Vortrag Oral History für die Schüler im Projekt "Denk mal" "Eigenes und Fremdes. Ernährungskultur stadtteilbezogen und familienbezogen. Was ist eigentlich Oral History. Übersetzt: mündliche Geschichte, manchmal auch erinnerte Geschichte, erzählte Geschichte. Es geht darum, Informationen über die Vergangenheit nicht wie traditionell in der Geschichtswissenschaft aus schriftlich verfaßten Dokumenten wie Akten, Zeitungen, manchmal auch Bildern, Tagebüchern etc. zu gewinnen, sondern aus Erzählungen von Menschen, sogenannten Zeitzeugen bzw. Zeitzeuginnen. Alle Dokumente, aus denen man Informationen aus der Vergangenheit gewinnen kann, werden in der Geschichtswissenschaft als Quellen bezeichnet. Die mündlich erzählten Quellen, von denen wir hier sprechen, gewinnt man aus Interviews mit den erwähnten Zeitzeugen. Der Vorgang ist eigentlich ganz einfach, und wird in ähnlicher Weise auch bei Gericht oder etwa in der Therapie angewandt. Die befragten Zeitzeugen oder Zeitzeuginnen werden darum gebeten, sich an vergangene Ereignisse zu erinnern und diese so präzise wie möglich zu schildern. Was sie dabei schildern können, hängt zum einen von ihrem Gedächtnis ab, zum andern aber auch davon, was sie und wie sie es selbst erlebt haben. An diesen beiden Punkten setzt die Kritik an der Oral History an: Das Gedächtnis kann sehr unzuverlässig sein (War es 1972 oder 1973, als die erste Mc Donalds-Filiale in Dortmund eröffnet wurde?); ebenso können Zeitzeugen und Zeitzeuginnen zu ganz unterschiedlichen Einschätzungen ihrer Erlebnisse kommen: Die Eröffnung der Filiale war ein Ereignis, dem man entgegen gefiebert hatte, weil man mit amerikanischer Esskultur auch ein Stück Weltläufigkeit für die Ruhrgebietsstadt verbunden hatte; oder aber: man hat überhaupt nicht davon mitbekommen, ist vielleicht irgendwann Monate später darauf aufmerksam geworden, daß es sich bei dem Schellrestaurant mit dem großen roten M um eine amerikanische Fastfood-Kette handelt. Wie war es denn nun wirklich, könnte man fragen. Sind die Aussagen der ZeitzeugInnen so persönlich geprägt, dass man keinen allgemeinen Eindruck von der Bedeutung der Eröffnung Mc Donalds-Filiale gewinnen kann? Ein dritter Kritikpunkt wird in diesem Zusammenhang auch immer wieder erwähnt: Die Beeinflussung der Aussagen der Zeitzeugen durch den Interviewpartner bzw. die Interviewpartnerin. Erinnerungen sind nicht etwas, was sich einmal im Gehirn abgelagert hat und dann nach 20, 30 Jahren immer wieder gleich erzählt wird. Dies hängt zum einen, wie bereits erwähnt, mit der Gedächtnisleistung zusammen; zum anderen aber auch, wem man warum seine Erinnerungen schildert. So könnte es sein, dass eine Zeitzeugin gegenüber einer Interviewpartnerin, die sich zuvor als sehr ernährungsbewusst oder Vegetarierin zu erkennen gegeben hatte, instinktiv davor zurückschreckt, ihre damalige (und vielleicht auch noch heutige) Begeisterung über einen Hamburger unumwunden zum Ausdruck zu bringen. Das sind menschliche Reaktionen, die sich automatisch einstellen können, wenn man über etwas berichten soll, worüber man sich heute vielleicht schämt. Dies ist in kleinen Alltagsfragen möglich und noch wahrscheinlicher, wenn man sich eine Gesprächssituation vorstellt, in der ein junger, politisch gegen Rechtsradikalismus aktiver Interviewer eine Zeitzeugin darüber befragt, ob sie damals vom Nationalsozialismus begeistert war. Die Frage, wie es denn wirklich war, ist aber in der Geschichtswissenschaft allgemein niemals so leicht zu beantworten. Um nochmals auf das Beispiel der McDonalds-Filiale zurück zu kommen: offenbar gab es, was auch gar nicht zu erwarten gewesen war, verschiedene Reaktionen. Um diese gewichten zu können, gibt es auch die Möglichkeit, in das Dortmunder Zeitungsarchiv zu gehen und sich dort Berichte über den Eröffnungstag anzuschauen (falls vorhanden). Das genaue Datum der Eröffnung kann aus den Zeitungsberichten oder auch aus den Akten im Dortmunder Stadtarchiv des Gewerbeaufsichtsamtes ermittelt werden. Was solche Quellen aber nicht liefern, sind Antworten auf Fragen nach der Bedeutung der Mac Donalds-Filiale für das Essverhalten der Menschen, nach der Freude, die der Genuß eines echten amerikanischen Cheeseburgers für die Menschen geboten hat, nach der Bedeutung der Filiale als Treffpunkt für Jugendliche oder als Ausrichtungsort für Kindergeburtstage. Wir können also festhalten, dass es für manche Fragen, die wir an die Geschichte stellen, keine (oder kaum) andere Quellen gibt als die von mündlich berichteten Erinnerungen. Wenn wir nach den alltäglichen Erfahrungen von Menschen, nach der Bedeutung von Ereignissen für ihr Leben fragen, können wir dies nur von ihnen selbst und nicht aus Akten oder Zeitungsberichten erfahren. Und manchmal ist es auch so, dass es für manche Ereignisse und Geschehnisse keine Akten oder andere Dokumente gibt, die darüber Auskunft geben könnten. Dies ist bei den Film „Der Untergang“ deutlich geworden, der von den letzen Tagen im Führerbunker in Berlin berichtet und sich dabei auch auf die Aussagen der persönlichen Sekretärin Hitlers, Traudl Jung, oder seines persönlichen Adjutanten stützt. Wie bereite ich ein Interview vor. Zunächst muß ich mir genauer darüber klar werden, was ich eigentlich herausfinden möchte. In unserem Projekt geht es unter dem Titel: Das Eigene und das Fremde insbesondere um Veränderungen in der Ernährungskultur. Es soll also zum einen herausgefunden haben, wie sich die Esskultur innerhalb der Familie durch die Begegnung mit einer fremden Esskultur verändert hat. Diese Frage stellt sich je nach familiärem Hintergrund, je nachdem, welche Esskultur als „die eigene“ begriffen wird, unterschiedlich dar. Ist die eigene Esskultur die deutsche (dabei gibt es natürlich auch regionale Unterschiede), dann kann ich meine Eltern und Großeltern z.B. danach fragen, ob sie sich daran erinnern können, als in ihrer Umgebung die erste Pizzeria oder das erste italienische Eiscafe eröffnet hat und wann sie ihren ersten Döner gegessen haben. Ich kann fragen, wann sie die erste Kiwi oder die erste Mango gekauft haben, ob sie neugierig oder misstrauisch waren, und ob es ihnen geschmeckt hat. Wichtig dabei ist, dass sie auch darüber berichten, wie sie zuvor gekocht haben, welche traditionellen Gerichte es in der Familie oder gar Familienrezepte es gab um herauszufinden, welche Veränderungen durch ihre Erfahrungen bewirkt wurden. Ein ähnliches Konzept kann ich entwerfen, um herauszufinden, was sich in meinem Stadtteil für Veränderungen aufgrund des Einflusses von ursprünglich nicht deutscher Esskultur ergeben haben: Kann sich meine Oma oder eine ältere Frau aus der Nachbarschaft noch daran erinnern, dass es Kolonialwarenläden in meinem Stadtteil gegeben hat? Und was ist das eigentlich? Wann eröffnete zuerst ein türkischer Gemüseladen oder eine Pizzeria in meinem Stadtteil? Ab wann ist man sonntags nach dem Familienausflug dorthin gegangen? Zur Vorbereitung des Interviews kann es auch wichtig sein, mich im Vorfeld schon über andere Quellen (Zeitungsartikel, Bücher) über das Thema zu informieren, soweit das möglich ist. Vielleicht gibt es schon ein Buch über die Geschichte der italienischen Eisdiele im Ruhrgebiet, vielleicht haben schon Schüler und Schülerinnen aus anderen Städten Projekte durchgeführt über Veränderungen der Esskultur im Stadtteil ihrer Schule und diese im Internet veröffentlicht? Nachdem ich mir geeignete Fragen überlegt habe, um auf das Thema meines Projektes Antworten finden zu können, schreibe ich mir diese als Fragekatalog auf, den ich beim Interview auch zur Hand habe. Aber: ich nudele die Fragen bei dem Gespräch nicht herunter, sie sind für mich nur eine Erinnerungsstütze. Es ist wichtig zu versuchen, die befragten Personen zum Erzählen zu bringen. Wenn sie sich dem Fluß ihrer Erinnerungen hingeben, wird zum einen ihr Gedächtnis stimuliert; zum anderen erhalte ich aus solchen Erzählungen, die vielleicht auch eine Geschichte darüber enthalten, wie erstaunt z.B. eine gerade eingewanderte türkische Familie über deutsche Gerichte wie saure Nierchen waren, interessante Informationen über die Bedeutung der Veränderungen für die einzelnen Befragten. Der Fragekatalog wird sich sicherlich schon nach dem ersten Interview verändern: Durch das Interview ergeben sich vielleicht ganz neue Einblicke in die Thematik oder man merkt, dass man mit seinen Fragen irgendwie am Bedarf vorbei produziert hat. Das ist aber normal und sollte nicht beunruhigen. Auswahl geeigneter Interviewpartner Auch hier ist die genaue Thematik meines Projektes von Bedeutung: Möchte ich Veränderungen z.B. in den 50er Jahren erfragen, muß ich Personen interviewen, die zu diesem Zeitpunkt schon alt genug waren, um sich daran erinnern zu können. Ich muß mich vergewissern, dass sie auch ausreichende Zeit in meinem Stadtteil gelebt haben, um dort Veränderungen erfahren zu haben. Interessant kann es auch sein, Personen verschiedener Generationen zu befragen, da sich dabei auch wichtige Unterschiede in den Eß- und Kochgewohnheiten vermuten lassen. Ganz wichtig ist natürlich die Frage, wo sie den größten Teil ihres Lebens verbracht haben, in Deutschland oder in der Türkei oder Rumänien etc., ob es sich um MigrantInnen der ersten Generation etc. handelt. Ich muß mir überlegen, welches „Mischungsverhältnis“ ich bei diesen Auswahlkriterien haben möchte. Um Zeitzeugen und Zeitzeuginnen für das eigene Projekt zu gewinnen, wird in der OralHistory-Forschung auch oft mit Zeitungsannoncen gearbeitet: Man setzt in den Stadtanzeiger oder die Lokalzeitung einen kleinen Aufruf, in dem man sein Projektvorhaben kurz schildert (es sollte auf jeden Fall seriös wirken) und um Mitarbeit bittet mit Kontaktadresse. Auf jeden Fall empfiehlt es sich, am Telefon nochmals ein kurzes Vorgespräch zu führen und dann einen Termin für einen Besuch abzusprechen. Wenn die Interviewpartner dazu bereit sind, ist es oft am günstigsten, das Gespräch in deren eigener Wohnung abzuhalten. Dort fühlen sie sich sicherer, dort haben sie vielleicht Fotos zur Hand, die ihre Erzählungen illustrieren, oder auch speziell in unserem Fall, vielleicht noch alte Rezeptbücher oder Kochutensilien. Es ist nicht zu empfehlen, als drei- oder vierköpfige Gruppe bei einem Interviewpartner oder einer –partnerin zu erscheinen; dies fördert keine vertraute Gesprächsatmosphäre, maximal zwei Interviewer bzw. Interviewerinnen sollten eine Zeitzeugin bzw. einen Zeitzeugen befragen. Bei der Interviewführung sollte man, wie gesagt, versuchen, die Interviewpartnerinnen ins Erzählen zu bringen; das bedeutet aber nicht, dass man teilnahmslos dabei sitzen sollte, sondern durch Nicken oder gelegentliches "Hhm, hhm" auch signalisieren muss, dass man zuhört und auch versteht, ansonsten könnte der Erzählfluss versiegen. Die Erfahrung aus den Oral-History-Projekten hat gezeigt, dass es häufig sinnvoll ist, die Interviews in drei Phasen zu gliedern: Eine erste, in der die Interviewten – nach einer Impulsfrage – so frei wie möglich erzählen können, eine zweite, in der es Nachfragen zu dieser Erzählung gibt, die sich der oder die Interviewerin während dieser Phase notiert hat (deshalb sollte man auch beim Interview stets einige Blätter dazu bereit haben), und eine dritte, in der die Interviewerin noch die Fragen aus seinem Fragekatalog stellt, die in den vorangegangenen Phasen nicht beantwortet worden sind. Dieser erste Teil bietet sich vor allem dann an, wenn es um lebensgeschichtlich angelegte Interviews geht. Dies ist bei dem aktuellen Projektvorhaben ja weniger der Fall, obwohl auch hier überlegt werden sollte, inwieweit die Lebensgeschichte der befragten Personen wichtig sind bei der Auswertung der Interviews. Technische Ausrüstung: Im Grunde genügt irgendeine Form eines funktionstüchtigen Aufnahmegerätes. Heutzutage Kleinformate; wichtig ist dass man für das gewählte Cassettenformat auch über ein geeignetes Abspielgerät verfügt. Man sollte sich auch stets vorher vergewissern, dass Batterie frisch ist, Akku funktioniert und ausreichend Cassetten zur Verfügung stehen; ein Cassettenwechsel ist unumgänglich je nach Dauer, unterbricht zwar den Gesprächsfaden, sollte deshalb so zügig wie möglich durchgeführt werden. Eine kurze Kontrolle sollte auch am Anfang erfolgen, dass der Interviewpartner nicht zu weit vom Gerät wegsitzt, damit die Aufnahmequalität ausreichend ist. Auswertung der Interviews Ein Erfahrungswert ist, dass man am besten mit abgetippten Manuskripten arbeitet, da die Informationen leichter verfügbar sind. Allerdings bieten die Interviews auch eine Vielzahl von parasprachlichen Äußerungen (Betonungen, Lachen, Seufzen, Stocken etc.), die auch sehr informativ sein können. Deshalb sollte man auch immer noch mit dem Band arbeiten (mit Hilfe der Bandzahlen auf dem Abspielgerät), um die Äußerungen besser verstehen und einordnen zu können. Man kann auch eine Mischung machen, in dem man wichtige Passagen wortwörtlich abtippt, und von anderen Passagen inhaltliche Zusammenfassungen (unter Angabe der Bandzahl) macht. Oft ergibt sich nun die Frage, was man mit dem Ganzen eigentlich herausgefunden hat. Die Ergebnisse sinnvoll zu ordnen und verallgemeinerbare Erkenntnisse zu gewinnen, ist gar nicht so einfach. Man vergleicht die unterschiedlichen Antworten auf die jeweiligen Fragen, versucht Gemeinsamkeiten und Unterschiede herauszufinden. Oft wird man merken, dass die Vorstellungen, die man zu Beginn des Projektes hatte, nicht mir den Aussagen der Interviewpartner übereinstimmen, und man ist vielleicht ärgerlich darüber. Auch für die Auswertung ist es immer gut, wenn das ganze Projekt ein Gruppenprojekt darstellt, in dem man sich mit den anderen Interviewern über seine Erfahrungen austauschen kann.