Ausstellungseröffnung Stadtmuseum Gerlingen

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Rede zur Eröffnung der Ausstellung „Auswanderung – Mobilität – Vertreibung: 300 Jahre
bewegende Geschichte“ im Stadtmuseum Gerlingen
So, 20. Mai 2012
Sehr geehrter Herr Bürgermeister Brenner, liebe Gäste – schön, dass so viele an einem
sonnigen Sonntagmorgen gekommen sind, um die feierliche Eröffnung der neuen Ausstellung
mitzuerleben.
Mein Name ist David Schaebs. Gemeinsam mit meinem Kollegen, Tilmann Janik, habe ich den
Seminarkurs am Robert-Bosch-Gymnasium Gerlingen durchgeführt, der einen Beitrag zu
dieser Ausstellung geleistet hat. Ich möchte ihnen einen kleinen Einblick geben in das, was wir
dabei gemacht haben und was die Schüler aus unserer Sicht dabei gelernt haben.
Zielsetzung eines Seminarkurses, der jährlich in der Kursstufe 1 der gymnasialen Oberstufe
angeboten wird, ist, den Schülern einen Einblick in wissenschaftliche Arbeitsweisen zu
vermitteln und dabei die Auseinandersetzung mit Themen zu ermöglichen, die für den
„normalen“ Schulalltag zu umfangreich und zu komplex wären.
In diesem Jahr haben wir sicherlich ein besonderes Thema und ein besonderes Vorgehen
gewählt: Zeitzeugen erzählen ihre Geschichte – die Ungarndeutschen in Gerlingen. Die Idee
dazu entstand vor einem Jahr, als wir von Frau Raible von der geplanten Neukonzeption der
Ausstellung erfuhren. Da wir beide Geschichtslehrer sind, bot sich also eine Kooperation an,
und damit auch die Chance, spannende Lebenserinnerungen einzelner Gerlinger Bürger für
eine breite Gerlinger Öffentlichkeit zugänglich zu machen.
In enger Zusammenarbeit mit dem Stadtmuseum haben sich die 16 teilnehmenden Schüler in
die Geschichte der Ungarndeutschen eingearbeitet und schließlich 16 Videointerviews
durchgeführt, die als Teil der Ausstellung an drei Videoterminals zu sehen sein werden. Dabei
wollten wir Erinnerungen und Geschichten von den Zeitzeugen der Vertreibung und des
Neuanfangs in Gerlingen festhalten und für die Nachwelt zugänglich machen.
Für Schüler und Lehrer bedeutete das einen enormen Arbeitsaufwand: Das Einarbeiten in
Recherchemethoden, das Einlesen in geschichtliche Zusammenhänge, die normalerweise im
Unterricht nur gestriffen werden, das Einüben in Interviewtechniken, in die Bedienung von
Kamera-, Ton- und Lichttechnik, in Software zum Schneiden und Verarbeiten von Filmen und
so weiter und so fort. Unterstützt wurden wir Lehrer dabei vom Landesmedienzentrum in
Stuttgart, von Journalisten, vor allem aber durch die hervorragende Zusammenarbeit mit der
Leiterin unseres Stadtmuseums, Fr. Dr. Catharina Raible.
Wir sehen in dem Beitrag des Seminarkurses einen Beitrag der Schule zum Stadtmuseum und
damit zur Stadt Gerlingen. Die Schule ist ein Teil dieser Stadt sein, so wie die Schüler als
Gerlinger ein Teil ihrer Bürgerschaft sind. Wir glauben, dass darin eine große Chance des
Projekts liegt: Die Schülerinnen und Schüler haben sich mit ihrer „Heimat“ intensiv
auseinander gesetzt, dadurch haben sie eine vertiefte Identität und eine engere Beziehung zu
Gerlingen erhalten. Dies ist uns in kleinen Bemerkungen immer wieder deutlich geworden,
etwa wenn eine Schülerin meinte, sie habe es gar nicht weit zu ihrem Zeitzeugen, der wohne
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gleich zwei Straßen weiter. Das verändert die Wahrnehmung: man sieht seinen Heimatort mit
anderen Augen, und sei es nur dadurch, dass man neue Menschen kennengelernt hat, die eine
so andere und zunächst fremde Lebensgeschichte haben, und doch fast Tür an Tür wohnen.
In welcher Weise Stadtmuseum und die Stadt Gerlingen von unserem Zeitzeugenprojekt
profitieren, scheint auf der Hand zu liegen: es gibt nun 16 Videointerviews mit
ungarndeutschen Gerlingern und auch „Ur-Gerlingern“, Erinnerungen, die ein Stück
Stadtgeschichte plastisch werden lassen und konservieren.
Was aber haben die Schüler davon? Erlauben sie mir, dazu einige Gedanken zu äußern.
Ich hatte eingangs über die Zielsetzung eines Seminarkurses gesprochen und gesagt, dass die
Schüler darin einen Einblick in wissenschaftliche Arbeitsweisen erhalten sollen und die
Bearbeitung komplexer Themen ermöglicht werden soll. Ohne Zweifel ist dies auch bei
unserem Seminarkurs geschehen. Die entscheidenden neuen Erfahrungen und damit das
eigentliche Lernen fanden unserer Einschätzung nach jedoch gar nicht auf dieser Ebene statt,
sondern in einem viel umfassenderen Sinn. Manchem der Schüler ist vielleicht noch gar nicht
voll bewusst, WAS er oder sie dazugelernt hat. Ich möchte dies uns allen kurz an drei
Punkten erläutern.
Also: Was haben die Schüler dadurch gelernt?
1. Sie haben gelernt, etwas nicht nur aus Interesse zu beginnen, sondern es auch zu Ende zu
bringen.
Zu Beginn erschien die Aufgabenstellung – wir wollen Videointerviews drehen, die dann in
einer Ausstellung öffentlich zu sehen sein werden – für manche wie ein schier
unüberwindbarer Berg. Viele Schüler starteten „bei Null“, jeweils in den ganz verschiedenen
Aspekten, was technisches Können, die Fähigkeit zur Organisation, den Aufbau und die
Entwicklung von Beziehungen betrifft usw. Zahllose Fragen und Bedenken wurden geäußert
und waren zu klären, vor allem was den Umgang mit Zeitzeugen betraf. Es gab Befürchtungen
und Sorgen: „Kann ich das überhaupt?“ „Wie soll ich mit einem fremden Menschen, der einer
ganz anderen Generation angehört, umgehen?“ „Wie reagiert diese Person auf mich?“
Und wir Lehrer müssen ehrlich zugeben: auch wir wussten auf manche dieser Fragen zunächst
keine endgültige Antwort: wir kannten die Zeitzeugen, die sich erst nach und nach bei uns
meldeten und fanden, ja auch nicht. Ein solches Projekt war auch für uns neu.
Doch Stück um Stück sind wir gemeinsam diesen Berg emporgestiegen. Als vor wenigen
Wochen die Videos fertiggestellt waren, schauten manche Schüler zurück und waren erstaunt,
dass sie nun tatsächlich –um im Bild zu bleiben – auf dem Gipfel standen: „Ich hätte nie
gedacht, dass ich so etwas kann.“ Oder – von anderen: „Ich hätte nie gedacht, dass du das
kannst.“
Rede zur Eröffnung der Ausstellung „Auswanderung – Mobilität – Vertreibung: 300 Jahre
bewegende Geschichte“ im Stadtmuseum Gerlingen
So, 20. Mai 2012
2. Damit kommen wir zum zweiten „Lernergebnis“: bei unserem Seminarkurs ging es nicht nur
darum, etwas irgendwie zu Ende zu bringen, sondern es SO zu Ende zu bringen, dass es
vorzeigbar ist – schließlich sollen die Filme im Stadtmuseum für lange Zeit sichtbar sein und
bleiben – für jeden Interessierten zugänglich.
Dies erfordert einen „langen Atem“. Es zwingt auch zur Selbständigkeit: natürlich gab es
aufkommende und unvorhergesehene Schwierigkeiten, die von jedem Einzelnen angepackt
und bewältigt werden mussten: das beginnt bei banalen Dingen wie dem selbständigen
Ausleihen einer Kamera beim LMZ in Stuttgart, dem Nachhaken, falls dann dort ein Kabel
mitzuliefern vergessen wurde, bis hin zum Umgang mit Krankheit eines Zeitzeugen und
dadurch entstehendem Termindrucks.
Das Suchen nach Lösungen, das Annehmen und Meistern von Herausforderungen führte
schließlich zur Erfahrung des eigenen Erfolgs, zur Erkenntnis: ich kann etwas. Es hat
Anstrengung, Zeit, Mühe, Freizeit gekostet, aber es ist fertig geworden und vorzeigbar.
Dies, das Erleben, etwas gut beendet zu haben, macht ein Stück weit lebenstüchtig, weil es
Zutrauen in die eigenen Fähigkeiten schafft. Und das ist ein zentrales Ziel von Schule und
Bildung! Man sollte diesen Aspekt nicht unterschätzen: wir alle – und die Schüler am meisten
– leben in einer Medienwelt voll scheinbarer digitaler und professioneller Perfektion. Natürlich
kann da der Einzelne mit seinen begrenzten Mitteln nichts von professioneller Qualität
erstellen. Wenn man dies aber akzeptiert, dann ist es – auch für uns als Lehrer – erstaunlich,
was am Ende dabei herausgekommen ist und wie vorzeigbar die Ergebnisse sind. Schließlich
hat sich daraus auch ein gewisser Stolz entwickelt: Diese Ausstellung ist auch meine
Ausstellung. Ich habe etwas dazu beigetragen.
Für die Filminterviews erhalten die Schüler – natürlich – eine Note. Sie sind aber weit mehr als
das, weit mehr als irgendein Produkt, das für das Erhalten einer mehr oder weniger
zufriedenstellenden Note abgegeben wurde (und anschließend irgendwo verschwindet, also
keine Relevanz besitzt). Die Filminterviews sind Ausdruck einer persönlichen Beziehung, einer
Begegnung zwischen verschiedenen Generationen mit ganz unterschiedlichen
Lebenshorizonten und Erfahrungen. Weit mehr als gegenüber Noten und Beurteilungen hat
das Filminterview die Schüler gegenüber „ihren“ Zeitzeugen verantwortlich gemacht.
Damit komme ich zum dritten und letzten Punkt:
3. Die Schüler haben über den Aufbau und die Gestaltung sozialer Beziehungen etwas
gelernt. Das vielzitierte „soziale Lernen“ ist kaum mess- und benotbar, dennoch vielleicht das
wichtigste „Produkt“ unseres Projekts: es sind generationenübergreifende Beziehungen
zwischen Schülern und Zeitzeugen entstanden.
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Hinter dem Film, den Sie gleich per Knopfdruck auf dem Monitor aufrufen können, steckt
nämlich eine kleine Beziehungsgeschichte, die für Schüler im Alter von 16 bis 18 Jahren
durchaus nicht selbstverständlich ist. Aber auch für die meisten Zeitzeugen war es das nicht:
junge, fremde Leute ins Haus zu lassen, mit ihnen persönliche Dinge zu teilen…
Zunächst war da der Kontaktaufbau: die Schüler haben selbstständig, meist zunächst
telefonisch, bei „ihrem“ Zeitzeugen angefragt, schließlich wurden mehrere Treffen vereinbart
und einige Gespräche geführt, bis dann irgendwann auch mal die Kamera mitlief. Kein
Gespräch, schon gar keines, bei dem es um persönliche, vielleicht auch intime Erinnerungen,
um die eigene Lebensgeschichte geht, kann funktionieren, wenn die Beziehungsebene nicht
stimmt. Hier haben unsere Schüler durchweg positive Erfahrungen gemacht: es entstanden
regelrecht kleine „Freundschaften“: die einen halfen einer Schülerin noch bei der
Seminararbeit, andere trafen sich nochmal zum Kaffeetrinken, viele Schüler waren vor einem
Monat beim Bundesschwabenball in der Stadthalle.
Dies zeigt: es hat eine Verständigung und ein Aufbau von Beziehungen über Generationen
hinweg stattgefunden, der über das reine Interview hinausgeht. Das hat uns als Lehrer mit am
meisten überrascht und gefreut, genauso aber auch die Schüler, die natürlicherweise zunächst
Befürchtungen und Unsicherheiten hatten.
Diese „Verzahnung“ der Generationen in Gerlingen führt auch zu einem tieferen Verständnis
der eigenen Gegenwart und der eigenen Lebensumstände: Zu hören, wie andere Menschen
Kindheit und Jugend verbrachten, unter welch schwierigen äußeren Umständen sie ihre
Jugend verbrachten, vertieft den Blick auf die eigene Gegenwart, er wird um die historische
Dimension des „Gewordenseins“ erweitert. Frieden, Wohlstand und Stabilität sind nicht
immer so selbstverständlich gewesen, wie sie es einem jungen Menschen in Gerlingen heute
erscheinen mögen.
In einem der Interviews fragt die Schülerin die interviewte Person, wie sie denn im Rückblick
ihre Jugend einschätze, die so anders und um so vieles schwerer gewesen sei. Die Antwort:
„Ich glaube, dass es die Jugend heute schwerer hat.“ Es sind auch solche Sätze und
Erkenntnisse, die „hängen bleiben“ und zum Nachdenken herausfordern. Sie sind aber nur
möglich, wenn Generationen miteinander ins Gespräch kommen.
Das dies hier so erfolgreich gelungen ist, dafür möchte ich mich stellvertretend auch für
meinen Kollegen Herrn Janik sowie den gesamten Seminarkurs sehr herzlich bei Frau Dr.
Raible bedanken, die mit großem Engagement, mit sehr viel Enthusiasmus, einem langen Atem
und viel Verständnis für die „Besonderheiten“ des Arbeitens mit der Schule und mit Schülern
für das Gelingen gesorgt hat, sowie natürlich bei allen Gerlingern, die sich bereiterklärt haben,
mitzumachen. Einige sind heute anwesend. Ich hoffe, Sie alle haben dies nicht bereut, sondern
im Gegenteil auch als bereichernde Erfahrung erlebt. Ihnen allen wünsche ich bei der
Besichtigung der Ausstellung viel Freude und auch etwas Zeit, um mal bei den Videoterminals
in die Filme hineinzuschauen.
Vielen Dank!
- David Schaebs
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