wie nahe war er am Geschehen? Wie war seine Position, seine Funktion, seine Rolle? Erst, wenn die äußere Quellenkritik ergeben hat, dass der Zeitzeuge zur Beantwortung der Fragestellung beitragen kann, erfolgt die immanente Analyse, also die „innere Quellenkritik“: • Was erzählt der Zeitzeuge zum jeweiligen Phänomen? (Oft müssen Aussagen aus unterschiedlichen Stellen des Gesprächs zusammengenommen werden). • Antwortete er auf Fragen oder brachte er das Gespräch selbst auf die Themen? • Was war für ihn besonders wichtig? (Hinweise ergeben sich u.a. daraus, dass der Zeitzeuge mehrfach darauf zu sprechen kommt, dass sich Körperhaltung und Diktion verändern, dass Schilderung/Interpretation/„Botschaft“ an derselben Stelle ansetzen). In einem weiteren Schritt geht es darum, die Aussagen des Zeitzeugen einzuordnen und mit Bekanntem zu vergleichen („Interpretation“). Gegebenenfalls müssen weitere Informationsquellen erschlossen werden. Den Abschluss bildet es, eine historische Darstellung zu schaffen, in die die Ergebnisse der Zeitzeugengespräche einfließen. Das Gespräch wird also für die Re-Konstruktion von Vergangenem genutzt. 3. Zeitzeugengespräche de-konstruieren Weil Zeitzeugengespräche notwendig historische Darstellungen sind, können sie „dekonstruiert“ werden. Damit ist gemeint, die Struktur der Narration zu erschließen, um auf diese Weise auf Deutungen und Sinnbildungen aufmerksam zu werden und sie, zumindest in Ansätzen, zu verstehen. – Manchmal erklären die Zeitzeugen ihrer Deutungen selbst. Dann ist es interessant zu schauen, ob die Erklärung sich im gesamten Gespräch durchhält. Brüche sind nicht selten Ansatzpunkte für weiterführende Nachfragen. 16 In dieser Fokussierung sind auch Behauptungen über Vergangenes von Interesse, die nicht plausibel sind. Fragen für die Analyse seiner Narration wären z.B., welche Erfahrungen den Zeitzeugen zu einer sachlich nicht triftigen Narration motivieren, wie er die Narration konstruiert und welche Belegstrukturen er für welche Adressaten aufbaut. Der Zeitzeuge wird nicht als Quelle für das historische Geschehen genutzt, eben weil seine Deutung nachgewiesenermaßen nicht haltbar ist. 8 Häufiger ist aber, dass Deutungen und Sinnbildungen im Gespräch nicht eigens erläutert werden. Man kann sie aber systematisch erschließen. Dazu kann z.B. gefragt werden, welche „Erinnerungspartikel“ der Zeitzeuge jeweils zu Narrationen zusammenführt, welche Hauptund Nebengeschichten er dadurch zum jeweiligen Thema erzählt. Richtet man hierbei die Aufmerksam auf die Kontextualisierungen, in die die Erfahrungspartikel eingebunden sind, so hat man einen Anhaltspunkt, um die Deutungen/Interpretationen zu erschließen, mit denen der Zeitzeuge seine Erinnerungen in Zusammenhänge stellt. Insbesondere interessieren hier, was als Ursache für Entwicklungen angesehen wird. Waren nach Ansicht des Zeitzeugen politische, wirtschaftliche, gesellschaftliche, kulturelle, individuelle Kräfte am Wirken, waren es Raum- oder Strukturbedingungen? Wird Veränderung mit Hilfe von Kommunikation/Medien erklärt? Wer wird als handelnd, wer als leidend, als sonst irgendwie betroffen ausgewiesen? In diesem Zusammenhang ist es aussagestark, die Verben zu betrachten, denn sie halten fest, was die Akteure tun, geben Hinweise auf Motivationen und Motive. Von Bedeutung ist auch der Wechsel ins Passivische oder die Verwendung des Pronomens „man“. Das können Indikatoren dafür sein, dass der Zeitzeuge Hintergründe nicht kennt oder nicht benennen will. Nachfragen oder Recherchen nach weiteren Materialien sind notwendig. Die Frage, ob Wertungen einfließen, die für Sinnbildungen stehen, ob normative Vorentscheidungen getroffen werden, lässt sich beantworten, wenn u.a. Adjektive, die für positive oder negative Einschätzungen stehen, gesucht werden oder urteilende Phrasen, Vergleiche, Metaphern. Wenn das Interview in seinen Teilen erschlossen ist, geht es darum, die Plausibilität derjenigen Vergangenheitsbezüge, Deutungen und Sinnbildungen zu prüfen, die irritieren. Die nahe liegende Frage ist, ob andere das ähnlich wie der Zeitzeuge sehen, bzw. ob abweichende Erfahrungen/Deutungen/Sinnbildungen plausibel und belegbar sind. Andere Quellen, eventuell auch andere Zeitzeugen, bzw. die Historiographie können in diesem Falle zur Beurteilung genutzt werden. Dabei sollte es nicht nur um Vergangenheitsbehauptungen gehen. Mindestens ebenso interessant ist es, die Triftigkeit von Deutungen zu hinterfragen: Belegen die Erfahrungen des Zeitzeugens seine Interpretation? Verallgemeinert er Einzelbeobachtungen? Belegt er seine Vergleiche? Beziehen die Erklärungen aktuelle Erfahrungen ein? Überprüft werden sollen auch die Botschaften an die Zuhörer: Lässt sich erklären, warum sie so lauten? Kann Vergangenheit die Gegenwart in der angebotenen Weise orientieren? Ist die Botschaft, die der Zeitzeuge vermittelt, für einen selbst“ von Relevanz (gegenwartszukunftsbezogen)? Den Schlusspunkt der De-Konstruktion setzt die abschließende Darstellung der Ergebnisse. ** Die Auswertung von Zeitzeugeninterviews, das sollte gezeigt werden, verlangt mehr als nur Zuhören. (Vor-)Wissen zu dieser besonderen Gattung historischer Narrationen und methodisches Know-how sollten dazu kommen. Wer Wissen mitbringt, kann auf die Untertöne hören. Dann aber sind Gespräche mit Zeitzeugen eine faszinierende Möglichkeit, nicht nur vergangene Erfahrungen zu erschließen, sondern auch den Umgang von Individuen und Gruppen mit Geschichte erfassen zu lernen. www.ku-eichstaett.de (Professur für Theorie und Didaktik der Geschichte)