Stand Mai 2012 - Rechtsanwaltskanzlei Dr. Reinhard Marx

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Dr. Reinhard Marx
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Aktuelle Fragen des Aufenthalts- Asyl- und Flüchtingsrechts
4. Mai 2012
in Berlin
Gliederung:
A.
Aufenthaltsrecht
S. 2
I.
Erteilung und Verlängerung des Aufenthaltstitels
2
1.
Visum zu Besuchszwecken (§ 6 AufenthG)
2
2.
Dänemarkehe (§ 39 Nr. 3 AufenthV)
3
3.
Antrag auf Erteilung des Aufenthaltstitels
4
4.
Titelerteilungssperre nach § 10 Abs. 3 Satz 2 AufenthG
5
5.
Sicherung des Lebensunterhalts (§ 2 Abs. 3 AufentG)
7
a)
Individualbezogene Berechnung des Lebensunterhalts
7
b)
Höhe des Lebensunterhalts
8
6.
Anrechnung von Voraufenthaltszeiten (§ 26 Abs. 4 AufenthG
11
II.
Familienzusammenführung
12
1.
Anwendung des Unionsrechts
12
2.
Beweislast
13
3.
Sprachtest
14
4.
Eigenständiges Aufenthaltsrecht nach § 31 AufenthG
15
a)
Keine Anwendung der Dreijahresfrist des § 31 Abs. 1
Satz 1 Nr. 1 AufenthG)
15
b)
Abweichende Angaben im Scheidungsverfahren
zum Trennungszeitpunkt
16
c)
Bezugsperson der Unzumutbarkeit im Sinne von
§ 31 Abs. 2 Satz 2 AufenthG
16
d)
Misshandlungen in der Ehe
17
5.
Aufenthaltserlaubnis wegen besonderer Härte
(§ 36 Abs. 2 Satz 1 AufenthG)
19
III.
Ausweisung
19
1.
Vorrang des Unionsrechts
19
a)
Verbot der generalpräventiven Ausweisung
22
b)
Ausweisungsschutz für Daueraufenthaltsberechtigte
22
c)
Ausweisungsschutz für türkische Assoziationsberechtigte
25
d)
Ausweisungsschutz für
drittstaatsangehörige Daueraufenthaltsberechtigte
27
2.
Einchränkung der Generalprävention
28
3.
Tatsachengestützte ausweisungsrechtliche Bekämpfung
1
des Terrorismus (54 Nr. 5 AufenthG)
a)
Differenzierung zwischen Vereinigung und
individueller Unterstützung
b)
Begriff der individuellen Unterstützung
aa)
Begriff des „Sympathisanten“
bb)
Erfordernis der Zweckgerichtetheit der
individuellen Handlung
c)
Anforderungen an die Tatsachenfeststellungen
B.
Asylrecht
I.
Verordnung (EG) Nr. 343/2003 (Dublin II-Verordnung)
II.
Streitgegenstand im Asylverfahren
III.
Ausschluss vom Flüchtlingsschutz
IV.
„Wegfall-der-Umstände“-Klausel (Art. 1 C Nr. 5 Satz 1 und 6 Satz 7
GFK, Art. 11 Abs. 1 Buchst. e) und f) RL 2004/83/EG)
1.
Dauerhafte und grundlegende Veränderung der Umstände
2.
Spiegelbildlicher Ansatz
3.
Neuartige Umstände
4.
Subsidiärer Schutz im Widerrufsverfahren
V.
Subsidiärer Schutz nach Art. 15 Buchst. c) RL 2004/83/EG,
§ 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG
1.
Kein Erfordernis der individualbezogenen Gefährdung
2.
Prognosebasis
3.
Prognosemaßstab
a)
Funktion der Prognosemaßstabs
b)
Gefahrenprognose bei fehlenden
Unterscheidungsmerkmalen
c)
Gefahrenprognose bei
besonderen Unterscheidungsmerkmalen
d)
Gefahrenprognose bei Vorschädigung
(Art. 4 Abs. 4 RL 2004/83/EG)
31
31
32
32
34
37
40
40
42
45
48
48
49
52
53
54
54
56
57
57
57
59
60
A.
Aufenthaltsrecht
I.
Erteilung und Verlängerung des Aufenthaltstitels
1.
Visum zu Besuchszwecken (§ 6 AufenthG)
Der Antrag auf Erteilung eines Besuchervisums ist regelmäßig dahin auszulegen,
dass der Antragsteller auch nach Ablauf der Ablauf der Geltungsdauer an seinem
Besuchswunsch festhält, sodass er nicht nachträglich einen Daueraufenthalt
anstreben kann.1
Begründete Zweifel an der Rückkehrbereitschaft stehen der Erteilung eines
Besuchervisums entgegen.2
1
BVerwG, NVwZ 2011, 1201.
2
BVerwG, NVwZ 2011, 1201; BVerwG, Urt. v. 15. Nov. 2011 – BVerwG 1 C 15.10.
2
Ist der stammberechtigte Ehegatte pfegebedürftig, darf die Erteilung der
Aufenthaltserlaubnis zum Nachzug nicht wegen eines Visumverstoßes versagt
werden.3
Ist einem Familienmitglied ein Verlassen des Bundesgebietes nicht zuzumuten,
darf bei bestehender Familiengemeinschaft der ausreisepflichtige Angehörige
nicht auf das Visumverfahren verwiesen werden.4
Bei Minderjährigen mit Anspruch auf Erteilung der Aufenthaltserlaubnis (§ 28
Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AufenthG), wird das Ermessen (§ 27 Abs. 3 Satz 2
AufenthG) im Sinne des ausweisungsrechtlichen Minderjährigenschutzes (§ 56
Abs. 2 AufenthG) reduziert. Die unerlaubte Einreise5 wegen Fehlens des
erforderlichen Visums rechtfertigt nicht Verweisung auf das Visumverfahren.6
Ist die Rückkehr nach Ausreise zwecks Durchführung des Visumverfahrens nicht
absehbar, weil die deutsche Auslandsvertretung in der Türkei bei einer
Dänemarkehe die türkische Anerkennung der Ehe, ist nach § 5 Abs. 2 Satz 2 Alt.
2 AufenthG hiervon abzusehen.7
2.
Dänemarkehe (§ 39 Nr. 3 AufenthV)
Nach § 39 Nr. 3 AufenthV können Inhaber eines Schengen-Visums, das nicht
notwendigerweise von der Bundesrepublik ausgestellt sein muss, oder
sichtvermerksfreie Drittstaatsangehörige im Falle eines Anspruchs auf Erteilung
des Aufenthaltstitels diesen im Inland einholen. Hiervon betroffen sind etwa
Touristen, die während ihres Kurzaufenthaltes im Bundesgebiet heiraten und
daraufhin einen Anspruch auf eine Aufenthaltserlaubnis erwerben.8 Unabhängig
von den bei der Einreise bestehenden subjektiven Vorstellungen kann der
Inhaber eines Schengen-Visums ebenso wie der sichtvermerksfreie
Drittstaatsangehörige den Antrag im Inland stellen, wenn er nach der Einreise
durch Eheschließung die Voraussetzungen eines Rechtsanspruchs auf
Aufenthaltserlaubnis begründet. § 39 Nr. 3 AufenthV beruht auf der Überlegung,
dass bei Nachzugsberechtigten von visumfrei gestellten Drittstaatsangehörigen
auf die Wiederausreise verzichtet werden kann, weil diese Personen ohnehin
grundsätzlich ohne Vorabkontrolle Zugang zum Schengen-Gebiet haben. Bei
Inhabern eines Schengen-Visums ist eine Vorabkontrolle durch das
Visumverfahren bereits erfolgt.
Es kommt für § 39 Nr. 3 AufenthV nicht darauf an, ob der mit einem
Besuchervisum einreisende Antragsteller bei der Einreise bereits einen
dauerhaften Aufenthaltszweck anstrebte. Denn § 5 Abs. 2 AufenthG kommt erst
3
BVerfG (Kammer), InfAuslR 2011, 286.
4
BVerfG (Kammer), NVwZ-RR 2011, 585.
5
S. hierzu BVerwG, NVwZ 2011, 871 (874).
6
OVG NW, InfAuslR 2012, 59.
7
Nieders.OVG, InfAuslR 2012, 70 (73).
8 BR-Drucks
823/02, S. 182; siehe auch BR-Drucks 731/04, S. 182.
3
zur Anwendung, wenn die Voraussetzungen des § 39 Nr. 3 AufenthV nicht
erfüllt sind. Jeder Inhaber eines Schengen-Visums wird damit unabhängig von
dem mit der Einreise verfolgten Aufenthaltszweck – selbst wenn dieser auf einen
Daueraufenthalt gerichtet ist – von § 39 Nr. 3 AufenthV erfasst.9 Allerdings wird
vorausgesetzt, dass die Anspruchsvoraussetzungen nach der Eineise entstanden
sein müssen.
Mit „Einreise“ ist die Einreise in das Bundesgebiet10 und nicht die Einreise in
das Unionsgebiet11 gemeint. Die Rechtsprechung wendet deshalb § 39 Nr. 3
AufenthV nicht an, wenn der Antragsteller mit einem Schengen-Visum in einen
anderen Schengen-Staat oder in das Bundesgebiet einreist, anschließend in
Dänemark die Ehe schließt und erst danach in das Bundesgebiet einreist. In
diesem Fall seien die Anspruchsvoraussetzungen bereits vor der Einreise in das
Bundesgebiet entstanden.12 Mit Einreise sei die letzte Einreise in das
Bundesgebiet und nicht die erste Einreise gemeint.13 In diesem Fall ist aber das
Ermessen nach § 5 Abs. 2 Satz 2 AufenthG auszuüben.14 Regelmäßig müssen
sämtliche Anspruchsvoraussetzungen erst nach der Einreise entstanden sein. Es
reicht nicht aus, dass nur der Erwerb der Sprachkenntnisse nach der Einreise
erfolgt, die Ehe aber bereits vor der Einreise geschlossen wurde. 15 Nach der
Gegenmeinung kommt es auf die Gesamtheit aller Anspruchsvoraussetzungen
nach der Einreise an, sodass nicht jede einzelne Voraussetzung nach der Einreise
entstanden sein muss.16
3.
Antrag auf Erteilung des Aufenthaltstitels
Ein humanitärer Aufenthaltstitel kann nicht neben einem ehebezogenen
Aufenthaltstitel erteilt werden.17
Die Berufung auf eine Aufenthaltserlaubnis aus humanitären Gründen hat zur
Folge, dass die Behörde einen Anspruch auf Erteilung der Aufenthaltserlaubnis
9
BVerwG, NVwZ 2011, 495 (498) = InfAuslR 2011, 186; BVerwG, AuAS 2011, 122 (122 f.); OVG NW,
EZAR Nr. 14 = AuAS 2008, 77; VGH BW, InfAuslR 2008, 444 (448); BayVGH, AuAS 2009, 147 (148); so
Benassi, InfAuslR 2008, 127 (128); a.A. Nieders.OVG, InfAuslR 2009, 388; Nieders.OVG, AuAS 2009, 254
(255); Hess.VGH, InfAuslR 2009, 14 (15); VG Darmstadt, InfAuslR 2010, 67 (68); offen gelassen OVG
Berlin-Brandenburg, AuAS 2008, 158; siehe auch Welte, InfAuslR 2008, 387.
10
Hess.VGH, InfAuslR 2009, 14 (14 f.); VGH BW, InfAuslR 2008, 444 (448); Singer, InfAuslR 2010, 231
(233).
11
So Benassi, InfAuslR 2008, 127 (128).
12
Hess.VGH, InfAuslR 2009, 14 (14 f.); OVG NW, AuAS 2011, 2; VG München, InfAuslR 2011, 68 (69).
10 BVerwG, NVwZ 2011, 495 (498) = InfAuslR 2011, 186; BVerwG, NVwZ 2011, 871; dagegen
Oberhäuser, NVwZ 201225
14
VG München, InfAuslR 2011, 68 (69).
15
BVerwG, NVwZ 2011, 495 (498) = INfAuslR 2011, 186; Hess.VGH, InfAuslR 2009, 14 (15); Singer,
InfAuslR 2010, 231 (235); a.A. VGH BW, InfAuslR 2008, 444 (449).
16
VGH BW, InfAuslR 2008, 444 (449).
17
BVerwG, NVwZ-RR 2012, 44.
4
nach jeder in Betracht kommenden Vorschrift des 5. Abschnitts zu prüfen hat.18
Hat der Antragsteller etwa die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 25
Abs. 4 Satz 1 oder Abs. 5 AufenthG beantragt und wird nachträglich eine
Anordnung nach § 23 Abs. 1 AufenthG erlassen, so ist bei noch anhängigem
Antragsverfahren von Amts wegen zu prüfen, ob der Antragsteller auch die
Voraussetzungen nach der Anordnung erfüllt. Dementsprechend hat das
Verwaltungsgericht den Anspruch im anhängigen Prozess nach allen in Betracht
kommenden entsprechenden Vorschriften zu prüfen.
Auch ein Schengen-Visum ist geeignet, die Fortgeltungsfiktion des § 81 Abs. 4
AufenthG auszulösen.19
Ein verspätet gestellter Verlängerungsantrag begründet in der Regel keine
Fortgeltungsfiktion.20 Demgegenüber ging die Gegenmeinung davon aus, dass
Gesetzeswortlaut auch die Auslegung zulasse, dass der bisherige Aufenthaltstitel
vom Zeitpunkt seines Ablaufs bis zur behördlichen Entscheidung als
fortbestehend gilt, wenn der Antragsteller die Verlängerung oder Zweckänderung
beantragt. Das ist auch bei verspäteter Antragstellung der Fall,21 sodass in
diesem Fall die Antragstellung rückwirkend die Fortgeltungsfiktion an den
Ablauf der Geltungsdauer des Aufenthaltstitels anknüpft.
4.
Titelerteilungssperre nach § 10 Abs. 3 Satz 2 AufenthG
Ist der Asylantrag nach § 30 Abs. 3 AsylVfG abgelehnt worden, darf kein
Aufenthaltstitel erteilt werden (absolute Sperrwirkung). Die Sperrwirkung
nach § 10 Abs. 3 Satz 2 AufenthG hindert auch die Erteilung einer
Aufenthaltserlaubnis nach § 22 bis § 26 AufenthG. Dies ist, wie der Vergleich
zwischen § 23a Abs. 1 Satz 1 und § 25 Abs. 5 AufenthG verdeutlicht,
ungereimt. Dadurch wird ein rechtmäßiger Aufenthalt unmöglich gemacht. Im
aufenthaltsrechtlichen Verfahren ist nicht erneut die Rechtmäßigkeit der
Offensichtlichkeit der Asylablehnung zu prüfen.22 Der Bescheid des
Bundesamtes muss ausdrücklich auf die Norm des § 30 Abs. 3 AsylVfG
verweisen. Jedenfalls muss sich aus dem Bescheid eindeutig ergeben, dass der
Offensichtlichkeitsausspruch gerade auf diese Vorschrift gestützt wird.23
18 BVerwGE
126, 192 (194 f.) = NVwZ 2006, 1418 = InfAuslR 2007, 4; OVG NW, InfAuslR 2007, 109 =
AuAS 2007, 86
19
Nieders.OVG, InfAuslR 2012, 71.
20
BVerwG, NVwZ 2011. 1340; Nieders.OVG, NVwZ-RR 2010, 902 (903).
21 OVG
NW, AuAS 2006, 143; OVG NW, InfAuslR 2006, 448 (449 f.);OVG NW, EZAR 94 Nr. 6; OVG
NW, AuAS 2010, 207; VG Darmstadt, InfAuslR 2005, 467; Hofmann, in: Hofmann/Hoffmann,
Handkommentar AuslR, § 81 AufenthG Rdn. 30 ff.; a.A. OVG Rh-Pf, InfAuslR 2008, 441 ?; BayVGH,
InfAuslR 2009, 246 (247) = AuAS 2009, 223; Maor, in: Kluth/Hund/Maaßen, Zuwanderungsrecht, 2008,
S. 81 (116 f.) Rdn. 78; Zeitler, ZAR 2010, 133 (135); Huber, in: Hube ,AufenthG, 2010, § 81 AufenthG
Rdn. 8; unklar Hess.VGH, AuAS 2007, 74.
22
OVG MV, AuAS 2010, 243.
23
BVerwGE 134, 335 (342 f.) = InfAuslR 2010, 125 (127 f.) = NVwZ 2010, 386 = AUAS 2010, 45;
BVerwG, EZAR NF 33 Nr. 23; OVG MV, EZAR 28 Nr. 18 = InfAuslR 2008, 208; VGH BW, EZAR NF 28
Nr. 26.
5
Leitet das Bundesamt nach § 14a Abs. 2 AsylVfG das Asylverfahren ein, ist
§ 30 Abs. 3 Nr. 7 AsylVfG nicht anwendbar, sodass die Titelerteilungssperre
nicht eingreift.24 Nur dann, wenn aufgrund der zeitlich gestaffelten, sukzessiven
Stellung von Asylanträgen die Missbrauchsabsicht evident ist, darf der
Asylantrag des Kindes als offensichtlich unbegründet nach § 30 Abs. 3 Nr. 7
AsylVfG abgelehnt werden.25 Darüber hinaus muss das Offensichtlichkeitsurteil
des § 30 Abs. 3 AsylVfG jeweils gesondert im Blick auf die Voraussetzungen
der Asylanerkennung wie auf die Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG
festgestellt worden sein.26
Wird ein Klageverfahren durchgeführt und die Klage abgewiesen, kann wegen
der Titelerteilungssperre ein isolierter Anfechtungsantrag auf isolierte
Aufhebung des Offensichtlichkeitsausspruchs gestellt werden.27 Während im
Blick auf die nach Inkrafttreten der Regelung, also nach dem 1. Januar 2005,
noch anhängigen Verfahren der isolierte Anfechtungsantrag gestellt werden
kann, besteht für die vor diesem Zeitpunkt bestandskräftig abgeschlossenen
Asylverfahren nicht die Möglichkeit, nachträglich den isolierten
Anfechtungsantrag zu stellen. Die Titelerteilungssperre des § 10 Abs. 3 Satz 2
AufenthG erfasst deshalb nicht die vor dem Inkrafttreten der Vorschrift bereits
bestandskräftig abgeschlossenen Asylverfahren. Im Hinblick auf Art. 19 Abs. 4
GG erscheint eine derartig einschneidende Rechtsfolge nur dann gerechtfertigt,
wenn der Betroffene die Möglichkeit hat, einen unzutreffenden
Offensichtlichkeitsausspruch gerichtlich überprüfen zu lassen.28
Die aufgrund von § 10 Abs. 3 Satz 2 AufenthG eingetretene Sperrwirkung
entfällt nach der Rechtsprechung des BVerwG nicht durch nachträgliche
Rücknahme des Asylantrags. Weder die gesetzgeberische Bewertung der in
§ 30 Abs. 3 AsylVfG bezeichneten Verhaltensweisen als Missbrauch noch die
dadurch ausgelöste aufenthaltsrechtliche Sanktion verlören ihre Rechtfertigung,
wenn der Betroffene den Asylantrag nach Erlass des auf § 30 Abs. 3 AsylVfG
gestützten Asylbescheids zurücknehme.29 Der Betroffene ist daher auch dann,
wenn die Ausländerbehörde signalisiert, die Voraussetzungen eines humanitären
Aufenthaltstitels lägen vor, gut beraten, zunächst den gegen den
Offensichtlichkeitsausspruch gerichteten isolierten Aufhebungsantrag (siehe
Rn 335) fortzusetzen.
Hat der Antragsteller einen Anspruch auf Erteilung eines Aufenthaltstitels (z.B.
§ 28 Abs. 1, § 30 Abs. 1, § 32 Abs. 2 und 3 AufenthG), ist über diesen durch die
Ausländerbehörde eine Entscheidung herbeizuführen. Die Titelerteilungssperre
24
BVerwGE 127, 161 (177) = InfAuslR 2007, 213 07 = NvWz 2007, 465 = EZAR 95 Nr. 11.
25
BVerwGE 127, 161 (171) = InfAuslR 2007, 213 07 = NvWz 2007, 465 = EZAR 95 Nr. 11.
26
OVG MV, EZAR 28 Nr. 18 = InfAuslR 2008, 208, ebenso BVerwGE 132, 382 (386) = NVwZ 2009, 789 =
InfAuslR 2009, 224 = AuAS 2009, 89, aber im Ergebnis offen gelassen.
27
BVerwGE 127, 161 (171) = InfAuslR 2007, 213 07 = NvWz 2007, 465 = EZAR 95 Nr. 11; BVerwGE 134,
335 (339) = InfAuslR 2010, 125 (126) = NVwZ 2010, 386 = AUAS 2010, 45.
28
BVerwGE 134, 335 (339) = InfAuslR 2010, 125 (126) = NVwZ 2010, 386 = AuAS 2010, 45.
29
BVerwGE 132, 382 (386 f.) = NVwZ 2009, 789 = InfAuslR 2009, 224 = AuAS 2009, 89.
6
findet keine Anwendung (§ 10 Abs. 3 Satz 3 1. Hs. AufenthG). Ein gesetzlicher
Anspruch liegt vor, wenn das Gesetz ausdrücklich die Erteilung des
Aufenthaltstitels anordnet und die im Gesetz hierfür bezeichneten
Voraussetzungen vorliegen. Die Auffassung, die Ausnahmeregelung des § 10
Abs. 3 Satz 3 AufenthG erfasse auch die Fälle der Ermessensreduktion, hat das
BVerwG ausdrücklich zurückgewiesen.30
Die Titelerteilungssperre entfällt darüber hinaus auch dann, wenn der
Antragsteller die Voraussetzungen des § 25 Abs. 3 AufenthG erfüllt (§ 10
Abs. 3 Satz 3 2. Hs. AufenthG). Dies bedeutet, dass ungeachtet der Ablehnung
des Antrags auf Asylanerkennung und Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft
als offensichtlich unbegründet nach Maßgabe des § 30 Abs. 3 AsylVfG die
Aufenthaltserlaubnis zu erteilen ist, wenn das Bundesamt ein
Abschiebungshindernis nach § 60 Abs. 2 bis 5 oder Abs. 7 AufenthG festgestellt
hat (Nr. 10.3.3.2 AufenthG-VwV). Die Voraussetzungen des § 25 Abs. 3
AufenthG liegen nicht vor, wenn ein Ausschlussgrund nach § 25 Abs. 3 Satz 2
und 3 AufenthG vorliegt (vgl. auch Art. 17 Abs. 1 RL 2004/83/EG). Der
Anspruch nach § 25 Abs. 3 AufenthG ist andererseits nicht von den
Regelerteilungsgründen abhängig (§ 5 Abs. 3 Satz 1 AufenthG). Die
Ausnahmeregelung des § 10 Abs. 3 Satz 3 2. Hs. AufenthG ist dem
Rechtsanwendungsvorrang des Art. 24 Abs. 2 RL 2004/83/EG geschuldet.
Die Titelerteilungssperre des § 11 Abs. 1 Satz 2 AufenthG ist in ihrer Wirkung
auf die Titel nach dem 5. Abschnitt des AufenthG beschränkt.31
5.
Sicherung des Lebensunterhalts (§ 2 Abs. 3 AufentG)
a)
Individualbezogene Berechnung des Lebensunterhalts
Bei der Erteilung der Aufenthaltserlaubnis wie auch der Niederlassungserlaubnis
(vgl. § 9 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2, § 26 Abs. 4 Satz 2 AufenthG) kommt es
ausschließlich auf den Lebensunterhalt des Antragstellers an. Leistungen für
Familienangehörige sind nicht anzusetzen, da sich § 2 Abs. 3 AufenthG lediglich
auf den Lebensunterhalt des einzelnen Antragstellers bezieht. Zwar differenziert
die Rechtsprechung danach, ob eine Aufenthaltserlaubnis zum Familiennachzug
oder ob eine Niederlassungserlaubnis beantragt wird und stellt beim Nachzug auf
den Gesamtbedarf des Stammberechtigten und seiner unterhaltsberechtigten
Familienangehörigen ab.32 Hiergegen hat das BVerfG eingewandt, es komme
auch beim Nachzug allein auf den einen Aufenthaltstitel begehrenden
Antragsteller an.33 Einigkeit besteht, dass es bei der Niederlassungserlaubnis
unerheblich ist, ob auch der Lebensunterhalt der Angehörigen sichergestellt ist.34
30
BVerwGE 132, 382 (390) = NVwZ 2009, 789 = InfAuslR 2009, 224 = AuAS 2009, 89; dafür: Müller, in:
Hofmann/Hoffmann, AuslR, § 10 AufenthG Rn 5, 15; Huber, in: Huber, AufenthG, § 10 AufenthG Rn 11.
31
BVerwGE 136, 284 (288) = InfAuslR 2010, 353)
32 Hess.VGH, InfAuslR 2010, 299 (300); VG Stuttgart, AuAS 2006, 206; ausführlich Marx, Aufenthalts-,
Asyl- und Flüchtlingsrecht, 4. Auflage, 2011, S. 116 ff..
33
BVerfG (Kammer), NVwZ 20071302 (1303) = InfAuslR 2007, 336 = AuAS 2007, 182.
34
Hess.VGH, InfAuslR 2010, 299 (300); VG Neustadt, InfAuslR 2008, 219.
7
Eine Zusammenrechnung ist hingegen ausgeschlossen, wenn hierdurch die
Ehegatten schlechter gestellt sein würden als im Falle der Trennung (Nr. 2.3.2.1
Abs. 4 AufenthG-VwV).35 Ein eventueller Bezug von Sozialleistungen durch
deutsche Unterhaltsberechtigte ist insoweit ohne Bedeutung.36
Der Umstand, dass Familienangehörige auf Sozialleistungen angewiesen sind,
begründet einen Ausweisungstatbestand nach § 55 Abs. 2 Nr. 6 AufenthG. Aus
diesem Grund werden in der Verwaltungspraxis bei der Berechnung der Höhe
des Lebensunterhaltes regelmäßig auch die Familienangehörigen einbezogen.
Der Bezug von Leistungen nach dem AsylbLG ist hingegen nicht als Sozialhilfe
eingestuft, sodass deren Bezug durch einen Angehörigen keinen
Ausweisungsgrund erfüllt.37 Bei alleinstehenden Antragstellern ohne Bindungen
im Bundesgebiet ist hingegen allein auf dessen Person abzustellen. Es darf der
Bedarf nur solcher Personen zugrunde gelegt werden, denen gegenüber der
Antragsteller gesetzlich oder vertraglich zum Unterhalt verpflichtet ist. Dazu
gehören einerseits auch Familienangehörige, die nicht mit dem Antragsteller in
häuslicher Lebensgemeinschaft leben, andererseits aber nicht solche Personen,
die mit dem Antragsteller zwar zusammenleben, wie die Lebenspartnerin sowie
deren Kind, das nicht gemeinsames Kind der Partnerin und des Antragstellers ist.
Nicht titulierte Unterhaltsansprüche von im Ausland lebenden Kindern dürfen
aus unionsrechtlichen Gründen nicht berücksichtigt werden.38 Das Gesetz bietet
keine Rechtsgrundlage, dass derjenige Antragsteller, der selbst über
ausreichendes
Einkommen
verfügt,
gewissermaßen
unter
den
sozialleistungsrechtlichen Bedarf „arm gerechnet“ wird zugunsten anderer
Ausländer, denen er rechtlich nichts schuldet, mit der Folge, dass dann
gegebenenfalls bei keiner Person der Lebensunterhalt mehr gesichert ist. 39 Der
Abzug eines titulierten Unterhaltsanspruchs ist hingegen nach Art. 7 Abs. 1
Buchst. c) RL 2003/86/EG zulässig.40
Bei der Niederlassungserlaubnis nach § 28 Abs. 2 Satz 1 AufenthG kommt es
grundsätzliche auf eine individualbezogene Betrachtung an.41
b) Höhe des Lebensunterhalts
Der Bedarf für den Lebensunterhalt ist nach den besonderen Umständen des
Einzelfalles unter dem Gesichtspunkt eines menschenwürdigen Daseins und der
persönlichen Lebenssituation wie Alter, Beruf und Familienstand sowie
Gesundheitszustand zu ermitteln. Der Standard des notwendigen
Lebensunterhalts wird durch das AufenthG nicht näher bestimmt. Als
35
So auch BVerfG, InfAuslR 2007, 336 (338).
36
BVerwGE 122, 94 (101) = NVwZ 2005, 460; VG Düsseldorf, InfAuslR 1993, 344; VG Hamburg, NVwZRR 2008, 831.
37
Hess.VGH, InfAuslR 2010, 299 (302)..
38
VG Berlin, U. v. 17. 6. 2010 – VG 15 K 239.09 V; gegen BVerwG, U. v.7. 4. 2009 – BVerwG 1 C 32.07.
39 VG
Berlin, AuAS 2006, 206 (206 f.).
40
VG Berlin, U. v. 17. 6. 2010 – VG 15 K 239.09 V; gegen BVerwG, U. v.7. 4. 2009 – BVerwG 1 C 32.07.
41
BVerwG, InfAuslR 2012, 53
8
Anhaltspunkte für die Bedarfsermittlung können die nach § 28 SGB XII
festgesetzten Regelsätze zuzüglich der angemessenen Kosten für Unterkunft und
Heizung (§ 19 Nr. 1 SGB II) sowie Beiträge zu Kranken- und Pflegeversicherung
sowie alle weiteren in § 11 Abs. 2 SGB II herangezogen werden (Nr. 2.3.4
AufenthG-VwV).42 Die Regelleistungen des SGB II umfassen – wie bereits der
notwendige Lebensunterhalt nach § 12 BSHG, der allerdings durch laufende und
einmalige Leistungen gedeckt wurde – insbesondere Ernährung, Kleidung,
Körperpflege, Hausrat, Bedarf des täglichen Lebens sowie in vertretbarem
Umfang auch Beziehungen zur Umwelt und eine Teilnahme am kulturellen
Leben (§ 20 Abs. 1 SGB II). Das Existenzminimum entspricht danach der
Summe der jeweiligen Regelbedarfssätze der einzelnen Familienmitglieder nach
Maßgabe der jeweiligen landesrechtlichen Rechtsverordnung aufgrund von § 28
Abs. 2 Satz 1 SGB XII, den Unterkunftskosten (Miete und Nebenkosten) für
ausreichenden Wohnraum und den für die Familie voraussichtlich
aufzubringenden Kranken- und Pflegeversicherungsbeiträgen.43
Sowohl nach § 28 Abs. 2 Satz 1 SGB XII in Verbindung mit der jeweiligen
landesrechtlichen Regelsatzfestsetzungsverordnung (§ 40 SGB XII) wie auch
nach § 20 Abs. 2 SGB II wird der gesamte Bedarf zur Sicherung des
notwendigen Lebensunterhalts mit Ausnahme der Unterkunfts- und Nebenkosten
(§ 29 Abs. 1 SGB XX/§ 22 SGB II) sowie der Beiträge zur Kranken- und
Pflegeversicherung (§ 32 SGB XII/§ 26 SGB II)
–
_
-
für Haushaltsvorstände oder Alleinstehende mit Euro 364,– (§ 20 Abs. 2
SGB II) mit,
für den Partner ab Beginn des 19. Lebensjahres betragen die
entsprechenden Werte Euro 328,für nicht erwerbsfähige Angehörige der Bedarfsgemeinschaften (§ 7
Abs. 3 SGB II) ab Vollendung des 14. Jahren Euro 291,–,
Kinder ab 6 bis einschließlich 13 Jahren Euro 251,--Kinder ab 14 bis einschließlich 17 Jahren Euro 287,-und Kinder bis zur Vollendung des 5. Lebensjahres Euro 215,–.
Nach der Rechtsprechung des BVerwG wird jedoch bei erwerbstätigen
Zusammenführenden außerhalb des Unionsrechts vom Bruttolohn gemäß § 11 Abs. 2
Satz 2 SGB II ein pauschalisierter Betrag von 100,-- Euro abgesetzt. Darüber hinaus
wird eine weitere Einkommensreduzierung um die nach § 11 Abs. 2 Satz 1 Nr. 6 in
Verb. mit § 30 SGB II vom Einkommen abzusetzenden Freibeträge vorgenommen. Das
BVerwG räumt zwar ein, dass seine Auslegung des § 11 Abs. 2 SGB II sich nicht aus
dem Wortlaut dieser Norm herleiten lasse. Sinn und Zweck der Norm in Verbindung mit
den Gesetzesmaterialien und der systematischen Stellung im Rahmen des AufenthG
stützten indes seine Ansicht. Nach Sinn und Zweck des § 11 Abs. 2 SGB II sollten „neue
Belastungen für die öffentlichen Haushalte“ vermieden werden. Dies spreche dafür, dass
im Falle eines voraussichtlichen Anspruchs auf öffentliche Mittel – soweit sie nicht
ausdrücklich nach § 2 Abs. 3 Satz 2 AufenthG außer Betracht zu bleiben hätten – der
42 OVG
Berlin, InfAuslR 2006, 277 (278); OVG Berlin, InfAuslR 2003, 138 (140) = NVwZ-RR 2003, 527;
OVG Berlin, InfAuslR 2005, 110 (111); VG Berlin, InfAuslR 2006, 21 (22); VG Stuttgart, AuAS 2006, 206.
43. OVG Berlin, InfAuslR 2003, 138 (140) = NVwZ-RR 2003, 527; OVG Berlin, InfAuslR 2004, 237 (238);
OVG Berlin, InfAuslR 2005, 110.
9
Lebensunterhalt nicht als gesichert angesehen werden könne, da dann auch eine
Inanspruchnahme dieser Mittel zu erwarten oder jedenfalls nicht auszuschließen sei.44
Ob die Leistungen tatsächlich in Anspruch genommen würden, sei nach dem
gesetzgeberischen Regelungsmodell unerheblich. Wenn der Gesetzgeber
zusätzliche Belastungen für öffentliche Haushalte vermeiden wolle, nehme er es
auch in seinen Willen auf, dass sich die Nachzugsvoraussetzungen bei steigenden
Sozialleistungen für den Lebensunterhalt zwangsläufig verschärften. Derartige
fiktive Berechnungsmodelle sind für gemeinschaftsrechtliche Sachverhalte
(Familienzusammenführung zu Drittstaatsangehörigen, Erlaubnis zum
Daueraufenthalt-EG) nicht zulässig. Nach der Rechtsprechung des EuGH ist der
Begriff „Sozialhilfe“ in Art. 7 Abs. 1 Buchst. c) RL 2003/86/EG dahin
auszulegen, dass er sich auf eine Hilfe bezieht, die einen Mangel an
ausreichenden festen und regelmäßigen Einkünften ausgleicht, nicht aber eine
Hilfe, die es erlauben würde, außergewöhnliche oder unvorhergesehene
Bedürfnisse (besondere Sozialhilfe) zu befriedigen45 Daher darf bei der
Berechnung des berücksichtigungsfähigen Einkommens kein Abzug der
Freibeträge nach § 11 Abs. 2 Satz 1 Nr. 6 in Verb. mit § 30 SGB II
vorgenommen werden.46
Die Rechtsprechung des BVerwG führt zu einem fiktiven Armerechnen, wie am
folgenden Beispiel eines Bruttogehalts von 1.000,-- Euro aufgezeigt wird: Vom
monatlichen um die Sozialabgaben verminderten Bruttogehalt (Nettogehalt) sind
die Pauschale von Euro 100,- nach § 11 Abs. 2 Satz 2 SGB II und die Freibeträge
nach § 11 Abs. 2 Nr. 6 in Verb. mit § 30 SGB II abzuziehen Schließlich wird der
um 100,- Euro verminderte Nettoverdienst um die Freibeträge nach § 30 SGB II,
also 20% von 700,- Euro (§ 30 Nr. 1 SGB II) sowie 10% von 200,- Euro (§ 30
Nr. 2 SGB II) – im konkreten Beispiel also insgesamt 160,- Euro, vermindert.
Nach der Rechtsprechung des EuGH ist der Begriff „Sozialhilfe“ in Art. 7 Abs. 1
Buchst. c) RL 2003/86/EG dahin auszulegen, dass er sich auf eine Hilfe bezieht,
die einen Mangel an ausreichenden festen und regelmäßigen Einkünften
ausgleicht, nicht aber eine Hilfe, die es erlauben würde, außergewöhnliche oder
unvorhergesehene Bedürfnisse (besondere Sozialhilfe) zu befriedigen47 Daher
darf bei der Berechnung des berücksichtigungsfähigen Einkommens kein Abzug
der Freibeträge nach § 11 Abs. 2 Satz 1 Nr. 6 i.V.m. § 30 SGB II vorgenommen
werden.48 Inzwischen hat das BVerwG seine Rechtsprechung überprüft und
eingeräumt, dass der Freibetrag für Erwerbstätige nach § 11 Abs. 2 Satz 1 Nr. 6
i.V.m. § 30 SGB II, der in erster Linie aus arbeitsmarktpolitischen Gründen
gewährt wird, nicht dem unionsrechtlichen Begriff der Sozialhilfe zuzuordnen sei
44
BVerwGE 131, 370 (377) = InfAuslR 2009, 8 (11) = AuAS 2009, 14
EuGH, InfAuslR 2010, 221 (222) = NVwZ 2010, 697, Rdn. 48 – Chakroun; zust. Huber, NVwZ 2010, 701
(702);Zeran, InfAuslR 2010, 223.
45
VG Berlin, U. v. 17. 6. 2010 – VG 15 K 239.09 V; Marx, ZAR 2010, 222 (226), beide gegen BVerwGE
131, 370 (377) = InfAuslR 2009, 8 (11) = AuAS 2009, 14, offen gelassen Dörig, NVwZ 2010, 921 (925).
46
47 EuGH, InfAuslR 2010, 221 (222) = NVwZ 2010, 697, Rn 48 – Chakroun; zust. Huber, NVwZ 2010, 701
(702); Zeran, InfAuslR 2010, 223.
48 VG Berlin, Urt. v. 17. 6. 2010 – VG 15 K 239.09 V; Marx, ZAR 2010, 222 (226), beide gegen BVerwGE
131, 370 (377) = InfAuslR 2009, 8 (11) = AuAS 2009, 14, offen gelassen Dörig, NVwZ 2010, 921 (925).
10
und deshalb nicht berücksichtigt werden dürfe. Die Werbungskostenpauschale in
Höhe von 100,00 EUR nach § 11 Abs. 2 Satz 2 SGB II wird hingegen ersetzt
durch eine individuelle Prüfung. Daher sei zu berücksichtigen, dass der
Betroffene einen geringeren als die gesetzlich veranschlagten 100,00 EUR
nachweisen kann.49
6.
Anrechnung von Voraufenthaltszeiten nach § 26 Abs. 4 AufenthG
Zeiten des Besitzes einer Duldung vor dem 1. Januar 2005 werden angerechnet
(§ 102 Abs. 2 AufenthG). Duldungszeiten nach dem 1. Januar 2005 können nicht
berücksichtigt werden. Maßgebend ist eine materiellrechtliche Betrachtung. Da
der Gesetzgeber nicht auf die Duldungsbescheinigung nach § 66 Abs. 1 Satz 1
AuslG 1990 abstellt, werden alle Zeiten, in denen eine Abschiebung aus
rechtlichen oder tatsächlichen Gründen nach § 55 Abs. 2, Abs. 4 Satz 1 AuslG
1990 nicht zulässig war, unabhängig davon angerechnet, ob der Antragsteller
deshalb im Besitz der Duldungsbescheinigung war oder nicht. Das BVerwG
wendet den Grundsatz des fort Das Erfordernis eines grundsätzlich
durchgehenden Titelbesitzes gilt auch im Rahmen der Anrechnung der Zeiten
des Besitzes einer Aufenthaltsbefugnis oder einer Duldung (§ 102 Abs. 2
AufenthG). Deshalb müssen die entsprechenden Anrechnungszeiten
„grundsätzlich nahtlos ineinander übergehen“. Unterbrechungen können
jedoch bis zu einem Jahr geheilt werden. Dies gilt auch für Unterbrechungen in
Zeiten des Besitzes einer Aufenthaltsbefugnis oder einer Duldung. Beträgt die
Unterbrechung nur wenige Tage, ist das behördliche Ermessen auf Null
reduziert. Die Zeit der Unterbrechung wird auf die Siebenjahresfrist nicht
angerechnet.50
Das der Erteilung der Aufenthaltserlaubnis zuletzt vorangegangene Asylverfahren
wird auf die Frist angerechnet. Bei mehreren Asylverfahren wird mithin nur die
Dauer des der Erteilung der Aufenthaltserlaubnis unmittelbar vorangegangenen
Asylverfahrens berücksichtigt.51 Ein durch einen Asylfolgeantrag eingeleitetes
Asylverfahren ist ein Asylverfahren. In diesem Fall werden unabhängig vom
Ausgang des
eingeleiteten
Asylverfahrens
nur
die
Zeiten
des
Folgeantragsverfahrens und nicht die des ersten Asylverfahrens angerechnet.
Führt der gestellte Folgeantrag nicht zur Durchführung eines Asylverfahrens, weil
die Zulässigkeitsvoraussetzungen (§ 51 Abs. 1 bis 3 VwVfG) verneint wurden
oder der Antragsteller den Antrag zurückgenommen hatte, ist kein weiteres
Asylverfahren durchgeführt worden. In diesem Fall werden die Aufenthaltszeiten
des ersten Asylverfahrens berücksichtigt. Das Asylfolgeantragsverfahren wird
danach jedenfalls dann ausschließlich berücksichtigt, wenn es zur Durchführung
eines weiteren Verfahrens geführt hat.52Darüber hinaus werden auch die
49
BVerwGE 138, 353 = InfAuslR 2011, 144 (148) = AuAS 2011, 62 Rn 31 ff.,
50 BVerwGE
135, 225 (231 ff.) = NVwZ 2010, 914; Hess.VGH, EZAR NF 24 Nr. 4 = ZAR 2007, 332; VGH
BW, EZAR NF 24 Nr. 5 = ZAR 2007, 333; OVG Sachsen, EZAR NF 24 Nr. 1 = ZAR 2007, 246.
51 BVerwG, InfAuslR 1998, 10 (12) = NVwZ 1998, 191 = EZAR 015 Nr. 15; VGH BW, InfAuslR 1996, 205
(207); BVerwG, InfAuslR 2012, 55 = NVwZ-RR 2012, 41.
52 VGH
BW, InfAuslR 1996, 205 (207).
11
Aufenthaltszeiten während der Zulässigkeitsprüfung des Asylfolgeantrags
berücksichtigt, wenn der Antragsteller während dieser Zeit im Besitz einer
Aufenthaltserlaubnis nach dem 5. Abschnitt des 2. Kapitels des AufenthG unter
Berücksichtigung der Fortgeltungsregelung des § 101 Abs. 2 AufenthG gewesen
war. Für die Zeit bis zum 31. Dezember 2004 werden darüber hinaus auch Zeiten
der Duldung angerechnet (vgl. § 102 Abs. 2 AufenthG). Wurde kein weiteres
Asylverfahren eingeleitet, hindert deshalb der gestellte Folgeantrag, der nicht zur
Durchführung eines weiteren Asylverfahrens geführt hat, nicht die
Berücksichtigung dieser Aufenthaltszeiten
II.
Familienzusammenführung
1.
Anwendung des Unionsrechts
Auf drittstaatsangehörige Ehegatten Deutscher findet Unionsrecht nur
Anwendung, wenn der deutsche Ehegatte einen grenzüberschreitenden
Sachverhalt glaubhaft machen kann. Wer daher nicht für eine gewisse Zeit in
einem anderen Mitgliedstaat war, kann sich für den Nachzug nicht auf
Unionsrecht berufen (Grundsatz der Inländerdiskriminierung).
In der Rechtsprechung des EuGH geht es lediglich um die Frage der
aufenthaltsrechtlichen Folgen für Drittstaatsangehörige eines minderjährigen
Unionsbürgers. Seit Zambrano geht es insoweit um die Legalisierung des
illegalen Aufenthaltes des drittstaatsangehörigen Elternteils eines minderjährigen
Unionsbürgers sowie um den Einreiseanspruch eines im Ausland lebenden
drittstaatsangehörigen Verwandten eines Unionsbürgers.53 Nach Zambrano hat
der Gerichtshof nicht mehr die Frage des Aufenthaltsrechts der
drittstaatsangehörigen Sorgeberechtigten minderjähriger Unionsbürger behandelt.
Die Begründung in Zambrano ist sehr kurz gehalten und lässt daher viele
unionsrechtliche Zweifelsfragen offen.
In der Literatur wird Zambrano dahin gedeutet, dass das Aufenthaltsrecht des
drittstaatsangehörigen Sorgeberechtigten nicht aus den familienschützenden
Bestimmungen von Art. 9 GRCh und Art. 8 EMRK, sondern unmittelbar aus dem
Unionsverfassungsrecht durch Rückgriff auf den Unionsbürgerstatus des Art. 20
AEUV begründet wird.54 Geklärt ist in der Rechtsprechung des EuGH, dass es
kein allgemeines Recht auf Familienzusammenführung der drittstaatsangehörigen
Ehegatten von Unionsbürgern, die keinen grenzüberschreitenden Sachverhalt
erfüllt haben, gibt.55 In Dereci hat der Europäische Gerichtshof diese
Rechtsprechung nochmals bekräftigt.56 Der Gerichtshof hat in Rdn. 67 in Dereci
darauf hingewiesen, dass das Aufenthaltsrecht nicht verweigert werden darf, da
EuGH, InfAuslR 2011, 179 (180) Rdn. 43 – Zambrano; EuGH, InfAuslR 2011, 269 (271) Rdn. 54 ff. – Mc
Carthy; EuGH, NVwZ 2012, 97 (100) Rdn. 68 ff. – Derici.
53
54 Nettesheim, JZ 2011, 1030 (1032); Huber, NVwZ 2011, 856 (857 f.); Gutmann, InfAuslR 2011, 177
(178); Frenz, ZAR 2011, 221 (223).
55
EuGH, InfAuslR 2011, 268 (271) Rdn. 54 ff. – McCarthy.
56
EuGH, NVwZ 2012, 97 (100) Rdn. 65 f. – Dereci.
12
sonst die Unionsbürgerschaft der zuletzt genannten Person ihrer praktischen
Wirksamkeit beraubt würde. Erst recht muss daher die Schutzwirkung von Art. 20
AEUV Anwendung finden, wenn nicht nur das Aufenthaltsrecht des
sorgeberechtigten Elternteils verweigert, sondern sein bislang bestehendes
rechtmäßiges Aufenthaltsrecht entzogen wird. Offen bleibt nach Rdn. 69 in
Dereci, ob aufgrund anderer Grundlagen, insbesondere aufgrund des Rechts auf
Schutz des Familienlebens, ein Aufenthaltsrecht verweigert werden darf. Geklärt
ist jedoch, dass aus Art. 20 AEUV ein Aufenthaltsrecht des drittstaatsangehörigen
Elternteils eines sorgeberechtigten Unionsbürgers, der auf den Unterhalt durch
den Drittstaatsangehörigen angewiesen ist, folgt.
Die Rechtsprechung lehnt es ab, diese Grundsätze auf das deutsche Pflegekind,
das mit einem Drittstaatsangehörigen zusammenlebt, anzuwenden.57 Besteht
jedoch zwischen dem vollziehbar ausreisepflichtigen Vater und seinem Kind, das
in familiärer Gemeinschaft mit der als Flüchtling anerkannten Mutter lebt, ist es
dem Kind nicht zuzumuten, seinem Vater zu folgen58
Das BVerwG hat sich ausdrücklich auf McCarthy bezogen und es abgelehnt,
Unionsrecht anzuwenden, wenn der deutsche Staatsangehörige von seinem
Freizügigkeitsrecht keinen Gebrauch gemacht hat.59
Ist der mit seiner Mutter im Bundesgebiet lebende minderjährige Deutsche nicht
gezwungen, dem dritsstaatsangehörigen Elternteil zur Durchführung des
Visumsverfahrens zu folgen, sieht die Rechtsprechung nicht den Kernbestand des
Unionsbürgerstatus verletzt.60
2.
Beweislast
Ist die innere Tatsache, eine eheliche Lebensgemeinschaft führen zu wollen, nach
Ausschöpfung der zugänglichen Beweisquellen auch bei nur einem der Ehepartner
nicht erweislich, trägt nach der Rechtsprechung der Antragsteller die materielle
Beweislast.61 Das BVerwG räumt zwar ein, dass § 27 Abs. 1a Nr. 1 AufenthG als
Versagungsgrund ausgestaltet ist, sodass bei einer Wortlautauslegung die
Beweislast die Behörde trifft.62 Diese Hürde nimmt das BVerwG indes mit seiner
Ansicht nach „deutlichen Befunden der historischen Auslegung.“ Im Übrigen sei
§ 27 Abs. 1a Nr. 1 AufenthG nicht als abschließende Regelung zu verstehen und
verdränge bei Nichterweislichkeit ihrer Voraussetzungen nicht den
Grundtatbestand des § 27 Abs. 1 AufenthG. Für diesen sei anerkannt, dass der
Herstellungswille beider Ehegatten zu den günstigen Tatsachen gehöre, für die
57
Nieders.OVG, InfAuslR 2012, 13.
58
Nieders.OVG, NVwZ-RR 2011, 707.
59
BVerwG, NVwZ 2012, 52.
60
Hess.VGH, InfAuslR 2012, 63.
61
BVerwGE 136, 222 (228 ff.) = InfAuslR 2010, 350 = NVwZ 2010, 1367 = AuAS 2010, 158, mit
Hinweisen; bekräftigt BVerwG, NVwZ 2012, 52; so auch Hess.VGH, NVwZ-RR 2009, 264 (265) = EZAR
NF 34 Nr. 17; Hess.VGH, Beschl. v. 29.6.2009 – 9 B 1815/09.
62 Marx, in: GK-AufenthG II – § 27 AufenthG Rn 192 ff.; Göbel-Zimmermann, ZAR 2008, 169 (170);
Oestmann, InfAuslR 2008, 17 (19 f.).
13
derjenige, der ein Visum zum Familiennachzug begehre, die materielle Beweislast
trage.63 Diese Rechtsprechung hat es erneut bestätigt.64
Überzeugend ist diese Rechtsprechung nicht. Die Verwaltungsgerichtsbarkeit
wird sich aber in Zukunft an dieser ausrichten. Sie findet aber nur in den
Verfahren Anwendung, in denen ein Visum oder eine Aufenthaltserlaubnis zum
Nachzug beantragt wird. Will die Behörde hingegen das Aufenthaltsrecht wegen
Zweifel an der Führung der ehelichen Lebensgemeinschaft entziehen, trägt sie bei
Nichterweislichkeit der entsprechenden Voraussetzungen nach dem
Günstigkeitsprinzip die Beweislast.
3.
Sprachtest
Art. 7 Abs. 2 RL 2003/86/EG (Familienzusammenführungsrichtlinie) eröffnet den
Mitgliedstaaten die Möglichkeit, nach ihrem nationalen Recht zu regeln, dass
nachziehende Ehegatten Integrationsmaßnahmen nachkommen müssen. Danach
handelt es sich bei dieser unionsrechtlichen Norm um eine Öffnungsklausel,
welche abweichend von allgemeinen Regeln der Richtlinie den Mitgliedstaaten
für ihr nationales Recht weitergehende Befugnisse einräumt. Da es sich um
Ausnahmen von allgemeinen Grundsätzen handelt, sind diese restriktiv
auszulegen.
Das BVerwG erachtet den Sprachtest mit Unionsrecht für vereinbar und sieht
ungeachtet der auch von ihm zur Kenntnis genommenen Kritik insoweit keine
europarechtliche Zweifelsfrage, die Anlass zur Klärung durch den EuGH gebe.65
Zwar
vermittle
die
Richtlinie
ein
subjektives
Recht
auf
Familienzusammenführung, Art. 7 Abs. 2 erlaube es den Mitgliedstaaten jedoch,
dieses Recht davon abhängig zu machen, dass bereits vor der Einreise
Integrationsmaßnahmen nachgewiesen würden. Dies folge aus der
Entstehungsgeschichte der Richtlinie und werde dadurch bekräftigt, dass weitere
Mitgliedstaaten von der Öffnungsklausel Gebrauch gemacht hätten. Diese
Begründung überzeugt nicht. Insbesondere überzeugt nicht, dass das BVerwG
hinsichtlich seiner Auslegung, dass Art. 7 Abs. 2 RL 2003/86/EG
Sprachnachweise vor der Einreise zulasse, von einem „acte claire“ ausgeht und
deshalb keine Vorlagepflicht erkennen wollte.66 Denn nur, wenn an dem
Auslegungsergebnis vernünftigerweise kein Zweifel besteht, also nur unter sehr
strengen Voraussetzungen, entfällt die Vorlagepflicht. Zumindest muss zu der
Auslegungsfrage bereits eine Entscheidung des EuGH vorliegen.
63 BVerwGE 136, 222 (228 ff.) = InfAuslR 2010, 350 = NVwZ 2010, 1367 = EZAR NF 34 Nr. 22 = AuAS
2010, 158, unter Hinweis auf BVerwG, Buchholz 402.240 § 23 AuslG Nr. 10; BVerfG, DVBl. 2003, 1260;
so auch OVG NW, InfAuslR 2000, 290 (291) = NVwZ-Beil. 2000, 115 = AuAS 2000, 111; Hess.VGH,
NVwZ-RR 2000, 639 (640) = InfAuslR 2000, 385 = EZAR 023 Nr. 20; Hess.VGH, InfAuslR 2002, 426
(430).
64
BVerwG, NVwZ 2012, 53..
65 BVerwGE 136, 231 (239 ff.) = NVwZ 2010, 964 (966) = InfAuslR 2010, 331, Rn 22 bis 28; bestätigt
durch BVerfG (Kammer), NVwZ 2011, 870..
66 BVerwGE
136, 231 (241 f.) = NVwZ 2010, 964 (966) = InfAuslR 2010, 331, Rn 26.
14
Nunmehr hat das Gericht in einem Erledigungsbeschluss angedeutet, dass es
insoweit eine unionsrechtliche Zweifelsfrage sieht.67 Dem EuGH liegt derzeit ein
niederländisches Vorabentscheidungsersuchen zu dieser Frage vor.68
Nach der Rechtsprechung des EuGH haben die Mitgliedstaaten zu
berücksichtigen, dass die Genehmigung der Familienzusammenführung die
Grundregel darstellt und deshalb nationale Ermessensspielräume – wie hier
Art. 7 Abs. 2 RL 2003/86/EG – eng auszulegen sind. Insbesondere darf dieser
nicht in einer Weise genutzt werden, die das Richtlinienziel – die Begünstigung
der Familienzusammenführung – und die praktische Wirksamkeit der Richtlinie
beeinträchtigen würde.69 Genau dieses Auslegungsergebnis erzielt das BVerwG
für den nachzugswilligen Ehegatten, dem aus „sonstigen persönlichen, von ihnen
nicht zu vertretenden Gründen der Spracherwerb nur schwer oder gar nicht
möglich ist.“70 Der EuGH begründet seine Auslegung des Sekundärrechts mit
primärrechtlichen Erwägungen. Aus Erwägungsgrund Nr. 2 RL 2003/86/EG
folge, dass Maßnahmen zur Familienzusammenführung in Übereinstimmung mit
der Verpflichtung zum Schutze der Familie und zur Achtung des Familienlebens
getroffen werden sollten, die in zahlreichen Instrumenten des Völkerrechts
verankert sei. Die Richtlinie 2003/86/EG stehe nämlich im Einklang mit den
Grundrechten und berücksichtige die Grundsätze, die insbesondere in Art. 8
EMRK und der Charta anerkannt würden. Daher seien die Bestimmungen der
Richtlinie, u.a. Art. 7 RL 2003/86/EG, im Lichte der Grundrechte und
insbesondere des Rechts auf Achtung des Familienlebens auszulegen.71 Diese
klaren unionsrechtlichen Vorgaben des EuGH stehen der Anwendung der „acte
claire-Doktrin“ in dieser Frage entgegen.
Der Sprachtest verletzt das Stillstandsgebot des Art. 13 ARB 1/80. Der EuGH hat
im Blick auf die Niederlande entschieden, dass der Sprachtest einem bilateralen
Abkommen zwischen den Niederlandes und der Türkei widerspreche. Hierauf hat
sich am nunmehr der österreichische Verwaltungsgerichtshof bezogen und für
Österreich den Sprachtest außer Kraft gesetzt.72
4.
Eigenständiges Aufenthaltsrecht nach § 31 AufenthG
a)
Keine Anwendung der Dreijahresfrist des § 31 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1
AufenthG)
Für assoziationsberechtigte türkische Staatsangehörige bleibt es bei der früheren
Bestandszeit von zwei Jahren, da das Stillhaltegebot des Art. 13 ARB 1/80 sich
67
BVerwG, NVwZ 2012, 870.
68
Rad van Staat, Vorabentscheidungsersuchen v. 16. August 2011- Rs. C.155/11 PPU
69 EuGH,
InfAuslR 2010, 221 = NVwZ 2010, 697 Rn 43 – Chakroun; Marx, ZAR 2010, 222 (223 f.).
70 BVerwGE
71 EuGH,
72
136, 231 (251 f.) = NVwZ 2010, 964 (970) = InfAuslR 2010, 331, Rn 45.
InfAuslR 2010, 221 = NVwZ 2010, 697 Rn 44 f. – Chakroun.
SZ v. 25. April 2012
15
auch auf Verschärfungen einer nach dem 1. Dezember 1980 eingeführten
Bestimmung bezieht, die eine Erleichterung der in diesem Zeitpunkt geltenden
Bestimmung vorsah.73 Bei der Zweijahresfrist des § 19 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AuslG
1990, die mit Wirkung zum 1. Juni 2000 die bis dahin geltende Frist von vier
Jahren verkürzte, handelt es um eine vom Stillhaltegebot des Art. 13 ARB 1/80
erfasste Vergünstigung. Auch die Bundesregierung räumt ein, dass die
Neuregelung des § 31 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AufenthG für türkische
Assoziationsberechtigte nicht gilt.74
Umstritten ist derzeit, ob die Neuregelung rückwirkend auch auf die vor dem
Zeitpunkt des Inkrafttretens 1. Juli 2011 erfolgten Trennungen Anwendung
findet. Der Hess.VGH hat seine zunächst auf eine Rückwirkung bezogene
Position geändert und entschieden, es komme für die Anwendung der
Neuregelung auf den Zeitpunkt der Beantragung des auf § 31 AufenthG zielenden
Antrags an.75 Überzeugend ist das nicht. Das VG Düsseldorf stellt auf den
Zeitpunkt der Trennung ab.76
b)
Abweichende Angaben im Scheidungsverfahren zum Trennungszeitpunkt
Der Nachweis für das vorzeitige Ende der familiären Lebensgemeinschaft obliegt
der Ausländerbehörde.77 Demgegenüber trifft den Antragsteller die
Darlegungslast für die Führung einer ehelichen Lebensgemeinschaft.78 Bei
unterschiedlichen Angaben über den Trennungszeitpunkt im Scheidungsverfahren
einerseits sowie im ausländerrechtlichen Verfahren andererseits ist zu bedenken,
dass in der familienrechtlichen Praxis übereinstimmende Angaben der Eheleute
zum Trennungszeitpunkt regelmäßig ungeprüft übernommen werden. Es ist
deshalb im ausländerrechtlichen Verfahren nicht gerechtfertigt, unabhängig von
den Umständen des jeweiligen Einzelfalls von der Richtigkeit der im
Scheidungsurteil
getroffenen
Feststellungen
zum
Trennungszeitpunkt
auszugehen.79 Dagegen hat sich nunmehr das OVG Saarland ausgesprochen.80
c)
Bezugsperson der Unzumutbarkeit im Sinne von § 31 Abs. 2 Satz 2
AufenthG
Die Entstehung des eigenständigen Aufenthaltsrechts zur Vermeidung einer
besonderen Härte setzt nach § 31 Abs. 2 Satz 2 Alt. 2 AufenthG tatbestandlich die
nach objektive Grundsätzen zu bewertende subjektive Unzumutbarkeit des
73
EuGH, NVwZ 2011, 349 (351 f.), Rn 60 ff. - Toprak; s. hierzu Farahat, NVwZ 2011, 343; BT-Drucks.
17/4623.
74
BT-Drucks. 17/4623, S. 3.
75
Hess.VGH, NVwZ-RR 2012, 215 (LS).
76
Vgl. Düsseldorf
77 OVG
MV, AuAS 2002, 98 (99).
78 OVG
Brandenburg, AuAS 2001, 218.
79 OVG
Hamburg, InfAuslR 2001, 125 (127) = NVwZ–RR 2001, 339; a.A. OVG NW, NVwZ-RR 1991, 586;
OVG Saarlouis, NVwZ-RR 2011, 125 (126).
80
OVG Saarland, NVwZ-RR 2011, 957
16
weiteren Festhaltens an der ehelichen Lebensgemeinschaft für den nachgezogenen
Ehegatten voraus, nicht aber, dass die Aufhebung der ehelichen
Lebensgemeinschaft durch ihn erfolgte.81 Der Umstand, dass der betroffene
Ehegatte aufgrund des vom Ehemann ausgeübten „Psychoterrors“ nicht mehr zu
einer freien Willensentscheidung in der Lage war,82 bezeichnet einen besonders
krassen Fall der Unzumutbarkeit, darf aber nicht dahin verstanden werden, dass
nur unter diesen Voraussetzungen vom betroffenen Ehegatten nicht die Auflösung
der ehelichen Lebensgemeinschaft verlangt werden kann. Vielmehr kommt es auf
die anhand objektiver Umstände zu bewertende Situation der Unzumutbarkeit für
den nachgezogenen Ehegatten an, an der ehelichen Lebensgemeinschaft
festzuhalten. Ob der stammberechtigte oder der betroffene Ehegatte den
Trennungsentschluss fasst, ist deshalb unerheblich. Die Motive für ein Festhalten
an der ehelichen Lebensgemeinschaft können vielfältiger Art sein, etwa kulturelle,
wirtschaftliche Motive, Angst vor Eskalation und weiteren Gewalttätigkeiten oder
auch die Hoffnung auf Besserung.
Das OVG Saarland hat sich zwar der Rechtsprechung angeschlossen, wonach bei
„Psychoterrors“ nicht mehr von einer freien Willensentscheidung auszugehen
sein. Alkoholsucht des Ehegatten führe aber nicht in jedem Fall zu einer im
objektiven Sinne zu verstehenden Unzumutbarkeit.83
d)
Misshandlungen in der Ehe
Typischer Fall der Beeinträchtigung schutzwürdiger Belange sind
Misshandlungen oder vergleichbare Beeinträchtigungen von Rechtsgütern. Der
Gesetzgeber wollte mit der Einfügung von § 31 Abs. 2 Satz 2 Alt. 2 AufenthG die
frühere enge Rechtsprechung84 überwinden. Durch die Herabstufung der
außergewöhnlichen zur besonderen Härte und durch den Verzicht auf eine
„erhebliche“ Beeinträchtigung der schutzwürdigen Belange wurde dieser
Rechtsprechung der Boden entzogen worden.
So sind etwa die durch eidesstattliche Versicherung glaubhaft gemachten
Angaben über Monate dauernde erhebliche Schikanen verbunden mit
Bedrohungen durch unkontrollierte Aggressionen des Ehemannes infolge von
Alkoholmissbrauch erheblich. Beeinträchtigt sind dadurch insbesondere das Recht
auf sexuelle Selbstbestimmung und das Recht auf Eigentum. 85 Unzumutbar ist
auch die Ausübung psychischen Zwangs zwecks Einwilligung in nicht erwünschte
81
Hess.VGH, EZAR NF 34 Nr. 10; VGH BW, InfAuslR 2003, 232 (233) = NVwZ-RR 2003, 782 = AuAS
2003, 332; Göbel-Zimmermann, in: Huber, AufenthG § 31 Rn 16; a.A. Hess.VGH, AuAS 2005, 266; VG
Saarlouis, Beschl. vom 22. 12. 2010 – 10 L 2181/10.
82 VGH
83
BW, InfAuslR 2003, 232 (233) = NVwZ-RR 2003, 782 = AuAS 2003.
OVG Saarland, NVwZ-RR 2012, 214 (215).
84 BVerwG,
InfAuslR 1999, 72 (73); OVG Hamburg, InfAuslR 2000, 184 (185) = AuAS 2000, 51; OVG RhPf, InfAuslR 1999, 233 (235) = NVwZ-RR 1999, 470 = NVwZ-Beil. 1999, 41 = AuAS 1999, 88; Hess.VGH,
InfAuslR 1994, 313 (314); Hess.VGH, AuAS 2000, 86; VG Hannover, AuAS 1997, 98 (99); VG Wiesbaden,
Hess.VGRspr. 1999, 63 (64).
85 VG
Neustadt, InfAuslR 2001, 441 (442).
17
sexuelle Praktiken sowie das Mitbringen von Prostituierten in die Ehewohnung.86
Ebenso liegt ein besonderer Härtefall vor, wenn die Antragstellerin seit dem
ersten Tag ihrer Ehe durch ihren Ehemann jeglicher freien Entfaltung ihrer
Persönlichkeit beraubt und wie eine Gefangene in der Wohnung gehalten wird
und niemanden anrufen und ohne ihren Ehemann nicht die Wohnungstür öffnen
darf.87 Eine Beeinträchtigung schutzwürdiger Belange ist insbesondere auch bei
Misshandlungen, etwa durch Ausdrücken von Zigarettenkippen auf dem Rücken
der Betroffenen, zu unterstellen.88 Darüber hinaus ist eine besondere Härte auch
anzunehmen, wenn es im Rahmen von Ehestreitigkeiten wiederholt zu
Erniedrigungen gekommen ist, hierbei nicht nur verbale Entgleisungen, sondern
auch etwa Schläge mit einer Plastikschüssel auf den Kopf der Betreffenden
glaubhaft gemacht werden. Auch die Tatsache, dass die Ehefrau mit Füßen aus
dem Bett getreten und gestoßen worden ist, weil sie den sexuellen Wünschen des
Ehemannes nicht nachgekommen ist, ist zu berücksichtigen.89
Die Tatsache, dass der Ehemann bei der Eheschließung verschwiegen hat, dass er
bereits in religiöser Ehe mit einer Frau zusammenlebt und er diese Beziehung
auch nach der Aufnahme der ehelichen Lebensgemeinschaft fortsetzt, kommt für
die soziokulturell auf die Einehe eingerichtete Frau einer körperlichen
Misshandlung gleich und ist deshalb erheblich.90 Ebenso unzumutbar ist das
weitere Festhalten an der ehelichen Lebensgemeinschaft, wenn der
stammberechtigte Ehegatte während der Ehe eine zweite Frau ehelicht, da
Bigamie mit der hier geltenden Wertordnung unvereinbar und deshalb der
betroffenen Ehefrau nicht zumutbar ist.91
Der Nachweis von Misshandlungen kann, muss nicht zwingend durch ein
ärztliches, nervenärztliches oder psychologisches Gutachten erbracht werden. Es
erleichtert aber die Darlegungslast, wenn ein nervenärztliches Gutachten vorgelegt
wird, das ausgeprägte psychische Störungen wie etwa Wahnstimmung mit
Verfolgungsideen, Wahrnehmungsstörungen und akustische Halluzinationen
feststellt, die nach ärztlicher Einschätzung eindeutig als Auswirkung einer
schweren anhaltenden psychischen Belastung im ursächlichen Zusammenhang mit
dem Verhalten des Ehemannes zu sehen sind.92 Derartige psychologische oder
nervenärztliche Stellungnahmen können regelmäßig erst nach einer längeren
Behandlungsdauer vorgelegt werden. Auch kann die Behandlung wegen der
typischen
Konfliktsituation
erst
nach
Auflösung
der
ehelichen
Lebensgemeinschaft begonnen werden, sodass sie nicht unverzüglich vorgelegt
werden kann. Ärztliche Atteste zum Nachweis von Misshandlungsfolgen können
häufig nicht beigebracht werden, weil der Ehemann den Arztbesuch während der
86 VGH
BW, Beschl. v. 22.11.2010 – 11 S 2448/10.
87 VGH
BW, InfAuslR 2003, 232 (233) = NVwZ-RR 2003, 782 = AuAS 2003, 14; ähnlich VGH BW,
Beschl. v. 22.11.2010 – 11 S 2448/10; VG Karlsruhe, AuAS 2009, 218 (219).
88 VG
Aachen, Beschl. v. 8.3.2000 – 8 L 1320/99.
89 VG
Würzburg, AuAS 2002, 220 (221).
90 VG
Gelsenkirchen, InfAuslR 2001, 214 (215).
91 VG
Karlsruhe, AuAS 2009, 218 (219).
92 VGH
BW, InfAuslR 2003, 232 (233) = NVwZ-RR 2003, 782 = AuAS 2003.
18
Führung der ehelichen Lebensgemeinschaft verhindert und nach Auflösung der
ehelichen Lebensgemeinschaft ärztliche Feststellungen kaum noch getroffen
werden können. Auch der Nachweis einer polizeilichen Anzeige kann häufig nicht
geführt werden, weil die eheliche Konfliktsituation einer polizeilichen Meldung
entgegenstand und diese zu weiteren Eskalationen geführt hätte.
5.
Aufenthaltserlaubnis wegen besonderer Härte (§ 36 Abs. 2 Satz 1
AufenthG)
Eine außergewöhnliche Härte im Sinne von § 36 Abs. 2 Satz 1 AufenthG setzt
grundsätzlich voraus, dass der nachzugswillige Angehörige ein eigenständiges
Leben nicht führen kann. Bei Adoptionen richtet sich der Nachzug demgegenüber
nach § 7 Abs. 1 Satz 3 AufenthG. Grundsätzlich muss im Ausland das
Adoptionsverfahren nach dem Haager Adoptionsübereinkommen durchgeführt
worden sein bzw. muss eine positive Entscheidung der zuständigen
Adoptionsvermittlungsstelle liegt in Aussicht stehen.93
6.
Ausweisung
1.
Vorrang des Unionsrechts
a)
Verbot der generalpräventiven Ausweisung
Das FreizügG/EU setzt die Richtlinie 2004/38/EG um. Grundsätzlich werden
damit alle Unionsbürger und diesen rechtlich gleichgestellte Personen sowie deren
Familienangehörige, die sich aufgrund der Richtlinie in einem Mitgliedstaat
aufhalten, Inländern gleichgestellt.94 Der Gleichstellungsgrundsatz muss deshalb
auch die Einschränkungsmöglichkeiten nach Art. 28 der Richtlinie leiten.
Maßgebend für die Auslegung und Anwendung des deutschen Rechts (§ 6
FreizügG/EU) sind die Bestimmungen der Art. 27 ff. der Richtlinie. Diese regeln
einen dreistufigen Ausweisungsschutz. Zunächst bestimmt Art. 27 RL
2004/38/EG, unter welchen Voraussetzungen ein freizügigkeitsberechtigter
Unionsbürger und seine Familienangehörigen sein Aufenthaltsrecht verlieren
kann. Diese Vorschrift übernimmt die Vorgaben der Rechtsprechung des EuGH.
Mit der zunehmenden Verfestigung des Aufenthaltsrechts steigen die materiellen
Anforderungen an die Beschränkung der Freizügigkeit (vgl. Erwägungsgrund 24
RL 2004/38/EG).
Entsprechend der Grundnorm des Art. 27 RL 2004/38/EG bestimmt § 6 Abs. 1
FreizügG/EU, dass der Verlust des Freizügkeitsrechts nur aus Gründen der
öffentlichen Ordnung, Sicherheit oder Gesundheit zulässig ist. Auf diese
Privilegierung können sich nicht nur Arbeitnehmer, sondern auch
Nichterwerbstätige im Sinne der Richtlinie 90/364/EWG berufen.95 Bei jeder
Beschränkung der Freizügigkeit haben Behörden und Verwaltungsgerichte die
93
BVerwG, NVwZ 2011, 1199
94 Nieders.OVG,
95 Hess.VGH,
NVwZ-RR 2006, 288 (289).
InfAuslR 2004, 144 (146).
19
besondere Rechtsstellung der vom Unionsrecht privilegierten Personen und die
entscheidende Bedeutung des Grundsatzes der Freizügigkeit zu berücksichtigen.96
Nach Erwerb des Daueraufenthaltsrechts, also nach einem rechtmäßigen fünf
Jahre dauernden Aufenthalt (Art. 16 Abs. 1 RL 2004/38/EG) ist eine Ausweisung
nur noch aus „schwerwiegenden Gründen der öffentlichen Sicherheit oder
Ordnung“ zulässig (Art. 28 Abs. 2 RL 2004/38/EG, § 6 Abs. 4 FreizügG/EU).
Nach einem zehnjährigen Aufenthalt darf die Ausweisung nur noch aus
zwingenden Gründen der öffentlichen Sicherheit verfügt werden (Art. 28 Abs. 3
RL 2004/38/EG, § 6 Abs. 5 FreizügG/EU).
Für den unionsrechtlichen Ausweisungsschutz gilt, dass die Tatsache einer
strafrechtlichen Verurteilung für sich allein den Verlust der Freizügigkeit nicht
rechtfertigt (Art. 27 Abs. 1 RL 2004/38/EG § 6 Abs. 2 Satz 2 Hs. 2 FreizügG/EU).
Vielmehr darf diese ausschließlich auf das persönliche Verhalten des betroffenen
Unionsbürgers gestützt werden.97 Der rechtmäßige Verlust der Rechtsstellung
eines freizügigkeitsberechtigten Unionsbürgers setzt damit zunächst voraus, dass
aufgrund des persönlichen Verhaltens des Betroffenen außer der Störung der
öffentlichen Ordnung, die jede Gesetzesverletzung darstellt, eine tatsächlich und
hinreichend schwere Gefährdung vorliegt, die ein Grundinteresse der Gesellschaft
berührt (§ 6 Abs. 2 Satz 3 FreizügG/EU).98
Die Gefährdung kann sich im Einzelfall zwar auch allein aufgrund des
abgeurteilten Verhaltens ergeben. Es besteht aber keine dahin gehende Regel, dass
bei schwerwiegenden Taten das abgeurteilte Verhalten die hinreichende Besorgnis
neuer Verfehlungen begründet. Eine vom Einzelfall losgelöste oder auf
generalpräventive Gesichtspunkte gestützte Begründung der Ausweisung ist in
jedem Fall unzulässig.
Ein Mitgliedstaat kann etwa den Verbrauch von Betäubungsmitteln als eine
Gefährdung der Gesellschaft ansehen, die besondere Maßnahmen zum Schutze
der öffentlichen Ordnung gegen Ausländer rechtfertigt. Auch insoweit hängt aber
die Zulässigkeit der Ausweisung von den konkreten Umständen des Einzelfalls,
insbesondere von dem persönlichen Verhalten des Betroffenen ab.99
Soweit die Rechtsprechung früher bei den gefährlichen und schwer zu
bekämpfenden Rauschgiftdelikten pauschal einen Vorrang des Interesses am
Schutz der Bevölkerung bejahte und deshalb insbesondere gegenüber
Drogenhändlern die Anforderungen an einen spezialpräventiven Ansatz für die
Ausweisung nicht hoch ansetzen wollte,100 ist diese Rechtsprechung überholt.
96 BVerwGE
121, 296 (304) = EZAR 034 Nr. 17 = NVwZ 2005, 220 = InfAuslR 2005, 18.
97
BVerwGE 121, 296 (304) = EZAR 034 Nr. 17 = NVwZ 2005, 220 = InfAuslR 2005, 18, mit Hinweis auf
EuGH, NVwZ 2004, 1099.
EuGH, InfAuslR 2004, 268 (275 f.) = NVwZ 2004, 1099 – Orfanopoulos und Oliveri; EuGH, EZAR 810
Nr. 1 = NJW 1983, 1250; BVerwGE 57, 61 (64) = EZAR 126 Nr. 1; VGH BW, EZAR 124 Nr. 12.
98
99 BVerwGE
121, 296 (305) = EZAR 034 Nr. 17 = NVwZ 2005, 220 = InfAuslR 2005, 18.
100
VGH BW, InfAuslR 2001, 206 (207); OVG NW, InfAuslR 2004, 224 (227 f.); siehe aber VG Stuttgart,
InfAuslR 2002, 66.
20
Formelhafte behördliche Ausführungen zur Wiederholungsgefahr genügen nicht
den Anforderungen an individualisierbare Feststellungen.101 Eine vom Einzelfall
losgelöste Begründung der Ausweisung ist in jedem Fall unzulässig.102
Der unionsrechtliche Maßstab verweist, anders als der polizeirechtliche
Gefahrenbegriff, nicht auf die Gesamtheit aller Rechtsnormen, sondern auf einen
spezifischen Rechtsgüterschutz, nämlich ein Grundinteresse der Gesellschaft, das
berührt sein muss.103 Eine strafrechtliche Verurteilung allein kann den Verlust des
Freizügigkeitsrechts nur insoweit rechtfertigen, als die ihr zugrunde liegenden
Umstände ein persönliches Verhalten erkennen lassen, das eine gegenwärtige
Gefährdung der öffentlichen Ordnung darstellt (§ 6 Abs. 2 Satz 2 Hs. 2
FreizügG/EU).104
Ob die Begehung der Straftat nach Art und Schwere ein persönliches Verhalten
erkennen lässt, das ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt, lässt sich nur
aufgrund der Umstände des Einzelfalls beurteilen. Anhaltspunkte hierfür können
sich insbesondere auch aus einer Verurteilung wegen der in § 53, § 54 AufenthG
bezeichneten Straftaten ergeben. Dies ist indes nicht im Sinne einer
Regelvermutung zu verstehen. Erforderlich und ausschlaggebend sind vielmehr in
jedem Fall die unter Berücksichtigung der konkreten Umstände des Einzelfalls
vorzunehmende Bewertung des persönlichen Verhaltens des Unionsbürgers und
die insoweit anzustellende Gefährdungsprognose.
Das Erfordernis der gegenwärtigen Gefährdung der öffentlichen Ordnung nach
Art. 27 Abs. 2 UAbs. 2 RL 2004/38/EG, § 6 Abs. 2 Satz 2 FreizügG/EU besagt
nicht, dass eine „gegenwärtige Gefahr“ im Sinne des deutschen Polizeirechts
vorliegen müsste, die voraussetzt, dass der Eintritt des Schadens sofort und
nahezu mit Gewissheit zu erwarten ist. Es verlangt vielmehr eine hinreichende,
unter Berücksichtigung der Verhältnismäßigkeit nach dem Ausmaß des möglichen
Schadens und dem Grad der Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts
differenzierende Wahrscheinlichkeit, dass der Betroffene künftig die öffentliche
Ordnung im Sinne von Art. 39 Abs. 3 EGV beeinträchtigen wird.105 Ob eine
Wiederholungsgefahr in diesem Sinne besteht, kann nicht gleichsam automatisch
– bereits aus der Tatsache einer strafrechtlichen Verurteilung – geschlossen,
sondern nur aufgrund einer individuellen Würdigung der Umstände des
Einzelfalls beurteilt werden. Dabei sind insbesondere die einschlägigen
strafrichterlichen Entscheidungen heranzuziehen, soweit sie für die Prüfung der
Wiederholungsgefahr bedeutsam sind. Zu prüfen ist u.a., ob eine etwaige
Verbüßung der Strafe erwarten lässt, dass der Unionsbürger künftig keine die
öffentliche Ordnung gefährdende Straftaten mehr begehen wird, und was
gegebenenfalls aus einer Strafaussetzung zur Bewährung (§ 56 StGB) folgt. Fehlt
101 VG
Hamburg, InfAuslR 2002, 188 (189).
102
BVerwGE 121, 296 (304) = EZAR 034 Nr. 17 = NVwZ 2005, 220 = InfAuslR 2005, 18, mit Verweis auf
EuGH, Slg. 1975; 297 = NJW 1975, 1096; so bereits BVerwGE 49, 60 = NJW 1976, 494; BVerwG,
InfAuslR 1988.
103 BVerwGE
104 EuGH,
121, 296 (304 f.) = EZAR 034 Nr. 17 = NVwZ 2005, 220 = InfAuslR 2005, 18.
InfAuslR 2004, 268 (275 f.) = NVwZ 2004, 1099 – Orfanopoulos und Oliveri.
105 BVerwGE
121, 296 (305 f.) = EZAR 034 Nr. 17 = NVwZ 2005, 220 = InfAuslR 2005, 18.
21
es danach bereits an einer gegenwärtigen und schwerwiegenden Gefahr für
wichtige Rechtsgüter, so darf die Feststellung des Verlustes der Rechtsstellung
nicht verfügt und aufrechterhalten werden.106
b)
Ausweisungsschutz für Daueraufenthaltsberechtigte
Nach Art. 28 Abs. 2 RL 2004/38/EG dürfen die Mitgliedstaaten gegen
daueraufenthaltsberechtigte Unionsbürger107 und ihre Familienangehörigen eine
Ausweisung nur aus „schwerwiegenden Gründen der öffentlichen Ordnung oder
Sicherheit“ verfügen. Anders als auf der ersten ist nach Art. 28 Abs. 2 RL
2004/38/EG auf der zweiten Stufe die Ausweisung aus Gründen der Gesundheit
nicht zulässig. § 6 Abs. 4 FreizügG/EU setzt diese Norm um, ohne die
Rechtsgüter zu bezeichnen. Die nationale Norm ist richtlinienkonform
auszulegen. Nach § 4a Abs. 1 FreizügG/EU erwerben Unionsbürger und deren
Familienangehörige bzw. Lebenspartner das Daueraufenthaltsrecht, wenn sie sich
seit fünf Jahren ständig rechtmäßig im Bundesgebiet aufgehalten haben. Nach
§ 4a Abs. 2 und 3 FreizügG/EU kann das Daueraufenthaltsrecht auch bereits vor
Ablauf von fünf Jahren entstehen. Es ist deklaratorischer Natur. Ungeachtet der
fehlenden Bescheinigung nach § 5 Abs. 6 Satz 1 FreizügG/EU findet deshalb der
Ausweisungsschutz nach Art. 28 Abs. 2 RL 2004/38/EG Anwendung.
Nach grundsätzlich fünfjährigem rechtmäßigem Aufenthalt wird danach der
ohnehin bereits starke Schutz der Unionsbürger vor aufenthaltsbeendenden
Maßnahmen noch weiter verstärkt. Die Gesetzesbegründung enthält keine
Hinweise darauf, wie dieser Auseisungsschutz inhaltlich konkretisiert werden
kann. Aus der Entstehungsgeschichte wird indes deutlich, dass es sich um einen
besonders starken Ausweisungsschutz handelt. Zwar wollte die Kommission für
die Daueraufenthaltsberechtigten die Ausweisung völlig ausschließen. Mit dieser
Auffassung konnte sie sich jedoch nicht durchsetzen.108 Es muss deshalb bereits
aus entstehungsgeschichtlicher Sicht davon ausgegangen werden, dass
Daueraufenthaltsberechtigte nur noch unter ganz besonders strengen
Voraussetzungen ausgewiesen werden können. Die Ausweisungsschwelle liegt
zwischen der erheblichen Gefahr (Art. 27 Abs. 2 UAbs. 2 RL 2004/38/EG) und
den zwingenden Gründen des Art. 28 Abs. 3 RL 2004/38/EG. Auch hier kann das
Strafmaß nur ein erster Anhaltspunkt sein. Maßgebend ist stets das persönliche
Verhalten des Betroffenen, das unter Berücksichtigung der konkreten Umstände
des Einzelfalls zu beurteilen ist.
Die Gefahr eines erneuten Rechtsverstoßes muss dringend und der Rechtsverstoß
selbst ganz erheblich sein.109 Im Einzelfall liegen „schwerwiegende Gründe“ vor,
wenn konkrete Anhaltspunkte dafür bestehen, dass in Zukunft eine schwere
Gefährdung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung durch neue Verfehlungen
des Betroffenen ernsthaft droht und damit von diesem eine bedeutsame Gefahr für
106 BVerwGE
107
121, 296 (306) = EZAR 034 Nr. 17 = NVwZ 2005, 220 = InfAuslR 2005, 18.
S. hierzu EuGH, InfAuslR 2012, 86 - Ziolkowski.
108 Hailbronner,
109 Alexy,
ZAR 2004, 299 (303).
in: Hofmann/Hoffmann, Handkommentar zum AuslR, § 6 FreizügG/EU Rn 29.
22
ein wichtiges Schutzgut ausgeht. Wird dies bejaht, wird nach pflichtgemäßem
Ermessen über den Verlust der Rechtsstellung entschieden.110
Nach Art. 28 Abs. 3 RL 2004/38/EG darf eine Ausweisung gegen Unionsbürger,
die ihren Aufenthalt in den letzten zehn Jahren im Aufnahmemitgliedstaat gehabt
haben, sowie gegen minderjährige Unionsbürger nur noch aus zwingenden
Gründen verfügt werden. Die Einbeziehung der drittstaatsangehörigen
Familienangehörigen § 6 Abs. 5 FreizüG/EU in den Schutz der dritten Stufe ist
nach Art. 37 RL 2004/38/EG zulässig.111 Bei Minderjährigen wird kein
Mindestaufenthalt vorausgesetzt. Der Begriff der „zwingenden Gründe“ ist
erheblich enger als der der „schwerwiegenden Gründe“ und erfordert einen
„besonders hohen Schweregrad“ der Bedrohung der öffentlichen Sicherheit.112
Art. 28 Abs. 3 Buchst. a) RL 2004/38/EG verlangt keinen ununterbrochenen
rechtmäßigen Aufenthalt.113 Bei Auslandsaufenthalten kommt es unter
Berücksichtigung von Art. 16 Abs. 4 RL 2004/38/EG auf die Gesamtdauer, die
Häufigkeit der Abwesenheiten sowie die hierfür maßgeblichen Gründe an.
Maßgeblich ist. ob sich aufgrund der Abwesenheiten der Mittelpunkt der
persönlichen, familiären oder beruflichen Interessen des Betroffenen verlagert hat.
Der Umstand, dass er zur Verbüßung einer Freiheitsstrafe zwangsweise in den
Aufnahmemitgliedstaat zurück gebracht wurde und die Haftzeit, können für die
Prüfung heran gezogen werden, ob die Integrationsverbindungen abgerissen
sind.114 Die Vorschrift erfordert kein Durchlaufen der vorangegangenen Stufen
und damit den Nachweis des Daueraufenthaltsrechts.115 Die zwingenden Gründe
müssen durch die Mitgliedstaaten festgelegt werden. In Abgrenzung zu den
beiden ersten Stufen muss es sich um außergewöhnlich schwere Straftaten
handeln.
Nach § 6 Abs. 5 Satz 3 FreizügG/EU können zwingende Gründe nur dann
vorliegen, wenn der Betroffene wegen einer oder mehrerer vorsätzlicher Straftaten
rechtskräftig zu einer Freiheits- oder Jugendstrafe von mindestens fünf Jahren
verurteilt oder bei der letzten rechtkräftigen Verurteilung Sicherungsverwahrung
angeordnet wurde, wenn die Sicherheit der Bundesrepublik betroffen ist oder
wenn vom Betroffenen eine terroristische Gefahr ausgeht. Bei mehreren
Verurteilungen erfolgt keine Kumulation. Vielmehr muss eine dieser Verurteilung
mindestens den Strafrahmen von fünf Jahren überschritten haben.116 Es handelt
sich lediglich um ein Mindeststrafmaß. Die Behörde hat anschließend zu prüfen,
ob ein Schutzgut der inneren oder äußeren Sicherheit der Bundesrepublik
betroffen ist117 und eine Wiederholungsgefahr besteht.
110 Welte,
ZAR 2009, 336 (342).
111 Welte,
ZAR 2009, 336 (342).
112 EuGH,
113 VG
Düsseldorf, InfAuslR 2006, 356 (357); Welte, ZAR 2009, 336 (342).
114 EuGH,
115 VG
InfAuslR 2011, 45 (47) = NVwZ 2011, 221 Rn 40 f. – Tsakouridis.
InfAuslR 2011, 45 (46) = NVwZ 2011, 221 Rn 33 f. und 38 – Tsakouridis.
Düsseldorf, InfAuslR 2006, 356 (357); a.A. Welte, ZAR 2009, 336 (342).
116 BayVGH,
117 VGH
InfAuslR 2009, 267 (268).
BW, InfAuslR 2008, 439.
23
Die abstrakt auf den Strafrahmen abstellende Fallgruppe ist mit Unionsrecht
unvereinbar.118 Vielmehr ist stets nach Maßgabe der verwirkten und verhängten
Strafen, des Grades der Beteiligung an der kriminellen Aktivität, des Umfangs des
Schadens und gegebenenfalls der Rückfallneigung zu prüfen, ob eine
außergewöhnlich schwere Bedrohung der öffentlichen Sicherheit besteht. Der
Begriff der öffentlichen Ordnung, der die Wahrung der innerstaatlichen
Rechtsvorschriften zum Gegenstand hat, unterscheidet sich wesentlich vom
Begriff der öffentlichen Sicherheit. Daher ist es verfehlt, in den Gründen der
öffentlichen Sicherheit lediglich eine quantitative Steigerungsform der Gründe der
öffentlichen Ordnung zu sehen.119
Als Ausnahme von der durch die Grundfreiheiten etablierten Freizügigkeit ist der
Begriff der öffentlichen Sicherheit eng auszulegen.120 Es handelt sich um einen
unionsrechtlich auszulegenden Begriff, sodass seine Tragweite nicht einseitig von
jedem Mitgliedstaat ohne Nachprüfung der Organe der Gemeinschaft bestimmt
werden darf.121 Der Begriff der öffentlichen Sicherheit, auf den sich § 6 Abs. 5
Satz 1 FreizügG/EU bezieht, ist nicht im Sinne des allgemeinen Polizeirechts zu
verstehen, sondern verweist auf die innere und äußere Sicherheit des Staates. Der
Begriff der öffentlichen Sicherheit kann als Beschränkung der Freizügigkeit nur
geltend gemacht werden, wenn für die Existenz des Staates wesentliche Belange
gefährdet sind.122
Dabei umfasst dieser sowohl die äußere wie auch die innere Sicherheit des
Staates, der sich auf sie beruft.123 Die innere Sicherheit umfasst den Bestand des
Staates, seiner Einrichtungen und wichtigen Dienste sowie das Überleben der
Bevölkerung.124 Der betroffene Staat darf sich hierbei allerdings nicht auf die
bloße Feststellung einer möglichen Gefährdung seiner Einrichtungen
beschränken. Vielmehr muss er auch qualifiziert dartun, dass eine Anwendung der
unionsrechtlichen Regeln der Freizügigkeit solche Folgen für seine innere
Sicherheit zeitigen würde, die er trotz der ihm zur Verfügung stehenden Mittel
nicht anders abwenden könnte und denen er trotzdem nicht gewachsen wäre.125
Grundsätzlich beschränkt der EuGH den Begriff der zwingenden Gründe auf den
engen Sicherheitsbegriff und bestätigt damit die Rechtsprechung und Lehre,
wonach die Ausweisung wegen zwingender Gründe nicht dem privaten
EuGH, InfAuslR 2011, 45 (48) = NVwZ 2011, 221 Rn 51 – Tsakouridis; Alexy, in: Hofmann/Hoffmann,
Handkommentar zum AuslR, § 6 FreizügG/EU Rn 33 f.
118
119 Alexy,
in: Hofmann/Hoffmann, Handkommentar zum AuslR, § 6 FreizügG/EU Rn 33.
120 EuGH,
Rs. C-348/96 – Calfa, Slg. 1999, I-11, Rn 20 ff.
EuGH, Rs. 41/74 – van Duyn, Slg. 1974, 1337, Rn 18/19; Rs. 36/75 – Rutili, Slg. 1975, 1219, Rn 26/28;
Rs. 30/77 – Boucherau, Slg. 1977, 1999, Rn 33/35.
121
122 EuGH,
Rs. 72/83 – Campus Oil Limited, Slg. 1984, 2727, Rn 34.
123 EuGH,
Rs. C-367/89 – Richardt, Slg. 1991, I-4621, Rn 22.
124 EuGH,
Rs. 72/83 – Campus Oil Limited, Slg. 1984, 2727, Rn 34.
EuGH, Rs. 231/83 – Cullet, Slg. 1985, 305, Rn 33; Rs. C-265/95 – Kommission/Frankreich, Slg. 1997, I6959, Rn 55 f.
125
24
Rechtsgüterschutz, sondern nur dem Schutz des Bestands und der
Funktionstüchtigkeit des Staates und seiner Einrichtungen und den
zwischenstaatlichen Beziehungen dient, sodass insbesondere die Verurteilung
wegen eines Staatsschutzdeliktes und terroristischer Aktivitäten eine Ausweisung
aus zwingenden Gründen rechtfertigen kann.126
Eine Ausnahme macht der EuGH wegen des außergewöhnlichen Charakters der
Bedrohung der öffentlichen Sicherheit bei „bandenmäßigem Handel mit
Betäubungsmitteln.“ Um zu beurteilen, ob bei einer Verurteilung wegen eines
derartigen Deliktes die Ausweisung verhältnismäßig ist, „sind insbesondere die
Art der begangenen Zuwiderhandlung, die Dauer des Aufenthaltes des
Betroffenen im Aufnahmemitgliedstaat, die seit der Begehung der
Zuwiderhandlung vergangene Zeit und das Verhalten des Betroffenen in dieser
Zeit sowie die Intensität der sozialen, kulturellen und familiären Bindungen“ zu
berücksichtigen.127 Nicht der private Rechtsgüterschutz, sondern wie auch bei
terroristischen Taten, rechtfertigt die aus den internationalen Vernetzungen
folgende besonders schwere Bedrohung der öffentlichen Sicherheit danach die
Ausweisung.
c)
Ausweisungsschutz für türkische Assoziationsberechtigte
Neben der nach Art. 6 ARB 1/80 erworbenen Rechtsstellung128 kommt für den
unionsrechtlichen Ausweisungsschutz insbesondere Art. 7 ARB 1/80 eine
besondere Bedeutung zu. Sind die entsprechenden Voraussetzungen erfüllt, kann
eine Ausweisung nur noch nach Maßgabe von Art. 14 ARB 1/80 und damit nach
unionsrechtlichen Grundsätzen vorgenommen werden.129
Bis Ende 2011 war in der Rechtsprechung umstritten, ob der dreistufige
unionsrechtliche Ausweisungsschutz nach Art. 27 ff. RL 2004/38/EG,
insbesondere der auf „zwingende Gründe der öffentlichen Sicherheit“ (Art. 28
Abs. 3 RL 2004/38/EG) beschränkte, auch auf türkische Assoziationsberechtigte
Anwendung findet.130 Sowohl das BVerwG wie auch Instanzgerichte hatten
126
VGH BW, InfAuslR 2008, 439; VG Düsseldorf, InfAuslR 2006, 356 (358); Alexy, in:
Hofmann/Hoffmann, Handkommentar zum AuslR, § 6 FreizügG/EU Rn 33 f.; Welte, ZAR 2009, 336 (342);
VGH BW, InfAuslR 2009, 268; OVG NW, NVwZ-RR 2010, 79 (LS), beide Vorabentscheidungsersuchen zu
dieser Frage an den EuGH; zum Sicherheitsbegriff des Art. 28 Abs. 3 RL 2004/38/EG siehe auch VG
Münster, EZAR NF 40 Nr. 10.
127 EuGH,
InfAuslR 2011, 45 (47 f.) = NVwZ 2011, 221 Rn 44-56 – Tsakouridis.
EuGH, NVwZ 2012, 31 – Unal, zum Verbot der rückwirkenden Rücknahme der Aufenthaltserlaubnis
nach Erlangung der Rechtsstellung nach Art. 6 Abs. 1 1. Spiegelstrich ARB 1/80
128
129
Ausführlich Marx, Aufenthalts-, Asyl- und Flüchtlingsrecht, 4. Aufl. 2011, S. 786 ff.
130
Dafür Hess.VGH, InfAuslR 2006, 393 = AuAS 2006, 231 = NVwZ 2006, 1311 (LS); Hess.VGH,
InfAuslR 2007, 98; OVG Rh-Pf, InfAuslR 2007, 148 (150) = NVwZ-RR 2007, 488 (490); VG Karlsruhe,
Urt. v. 9.11.2006 – 2 K 1559/06; Alexy, in: Hofman/Hoffmann, Handkommentar AuslR, Art. 14 ARB 1/80
Rn 10; Gutmann, InfAuslR 2005, 401 (402); Marx, ZAR 2007, 142 (147 f.); dagegen BVerwG, AuAS 2009,
267 (268) = EZAR NF 19 Nr. 39; Nieders.OVG, NVwZ-RR 2006, 287 (288) = InfAuslR 2005, 453;
Nieders.OVG, NVwZ 2006, 1304; Nieders.OVG, Beschl. v. 5.10.2005 – 11 ME 247/05; Nieders.OVG,
EZAR NF 19 Nr. 28 = ZAR 2008, 240; OVG NW, InfAuslR 2006, 257 (258) = AuAS 2006, 124 (125);
Karger, ZAR 2008, 228 (232 ff.); offen gelassen Kurzidem, ZAR 2010, 121 (126).
25
deshalb den EuGH um Klärung dieser Frage ersucht.131 Das BVerwG begründet
seine ablehnende Auffassung mit entstehungsgeschichtlichen und unter Hinweis
auf die Freizügigkeitsrichtlinie mit teleologischen Einwänden. Der EuGH hat sich
der einschränkenden Auffassung angeschlossen. Damit ist entschieden, dass Art.
14 ARB 1/80 nicht im Sinne von Art. 28 RL 2004/38/EG auszulegen ist.
Vielmehr ist der Ausweisungsschutz im Sinne der Daueraufenthaltsrichtlinie (Art.
12 RL 2003/109/EG auszulegen. Dazu verweist der EuGH auf seine traditionelle
Rechtsprechung,132 die in Art. 27 Abs. 2 UAbs. 2 RL 2004/38/EG und § 6 Abs. 2
und 3 FreizügG/EU Ausdruck gefunden haben.
Für die Anwendung des unionsrechtlichen Ausweisungsschutzes auf türkische
Assoziationsberechtigte spricht an sich, dass der EuGH in ständiger
Rechtsprechung entschieden hat, die im Primärrecht verankerten
Freizügigkeitsrechte müssten soweit wie möglich auf Assoziationsberechtigte
übertragen werden.133 Ebenso hat der EuGH Ausgestaltungen und
Konkretisierungen der Freizügigkeitsgewährleistungen etwa in Art. 10 VO
1612/68,134 in Art. 3 RL 64/221/EWG135 oder in Art. 8 und 9 RL 64/221/EWG136
ebenfalls auf assoziationsberechtigte türkische Staatsangehörige übertragen. Die
Argumentation, die Richtlinie 2004/83/EG stehe im engen Zusammenhang mit
dem
Unionsbürgerstatus
und
sei
deshalb
nicht
auf
türkische
Assoziationsberechtigte übertragbar, ist nicht überzeugend. Soweit indes die
Freizügigkeit der Unionsbürger über das Freizügigkeitsrecht türkischer
Assoziationsberechtigter hinausgeht – etwa hinsichtlich des genehmigungsfreien
Aufenthaltes in den Hoheitsgebieten der Mitgliedstaaten wie auch der
Bewegungsfreiheit innerhalb der Gemeinschaft – fehlt es bereits an einer
Rechtsgrundlage des Primärrechts für die entsprechende Erstreckung der
Freizügigkeit auf türkische Assoziationsberechtigte. Denn die im
Assoziierungsabkommen in Bezug genommenen Art. 39, 40 und 41 EGV a.F.
verwiesen z.B. nicht auf die in Art. 52 ff. EGV a.F. gewährleistete
Niederlassungsfreiheit.
Soweit hingegen primärrechtlich – wie hier durch Art. 45 Abs. 3 AEUV – die
Einschränkung der Freizügigkeit vorgezeichnet ist, haben die türkischen
Assoziationsberechtigten auch Teil an der Fortentwicklung des entsprechenden
Sekundärrechts. Daher nimmt auch der Ausweisungsschutz türkischer
Assoziationsberechtigter an der Fortentwicklung des unionsrechtlichen
Ausweisungsschutzes teil (Prinzip der dynamischen Angleichung des
assoziationsrechtlichen an den unionsrechtlichen Ausweisungsschutz).
131
BVerwG, AuAS 2009, 267 (268) = EZAR NF 19 Nr. 39; VGH BW, InfAuslR 2008, 439; VG Berlin,
InfAuslR 2008, 440.
132
EuGH, InfAuslR 2012, 43 (46) Rdn. 79 – Ziebell.
EuGH, InfAuslR 2000, 161 (164) – Nazli; EuGH, InfAuslR 2005, 13 (15) – Cetinkaya; EuGH, InfAuslR
2005, 252 (354) – Aydinlik.
133
134 EuGH,
NVwZ 2005, 73 (§§ 45, 48) = InfAuslR 2004, 416 – Ayas.
135 EuGH,
InfAuslR 2005, 13 (15) – Cetinkaya.
136 EuGH,
InfAuslR 2005, 289 (290) – Dörr und Ünal.
26
d)
Ausweisungsschutz für drittstaatsangehörige Daueraufenthaltsberechtigte
Anders
als
gegenüber
Unionsbürgern
ist
gegenüber
langfristig
Aufenthaltsberechtigten der unionsrechtliche Ausweisungsschutz nicht nach
Art. 27 ff. RL 2004/38/EG, sondern nach Art. 12 Abs. 1 RL 2003/109/EG
maßgebend. Danach können die Mitgliedstaaten eine Ausweisung gegen einen
langfristig aufenthaltsberechtigten Drittstaatsangehörigen nur verfügen, wenn er
„eine gegenwärtige, hinreichend schwere Gefahr für die öffentliche Ordnung
oder die öffentliche Sicherheit“ darstellt.
Damit
ist
der
langfristig
Aufenthaltsberechtigten
zukommende
Ausweisungsschutz nicht im vollen Umfang mit dem Unionsbürgern und diesen
rechtlichen Gleichgestellten zukommende Ausweisungsschutz vergleichbar. Nach
Erwägungsgrund Nr. 16 der Richtlinie 2003/109/EG genießen langfristig
Aufenthaltsberechtigte verstärkten Ausweisungsschutz. Dieser Schutz orientiere
sich an den Kriterien, die der EGMR in seiner Rechtsprechung entwickelt habe.
Um den Ausweisungsschutz sicherzustellen, sollten die Mitgliedstaaten wirksam
Rechtsschutz vorsehen.
Nach Ansicht des Gesetzgebers orientiert sich der in Art. 12 RL 2003/109/EG mit
dem Daueraufenthaltstitel verbundene Ausweisungsschutz nicht, wie ursprünglich
vorgesehen, am erweiterten Ausweisungsschutz für Unionsbürger.137 Das ist zwar
zutreffend, rechtfertigt aber nicht die Anwendung des deutschen
Ausweisungsrechts, wie es durch § 56 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1a AufenthG
vorgeschrieben wird, auf langfristig Aufenthaltsberechtigte.138 Vielmehr regelt
sich
der
Ausweisungsschutz
für
langfristig
aufenthaltsberechtigte
Drittstaatsangehörige ausschließlich nach Unionsrecht.
Zutreffend ist zwar, dass der dreistufige Ausweisungsschutz nach Art. 27 bis 28
RL
2004/38/EG
nicht
auf
den
Ausweisungsschutz
nach
der
Daueraufenthaltsrichtlinie übertragen werden kann. Zur Bestimmung der
gegenwärtigen, hinreichend schweren Gefahr für die öffentliche Ordnung oder
Sicherheit sind jedoch dieselben Grundsätze heranzuziehen, wie sie der EuGH
und im Anschluss daran das BVerwG für den Ausweisungsschutz der
Unionsbürger entwickelt haben. Nach Inkrafttreten der Richtlinie hat der EuGH
aus dem Erfordernis einer gegenwärtigen Gefährdung der öffentlichen Sicherheit
oder Ordnung abgeleitet, dass eine Ausweisung nur auf das persönliche Verhalten
des Betroffenen gestützt werden kann und nationale Regelungen, die automatisch
aufgrund einer strafrechtlichen Verurteilung eine Ausweisung verfügen, mit
Unionsrecht unvereinbar sind.139 In Ziebell hat der EuGH für den
Ausweisungsschutz türkischer Assoziationsberechtigter auf Art. 12 RL
2003/109/EG und seine traditionelle Rechtsprechung,140 die in Art. 27 Abs. 2
137 BT-Drucks
16/5065, S. 337; siehe auch Steinebach/Günes, ZAR 2010, 97 (99).
138 Marx,
ZAR 2007, 142 (147); Lüdke, InfAuslR 2007, 177; Discher, in: GK-AufenthG, vor § 53 ff. Rn 721;
Alexy, in: Hofmann/Hoffmann, Handkommentar zum AuslR, § 53 AufenthG Rn 34 ff., 56 AufenthG Rn 3;
a.A. Hailbronner, ZAR 2004, 163 (166); Wede, InfAuslR 2007, 45.
139 EuGH,
140
InfAuslR 2004, 268 (272) = NVwZ 2004, 1099 – Orfanopoulos und Oliveri.
EuGH, InfAuslR 2012, 43 (46) Rdn. 79 – Ziebell.
27
UAbs. 2 RL 2004/38/EG und § 6 Abs. 2 und 3 FreizügG/EU Ausdruck gefunden
haben, verweisen. Daher wird entgegenstehendes nationales Ausweisungsrecht
verdrängt.
2.
Einchränkung der Generalprävention
Ein schwerwiegender Ausweisungsgrund kann auch generalpräventiv begründet
werden141 und damit den besonderen Ausweisungsschutz nach § 56 AufenthG
durchbrechen. Danach müssen nicht zusätzlich individuelle Gründe die
Ausweisung tragen, also nicht kumulativ die Voraussetzungen einer
spezialpräventiv begründeten Ausweisung vorliegen. Das BVerwG hatte bereits
zum früheren Ausweisungsrecht entschieden, auch in Fällen des erhöhten
Ausweisungsschutzes dürfe nicht nur die zwingende Ausweisung, sondern auch
die Regelausweisung zusätzlich auf generalpräventive Erwägungen gestützt
werden.142 Das Vorliegen eines Ausnahmefalles muss danach im Blick auf beide
Ausweisungszwecke dargelegt werden.143 Liegt ein Ausnahmefall allein in
spezialpräventiver Hinsicht vor, reicht dies nicht aus, um einen schwerwiegenden
Ausweisungsgrund zu verneinen. Hinzu kommen muss, dass auch in
generalpräventiver Hinsicht ein besonders gelagerter Sachverhalt gegeben ist.
Danach kann dahinstehen, ob von dem Betroffenen eine Wiederholungsgefahr
ausgeht, wenn feststeht, dass der Ausweisungsgrund jedenfalls in
generalpräventiver Hinsicht schwerwiegend ist.144
Neuere Entwicklungen haben diese Grundsätze jedenfalls zugunsten faktisch
Inländer (Art. 8 EMRK) erheblich erschüttert.145 Die traditionelle
Rechtsprechung beruft sich auf die ordnungsrechtlich Funktion der Ausweisung,
die nicht den Zweck der Ahndung eines bestimmten Verhaltens verfolge, sondern
künftigen Störungen der öffentlichen Sicherheit und Ordnung oder
Beeinträchtigungen sonstiger erheblicher Belange der Bundesrepublik
Deutschland vorbeugen solle. Der erhöhte Ausweisungsschutz wirkt sich
allerdings dahin aus, dass der Ausweisungsgrund schwerwiegend sein muss und
in diesem Zusammenhang dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit besondere
Bedeutung zukommt.146 Deshalb werden generalpräventive Gründe nur in
141 Kritisch
zur Generalprävention im öffentlichen Recht Roggan, KJ 1999, 69.
142 BVerwGE
101, 247 (255) = EZAR 035 Nr. 16 = InfAuslR 1997, 8 = NVwZ 1997, 297; BVerwG,
InfAuslR 1995, 195 (196); bekräftigt BVerwGE 121, 356 (362 f.) = EZAR 41 Nr. 1 = NVwZ 2005, 229 =
InfAuslR 2005, 49.
143 BVerwGE
101, 247 (255) = NVwZ 1997, 297= EZAR 035 Nr. 16 = InfAuslR 1997, 8; BayVGH, AuAS
2010, 161 (163); BayVGH, InfAuslR 2010, 198 (200); OVG NW, NVwZ 2008, 450 (451); VG Karlsruhe,
InfAuslR 2009, 197 (201) = EZAR NF 44 Nr. 11.
144 BVerwGE
121, 356 (362) = NVwZ 2005, 229 (230) = InfAuslR 2005, 49 = EZAR NF 41 Nr. 1; kritisch
hierzu Alexy, in: Hofmann/Hoffmann, Handkommentar AuslR, § 56 AufenthG Rn 24; Mayer, VA 2010, 482
(506 ff.).
145
S. insbesondere VGH BW, InfAuslR 2011, 293; VGH BW, NVwZ-RR 2011, 994; VGH BW,
InfAuslR 2012, 1; s. auch BVerfG (Kammer), InfAuslR 2011, 287; s. aber Bay.VGH, InfAuslR 2011,
377: Einreise mit 16 Jahren, Verurteilung zu Jugendstrafe zu zwei Jahren Freiheitsstrafe wegen
Vergewaltigung und vorsätzlicher Körperverletzung; ausführlich zur Zurückdrängung der Generalprävention
durch Art. 8 EMRK Marx, Aufenthalts-, Asyl- und Flüchtlingsrecht, 4. Aufl. 2011, S. 869 ff.
146 BVerwGE
101, 247 (254) = EZAR 035 Nr. 16 = InfAuslR 1997, 8 = NVwZ 1997, 297.
28
Ausnahmefällen schwer wiegen.147 Traditionell hatte die Rechtsprechung den
generalpräventiven Zweck der Ausweisung in aller Regel schematisierend sowie
ohne Berücksichtigung der Individualinteressen begründet. Es genüge für die
Begründung einer generalpräventiv motivierten Ausweisung, dass diese eine
„angemessene generalpräventive Wirkung erwarten lasse.“ Das sei der Fall,
wenn nach der Lebenserfahrung damit gerechnet werden könne, dass sich andere
Ausländer von „einer kontinuierlichen Ausweisungspraxis in ihrem Verhalten
beeinflussen“ ließen.“ Behörden und Gerichte dürften grundsätzlich davon
ausgehen, dass eine aus Anlass einer strafgerichtlichen Verurteilung verfügte
Ausweisung zur Verwirklichung dieses Ziels geeignet sei. Dem stehe nicht
entgegen, dass Ausländer nach wie vor im Bundesgebiet Straftaten begingen.
Erforderlich sei, dass es Ausländer gebe, die sich in einer mit dem Betroffenen
vergleichbaren Situation befänden und sich durch dessen Ausweisung von
gleichen oder ähnlichen Handlungen abhalten ließen.148
Auch eine einmalige Straftat könne danach Anlass zu einer generalpräventiv
motivierten Ausweisung geben.149 Die Behörde könne im Rahmen der generellen
Gefahrenprognose regelmäßig von den strafgerichtlichen Feststellungen ausgehen
und nur ausnahmsweise, wenn sie über bessere Möglichkeiten der Aufklärung
verfüge oder die Verurteilung auf einem Irrtum beruhe, hiervon abweichen.150
Anknüpfend an die Rechtsprechung des BVerwG, in der für die generalpräventiv
begründete Ausweisung besonderes Gewicht auf den Grundsatz der
Verhältnismäßigkeit gelegt wird,151 hat das BVerfG in seiner neueren
Kammerrechtsprechung die generalpräventiv motivierte Ausweisung unter
besonderen Begründungszwang gestellt und für die Praxis die materiellen und
verfahrensrechtlichen Anforderungen an diesen Ausweisungszweck signifikant
erhöht:152
Aus dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit folge, dass die Ausländerbehörde die
Umstände der Straftat und die persönlichen Verhältnisse des Betroffenen von
Amts wegen sorgfältig ermittle und eingehend würdige. Ohne die Kenntnis von
Einzelheiten der Tatbegehung und der persönlichen Situation des Betroffenen
könnten in der Regel die Auswirkungen der Ausweisung auf die
Individualinteressen nicht hinreichend sicher festgestellt und in einer
einzelfallbezogenen Abwägung den die Ausweisung verlangenden Interessen der
Allgemeinheit gegenüber gestellt werden. Im Regelfall sei deshalb vor der
Entscheidung über die Rechtmäßigkeit der Ausweisung die Einsicht in die
147 BVerwG,
InfAuslR 1995, 194 (195) = NVwZ 1995, 1129 = EZAR 035 Nr. 10; BayVGH, NVwZ-Beil.
1994, 43 (44); BVerwG, InfAuslR 1996, 299 (300); OVG NW, NVwZ-RR 1998, 173.
148 OVG
NW, NVwZ 2008, 450 (451).
149 BVerwG,
NVwZ 1997, 1119 (1121); OVG NW, NVwZ-RR 1996, 173, verneint für zufälligen, aus
Freundschaftsdienst begangenen BtmG-Verstoß; BayVGH, InfAuslR 1994, 257 (259), bejaht für einmaliges
im Affekt begangenes Tötungsdelikt.
150 BVerwG,
InfAuslR 1998, 221 (222).
151 BVerwGE
101, 247 (254) = EZAR 035 Nr. 16 = InfAuslR 1997, 8 = NVwZ 1997, 297; BayVGH, AuAS
2010, 161 (163); BayVGH, InfAuslR 2010, 198 (200); OVG NW, NVwZ 2008, 450 (451).
152 BVerfG
(Kammer), NVwZ 2007, 1300 (1301) = InfAuslR 2007, 443 = EZAR NF 42 Nr. 6.
29
Strafakten ebenso unerlässlich wie genaue Feststellungen zu den Bindungen des
Betroffenen an die Bundesrepublik Deutschland.
Bei der Prüfung der Rechtmäßigkeit der Ausweisung sind danach folgende
Anforderungen zu beachten:
1.
Im Unionsrecht, also im Blick auf Unionsbürger und diesen rechtlich
gleichgestellten Personen, auf türkisch Assoziationsberechtigte sowie auf
langfristig Aufenthaltsberechtigte ist die generalpräventiv motivierte
Ausweisung von vornherein unzulässig. Die neuere Rechtsprechung des
BVerfG kann dahin verstanden werden, dass dies auch gilt, wenn die
Schutzwirkung von Art. 8 EMRK Anwendung findet (Rn 585 ff.).153
2.
Zulässig ist eine Ausweisung aus Gründen der Generalprävention im
Anwendungsbereich des § 56 Abs. 1 Satz 1 AufenthG in Anlehnung an die
zum Ausweisungsschutz ausländischer Ehegatten Deutscher entwickelten
Maßstäbe nur dann, wenn die Straftat „besonders schwer“ wiegt und
deshalb ein dringendes Bedürfnis daran besteht, über eine strafrechtliche
Sanktion hinaus durch Ausweisung andere Ausländer von Straftaten
ähnlicher Art und Schwere abzuhalten.154
3.
Das Gewicht der Straftat ist nicht abstrakt, sondern konkret nach den
Umständen der Tatbegehung zu bestimmen.155 Im Grundsatz nicht anders
als bei der Würdigung der von dem Ausländer künftig ausgehenden
Gefahren im Rahmen spezialpräventiv motivierter Ausweisungen genügt
es insbesondere nicht, das Gewicht der für eine Ausweisung sprechenden
öffentlichen Interessen allein anhand der Typisierung der den
Ausweisungsanlass bildenden Straftaten zu bestimmen.156
4.
Für die Geeignetheit der generalpräventiven Wirkung ihrer Ausweisung
hat die Behörde insbesondere darzulegen, dass nach der Lebenserfahrung
damit zu rechnen ist, dass sich andere Ausländer mit Rücksicht auf eine
kontinuierliche Ausweisungspraxis ordnungsgemäß verhalten.157
5.
Darüber hinaus ist eine Auseinandersetzung mit den Motiven für die
Tatbegehung und den näheren Tatumständen unerlässlich, um die
Umstände der Straftat zu erkunden, welche zum Anlass einer Ausweisung
zur Abschreckung anderer Ausländer genommen werden soll.158 Denn die
Ausweisung muss nach den konkreten Verhältnissen des Einzelfalls und
153 BVerfG
(Kammer), NVwZ 2007, 946 (947) = InfAuslR 2007, 275 = EZAR NF 42 Nr. 5.
154 BVerwGE
101, 247 (255) = EZAR 035 Nr. 16 = InfAuslR 1997, 8 = NVwZ 1997, 297.
155 BVerwGE
101, 247 (251 f.) = InfAuslR 1997, 8 = EZAR 035 Nr. 16.
156 BVerfG
(Kammer), NVwZ 2007, 1300 (1301) = InfAuslR 2007, 443 = EZAR NF 42 Nr. 6.
157 BVerwGE
102, 63 = InfAuslR 1997, 63 = EZAR 035 Nr. 18; BVerwG, InfAuslR 1996, 299 (302), bejaht
für Drogenhandel; BVerwG, NVwZ 1997, 1119 (1121), nicht alle Drogendelikte; BVerwG, NVwZ 1998, 741
(742), bejaht für bandenmäßig organisierten Kfz-Diebstahl.
158 BVerfG
(Kammer), NVwZ 2007, 1300 (1301) = InfAuslR 2007, 443 = EZAR NF 42 Nr. 6.
30
nicht lediglich abstrakt geeignet sein, abschreckend auf andere, als
potenzielle Straftäter in Betracht kommende Ausländer zu wirken.
Namentlich bei Ausweisungen aus Anlass von „Beziehungs- oder
Leidenschaftstaten“ kann es an der Eignung der Ausweisung als
abschreckender Maßnahme fehlen.159 Wesentliche, in die Betrachtung
einzubeziehende Umstände sind insbesondere auch die Tatsache, dass der
Betroffene nicht der Drogenszene zurechnet werden kann oder sich durch
Umzug das persönlichen Umfeld verändert hat.160
6.
Schließlich
ist
insbesondere
zu
berücksichtigen,
ob
die
Abschreckungswirkung angesichts der konkreten Einzelfallumstände
angemessen ist.161
Jedenfalls bei verwurzelten Ausländern steht Art. 8 EMRK einer
generalpräventiven Ausweisung entgegen.162 Die Auswirkungen der veränderten
Rechtsprechung werden insbesondere im Bereich der Drogendelikte deutlich.
Nach der fachgerichtlichen Rechtsprechung ist bei Rauschgiftdelikten eine
generalpräventive Ausweisung von nach § 56 Abs. 1 Satz 1 AufenthG
privilegierten Ausländern auch dann zulässig, wenn die Freiheitsstrafe zur
Bewährung ausgesetzt ist.163 Demgegenüber weist das BVerfG darauf hin, dass
auch bei Drogendelikten weder die gesetzlichen Vorgaben noch ein allgemeines
Erfahrungswissen zu einer schematischen Gesetzesanwendung führen dürfe, die
im Einzelfall für den Betroffenen sprechende Umstände ausblende. 164 Es verweist
in diesem Zusammenhang auf eine wenige Monate zuvor getroffene
Entscheidung,165 in der im Blick auf ein Drogendelikt insbesondere auf die aus
Art. 8 EMRK folgenden Anforderungen hingewiesen wird.
3.
Tatsachengestützte ausweisungsrechtliche Bekämpfung des Terrorismus
(54 Nr. 5 AufenthG)
a)
Differenzierung zwischen Vereinigung und individueller Unterstützung
Das BVerwG hat festgestellt, dass bei der Anwendung der aufenthaltsrechtlichen
Norm des § 54 Nr. 5 AufenthG im Rahmen der Zurechnung zwischen der
Vereinigung, die den Terrorismus unterstützt oder selbst terroristischen Charakter
hat (1), einerseits sowie andererseits der erforderlichen individuellen
Unterstützung der Vereinigung durch den betroffenen Ausländer oder seiner
159 BayVGH,
InfAuslR 2010, 198 (200), mit Hinweis auf BVerwGE 60, 75 (77 f.); a.A. VG Schleswig,
InfAuslR 2009, 114 (116).
160 OVG
NW, NVwZ 2008, 450 (451).
161 OVG
NW, NVwZ-RR 1996, 173.
162
Marx, Aufenthalts-, Asyl- und Flüchtlingsrecht, 4. Aufl. 2011, S. 882 f.; VGH BW, AuAS 2011, 136 (138)
mit grundsätzlichen Erwägungen; bekräftigt VGH BW, Urt. vom 15. 4. 2011 – 11 S 189/11.
163 BVerwGE
101, 247 (256) = InfAuslR 1997, 8 = EZAR 035 Nr. 16.
164 BVerfG
(Kammer), NVwZ 2007, 1300 (1301) = InfAuslR 2007, 443 = EZAR NF 42 Nr. 6.
165 BVerfG
(Kammer), NVwZ 2007, 946 = InfAuslR 2007, 275 = EZAR NF 42 Nr. 5 = AuAS 2007, 242.
31
Zugehörigkeit zu der Vereinigung (2) zu differenzieren ist.166 Für die
maßgebliche Unterstützung des Terrorismus durch die Vereinigung selbst (1) sei
zu verlangen, dass die von der Vereinigung betriebene Sympathiewerbung für
terroristische Aktivitäten Dritter eine Unterstützung des Terrorismus darstellen
müsse. Um den Ausweisungstatbestand rechtsstaatlich zu begrenzen, sei es
geboten, für das Unterstützen des Terrorismus durch die Vereinigung selbst eine
engere Verbindung zu den terroristischen Aktivitäten zu verlangen, als sie bei der
individuellen Unterstützung der Vereinigung durch den einzelnen Ausländer (2)
gefordert würde. Andernfalls würde dem Einzelnen ein Verhalten zugerechnet,
dass weder von seinem Willen, noch von der durch ihm unterstützten Vereinigung
getragen werde. Daher müsse die Unterstützung des Terrorismus jedenfalls auch
ein Ziel der Vereinigung oder ihrer Tätigkeit sein (BVerwG, Urteil vom 25.
Oktober 2011 - BVerwG 1 C 13.10 Rdn. 23).
Es müsse festgestellt (§ 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO) werden, dass die Vereinigung
den Terrorismus unterstütze, indem sie die Begehung terroristischer Taten durch
Dritte veranlasse, fördere oder befürworte. Eine wichtige belastbare Tatsache sei
in diesem Zusammenhang die Feststellung, dass die Vereinigung Dritte mit einer
entsprechenden Einstellung für den Terrorismus gewinnen wolle (Rdn. 26 f.).
Lediglich die Befürwortung bestimmter spezifischer Ideologien oder
Weltanschauungen, sofern daraus nicht "spezifische Handlungsanleitungen zur
Anwendung von Gewalt zur Durchsetzung politischer oder religiöser Ziele"
abgeleitet würden, reiche nicht aus. Soweit es um die Beurteilung der Zwecke
oder Tätigkeit der Vereinigung gehe, könne die Vereinigung nur dann als den
Terrorismus unterstützende Vereinigung angesehen werden, wenn sie Dritte mit
einer entsprechenden Einstellung für die militante Durchsetzung der Ideologie
gewinnen will.167
b)
Begriff der individuellen Unterstützung
aa)
Begriff des „Sympathisanten“
Nach der Rechtsauffassung des BVerwG darf der Gesetzgeber zur präventiven
Gefahrenabwehr einerseits und zur Strafverfolgung andererseits differenzierte
Maßstäbe an den Begriff der Unterstützung des Terrorismus anlegen. Die
Ausweisungsnorm des § 54 Nr. 5 AufenthG solle weiterhin alle Verhaltensweisen
- und damit auch die Sympathiewerbung - erfassen, die sich in irgendeiner
Weise positiv auf die Aktionsmöglichkeiten des Terrorismus auswirkten. Das
gelte für beide Unterstützungsbegriffe in § 54 Nr. 5 AufenthG, also sowohl für die
Unterstützung des Terrorismus durch die Vereinigung wie auch für das
individuelle Unterstützen einer solchen Vereinigung durch den Ausländer. Für die
zuletzt bezeichnete individuelle Unterstützung durch den Ausländer bedeute dies,
dass weiterhin die in der Senatsrechtsprechung entwickelten Kriterien maßgeblich
seien. Dies gelte auch für die Abgrenzung der ausweisungsrechtlich relevanten
166
BVerwG, Urteil vom 25. Oktober 2011 - BVerwG 1 C 13.10 Rdn. 20.
167
BVerwG, Urteil vom 25. Oktober 2011 - BVerwG 1 C 13.10 Rdn. 26 f.
32
Werbung durch die Vereinigung selbst und der ausweisungsrechtlich
unbeachtlichen Werbung für einzelne humanitäre Anliegen der Vereinigung.168
Das BVerwG bezieht sich insoweit auf die mit Urteil vom 15. März 2005
entwickelte Rechtsprechung, wonach von einer Unterstützung des Terrorismus
auszugehen sei, wenn Veranstaltungen, an denen der Einzelne teilnehme,
erkennbar dazu dienten, nicht nur einzelne Meinungen kundzutun, wie sie auch
die Vereinigung vertrete, sondern durch die - auch massenhafte - Teilnahme
jedenfalls auch der Vereinigung selbst vorbehaltlos und unter Inkaufnahme des
Anscheins der Billigung ihrer terroristischen Bestrebungen - beispielsweise wegen
des angekündigten Auftretens von Funktionären einer verbotenen Vereinigung,
die den internationalen Terrorismus unterstütze - zu fördern. Eine Unterstützung
könne ferner dann in Betracht kommen, wenn aufgrund zahlreicher Beteiligungen
an Demonstrationen und Veranstaltungen im Vorfeld einer Vereinigung wie der
verbotenen PKK bei einer wertenden Gesamtschau zur Überzeugung des
Tatsachengerichtes feststehe, dass der Einzelne auch als Nichtmitglied in einer
inneren Nähe und Verbundenheit zu der Vereinigung selbst stehe, die er durch
sein Engagement als ständiger (passiver) Teilnehmer zum Ausdruck bringe, und
damit deren Stellung in der Gesellschaft - vor allem unter Landsleuten begünstigend beeinflusse, ihre Aktionsmöglichkeiten eventuell auch ihr
Rekrutierungsfeld erweitere und dadurch insgesamt zur Stärkung ihres latenten
Gefahrenpotentials beitrage.169
Diese Rechtauffassung wird dem verfassungsrechtlich geforderten Maßstab des
Begriffs der individuellen Unterstützung einer terroristischen Vereinigung im
Sinne von § 54 Nr. 5 AufenthG nicht gerecht. Gegen die Rechtsprechung ist
zunächst einzuwenden, dass aus verfassungsrechtlichen Gründen wegen der
tatbestandlichen Weite des Unterstützungsbegriffs nicht erst im subjektiven
Tatbestand darauf zu achten ist, dass nicht unverhältnismäßig namentlich in das
Recht auf freie Meinungsäußerung jenseits der zumindest mittelbaren Billigung
terroristischer Bestrebungen eingegriffen wird.170 Deshalb ist der
Organisationsbezug nicht schon immer dann zu bejahen, wenn „in irgendeiner
Form“ auf den verbotenen Verein und seine Aktivitäten hingewiesen wird, ohne
dass nach dem deutlich erkennbaren Sinn der Äußerung die Tätigkeit des Vereins
gefördert werden soll.171 Damit folgt aus dem Spannungsverhältnis zwischen
Grundrechtsschutz und Gefahrenabwehr bei der Beurteilung, ob durch die
Inanspruchnahme von Grundrechten eine verbotene Organisation unterstützt wird,
eine restriktive Auslegung des Unterstützungsbegriffs.172
Das restriktive Auslegungsgebot steht der Zulassung eines tatbestandlich weiten
Unterstützungsbegriffs, dessen Ausfransungen erst im Rahmen der
168
BVerwG, Urteil vom 25. Oktober 2011 - BVerwG 1 C 13.10, Rdn. 21.
169
BVerwGE 123, 114 (125 f.), mit Hinweis auf BGHSt 33, 16; 29, 99 (101); 32, 243 (244).
170
BVerwGE 123, 114 (124, 129).
171
BVerfG (Kammer), NVwZ 2002, 709 (710).
172
BVerfGE 25, 44 (58); s. ausführlich hierzu Marx, Aufenthalts-, Asyl- und Flüchtlingsrecht in der
anwaltlichen Praxis, 4. Aufl., 2011, § 7, Rdn. 353 ff., S. 816 ff.
33
Verhältnismäßigkeitsprüfung mühsam wieder eingefangen werden müssen,
entgegen. Vielmehr erfordern bereits der Grundrechtsschutz sowie der
Verhältnismäßigkeitsgrundsatz bei der begrifflichen Erfassung der einzelnen
Unterstützungshandlungen eine in diesem Sinne restriktive Betrachtungsweise.
Einerseits müssen die Unterstützungsleistungen der Vereinigung, welcher der
Betroffene angehört, auf die Festigung vorhandener terroristischer Strukturen
abzielen,173 andererseits muss dieser selbst einen dem Unterstützungsbegriff
gerecht werdenden Beitrag zur Unterstützung der Vereinigung leisten. Das
BVerfG weist in diesem Zusammenhang ausdrücklich darauf hin, dass dem
Einzelnen nicht verboten werde, selbst bestimmte politische Ziele anzustreben
und zu vertreten, wohl aber, dies durch Förderung der verbotenen Tätigkeit des
Vereins zu tun.174
bb)
Erfordernis der Zweckgerichtetheit der individuellen Handlung
Die Gefahrenabwehr richte sich nicht gegen die Handlung des Einzelnen als
solche, sondern gegen die mit „ihr verbundene Stärkung der Organisation.“
Hierfür reiche es nicht aus, wenn der Außenstehende gleiche Ansichten wie die
verbotene Partei vertrete. Zwar werde in der Regel die Wirkungsmöglichkeit der
Organisation verstärkt, wenn von ihr typisch verfolgte Ziele auch von anderer
Seite propagiert würden. Trete der Einzelne mit diesen Ansichten in Schriften und
Reden an andere heran, könne die Haltung des Adressaten in einer Richtung
beeinflusst werden, die es der verbotenen Organisation erleichtere, selbst Einfluss
zu nehmen. Mit dem Organisationsverbot solle jedoch nur Gefahren vorgebeugt
werden, die von der Verfolgung der Ideen in organisierter Form ausgingen.
Wollte man die fast nie ganz auszuschließende Rückwirkung auf die verbotene
Organisation zum Anlass nehmen, solche Meinungsäußerungen schlechthin zu
verbieten, würde in die Meinungsfreiheit des Einzelnen in einer nicht zumutbaren
und auch nicht durch den Zweck des Organisationsverbots gerechtfertigten Weise
eingegriffen.175
Daraus folgt, dass nur solche Handlungen erfasst werden dürfen, die gerade unter
dem Gesichtspunkt des Gefährdungspotenzials der terroristischen
Vereinigung erheblich sind. Diese für die Unterstützung einer verbotenen
Vereinigungen entwickelten verfassungsrechtlichen Grundsätze gelten wegen des
bei terroristischen Vereinigungen identischen gefahrenabwehrenden Zwecks auch
im Rahmen des Unterstützungsbegriffs im Sinne von § 54 Nr. 5 AufenthG.
Darüber hinaus muss das Verhalten des Einzelnen auch einen Bezug zur Tätigkeit
des Vereins haben. Diesem Verhalten muss folglich eine hinreichende
Außenwirkung zukommen, aus der ein objektiver Bezug der Handlung des
Einzelnen zur Tätigkeit des Vereins erkennbar wird,176 Einer Meinungsäußerung
ist daher nur dann eine objektive Gefahr immanent, wenn zusätzlich äußere, sich
173
Alexy, in: Hofmann/Hoffmann, Handkommentar zum AuslR, 2008, § 54 AufenthG Rdn 26.
174
BVerfGE 25, 44 (57); BVerfG (Kammer), NVwZ 2002, 709 (710); BVerwG, NVwZ 2010, 1372 (1373).
175
BVerfGE 25, 44 (57).
176
BVerfG (Kammer), NVwZ 2002, 709 (710).
34
nicht nur aus der Willensrichtung des Äußernden ergebene Umstände hinzutreten,
die der Äußerung einen unmittelbaren Förderungseffekt geben.177
Allen Unterstützungsalternativen des § 54 Nr. 5 AufenthG ist damit - unabhängig
von ihrer konkreten Form der Begehung - eine auf die terroristische Tätigkeit der
Vereinigung bezogene Zweckgerichtetheit immanent. Dies erfordert dem
Regelbeweis genügende Tatsachenfeststellung. Es versteht sich von selbst, dass
das Grundrecht auf Meinungsfreiheit das Recht einschließt, die eigene Meinung
möglichst wirksam zur Geltung zu bringen. Deshalb ist vor der Bekämpfung einer
Meinungsäußerung sorgfältig zu prüfen, ob nicht auch eine andere Auslegung in
Betracht kommt, bei der die fragliche Äußerung von der Meinungsfreiheit gedeckt
ist.178 Aus dem Spannungsverhältnis zwischen Grundrechtsschutz und
Gefahrenabwehr folgt deshalb bei der Beurteilung, ob durch die Inanspruchnahme
von Grundrechten eine terroristische Organisation unterstützt wird, eine
restriktive Auslegung des Unterstützungsbegriffs.
Aus verfassungsrechtlicher Sicht erfüllen danach engagierte Sympathisanten im
Umfeld einer terroristischen Organisation, die nicht strukturell in diese
eingebunden sind, nicht den Begriff der Unterstützung einer Vereinigung, die
ihrerseits den Terrorismus unterstützt. Dies selbst dann nicht, wenn sie sich durch
Teilnahme an einer Straßenblockade strafbar gemacht haben.179 Daher gelten für
die
strafrechtliche
wie
die
polizeirechtliche
Anwendung
des
Unterstützungsbegriffs aus verfassungsrechtlichen Gründen einheitliche
Maßstäbe. Dass ein „Hungerstreik nicht eo ipso als Handlung im Umfeld des
Terrorismus angesehen werden darf, versteht sich von selbst“.180 Es bedarf daher
stets einer „wertenden Gesamtschau“ aller Aktivitäten des Betroffenen, um zu
beurteilen, ob die „terroristische Prägung“ überwiegt.181 Daran wird es
regelmäßig fehlen, wenn die Betätigung sich auf „Geldspenden, die Verteilung
von Zeitungen und Flugblättern, die Teilnahme an friedlichen Demonstrationen,
an Hungerstreiks und nicht gewalttätigen Besetzungsaktionen beschränkt“.182
Hingegen ist von einem Überwiegen terroristischer Aktivitäten im Einzelfall
auszugehen, wenn der Betreffende aufgrund „seiner hochrangigen
Funktionärstätigkeit für die PKK eine qualifizierte Mitverantwortung für deren
kriminelle und terroristische Aktivitäten in Deutschland“ trägt.183
Bekräftigt wird diese Rechtsauffassung auch durch die Grundsätze, welche die
Rechtsprechung zur Anwendung von Art. 1 F GFK, Art. 12 Abs. 2 Buchst. b) RL
2004/83/EG, § 3 Abs. 2 Nr. 2 AsylVfG herausgebildet hat. Auch dort geht es
nicht um eine strafrechtliche, sondern um eine Zurechnung nach
177
BVerfGE 25, 44 (58).
178
BGH, NJW 2003, 2621 (2623).
179
BVerwGE 109, 25 (28) = InfAuslR 1999, 371 = NVwZ 1999, 1353.
180
BVerfG (Kammer), InfAuslR 1991, 257 (260 f.).
181
BVerfG (Kammer), NVwZ-Beil. 2001, 41 (42) = InfAuslR 2001, 89.
182
BVerfG (Kammer), NVwZ-Beil. 2001, 41 (42), unter Verweis auf BVerfG (Kammer), InfAuslR 1991, 257
(261).
183
BVerfG (Kammer), NVwZ-Beil. 2001, 41 (42).
35
verwaltungsrechtlichen Grundsätzen. Auch dort wird wie im Ausweisungsrecht
aus Gründen der polizeirechtlichen Gefahrenabwehr der Beweisstandard, werden
jedoch nicht die materiellrechtlichen Zurechnungskriterien gegenüber dem
Strafrecht, herabgesenkt. Hier wie dort geht es um die Gefährdung wichtiger
öffentlicher Schutzgüter durch terroristische Gefahren. Aber auch dort wird nur
dann die individuelle Verantwortlichkeit begründet, wenn auf sonstige Weise
dadurch zur Begehung eines nichtpolitischen Verbrechens vorsätzlich dazu
beigetragen wird, dass diese Beiträge mit dem Ziel geleistet werden, die
kriminelle Tätigkeit oder die strafbare Absicht der Gruppe zu fördern. Diese
Beiträge müssen also ausreichend sein, die Fähigkeit der Organisation,
terroristische Anschläge zu verüben, zu fördern.184 Auch im Flüchtlingsrecht wird
nicht verlangt, dass sich der Einzelne an einem konkreten Verbrechen in
strafrechtlicher Form beteiligt hat. Vielmehr reicht es aus, dass er einer
Organisation zugehörig ist oder diese unterstützt, welche terroristische Anschläge
verübt. Es wird nicht ein unmittelbarer Zusammenhang zwischen den konkreten
Beiträgen des Einzelnen und konkreten Verbrechen vorausgesetzt.
Auch der EuGH fordert in diesem Zusammenhang „eine individuelle Prüfung der
genauen tatsächlichen Umstände.“ Dabei ist insbesondere zu berücksichtigen,
dass der betreffenden Person „ein Teil der Verantwortung für Handlungen, die
von der fraglichen Organisation im Zeitraum der Mitgliedschaft der Person in
dieser Organisation begangen wurden, zugerechnet werden kann.“ Diese
individuelle Verantwortlichkeit ist anhand objektiver wie subjektiver Kriterien zu
beurteilen. Zu prüfen ist die Rolle, welche der Antragsteller bei der
Verwirklichung der betreffenden Handlungen tatsächlich gespielt hat, seine
Position innerhalb dieser Organisation, der Grad der Kenntnis, die er von deren
Handlungen hatte oder haben musste, die etwaigen Pressionen, denen er
ausgesetzt gewesen wäre, oder andere Faktoren, die geeignet gewesen seien, sein
Verhalten zu beeinflussen“.185 Abschließend stellt der Gerichtshof fest, habe der
Antragsteller eine hervorgehobene Position „in einer sich terroristischer Methoden
bedienenden Organisation“ innegehabt, könne vermutet werden, dass er „eine
individuelle Verantwortung für von dieser Organisation im relevanten Zeitraum
begangene Handlungen trägt.“ Diese befreie die Behörde aber nicht von der
Prüfung sämtlicher erheblicher Umstände“.186 Der Gerichtshof vermeidet den
Begriff der Regelvermutung, sodass nicht die Grundsätze zur Widerlegung
heranzuziehen sind. Vielmehr weist er darauf hin, dass bei einer
„hervorgehobenen Position“ eine individuelle Verantwortlichkeit vermutet
werden könne. Ob diese Vermutung gerechtfertigt ist, erfordert nach seiner
Rechtsprechung aber eine Prüfung sämtlicher erheblicher Umstände.“ (EuGH,
InfAuslR 2011, 40 (98) = NVwZ 2011, 285 = AuAS 2011, 43 – B. und D,
dagegen Bell, InfAuslR 2011, 214 (215)). Das Bundesverwaltungsgericht hat bei
der Umsetzung der Entscheidung des Gerichtshofs ausdrücklich darauf
hingewiesen, dass bei einer hervorgehobenen Position des Antragstellers in einer
sich terroristischer Methoden bedienenden Organisation zwar eine Vermutung
184
UK Upper Tribunal (2011) UKUT 00339 (IOAC) Rdn. 54 ff. - Azimi-Rad.
185
EuGH, InfAuslR 2011, 40 (94 ff.) = NVwZ 2011, 285 = AuAS 2011, 43 – B. und D.
EuGH, InfAuslR 2011, 40 (98) = NVwZ 2011, 285 = AuAS 2011, 43 – B. und D, Marx, InfAuslR 2012,
32 (35 f.); dagegen Bell, InfAuslR 2011, 214 (215).
186
36
seiner individuellen Verantwortung angenommen werden könne. Gleichwohl
bedürfe es aber der Prüfung sämtlicher Umstände des Einzelfalles (BVerwG,
NVwZ 2011, 1450 (1455)). Daraus folgt, dass die Ausländerbehörden und
Verwaltungsgerichte erst nach einer umfassenden und konkreten Prüfung des
Verhaltens des Betroffenen durch eine wertende Gesamtbetrachtung entscheiden
können, ob dieser eine Vereinigung unterstützt, die ihrerseits den Terrorismus
unterstützt.
c)
Anforderungen an die Tatsachenfeststellungen
Das Gericht hat gemäß § 86 Abs. 1 VwGO den Sachverhalt von Amts wegen bis
zur Grenze der Zumutbarkeit aufzuklären. Die Anwendung des § 54 Nr. 5
AufenthG setzt eine auf Tatsachen gestützte gegenwärtige Gefährlichkeit
voraus. Die Prognose ist unter Rückgriff auf den im allgemeinen Polizeirecht
entwickelten Gefahrenbegriff zu bestimmen. Danach genügen reine Vermutungen
nicht. Ein bloßer Verdacht, der nicht durch Tatsachen belegt ist, entspricht mithin
nicht den gesetzlichen Anforderungen. Eine bloße auf Verdachtsgründen oder
Vermutungen basierende Ausweisungsverfügung kann keinen rechtlichen Bestand
haben. Sie wäre mit rechtsstaatlichen Anforderungen nicht vereinbar und würde
die Möglichkeit eröffnen, Ausländer ohne jeden Nachweis einer Tathandlung des
Landes zu verweisen.187 Es muss sich vielmehr um verwertbare Tatsachen
handeln, die dem Betroffenen auch vorgehalten und im Zweifelsfall auch belegt
werden können.188 Eine Unterstützungshandlung erfordert nicht nur eine
Vermutung, sondern eine durch Tatsachen gerechtfertigte Schlussfolgerung.
Grundlage der Schlussfolgerungen können also nur konkrete und belastbare
Tatsachenfeststellungen sein.189
Eine auf Tatsachen gestützte Schlussfolgerung liegt oberhalb der Schwelle
„tatsächlicher Anhaltspunkte“ für den „Verdacht“ der Verfolgung oder
Unterstützung verfassungsfeindlicher Betätigung. Bereits für diesen haben die
Verwaltungsgerichte aus einer Bandbreite von Möglichkeiten die zutreffenden
Schlussfolgerungen zu ziehen. Dabei reicht der Nachweis von einem mit
Sicherheit eintretenden Ereignis bis zur bloßen abstrakten Hypothese. Eine
„gesteigerte Gesamtgefahrenlage“ rechtfertigt nicht die Herabsenkung des
erforderlichen Prognosemaßes. Diese verpflichtet die Sicherheitsbehörden zwar
zu erhöhten Anstrengungen, vermindere aber nicht die Verdachtsintensität zu
Lasten des Betroffenen.190
Diese materiellen Grundsätze müssen umso mehr gelten, wenn nicht bereits der
Verdacht der Verfolgung oder Unterstützung terroristischer Bestrebungen
ausreicht, sondern ausschließlich Tatsachen eine entsprechende Schlussfolgerung
rechtfertigen. Hierfür reicht zwar der auf Tatsachen gestützte hinreichende
Tatverdacht aus. Diese Schwelle ist jedoch höher als die durch den Begriff
187 BayVGH,
NVwZ 2006, 227 (228); BayVGH, NVwZ 2006, 1306 (1310).
BW, Beschl. v. 31.1.2006 – 13 S 2284/05; Langeheine, in: Kluth/Hund/Maaßen,
Zuwanderungsrecht, 2008, S. 430 (470).
188 VGH
189 Alexy,
in: Hofmann/Hoffmann, Handkommentar zum AuslR, § 54 AufenthG Rn 29.
190 BVerwG,
NJW 1991, 581 (582).
37
„Verdacht“ aufgezeigte. Da nach § 54 Nr. 5 AufenthG bloße entsprechende
Zweifel nicht ausreichen, sondern Tatsachen die Schlussfolgerung rechtfertigen
müssen, dass der Antragsteller einer terroristischen Vereinigung angehört oder
diese unterstützt, kann dieser materielle Maßstab nicht ausreichen. Auch im
summarischen Eilrechtsschutzverfahren sind belastbare Tatsachen beizubringen
und ist zudem die spezifische Zuordnung von Fakten zu den einzelnen Merkmalen
der Befugnisnorm unerlässlich.191
Soll eine Ausweisungsverfügung auf den Vorwurf der Unterstützung einer
terroristischen Vereinigung gestützt werden, ist es danach zunächst Aufgabe der
Behörde, Tatsachen beizubringen, die eine geeignete Erkenntnisbasis für eine
aktuelle Gefahrenprognose darstellen können. Mangels eigener Erkenntnisquellen
sind dabei die Erkenntnisse der Sicherheitsbehörden von Bedeutung, so dass es in
erster Linie deren Aufgabe ist, die Tatsachengrundlage für eine
Ausweisungsverfügung zu schaffen. Die Erkenntnisse müssen Tatsachen belegen,
die der Ausweisungsentscheidung und der anzustellenden Prognose zugrunde
gelegt werden können. Ohne das Vorliegen solcher Tatsachen ist die vom Gesetz
gemeinte gegenwärtige Gefahr („unterstützt“) nicht festzustellen. Diese
Auslegung entspricht auch dem ausdrücklichen Wortlaut des Gesetzes („wenn
Tatsachen belegen“).192 Zwar hindert nach der Rechtsprechung die Einstellung
des Verfahrens nach § 170 Abs. 2 StPO die Ausländerbehörde nicht an einer
tatsachengestützten Feststellung der Unterstützung einer terroristischen
Vereinigung. Können aufgrund der Einwendungen des Betroffenen jedoch auch
gegenteilige Schlussfolgerungen getroffen werden, ist Eilrechtsschutz zu
gewähren und bedarf es einer umfassenden Bewertung dieser Einwendungen und
deren Glaubhaftigkeit sowie der Glaubwürdigkeit des Betroffenen im
Hauptsacheverfahren.193
Zwar hat das BVerwG festgestellt, dass im Rahmen von Ausweisungsverfahren
nach § 54 Nr. 5 AufenthG in tatsächlicher Hinsicht die gerichtlichen
Möglichkeiten zur umfassenden Aufklärung des Sachverhaltes in Fällen, in denen
die Ausweisung im Wesentlichen auf Erkenntnissen der Sicherheitsbehörden
gestützt ist, begrenzt sein kann.194 Ob allein die förmliche Beiziehung von
Erkenntnissen der Verfassungsschutzbehörden diesen "tatrichterlichen
Beweisnotstand" beseitigen kann, erscheint zweifelhaft, da auch in diesem Fall
keine eigenen Feststellungen des Gerichtes, sondern die anderen als gerichtlichen
Zwecken dienenden Berichte der zuständigen Behörden des Verfassungsschutzes
das Urteil ausschließlich tragen. Wird das gerichtliche Urteil allein auf
Erkenntnisse der Sicherheitsbehörden gestützt, verletzt dies § 86 Abs. 1 VwGO.
Während für die richterlichen Tatsachenfeststellungen das Regelbeweismaß gilt,
reicht für die Veröffentlichung in Berichten der Verfassungsschutzbehörden,
welche das angefochtene Berufungsurteil ausschließlich tragen, bereits der
191 BayVGH,
NVwZ 2006, 227 (228), mit Hinweis auf BVerfG (Kammer), InfAuslR 2005, 372 (373 f.) =
NVwZ 2005, 1053.
192 BayVGH,
193 VGH
194
NVwZ 2006, 227 (228 f.).
BW, InfAuslR 2008, 159 (161) = EZAR NF 42 Nr. 7.
BVerwG, Urteil vom 25. Oktober 2011 - BVerwG 1 C 13.10, Rdn. 25.
38
„Hinweis auf den Verdacht“ verfassungsfeindlicher Bestrebungen aus.195 Soweit
die Behörde auf nachrichtendienstliche Erkenntnisse zurückgreift, muss dem
Betroffenen Gelegenheit gegeben werden, hierzu konkret Stellung nehmen und
die ihm vorgehaltenen Erkenntnisse widerlegen zu können.196 Werden Aussagen
von V-Leuten herangezogen, ist die Rechtsprechung des BVerfG zur Verwertung
von V-Mann-Aussagen durch Ermittlungsbeamte als „Zeugen vom Hörensagen“
zu beachten und zugrunde zu legen.197 Dies gilt insbesondere, wenn die
mitgeteilten Erkenntnisse bestritten werden.
Die Verwertung der Aussagen von Zeugen vom Hörensagen ist weder
grundsätzlich noch im Hinblick auf die mittelbare Einführung von V-MannErkenntnissen bei Beachtung der verfassungsgerichtlichen Rechtsprechung
generell unzulässig. Die besonderen Aufklärungsmöglichkeiten nach § 99 VwGO
sind zusätzlich zu beachten. Ebenso sind die besonderen Anforderungen an den
Zeugenbeweis beim Wiedererkennen von Personen zu berücksichtigen. 198 Für die
Tatsachenfeststellungen sind die einzelnen tatbestandlichen Merkmale der
Befugnisnorm des § 54 Nr. 5 AufenthG hinreichend aufzubereiten. Danach sind
zunächst Tatsachenfeststellungen zum Zweck der Vereinigung, welcher der
Betroffene zugeordnet wird, erforderlich.199 Aus den Gesamtumständen muss sich
darüber hinaus mit hinreichender Gewissheit die Folgerung ableiten lassen, dass
die vom Betroffenen vorgenommenen Handlungen dazu dienen, den Terrorismus
zu unterstützen. Dies ist dann nicht der Fall, wenn sowohl die einzelnen
Handlungen wie auch das gesamte Auftreten des Betroffenen in einer
Gesamtschau in gleicher Weise durch rechtlich nicht zu beanstandende
Lebensumstände erklärt werden können.200 In diesem Zusammenhang sind
Tatsachen festzustellen, in welcher Form der Betroffene die Vereinigung, die nach
ihrem Zweck den Terrorismus fördert, unterstützt, sei es durch Unterstützung
konkreter
terroristischer
Handlungen,
sei
es
durch
persönliche
Unterstützungshandlungen hinsichtlich einer Vereinigung, die den Terrorismus
unterstützt z.B. durch logististische Unterstützung oder sonstige konkrete Beiträge
zur Förderung des Terrorismus.
195
BVerfGE 113, 63 (74).
196 Alexy,
in: Hofmann/Hoffmann, Handkommentar zum AuslR, § 54 AufenthG Rn 30.
197 BVerwGE
123, 114 (131) = InfAuslR 2005, 374 = NVwz 2005, 1091, mit Hinweis auf BVerfG (Kammer),
NJW 2001, 2245.
198 BayVGH,
NVwZ 2006, 227 (228) mit Hinweis auf BVerfG (Kammer), NJW 2003, 2444.
BayVGH, Beschl. v. 19.2.2009 – 19 CS 08.1175, mit Hinweis auf BVerwGE 123, 114 (129) = InfAuslR
2005, 374 = NVwz 2005, 1091.
199
200 BayVGH,
NVwZ 2006, 1306 (1310).
39
B.
Asylrecht
I.
Verordnung (EG) Nr. 343/2003 (Dublin II-Verordnung)
Der EuGH hat am 21. Dezember 2011201 eine notwendige Korrektur des
grundlegenden Bausteins des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems (GEAS),
der Verordnung (EG) Nr. 343/2003 (Dublin-II-Verordnung), vorgenommen, die
ein erster Schritt zur Behebung der Dysfunktionalität dieses Systems sein könnte.
Die Verordnung leidet – wie bereits ihr Vorgänger, das Dubliner Übereinkommen
vom 15. Juni 1990 - an einem Geburtsfehler: Sie soll nach „objektiven und für die
Mitgliedstaaten
und
die
Betroffenen
gerechten
Kriterien“202
die
Verantwortlichkeit der Mitgliedstaaten für die Aufteilung der Asylsuchenden in
der Union festlegen, obwohl es bislang ungeachtet aller Bemühungen der Union
keine einheitlichen materiellen und verfahrensrechtlichen Standards im
Feststellungsverfahen und bei der Statusgewährung gibt. Zudem führt das in der
Praxis zumeist relevante Zuständigkeitskriterium der illegalen Einreise (Art. 10)
zur übermäßigen Belastung grenznaher Mitgliedstaaten und wirkt so dem selbst
gesetzten Ziel gerechter Verantwortungsaufteilung im Sinne der Solidarität (Art.
80 AEUV) entgegen. Das gesamte Asylsystem der Union gerät dadurch in eine
Schieflage.
In Übereinstimmung mit der Generalanwältin203 stellt der EuGH fest, „eine
Anwendung der Verordnung (EG) Nr. 343/2003 auf der Grundlage einer
unwiderleglichen Vermutung, dass die Grundrechte des Asylbewerbers in dem für
die Entscheidung über seinen Antrag normalerweise zuständigen Mitgliedstaat
beachtet werden, ist mit der Pflicht der Mitgliedstaaten zur grundrechtskonformen
Auslegung und Anwendung der Verordnung Nr. 343/2003 unvereinbar.“204 Da
das Sekundärrecht in dieser Frage nicht eindeutig ist, zieht der EuGH den
Grundsatz der grundrechtskonformen Auslegung des Sekundärrechts heran. Diese
Feststellung des Gerichtshofs ist für das GEAS von zentraler Bedeutung, da der
Gerichtshof hiermit deutlich macht, dass er dieses an den Grundrechten messen
will. Dies hat insbesondere für die Praxis der Zustellung (§ 34a Abs. 1 AsylVfG)
und den Eilrechtsschutz (§ 34a AsylVfG) Bedeutung.
Der EuGH hat sich zwar nicht unmittelbar mit dem Eilrechtsschutz gegen
Überstellungen auseinandergesetzt. Aus seinen Ausführungen folgt jedoch, dass
wirksamer Eilrechtsschutz zu gewährleisten ist.205 Zwar richtet sich die
Durchführung materiellen Unionsrechts grundsätzlich nach nationalem Recht.
Wie Art. 3 Abs. 2 die Ausübung des Selbsteintrittsrechts überlässt Art. 19 Abs. 2
der Verordnung die Regelung des Eilrechtsschutzes dem Ermessen der
201
EuGH, NVwZ 2012, 417 – N.S.; s. hierzu Hailbronner/Thym, NVwZ 2012, 406; Marx, NVwZ 2012, 409.
202
Erwägungsgrund Nr. 4 Verordnung (EG) Nr. 343/2003. Hervorhebungen nicht im Orginal.
203
Schlussanträge der Generalanwältin Verica Trstenjak vom 22. September 2011 in der Rechtssache C411/10, Rdn. 118.
204
EuGH, NVwZ 2012,…Rdn. 99 ff – N.S.
205
Marx, NVwZ 2012, 409; a.A. Hailbronner/Thym, NVwZ 2012, 406.
40
Mitgliedstaaten. Dieselben Gründe aber, die dafür sprechen, das Ermessen nach
Art. 3 Abs. 2 als ein „Element des GEAS“ zu werten,206 tragen auch die
Annahme, dass der in das Ermessen gestellte Eilrechtsschutz nach Art. 19 Abs. 2
ein Element dieses Systems ist und durch die Ausübung dieser Norm Unionsrecht
im Sinne von Art. 51 Abs. 1 GRCh durchgeführt wird. Dafür spricht auch die
ständige Rechtsprechung des EuGH, wonach Ermessensklauseln nur in
Übereinstimmung mit den Rechten der EMRK und der Charta der Grundrechte in
Anspruch genommen werden dürfen.207 Es ist also die ständige Rechtsprechung
zum primärrechtlichen Rechtsschutz anzuwenden. Es ist nichts dafür ersichtlich,
dass diese nicht auf Art. 47 GRCh anzuwenden ist. Der EuGH hat festgestellt, ein
nationales Gericht, das Unionsrecht anzuwenden habe, wie hier Art. 3 Abs. 2
Verordnung (EG) Nr. 343/2003, müsse in der Lage sein, einstweilige
Anordnungen zu erlassen, um die volle Wirksamkeit der späteren
Gerichtsentscheidung über das Bestehen unionaler Rechte sicherzustellen.208 Ein
Gericht, das unter diesen Umständen einstweilige Anordnungen erlassen würde,
wenn dem nicht eine Vorschrift des nationalen Rechts entgegenstünde, dürfe diese
(nationale) Vorschrift nicht anwenden.209 Aus dem aus allgemeinen Grundsätzen
wie auch aus Art. 47 GRCh abgeleiteten Grundrecht auf effektiven Rechtsschutz
folgt damit als immanenter Bestandteil dieses Grundrechts ein grundrechtlicher
Anspruch auf Eilrechtsschutz auf Sicherstellung der vollen Wirksamkeit
unionsrechtlich begründeter Rechtspositionen.
Ein weiteres durchschlagendes Argument für die Sicherstellung des
Eilrechtsschutzes gegen Überstellungen folgt daraus, dass der EuGH N.S in den
konventionsrechtlichen Kontext stellt: Der vorlegende britische Court of Appeal
wollte geklärt wissen, ob der Schutz der einer von der Verordnung (EG) Nr.
343/2003 erfassten Person durch Art. 1, 18 und 47 GRCh gewährt werde, weiter
reiche als der Schutz nach Art. 3 EMRK. Zur Beantwortung dieser Frage weist
der EuGH auf die nach dem Ergehen des Vorlagebeschlusses ergangene
Entscheidung M.S.S. hin. In dieser bestätigt der EGMR seine gefestigte
Rechtsprechung, wonach „jeder Hinweis, wonach die Abschiebung in ein anderes
Land den Beschwerdeführer einer Art. 3 EMRK zuwiderlaufenden Gefahr
aussetzen werde, nach Art. 13 EMRK eine vollständige und sorgfältige
Überprüfung erfordere“.210 Diese Überprüfung könne nicht als nachrangige
Verpflichtung behandelt werden, weil die Staaten eine Person nicht abschieben
dürften, ohne zuvor ihre Beschwerde, dass die Abschiebung Art. 3 EMRK
zuwiderliefe, so strikt wie möglich zu prüfen. Da das belgische
Eilrechtsschutzverfahren diese Anforderungen nicht erfüllt habe, sei Art. 13 in
Verbindung mit Art. 3 EMRK verletzt worden.211 Die Ausführungen in M.S.S.
206
EuGH, NVwZ 2012, 418 Rdn. 68 – N.S.
EuGH, NVwZ 2006, 1033 (1034) Rdn. 58 ff. (62 f.) –EP gegen Rat; EuGH, InfAuslR 2010, 221 =
NVwZ 2010, 697 Rdn. 44 – Chakroun.
207
EuGH, Urteil vom 19. Juni 1990, Rs. C-213/89, Rdn. 19 ff., Slg. 1990, I-02433 – Factortame u.a.;
EuGH, Urteil vom 11. Januar 2001, Rs. C-1/99 Rdn. 46 - 48 – Kofisa Italia Sr.l
208
209
EuGH, Urteil vom 19. Juni 1990, Rs. C-213/89, Rdn. 21, Slg. 1990, I-02433 – Factortame u.a.
Urteil vom 21. Januar 2011 – Nr. 30696/09, Rdn. 387 – M.S.S.
Urteil vom 21. Januar 2011 – Nr. 30696/09, Rdn. 387 ff. – M.S.S, mit Verweis auf EGMR, Urt. v.
5. Februar. 2002 – Nr. 51564/99, Rdn. 81 bis 83, – Conka. EGMR, Urt. v. 26. April 2007 – Nr. 25389/05,
210EGMR,
211EGMR,
41
entsprechen der gefestigten Rechtsprechung des EGMR zum Eilrechtsschutz nach
Art. 13 EMRK. Indem der EuGH auf die Ausführungen in M.S.S. verweist,
welche die Verpflichtungen Belgiens im Zusammenhang mit Art. 3 EMRK
betreffen, macht er damit zugleich auch die Ausführungen zu Art. 13 EMRK zum
Inhalt des Unionsrechts. Ein zentraler Auslegungsgrundsatz in der
Rechtsprechung des EuGH ist, dass unionalen Grundrechten „die gleiche
Bedeutung und Tragweite beizumessen ist“ wie entsprechenden Grundrechten
nach der Konvention in ihrer „Auslegung durch die Rechtsprechung des
EGMR.“212
Das Urteil des EuGH bestätigt zwar das Dubliner System, erfordert aber eine
grundrechtskonforme Handhabung der Zuständigkeitskriterien. Stellt Art. 3 Abs.
2 Unionsrecht dar, gilt dies auch für die anderen Zuständigkeitskriterien. Dies hat
Auswirkungen auf den Eilrechtsschutz. Daraus folgt, dass § 34a Abs. 2 AsylVfG
unionsrechtswidrig und aufzuheben ist. Kollisionen zwischen Verfassungsrecht
und Unionsrecht bei Zulassung des Eilrechtsschutzes gegen Überstellungen sind
nicht zu erkennen, wohl aber eine Kollision des § 31 Abs. 1 Satz 4 und § 34a
AsylVfG mit Unionsrecht, weil diese Normen ja nach der Rechtsprechung des
BVerfG den Zweck verfolgen, die unmittelbare Durchführung der Überstellung an
den Mitgliedstaat unmittelbar mit der Zustellung zu gewährleisten,213 also dazu
führen, dass auch in den Fällen, in denen die Sicherheitsvermutung widerlegt
werden könnte, die Zustellungspraxis die Erlangung von Eilrechtsschutz
verhindert. Mit dieser gesetzgeberischen Konzeption kann die vom EuGH
geforderte Widerleglichkeit der Sicherheitsvermutung nicht praktisch wirksam
durchgesetzt werden. Auch der Ausschuss gegen Folter hat in seinen
abschließenden Bemerkungen vom November 2011 die Bundesrepublik wegen
des fehlenden Eilrechtsschutzes kritisiert und empfohlen, die Vorschrift, welche
Rechtsmittel gegen die Überstellung im Verfahren nach der Verordnung (EG) Nr.
343/2003 ausschließt, aufzuheben.214
II.
Streitgegenstand im Asylverfahren
Nach der gefestigten Rechtsprechung des BVerwG sind nationale
Abschiebungshindernisse nachrangig gegenüber dem unionsrechtlichen
subsidiären Schutz. Die „Abschiebungsverbote“ des § 60 Abs. 2, 3 und 7 Satz 2
AufenthG (Art. 15 RL 2004/83/EG) bilden einen eigenständigen, vorrangig vor
den verbleibenden nationalen Abschiebungsverboten des § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1
AufenthG zu prüfenden Streitgegenstand.215 Begehrt der Antragsteller
Rdn. 66 bis 67 – Gebremedhin; so bereits EGMR, Urt. v. 11. Dezember 2000 – Nr. 42502/06, Rdn. 102 –
Muminov.
212 EuGH, NVwZ 2012, 97 (100) Rdn. 70 – Derici.
213
BVerfGE 94, 49 (105 f.) = EZAR 208 Nr. 7 = NVwZ 1996, 700 (702).
214
Ausschuss gegen Folter, Protokoll der 47. Tagung vom 31. Oktober bis zum 25. November 2011: Prüfung
der von den Vertragsstaaten nach Artikel 18 des Übereinkommens vorgelegten Berichte – Deutschland, Rdn.
22.
215BVerwGE
134, 188 Rdn. 9 = EZAR 69 Nr. 7 = InfAuslR 2010, 404; BVerwGE 131, 198 (???) Rdn. 11 ff.
= EZAR 69 Nr. 7 = InfAuslR 2010, 404; BVerwGE 136, 360 (365) Rdn. 16 f. = EZAR 69 Nr. 7 = InfAuslR
2010, 404; BVerwGE 137, 226 (229) Rdn. 7 f. = InfAuslR 2010, 249; Hess.VGH, EZAR NF 66 Nr. 1, S. 4 f.;
Michael, Hoppe, ZAR 2010, 164 (169).
42
unionsrechtlichen subsidiären Schutz und steht ihm zugleich ein nachrangiges
nationales Abschiebungsverbot zu, muss er sich nicht auf dieses verweisen lassen.
Auch wenn ihm aufgrund des nachrangigen Abschiebungsverbotes ein
Aufenthaltstitel nach § 25 Abs. 3 AufenthG erteilt worden ist, hat er weiterhin
Anspruch auf Gewährung unionsrechtlichen subsidiären Schutzes, denn die mit
diesem verbundenen Rechte erschöpfen sich nicht in der Erteilung eines
befristeten Aufenthaltstitels. Zudem würde es dem Sinn und Zweck der Richtlinie
2004/83/EG, die von einer Verpflichtung der Mitgliedstaaten zur Zuerkennung
des subsidiären Schutzstatus ausgeht (Art. 18), widersprechen, wenn dem
Antragsteller mit Rücksicht auf den nach nationalem Recht erteilten befristeten
Aufenthaltstitel eine Entscheidung über das Vorliegen eines unionsrechtllich
begründeten Schutzes versagt würde.216
Das BVerwG geht noch einen Schritt weiter und bejaht ein Rechtsschutzinteresse
an der Feststellung eines unionsrechtlichen Abschiebungshindernisses, wenn der
Antragsteller über den nationalen subsidiären Schutz bereits in den Besitz einer
Niederlassungserlaubnis nach § 26 Abs. 4 AufenthG gelangt ist. Da der
Gesetzgeber entgegen den Vorgaben von Erwägungsgrund Nr. 5 und Art. 2
Buchst. f) und Art. 18 RL 2004/83/EG den Status des subsidiär
Schutzberechtigten im nationalen Recht nicht explizit ausgeformt habe, dürften
für Rechtssuchende keine Nachteile entstehen. Dies hätten daher ein legitimes
Interesse, dass trotz einer gesicherten aufenthaltsrechtlichen Stellung mit Blick
auf diesen Schutzstatus und die damit einhergehenden Vergünstigungen über das
Bestehen eines unionsrechtlich begründeten Abschiebungsverbotes entschieden
werde.217
Beim nationalen Abschiebungsschutz (§ 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 AufenthG)
handelt es sich um einen einheitlichen und nicht weiter teilbaren
Verfahrensgegenstand mit mehreren Anspruchgrundlagen (§ 60 Abs. 5, Abs. 7
Satz 1 und 3 AufenthG). Dies entspricht der prozessualen Lage beim
unionsrechtlichen subsidiären Schutzstatus (§ 47 Rdn. 1).218 Daher ist eine
Abschichtung einzelner nationaler Abschiebungsverbote ungeachtet des
materiellen Nachrangs des Abschiebungsverbotes in verfassungskonformer
Auslegung des § 60 Abs. 7 Satz 1 und 3 AufenthG nicht zulässig.219 Das BVerwG
hat für die Auslegung und Anwendung des § 60 Abs. 5 AufenthG auf den
zielstaatsbezogenen Charakter dieses Abschiebungsverbotes hingewiesen. Bei §
60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG folgt dies bereits aus dem Wortlaut der Norm
(„dort“).220
Grundlegend für die Konkretisierung rechtlicher Abschiebungshindernisse nach
deutschem
Recht
ist
die
Unterscheidung
in
zielstaatsbezogene
216BVerwGE
217BVerwG,
136, 360 (366) Rdn. 17 f. = EZAR 69 Nr. 7 = InfAuslR 2010, 404.
U. v. 17. 11. 2011 – BVerwG 10 C 13.10, Rdn. 12
218BVerwGE
131, 198 Rdn. 11 = EZAR NF 69 Nr. 4 = NVwZ 2008, 1241 = InfAuslR 2008, 474; BVerwG, U. v. 8. 9. 2011
– BVerwG 10 C 14.10, Rdn. 16; BVerwG, U. v. 17. 11. 2011 – BVerwG 10 C 13.10, Rdn. 11.
219BVerwG,
220
U. v. 8. 9. 2011 – BVerwG 10 C 14.10, Rdn. 17; BVerwG, U. v. 8. 9. 2011 – BVerwG 10 C 20.10, Rdn. 16.
BVerwGE 122, 271 (276 f.) = EZAR 51 Nr. 2.
43
Abschiebungshindernisse (§ 60 Abs. 2 bis 5, 7 AufenthG), bei denen wegen der
Verhältnisse im Zielstaat der Abschiebung eine Abschiebung aus rechtlichen
Gründen unzulässig ist, und inlandsbezogene Vollstreckungshemmnisse (§ 60a
Abs. 2 AufenthG), bei denen die Abschiebung als solche aus rechtlichen oder
tatsächlichen Gründen unzulässig ist.221 Beim subsidiären Schutz folgt der
zielstaatsbezogene Charakter der Schädigungsgründe bereits aus der Systematik
der Regelungen in Art. 15 RL 2004/83/EG.
Wegen der Sperrwirkung des § 60 Abs. 7 Satz 3 AufenthG besteht im Hinblick
auf den vorrangigen Schutz nach § 60 Abs. 2, 3 und 7 Satz 2 AufenthG keine
Schutzlücke, solange die Zuerkennung von subsidiären Schutz nicht
ausgeschlossen ist. Es darf daher über den Antrag nach § 60 Abs. 7 Satz 1
AufenthG nicht entschieden werden. Eine bloße Inzidentprüfung des
unionsrechtlichen Schutzes im Rahmen der Entscheidung über die Gewährung
von Abschiebungsschutz nach § 60 Abs. 7 Satz 1 und 3 AufenthG wäre keine
geeignete Alternative, weil das Ergebnis dieser Prüfung keine Bindungswirkung
hätte.222 Daraus folgt, dass vor einer Prüfung nationaler Abschiebungsverbote
stets erst die Voraussetzungen des unionsrechtlichen subsidiären Schutzstatus
nach § 60 Abs. 2, 3 und 7 Satz 1 AufenthG zu prüfen sind.
Auch wenn der Kläger im Verwaltungsstreit kein bestimmtes Rangverhältnis
kenntlich macht, muss das Gericht - entsprechend der typischen Interessenlage
des Schutzsuchenden – das Begehren des Klägers dahingehend auslegen, dass
primär über die unionsrechtlichen Abschiebungsverbote entschieden wird.223 Dies
entspricht der gefestigten Rechtsprechung des BVerwG, wonach die einzelnen
Ansprüche im Asylverfahren nach dem erkennbaren Regelungszweck des
AsylVfG und des AufenthG in einem bestimmten Rangverhältnis in dem Sinne
stehen, dass Schutz vor geltend gemachten Gefahren im Heimatstaat vorrangig
auf der jeweils den umfassenderen Schutz vermittelnden Stufe zu gewähren ist.224
In den Fällen, in denen das Bundesamt vor der gesetzlichen Umsetzung des Art.
15 RL 2004/83/EG durch das Richtlinienumsetzungsgesetz am 28. August 2007
nicht über den unionsrechtlichen subsidiären Schutz entschieden hatte, wächst der
unionsrechtliche subsidiäre Schutz im anhängigen Verwaltungsstreit automatisch
an. Es braucht nicht erst ein neues Verwaltungsverfahren beim Bundesamt
221
S. hierzu Marx, Kommentar zum AsylVfG, 7. Aufl., 2008, § 24 Rdn. 82 ff., Marx, Aufenthalts-, Asyl- und
Flüchtlingsrecht, 3. Aufl., 2007. § 6 Rdn. 63, 72, 178, 250, § 7 Rdn. 435 ff.
222 BVerwG, U. v. 8. 9. 2011 – BVerwG 10 C 14.10, Rdn. 11; BVerwG, U. v. 8. 9. 2011 – BVerwG 10 C
20.10, Rdn. 8 ff.
223
BVerwGE 137, 226 (230) Rdn. 10 = InfAuslR 2010, 249; Hess.VGH, EZAR NF 66 Nr. 1, S. 4 f.; so
bereits Marx, Kommentar zum AsylVfG, 7. Aufl., 2009, § 74 Rdn. 34 ff.
224BVerwGE
104, 260 (262) = InfAuslR 1997, 420 (421); bekräftigt BVerwGE 114, 16 (27) = InfAuslR
2001, 353 = EZAR 202 Nr. 31; BVerwGE 115, 111 (117) = EZAR 631 Nr. 52 = NVwZ 2002, 343;
BVerwGE 115, 267 (272) = NVwZ 2002, 855; BVerwGE 116, 326 (328f.) = EZAR 631 Nr. 57 = NVwZ
2003, 356 = InfAuslR 2003, 74; BVerwG, B. v. 24. 5. 2000 - BVerwG 9 B 144.00; BVerwG, InfAuslR 2004,
43 (44); VGH BW, AuAS 2000, 190 (191); BVerwG, InfAuslR 2003, 74 (75) = AuAS 2003, 30; EZAR 631
Nr. 57 = NVwZ 2003, 356 = InfAuslR 2003, 74
44
durchgeführt werden.225 Die nationalen Abschiebungsverbote bleiben
unbeschieden, wenn der unionsrechtliche Schutz durchgreift. Über diese ist aber
dann eine Entscheidung herbeizuführen, wenn der unionsrechtliche Status versagt
wird. In diesem Fall entsteht auch wieder eine Schutzlücke und damit ein
Rechtsschutzbedürfnis für die Anwendung des § 60 Abs. 7 Satz 3 AufenthG (Rdn.
3). Falls eine gerichtliche Entscheidung, in der das Anwachsen des
unionsrechtlich begründeten Schutzes in Übergangsfällen nicht berücksichtigt
worden ist, rechtskräftig geworden ist, ist die Rechtshängigkeit dieses Teils des
Streitgegenstandes entfallen und kann dieses unbeschieden gebliebene Begehren
beim Bundesamt geltend gemacht werden.226
III.
Ausschluss vom Flüchtlingsschutz
Allgemein anerkannt ist danach, dass Art. 1 F Buchst. b) GFK eine
einzelfallbezogene Prüfung aller Umstände mit dem Ziel erfordert, festzustellen,
ob von dem Betroffenen gegenwärtig noch eine Gefahr für die Sicherheit des
Aufnahmelandes ausgeht. Demgegenüber behandelt der EuGH Buchst. b) und c)
von Art. 1 F GFK in diesem Gesichtspunkt nach einheitlichen Kriterien. Diese
Ausschlussgründe seien geschaffen worden, um Personen auszuschließen, die des
Schutzes für unwürdig angesehen würden und zu verhindern, dass dieser Schutz
den Urhebern bestimmter schwerwiegender Straftaten ermögliche, sich einer
strafrechtlichen Verantwortung zu entziehen. Es widerspreche dieser doppelten
Zielsetzung, den Ausschluss vom Bestehen einer gegenwärtigen Gefahr für den
Aufnahmemitgliedstaat abhängig zu machen. Nach der Systematik der Richtlinie
sei die Frage, ob vom Flüchtling eine gegenwärtige Gefahr ausgehe, hingegen bei
der Anwendung von Art. 14 Abs. 4 Buchst. a) RL 2004/83/EG zu
berücksichtigen.227
Umstritten ist darüber hinaus auch, ob Art. 1 F Buchst. b) GFK eine Abwägung
der befürchteten Verfolgung gegen die Art der begangenen Straftat voraussetzt
(Verhältnismäßigkeitsprüfung). Der Zusammenhang zur Frage der
gegenwärtigen Gefahr ist evident. Es erscheint nicht verhältnismäßig, eine Person,
die begründete Furcht vor Verfolgung hat und nicht wegen eines internationalen
Verbrechens nach Art. 1 F Buchst. a) GFK schutzunwürdig ist, selbst dann noch
vom Flüchtlingsschutz auszuschließen, wenn eine Gefahr für die Sicherheit des
Aufnahmestaates nicht mehr besteht. Es ist schlechthin nicht nachvollziehbar, aus
welchen Gründen die Schutzgewährung zugunsten eines derartigen Flüchtlings
die Integrität des Flüchtlingsrechts gefährden könnte.
In der Staatenpraxis und im Schrifttum wird die Verhältnismäßigkeitsprüfung als
sinnvolles Instrument zur sachgerechten Anwendung von Art. 1 F GFK
gehandhabt. So muss nach der kanadischen Rechtsprechung zwischen den
Umständen, die auf den »schwerwiegenden« und jenen, die auf den
BVerwGE 136, 360 (365) Rdn. 16 = EZAR 69 Nr. 7 = InfAuslR 2010, 404; BVerwG, U. v. 8. 9. 2011 –
BVerwG 10 C 14.10, Rdn. 11.
225
BVerwG, U. v. 8. 9. 2011 – BVerwG 10 C 14.10, Rdn. 14 ff., mit Verweis auf BVerwGE 95, 269 (274) =
EZAR 230 Nr. 3 = NVwZ 1994, 497 = InfAuslR 1994, 196.
226
227 EuGH, InfAuslR 2011, 40 (42) = NVwZ 2011, 285 = AuAS 2011, 43 Rdn. 101 bis 105 – B und D.
45
nichtpolitischen Charakter des Deliktes hinweisen, unterschieden werden, weil
eine humanitäre Abwägung zwischen dem Individuum, das Furcht vor Verfolgung
hegt, und den legitimen Interessen des Staates, kriminelle Handlungen zu
verfolgen, vollzogen werden müsse.228 Hingegen wendet sich der Oberste
Gerichtshof der Vereinigten Staaten im ausdrücklichen Gegensatz zum Handbuch
von UNHCR dagegen, das Verfolgungsrisiko gegen das Gewicht der
strafrechtlichen Verfehlungen abzuwägen, verweist aber andererseits darauf, dass
bei der Ermittlung des Gewichts der Schwere der Straftat zu prüfen sei, ob der
politische Charakter den gemeinrechtlichen überwiege,229 wendet damit im
Ergebnis ebenfalls den Verhältnismäßigkeitstest an.
Der EuGH lehnt demgegenüber das Abwägungsgebot ohne Auseinandersetzung
mit der entgegenstehenden Staatenpraxis und Literatur ab. Der Ausschluss hänge
mit der Schwere der begangenen Tat zusammen, die von einem derartigen Grad
sein müsse, dass der Antragsteller nicht schutzbedürftig sei. Berücksichtige die
Behörde bereits im Rahmen ihrer Beurteilung der Schwere der begangenen
Handlungen und der individuellen Verantwortung des Antragstellers alle
Umstände, die für diese Handlungen und für die Lage der Person kennzeichnend
seien und komme sie zu dem Schluss, dass Art. 1 F Buchst. b) GFK Anwendung
finde, könne sie nicht zur Vornahme einer Verhältnismäßigkeitsprüfung
verpflichtet sein, die eine erneute Beurteilung des Schweregrades der begangenen
Handlung einschließe.230
Die Tatsache, dass eine Gruppierung auf einer Liste »terroristischer
Organisationen« der internationalen Gemeinschaft oder sogar einzelner Staaten
verzeichnet und der Antragsteller mit einer derartigen Gruppierung verbunden ist,
rechtfertigt als solche keine von den allgemeinen Grundsätzen abweichende
Beurteilung. Keinesfalls begründet allein dieser Umstand einen automatischen
Ausschluss vom Flüchtlingsschutz. Der EuGH weist darauf hin, dass nur
„schwerwiegende Gründe“ den Ausschluss rechtfertigen. Nach dem Wortlaut von
Art. 12 Abs. 2 Buchst. b) und c) 2004/83/EG setzt deren Anwendung voraus, dass
„in jedem Einzelfall eine Würdigung der genauen tatsächlichen Umstände“
erforderlich ist. Folglich kann allein die Tatsache der Zugehörigkeit zu einer
gelisteten Organisation nicht den automatischen Ausschluss vom
Flüchtlingsschutz bewirken.231
Der EuGH fordert „eine individuelle Prüfung der genauen tatsächlichen
Umstände.“ Dabei ist insbesondere zu berücksichtigen, dass der betreffenden
Person „ein Teil der Verantwortung für Handlungen, die von der fraglichen
Organisation im Zeitraum der Mitgliedschaft der Person in dieser Organisation
begangen wurden, zugerechnet werden kann.“ Diese individuelle
Canada Supreme Court (1998) 1 S.C.R. 982 Rdn. 73 – Pushpanathan; Canada Federal Court (1998) 1
SCR 982, Rdn. 73 – Pushpanathan v. Canada; Canada Court of Appeal (2000) 4 F.C. 390 (2000) F.C.J. No.
1180 Rdn. 6– San Tong Chan.
228
Court, 3 May 1999, www,unhcr.org/refworld/docid/3ae6b74b0.html – Agguire-Agguire; Court of
Appeal (Sec. Circuit), 989 F.2d 603, Rdn. 97 f. – McMullen.
229Supreme
230
EuGH, InfAuslR 2011, 40 (43) = NVwZ 2011, 285 = AuAS 2011, 43 Rdn. 108 ff. – B. und D.
231
EuGH, InfAuslR 2011, 40 (41) = = NVwZ 2011, 285 = AuAS 2011, 43 Rdn. 87 ff. – B. und D.
46
Verantwortlichkeit ist anhand objektiver wie subjektiver Kriterien zu beurteilen.
Zu prüfen ist die Rolle, welche der Antragsteller bei der Verwirklichung der
betreffenden Handlungen tatsächlich gespielt hat, seine Position innerhalb dieser
Organisation, der Grad der Kenntnis, die er von deren Handlungen hatte oder
haben musste, die etwaigen Pressionen, denen er ausgesetzt gewesen wäre, oder
andere Faktoren, die geeignet gewesen seien, sein Verhalten zu beeinflussen.“232
Abschließend stellt der Gerichtshof fest, habe der Antragsteller eine
hervorgehobene Position „in einer sich terroristischer Methoden bedienenden
Organisation“ innegehabt, könne vermutet werden, dass er „eine individuelle
Verantwortung für von dieser Organisation im relevanten Zeitraum begangene
Handlungen trägt.“ Diese befreie die Behörde aber nicht von der Prüfung
sämtlicher erheblicher Umstände“233 Eine Vermutung hatte der Generalanwalt
Mengozzi in seinem Schlussantrag nicht aufgestellt.234 Der EuGH vermeidet den
Begriff Regelvermutung, sodass nicht die Grundsätze zur Widerlegung
heranzuziehen sind. Vielmehr weist er darauf hin, dass bei einer
„hervorgehobenen Position“ eine individuelle Verantwortlichkeit vermutet
werden könne. Ob diese Vermutung gerechtfertigt ist, erfordert nach seiner
Rechtsprechung aber eine Prüfung sämtlicher erheblicher Umstände.“235 Dies
erfordert insbesondere Art. 25 Abs. 3 Bucht. d) i) IStGH-Statut, der
Regelvermutungen nicht zulässt. Das BVerwG hat bei der Umsetzung der
Entscheidung des EuGH ausdrücklich darauf hingewiesen, dass bei einer
hervorgehobenen Position des Antragstellers in einer sich terroristischer
Methoden bedienenden Organisation zwar eine Vermutung seiner individuellen
Verantwortung angenommen werden könne. Gleichwohl bedürfe es aber der
Prüfung sämtlicher Umstände des Einzelfalles.236
Art. 12 Abs. 3 RL 2004/83/EG ist nach Maßgabe von Art. 25 Abs. 3 IStGH-Statut
auszulegen (Rdn. 132 f.) ist. Diese Frage betrifft nicht das bei Art. 1 F GFK im
Vergleich zum Strafverfahrensrecht abgeschwächte Beweismaß, sondern die
materiellen Zurechnungskriterien. Um Konflikte mit dem Völkerstrafrecht
auszuschließen, ist Art. 25 IStGH-Statut anzuwenden. Danach wird der aktive
Terrorist, der Teilnehmer im engeren strafrechtlichen Sinne (Abs. 3 Buchst. a) bis
c)) sowie derjenige, der im Vorfeld Unterstützungshandlungen zugunsten
terroristischer Organisationen vornimmt, erfasst.237 Eine starre Vermutungsregel
ist insoweit nicht nur wenig hilfreich, sondern verhindert, dass die vom
Gerichtshof für erforderlich erachtete Einzelfallprüfung durchgeführt wird. Auch
die britische Rechtsprechung geht bei hochrangigen Funktionären „zumeist“ von
232EuGH,
InfAuslR 2011, 40 (94 ff.) = NVwZ 2011, 285 = AuAS 2011, 43 – B. und D.
233 EuGH, InfAuslR 2011, 40 (98) = NVwZ 2011, 285 = AuAS 2011, 43 – B. und D, Roland Bell, InfAuslR
2011, 214 (215).
234
Generalanwalt Paolo Mengozzi, Schlussanträge vom 1. Juni 2010 in den verbundenen Rechtssachen
C.57/09 und D 101/09, Rdn. 74 bis 82.
EuGH, InfAuslR 2011, 40 (98) = NVwZ 2011, 285 = AuAS 2011, 43 – B. und C, dagegen Bell, InfAuslR
2011, 214 (215).
235
236
BVerwG, U. v. 7. 7. 2011 – BVerwG 10 C 26.10 Rdn. 35.
237
BVerfGE 80, 315 (339) = EZAR 201 Nr. 20 = NVwZ 1990, 151 = InfAuslR 1990, 21; BVerwGE 132, 79
(88) = EZAR NF 68 Nr. 3 = NVwZ 2009, 402 (LS); UK Supreme Court (2010) UKSC 15 Rdn. 31 f. – JS.
47
einer Verantwortlichkeit des Betroffenen für die während des Zeitraums seiner
Funktionärstätigkeit begangenen Verbrechen der Organisation aus238 und weist
damit diesem Gesichtspunkt ein besonderes Gewicht zu, hebt aber die Pflicht zur
Einzelfallwürdigung sämtlicher Umstände des Einzelfalls nicht auf.
IV. „Wegfall-der-Umstände“-Klausel (Art. 1 C Nr. 5 Satz 1 und
6 Satz 7 GFK, Art. 11 Abs. 1 Buchst. e) und f) RL 2004/83/EG)
1.
Dauerhafte und grundlegende Veränderung der Umstände
Nach der Rechtsprechung des EuGH haben die Behörden sich im Blick auf die
individuelle Lage des Flüchtlings zu vergewissern, ob durch die veränderten
Umstände die für die Flüchtlingsanerkennung maßgebenden Ursachen beseitigt
worden sind. Nach Art. 7 Abs. 2 RL 2004/83/EG ist zu prüfen, ob die
Schutzakteure tatsächlich Schutz bieten können, geeignete Schritte eingeleitet
haben, um die Verfolgung zu verhindern, dass sie demgemäß insbesondere über
wirksame Rechtsvorschriften zur Ermittlung, Strafverfolgung und Ahndung von
Verfolgungshandlungen verfügen und der Flüchtling Zugang zu diesem Schutz
haben wird. Für diese Nachprüfung haben sie die Funktionsweise der
Institutionen, Behörden und Sicherheitskräfte einerseits und aller Gruppen oder
Einheiten des Herkunftslandes, die durch ihr Handeln oder Unterlassen für
Verfolgungen gegenüber dem Flüchtling ursächlich werden können, andererseits
zu beurteilen. Art. 4 Abs. 3 Buchst. a) RL 2004/83/EG, der sich auf die Prüfung
der Ereignisse und Umstände bezieht, zielt insbesondere auf die Rechts- und
Verwaltungsvorschriften des Herkunftslandes und die Art und Weise, in der sie
angewandt werden, sowie den Umfang, in dem in diesem die Achtung
grundlegender Menschenrechte gewährleistet ist.239
Auch nach der Rechtsprechung des BVerwG ist mit dem Begriff »Wegfall der
Umstände« im Sinne von Art. 1 C Nr. 5 Abs. 1 und Nr. 6 Abs. 1 GFK, aufgrund
derer die Anerkennung erfolgt, »eine nachträgliche erhebliche und nicht nur
vorübergehende Änderung der für die Anerkennung maßgeblichen Verhältnisse«
zu verstehen.240 Es müsse eine prinzipiell schutzmächtige Herrschaftsgewalt im
Sinne von Art. 7 RL 2004/83/EG im Herkunftsland vorhanden sein und, anders
als nach der bisherigen Rechtsprechung des BVerwG, dem Betroffenen auch kein
ernsthafter Schaden im Sinne von Art. 15 RL 2004/83/EG und keine sonstigen
Gefahren etwa im Hinblick auf die allgemeine Sicherheitslage oder die
allgemeinen Lebensbedingungen drohten.241
2.
Spiegelbildlicher Ansatz
238
UK Supreme Court (2010) UKSC 15 Rdn. 29 und 31 – JS.
239
EuGH, InfAuslR 2010, 188 (190) = NVwZ 2010, 505 = AuAS 2010, 150 Rdn. 69 bis 71 – Abdulla.
240
BVerwGE 124, 276 (283 f) = NVwZ 2006, 707 = InfAuslR 2006, 244 = AuAS 2006, 92; BVerwG, EZAR
NF 60 Nr. 6 = InfAuslR 2008, 183 = AuAS 2008, 118; BVerwG, NVwZ 2006, 1420 (1421).
241
BVerwG, InfAuslR 2008,183 = AuAS 2008, 118.
48
Umstritten ist, ob Art. 1 C Nr. 5 und 6 GFK ein spiegelbildlicher Ansatz mit Art.
1 A Nr. 2 GFK zugrunde liegt, sodass bei Wegfall der für die Statuszuerkennung
maßgebenden Verfolgung es nicht mehr des Schutzes gegen diese Verfolgung
bedarf und deshalb der Status auch dann aufzuheben ist, wenn die Sicherheitslage
noch instabil ist. Dagegen wird argumentiert, erst wenn wieder wirksame
Schutzstrukturen hergestellt seien, dürfe der Status aufgehoben werden. Die
Rechtsprechung des EuGH legt den Schwerpunkt der Prüfung auf die
Schutzakteure und in diesem Zusammenhang insbesondere auch auf internationale
Organisationen. Der Gerichtshof vermeidet andererseits eine Auseinandersetzung
mit der Frage, ob die Beendigung des Flüchtlingsstatus eine Wiederherstellung
wirksamer Schutzstrukturen voraussetzt. Fraglich ist aber, ob aus diesem
Schweigen auf eine Ablehnung dieser Position geschlossen werden kann.242
Generalanwalt Mazak hatte in seinen Schlussanträgen die Ansicht vertreten, dass
die Beendigung des Flüchtlingsstatus von zwei Voraussetzungen abhängig sei,
zwischen denen ein innerer Zusammenhang bestehe. Festzustellen sei, dass die
Umstände, aufgrund deren der Flüchtling anerkannt worden sei, weggefallen seien
und das Herkunftsland sowohl in der Lage wie auch willens sei, den Flüchtling zu
schützen. Genüge allein die Feststellung des Wegfalls der Umstände, aufgrund
deren eine Person als Flüchtling anerkannt worden sei, wäre die Formulierung in
Art. 1 C Nr. 5 GFK „nicht mehr ablehnen kann, den Schutz des Landes in
Anspruch zu nehmen, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt“, völlig überflüssig.
Das Erlöschen der Flüchtlingseigenschaft beruhe daher darauf, dass es im
Herkunftsland zu einer Veränderung der Umstände gekommen sei, die es dem
Betroffenen erlaube, den Schutz dieses Landes tatsächlich in Anspruch zu
nehmen.243
Wortlaut und Entstehungsgeschichte der Beendigungsklauseln des Art. 1 C Nr. 5
und 6 GFK, die Systematik der Konventionsbestimmungen sowie ihr Ziel und
Zweck sprechen gegen den spiegelbildliche Ansatz. Dieser verkürzt das besondere
Erfordernis, dass nach Art. 1 C Nr. 5 Satz 1 2. Hs. GFK zusätzlich zum Wegfall
der Umstände, welche die Furcht vor Verfolgung begründeten, zu prüfen ist, ob es
der Flüchtling zumutbarerweise ablehnen kann, den Schutz des Herkunftslandes
in Anspruch zu nehmen, auf die Frage des Schutzes der früheren Verfolgung. Die
behauptete Symmetrie zwischen Art. 1 A Nr. 2 GFK und Art. 1 C Nr. 5 GFK
besteht nur im Blick auf den ersten Halbsatz von Art. 1 C Nr. 5 GFK, nämlich auf
den Wegfall der Umstände, welche die frühere Verfolgung verursacht haben. Aus
dem zweiten Absatz dieser Norm folgt jedoch das zusätzliche Erfordernis, zu
prüfen, ob es der Flüchtling aufgrund der veränderten Umstände nunmehr
ablehnen kann, den Schutz des Herkunftslandes in Anspruch zu nehmen. Anders
als die angelsächsiche Rechtsprechung unterstellt, gibt es keine zwingende
Symmetrie zwischen dem Schutzbegriff in Art. 1 C Nr. 2 einerseits und Art. 1 C
Nr. 5 Satz 1 GFK andererseits. Gegen diese Symmetrie spricht der Wortlaut des
Art. 1 C Nr. 5 Satz 1 2. Hs. GFK. Bei einer spiegelbildlichen Betrachtung hätte es
des zweiten Halbsatzes nicht bedurft.
242
Errera, International Journal of Refugee Law 2011521 (535).
243 Jan Mazák, Schlussanträge in den verbundenen Rechtssachen C-175/08 u.a. Rdn. 46 f. – Abdulla.
49
In der angelsächsischen Rechtsprechung wird in diesem Zusammenhang betont,
dass die Umstände, die im Zeitpunkt der Entscheidung über die
Flüchtlingseigenschaft, im Herkunftsland vorgeherrscht und die Furcht vor
Verfolgung ausgelöst hatten, auch die Prüfung im Rahmen der
Beendigungsklauseln bestimmen. Hatten etwa die Verfolger im damaligen
Zeitpunkt weite Bereiche des Staatsgebietes beherrscht, ist aber ihr Einfluss im
Zeitpunkt der Entscheidung über die Beendigung des Flüchtlingsstatus
weitgehend zurück gedrängt worden, reicht die Feststellung, dass es für die
Verfolger keine realistische Chance auf Rückeroberung der Macht gibt, nicht für
die Beendigung des Status aus. Vielmehr muss die Behörde sorgfältig prüfen, ob
und in welchem Umfang Aktivitäten aus den Reststrukturen der früheren
Verfolger im Herkunftsland, insbesondere in der Herkunftsregion des Flüchtlings,
hervorgebracht werden und ob die Regierung fähig ist, hiergegen wirksamen
Schutz zu gewähren. Ist die Situation noch immer instabil und die Regierung nicht
in der Lage, den Flüchtling gegen die Verfolger zu schützen, haben sich die
Umstände, aufgrund deren er als Flüchtling anerkannt wurde, nicht verändert.244
Auch nach dem spiegelbildlichen Ansatz ist damit eine Beendigung des
Flüchtlingsstatus erst dann zulässig, wenn sich die Umstände, aufgrund deren der
Flüchtling anerkannt wurde, grundlegend und dauerhaft verändert haben, die
Sicherheitssituation also stabil ist und die politischen Machtstrukturen, unter
denen früher die Verfolgung ausgeübt wurde, nicht mehr bestehen. Sind noch
Reststrukturen der früheren Verfolgungsakteure aktiv, löst dies Zweifel an der
wirksamen Fähigkeit, gegen diese Schutz zu gewähren, aus. Solange es der
Regierung nicht gelingt, diese Strukturen vollständig zu beseitigen, spricht viel
dagegen, dass es der Regierung gelungen ist, ein wirksames Schutzsystem zu
errichten. Es geht hier nicht um allgemeine Gefahren, z.B. aufgrund von Kriegen,
Revolutionen oder Naturkatastrophen, die als solche unerheblich sind.245
Vielmehr bedürfen derart allgemeine Gefahren einer sorgfältigen Analyse, ob in
diesen auch Aktivitäten von Restbeständen früherer Verfolgungsakteure zum
Ausdruck kommen. Ist dies der Fall, ist die Änderung nicht dauerhaft und wird
dadurch die Schutzfähigkeit in Frage gestellt. Das Schutzbedürfnis entfällt daher
erst dann, wenn frühere Verfolgungsstrukturen als ein in der Vergangenheit
abgeschlossener Prozess erscheinen. Gerade in fragilen und historisch nicht
abgeschlossenen Übergangsprozessen wie z.B. in Afghanistan und im Irak kann
daher auch nach dem spiegelbildlichen Ansatz solange nicht ein Wegfall der
Umstände angenommen werden, wie nicht ein effektives Schutzsystem
hervorgebracht wurde und die früheren Machtstrukturen wirksam aufgelöst
worden sind.
Wird das spiegelbildliche Konzept so verstanden, können Differenzen zum
weitergehenden Schutzansatz kaum noch ausgemacht werden. Im Fokus beider
Ansätze steht die wirksame Wiederherstellung nationaler Schutzstrukturen. Dabei
geht es nicht um einen lückenlosen Schutz gegen jede denkbare Form von
Menschenrechtsverletzungen, sondern um einen wirksamen Schutz gegen
244 Australia Federal Court (2005) FCAFC 136 Rdn. 73 ff. – QAAH, zu den Taliban in Afghanistan.
245
BVerwG, EZAR NF 60 Nr. 6, S. 9 = AuAS 2008, 118.
50
Verfolgungen, die aus den Restbeständen der früheren Machtstrukturen
hervorgehen können. Solange diese nicht vollständig beseitigt sind, bestehen
Zweifel, ob die Übergangsregierung oder die demokratisch gewählte Regierung in
der Lage ist, wirksamen Schutz gegen Bedrohungen sicherzustellen, die aus
diesen Restbeständen hervorbrechen können (Rdn. 74). Die Etablierung einer
funktionsfähigen Regierung und grundlegender Verwaltungsstrukturen sowie eine
angemessene Infrastruktur, innerhalb derer die Bewohner ihre Rechte ausüben
können,246 ist das offenkundigste Anzeichen für das vollständige Verschwinden
früherer Machtstrukturen.
Auch der spiegelbildliche Ansatz des EuGH zwingt zur Prüfung, ob die Faktoren,
die die Verfolgungsfurcht begründeten, „dauerhaft beseitigt“ sind. Die
Beurteilung der Veränderung der Umstände als „erheblich und nicht nur
vorübergehend“ setzt danach das „Fehlen begründeter Befürchtung“ voraus,
Verfolgungen
ausgesetzt
zu
sein,
die
schwerwiegende
Menschenrechtsverletzungen darstellen (Rdn. 92).247 Die Prüfung ist also nicht
ausschließlich auf den Wegfall der Verfolgungsgefahr beschränkt, sondern erfasst
die Faktoren, die für die frühere Verfolgung von Bedeutung waren. Diese sind im
Einzelnen zu analysieren, bevor ein Schluss auf den qualifizierten Charakter der
Änderungen möglich ist.248 Da der Gerichtshof an der Schutzunfähigkeit
anknüpft, sind im Beendigungsverfahren auch die Faktoren zu prüfen, die im
Statusverfahren für die fehlende Schutzfähigkeit, z.B. Mangel an
Rechtsstaatlichkeit, allgemein schwaches Niveau der Achtung der
Menschenrechte, ursächlich waren.249 Ob der Gerichtshof diese Konsequenz
ziehen wollte, ist indes fraglich.250 Aus der Forderung nach einer grundlegenden
und dauerhaften Änderung der die frühere Verfolgung begründenden Verhältnisse
folgt jedoch, dass erst die Hervorbringung wirksamer Schutzstrukturen Zweifel an
der Schutzfähigkeit gegen frühere Verfolgungen beseitigen251Es geht beiden
Ansätzen also darum, in historischen Übergangsprozessen den Flüchtlingsstatus
nicht vorschnell zu beenden. Zutreffend weisen Rechtsprechung und Literatur
darauf hin, dass diese Frage letztlich durch ein angemessenes Verfahren gelöst
werden muss (Rdn. 106 ff.).252
3.
Neuartige Umstände
Der Flüchtlingsstatus darf nur beendet werden, wenn nicht mehr mit dem
Wiederaufleben der ursprünglichen oder der Entstehung neuer Fluchtgründe
246
UNHCR, NVwZ-Beil. 2003, 57 (59); UNHCR, AuAS 2005, 211 (212 f.).
247
EuGH, InfAuslR 2010, 188 (190) = NVwZ 2010, 505 = AuAS 2010, 150 Rdn. 73 – Abdulla.
248
Australia Federal Court (2005) FCAFC 136 Rdn. 73 ff. – QAAH..
249
Bank, NVwZ 2011, 401 (405).
250
Wittkopf, ZAR 2010, 170 (173).
251Hathaway,
The Rights of Refugees under International Law, 2005, , S. 925.
Australia Federal Court (2005) FCAFC 136 Rdn. 69 – QAAH; Goodwin-Gill/McAdam, The Refugee in
International Law, 3. Aufl., 2007, S. 143; Kneebone/O’Sullivan, in: Andreas Zimmermann, The 1951
Convention relating to the Status of Refugees and its 1967 Protocol, 2011, Article 1 C Rdn. 176.
252
51
gerechnet werden kann.253 Insbesondere im Falle der gewaltsam herbeigeführten
Veränderung der politischen Verhältnisse im Herkunftsland, z. B. durch einen
Umsturz des bisherigen politischen Regimes oder den militärischen Sieg einer
Bürgerkriegspartei, bedarf die Feststellung des dauerhaften Charakters der
Änderung der Umstände einer längeren und sorgfältigen Beobachtung der
Entwicklungen vor Ort.254 Das BVerwG hatte in diesem Zusammenhang dem
EuGH die Frage zur Klärung vorgelegt, ob in einer Situation, in der die bisherigen
Umstände, aufgrund deren der Betreffende als Flüchtling anerkannt worden ist,
entfallen sind, neue andersartige verfolgungsbegründende Umstände am
Wahrscheinlichkeitsmaßstab zu messen sind, der für die Statuszuerkennung gilt
oder unter Berücksichtigung der Beweiserleichterung von Art. 4 Abs. 4 RL
2004/83/EG zu beurteilen sind.255 In seiner bisherigen Rechtsprechung hatte das
BVerwG in diesem Zusammenhang den allgemeinen Prognosemaßstab der
beachtlichen Wahrscheinlichkeit angewandt, wenn dem „Betroffenen keine
Verfolgungswiederholung im engeren Sinne droht, sondern eine gänzlich neue
und andersartige Verfolgung, die in keinem inneren Zusammenhang mit der
früheren mehr steht.“256 Auf diese Rechtsprechung hatte das BVerwG in seinem
Vorlagebeschluss ausdrücklich hingewiesen.257
Nach dem EuGH kann bei einer derartigen Fallgestaltung Art. 4 Abs. 4 RL
2004/83/EG anwendbar sein, wenn frühere Verfolgungen oder Bedrohungen
vorliegen und eine Verknüpfung mit dem in diesem Stadium geprüften
Verfolgungsgrund aufwiesen. Dies könne insbesondere der Fall sein, wenn der
Flüchtling einen anderen Verfolgungsgrund als den im Anerkennungsverfahren
festgestellten geltend mache und er vor seinem ursprünglichen Antrag
Verfolgungen oder Bedrohungen ausgesetzt gewesen sei, die aus diesem anderen
Grund gegen ihn gerichtet gewesen seien, er diese damals aber nicht geltend
gemacht habe oder er nach der Ausreise Verfolgungen oder Bedrohungen aus dem
bezeichneten Grund ausgesetzt gewesen sei und diese im Herkunftsland ihren
Ursprung hätten.258
Der EuGH wendet also die Beweiskraft früherer Verfolgungen oder Bedrohungen
an, wenn der andere Verfolgungsgrund bereits im Anerkennungsverfahren hätte
berücksichtigt werden können, der Flüchtling diesen aber nicht vorgebracht hatte,
weil er bereits aus anderen Gründen anerkannt wurde. In diesem Fall soll er nicht
des Privilegs der Beweiskraftwirkung verlustig gehen, weil ihm wegen der aus
anderen Gründen erfolgten Anerkennung kein Vorwurf der fehlenden Mitwirkung
gemacht werden kann. Probleme dürfte die nachträgliche Beweisführung, dass der
andere Verfolgungsgrund im Anerkennungsverfahren bereits bestanden hatte,
253UNHCR,
254
AuAS 2005, 211 (212).
UNHCR, NVwZ-Beil. 2003, 57 (59); UNHCR, AuAS 2005, 211 (212).
255 BVerwG, InfAuslR 2008, 183 = AuAS 2008, 118; BVerwG, NVwZ 2009, 592 = EZAR NF 68 Nr. 4
256
BVerwG, NVwZ 2006, 1420 (1422); BVerwG, NVwZ 2007, 1330 (1331) = InfAuslR 2007, 401 = AuAS
2007, 225; so auch OVG NW, EZAR 69 Nr. 1; OVG Rh-Pf, AuAS 2007, 60; offen gelassen BVerwG, EZAR
214 Nr. 3; BVerwGE 124, 276 (281) = NVwZ 2006, 707 = InfAuslR 2006, 244 = AuAS 2006, 92; BVerwG,
NVwZ 2011, 944 (945) = AuAS 2011, 107 (LS); so auch Kathrin Groh, ZAR 2009,1 (7)..
257
BVerwG, EZAR NF 60 Nr. 6, S. 19 = InfAuslR 2008, 183 = AuAS 2008, 118.
258
EuGH, InfAuslR 2010, 188 (190) = NVwZ 2010, 505 = AuAS 2010, 150 Rdn. 96 - Abdulla.
52
bereiten. Im zweiten Fall handelt es sich um objektive Nachfluchtgründe (§ 30
Rdn. 7 ff.), die seit der Ausreise aus dem Herkunftsland bis zur Entscheidung über
die Beendigung des Flüchtlingsstatus eingetreten sind, also nicht zwingend bereits
im Zeitpunkt der Anerkennungsentscheidung vorgelegen haben müssen.
In dem Fall hingegen, in dem der Flüchtling unter Berufung auf den für die
Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft maßgebenden Verfolgungsgrund
einwendet, dass nach dem Wegfall der Umstände, aufgrund deren er als
Flüchtling anerkannt worden ist, andere Tatsachen eingetreten sind, die eine
Furcht vor Verfolgung aus dem gleichen Grund befürchten lassen, richtet sich die
Prognoseprüfung nicht nach Art. 4 Abs. 4, sondern nach Art. 11 Abs. 2 RL
2004/83/EG. In diesem Fall ist zu prüfen, ob die behauptete Veränderung der
Umstände, z.B. das Verschwinden eines Verfolgers und das anschließende
Auftreten eines anderen Verfolgers hinreichend erheblich ist, um die Furcht des
Flüchtlings vor Verfolgung nicht mehr als begründet ansehen zu können.259
Damit bestätigt der EuGH die frühere Rechtsprechung des BVerwG (Rdn. 113),
zugleich aber wird die These des BVerwG, im Unionsrecht gelte ein
„einheitlicher Prognosemaßstab„, widerlegt.
4.
Subsidiärer Schutz im Widerrufsverfahren
Drohen neuartige Verfolgungsgefahren, die also weder von den früheren
Verfolgern ausgehen noch auf den ursprünglichen Verfolgungsgrund zielen, sind
diese
im
Beendigungsverfahren
nach
Maßgabe
der
allgemeinen
Prognosegrundätze zu prüfen. Davon zu trennen ist der Fall, dass zwar keine
neuartigen Verfolgungen drohen, wohl aber ein ernsthafter Schaden im Sinne von
Art. 15 RL 2004/83/EG. Hier bestehen also keine flüchtlingsrelevanten Risiken,
sondern Gefahren, welche den subsidiären Schutzstatus begründen. Fraglich ist,
ob diese im Beendigungsverfahren zu prüfen sind und der Beendigung des
Flüchtlingsstatus entgegenstehen.
Der übergreifende Schutzansatz will zwar verhindern, dass Flüchtlinge nicht
unfreiwillig in Verhältnisse zurückkehren müssen, die möglicherweise zu einer
neuerlichen Flucht und der Notwendigkeit der Flüchtlingsanerkennung führen.260
Da ein ernsthafter Schaden nach Art. 15 RL 2004/83/EG (§ 60 Abs. 2, 3 und 7
Satz 2 AufenthG) nicht an einen Konventionsgrund anknüpft, kann dieser die
Beibehaltung des Flüchtlingsstatus nicht rechtfertigen. Die humanitäre Klausel
stellt allein auf den Kausalzusammenhang zwischen früherer Verfolgung und der
fortdauernden schweren psychischen Belastung ab und setzt eine gegenwärtige
Gefahr für Leib und Leben nicht voraus. Ein ernsthafter Schaden im Sinne von
Art. 15 RL 2004/83/EG kann daher nicht als humanitärer Härtefall im
Beendigungverfahren behandelt werden.
Allgemein anerkannt ist jedoch, dass im Beendigungsverfahren ein derartiger
Schaden zwar nicht die Aufhebung des Flüchtlingsstatus hindert, jedoch im
Beendigungsverfahren ein eigenständiges Prüfprogramm erfordert, sodass beim
259
EuGH, InfAuslR 2010, 188 (190) = NVwZ 2010, 505 = AuAS 2010, 150 Rdn. 96 - Abdulla.
260
UNHCR, Richtlinien zur Beendigung des Flüchtlingseigenschaft, NVwZ-Beil. 2003, 57 (57).
53
Vorliegen eines ernsthaften Schaden zwar der Flüchtlingsstatus aufgehoben wird,
aber eine Feststellung zum Vorliegen eines ernsthaften Schadens zu treffen ist.261
Für das deutsche Asylverfahren leitet das BVerwG diese Kompetenz aus einer
Rechtsanalogie zu den Regelungen in §§ 24 Abs. 2, 31 Abs. 3 Satz 1, 31 Abs. 3
Satz 1, 32, 39 Abs. 2 und 73 Abs. 1 bis 3 AsylVfG ab. Diesen Normen lasse sich
als gemeinsamer Leitgedanke entnehmen, dass nach Beendigung des
Flüchtlingsstatus nicht offen bleiben kann, ob und in welcher Form subsidiärer
Schutz zu gewähren ist.262 Droht ein ernsthafter Schaden, ist eine entsprechende
Feststellung geboten und der subsidiäre Schutzstatus zu gewähren.
Das BVerwG hatte deshalb den EuGH die Frage vorgelegt, ob im
Beendigungsverfahren ein ernsthafter Schaden der Beendigung des
Flüchtlingsstatus entgegensteht.263 Der EuGH hat daraufhin festgestellt, dass die
Richtlinie zwei unterschiedliche Schutzregelungen im Rahmen des
„internationalen Schutzes“ kenne und beide Bereiche verkannt würden, würde die
Beendigung des Flüchtlingsstatus von der Feststellung abhängig gemacht, dass die
Voraussetzungen für die Anwendung des subsidiären Schutzes nicht erfüllt seien.
Daher trete nach der Systematik der Richtlinie das Erlöschen des Flüchtlingsstatus
unbeschadet des Rechts des Betroffenen ein, um die Zuerkennung des subsidiären
Schutzstatus zu ersuchen.264
V.
Subsidiärer Schutz nach Art. 15 Buchst. c) RL 2004/83/EG,
§ 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG
1.
Kein Erfordernis der individualbezogenen Gefährdung
Die bisherige Rechtsprechung des EuGH zur Frage des maßgeblichen
Gefahrengrads bei Art. 15 Buchst. c) RL 2004/83/EG lässt viele Zweifelsfragen
offen.265 Manche sind aber auch bereits geklärt. Nach Auffassung des EuGH ist
das Adjektiv „individuell“ in der bezeichneten Norm dahin zu verstehen, dass es
sich auf schädigende Eingriffe bezieht, die sich gegen Zivilpersonen ungeachtet
ihrer Identität richten, wenn der den bestehenden bewaffneten Konflikt
kennzeichnende Grad „ein so hohes Niveau erreicht“, dass stichhaltige Gründe für
die Annahme bestehen, dass der Antragsteller allein durch seine Anwesenheit in
der Region, in der ein bewaffneter Konflikt herrscht, Gefahr läuft, ernsthaften
Bedrohungen von Leben oder Unversehrtheit ausgesetzt zu sein.266 Wann im
Einzelnen dieser Grad erreicht und anhand welcher Kriterien er festzustellen ist,
261
BVerwG, DVBl. 1996, 624 = VBlBW 1996, 255; BVerwG, InfAuslR 1996, 322 = EZAR 240 Nr. 6 =
AuAS 1996, 166; BVerwG, NVwZ-Beil. 1999, 113 (114) = InfAuslR 1999, 373; BVerwGE 124, 276 (284 f.)
= NVwZ 2006, 707 = InfAuslR 2006, 244 = AuAS 2006, 92; BVerwG, NVwZ 2007, 1330 (1331) = InfAuslR
2007, 401 = AuAS 2007, 225; VGH BW, EZAR 214 Nr. 4; OVG NW, EZAR 69 Nr. 1; a.A. BayVGH,
NVwZ-Beil. 1996, 61.
262
BVerwG, NVwZ-Beil. 1999, 113 (113f.) = InfAuslR 1999, 373.
263
BVerwG, InfAuslR 2008, 183
264
EuGH, InfAuslR 2010, 188 (190) = NVwZ 2010, 505 = AuAS 2010, 150 Rdn. 79 - Abdulla; ebenso Groh,
ZAR 2009, 1 (8).
54
d.h, welche Tatsachen in die Prognose einzustellen sind und welcher
Gefahrengrad eine ernsthafte Bedrohung begründet, hat der Gerichtshof offen
gelassen. Die Mitgliedstaaten handhaben den Elgafaji-Test als „gleitende Skala“
(„sliding scale“). Bei fehlenden persönlichen Unterscheidungsmerkmalen wird er
jedoch überwiegend auf „außergewöhnlich hohe Gefahren“ beschränkt.267 Dieser
extreme Standard ist sicherlich einerseits der auf individuelle Verfolgungen
fokussierten traditionellen europäischen Praxis der Schutzgewährung, andererseits
aber auch dem Hinweis des Gerichtshofs auf eine „außergewöhnliche
Situation“268 geschuldet.
UNHCR kommt aufgrund einer Untersuchung der Praxis zu Art. 15 Buchst. c) der
Richtlinie – bezogen auf Anträge ohne besondere Unterscheidungsmerkmale – zu
dem Schluss, dass nicht nur der Gefahrengrad unklar sei, sondern überdies auch,
nach welchen methodologischen Kriterien das Ausmaß willkürlicher Gewalt und
die daraus folgende ernsthafte Bedrohung festzustellen seien. Einige
Mitgliedstaaten unterschieden nicht klar zwischen dem für Buchst. c) einerseits
und dem für Buchst. b) von Art. 15 andererseits erfoderlichen Gefahrengrad,
andere verfehlten die in die Zukunft gerichtete Gefahreneinschätzung und
wiederum andere unterließen die gebotene methodologisch und prognoserechtlich
gebotene Klärung des Standards aus Furcht, einer „Gruppenanerkennung“ die Tür
zu öffnen.269
Der Gerichtshof hat die Grundlagen für die methodologischen Kriterien, nach
denen das Ausmaß der willkürlichen Gewalt im Herkunftsland oder einer Region
in diesem festzustellen ist, bereits geklärt: Art. 15 Buchst. c) RL 2004/83/EG
umfasst eine Schadensgefahr „allgemeinerer Art“. Dort ist in einem weiteren
Sinne von einer „Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit“ statt von
bestimmten, auf den einzelnen zielenden Gewalteinwirkungen die Rede.
Außerdem ergibt sich diese Bedrohung „aus einer allgemeinen Lage“ eines
bewaffneten Konfliktes.270 Daraus folgt, dass nach dem ersten Prüfungsschritt Feststellung eines bewaffneten Konfliktes im Herkunftsland oder in einer Region
in diesem - sowie nach dem zweiten - Feststellung willkürlicher Gewalt - im
dritten Prüfungsschritt die Tatsachen und Umstände zu identifizieren sind, die auf
eine ernsthafte Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit hinweisen. Nur mit
dem dritten Schritt befasst sich dieser Beitrag.271
2.
265
Prognosebasis
S. hierzu ausführlich Marx, InfAuslR 2012, 145
EuGH, InfAuslR 2009, 138 (35) Rdn. 36 = EZAR NF 69 Nr. 5 = NVwZ 2009, 705 = AuAS 2009, 86 –
Elgafaji.
266
267UNHCR,
268EuGH,
Safe at last?, 2011, 49 f., 33 ff.
InfAuslR 2009, 138 (35) Rdn. 36 = EZAR NF 69 Nr. 5 = NVwZ 2009, 705 = AuAS 2009, 86 –
Elgafaji.
269
UNHCR, Safe at last?, 2011, 30.
270
EuGH, InfAuslR 2009, 138 (139) Rdn. 36 = EZAR NF 69 Nr. 5 = NVwZ 2009, 705 - Elgafaji.
271
Ausführlich zu Art. 15 Buchst. c) RL 2004/83/EG: Marx, Handbuch zum Flüchtlingsschutz. Erläuterungen
zur Qualifikationsrichtlinie, § 42, erscheint demnächst.
55
Die Prognose einer Gefahr setzt klare und verbindliche Kriterien voraus, auf
welcher tatsächlichen Grundlage diese Prognose zu treffen ist. Nach dem ElgafajiTest besteht Klarheit, dass der durch bewaffnete Konflikte geprägte besondere
Charakter von Art. 15 Buchst. c) RL 2004/83/EG auf Schadensgefahren
„allgemeinerer Art“ beruht. Nicht „bestimmte Gewalteinwirkungen“, sondern
„Bedrohungen des Lebens oder der Unversehrtheit“ von Zivilpersonen
„ungeachtet ihrer Identität“ werden in die Prognosebasis eingestellt. Es sind also
die Faktoren zu berücksichtigen, die ihren unmittelbaren oder mittelbaren Grund
in den zwar eher zufälligen, aber dennoch gefährlichen Auswirkungen und
Bedrohungen, die mit militärischen Kämpfen und anderen Gewaltakten
einhergehen und Schutz- und Rechtlosigkeit zur Folge haben,272 in die Prognose
einzustellen. Die Bedrohungen des Lebens und der Unversehrtheit müssen nicht
notwendigerweise durch einen der Konfliktbeteiligten oder den Staat ausgeübt
werden. Maßgebend ist, dass kriminelle Gewalt wie jede andere Form von
willkürlicher Gewalt ernsthaft ist.273 Ist die Versorgungslage als mittelbare Folge
des bewaffneten Konflikts zusammengebrochen oder jedenfalls ernsthaft gestört,
dürfen diese Schadensgefahren „allgemeinerer Art“ nicht von vornherein aus der
Prüfung ausgeschlossen werden. Die entgegenstehende Rechtsprechung des
BVerwG, die „allgemeine Lebensgefahren“, die lediglich Folge des bewaffneten
Konflikts sind – etwa eine dadurch bedingte Verschlechterung der
Versorgungslage -, nicht berücksichtigt,274 ist durch die Rechtsprechung des
EuGH überholt. Es wird nicht die „konkrete Lebensgefahr“ gegenüber der
„allgemeinen Lebensgefahr“ abgegrenzt. Vielmehr kommt es auf ernsthafte
Bedrohungen an, die durch Schadensgefahren „allgemeinerer Art“ hervorgerufen
werden.275
Der Fokus bei der Identifizierung der Prognosetatsachen liegt demnach nicht auf
der Abgrenzung „allgemeiner“ von „konkreten“ Lebensgefahren. Dieser
traditionelle, nach persönlichen Unterscheidungsmerkmalen differenzierende
Ansatz ist mit dem Elgafaji-Test unvereinbar. Auch der Gesetzgeber erkennt die
Vorgabe des Art. 15 Buchst. c) RL 2004/83/EG an, indem er den Begriff
„konkret“ zwar in Satz 1, nicht aber in Satz 2 von § 60 Abs. 7 AufenthG
verwendet. Damit sind nicht lediglich die von den Konfliktbeteiligten
ausgehenden Gewaltakte und Bedrohungen, sondern alle mit dem bewaffneten
Konflikt zusammenhängenden Auswirkungen in den Blick zu nehmen,
unabhängig davon, ob sie gezielt oder ungezielt, mittelbar oder unmittelbar Leben
oder Unversehrtheit der Zivilbevölkerung gefährden. Maßgebend ist allein, ob
diese Auswirkungen zu „ernsthaften Bedrohungen des Lebens oder der
Unversehrtheit“ der Zivilbevölkerung führen.
3.
a)
272
Prognosemaßstab
Funktion der Prognosemaßstabs
So für den bewaffneten Konflikt Arboleda, in: International Journal of Refugee Law 1991, 185 (194, 203).
273
UK Court of Appeal (2010) UKUT 331, Rdn. 80 - HM; UK Asylum and Immigration Tribunal (2009) UK
AIT 00044, Rdn. 65 - GS.
274
BVerwGE 131, 198 (214) Rdn. 24, 35 =EZAR NF 69 Nr. 4 = NVwZ 2008 1241 = InfAuslR 2008, 474.
275
EuGH, InfAuslR 2009, 138 (139) Rdn. 35 = EZAR NF 69 Nr. 5 = NVwZ 2009, 705 – Elgafaji.
56
Nicht anders wie bei der flüchtlingsrechtlichen Prognoseprüfung ist im Rahmen
der Gefahrenprognose beim Schutz vor willkürlicher Gewalt zwischen dem
Beweismaß für die Feststellung allgemeiner Prognosetatsachen einerseits sowie
dem Gefahrengrad einer ernsthaften Bedrohung aufgrund willkürlicher Gewalt
andererseits zu unterscheiden. Für die Prognosetatsachen findet das
Regelbeweismaß Anwendung. Ob aufgrund der festgestellten Prognosetatsachen
der Eintritt der ernsthaften Bedrohung des Antragstellers aufgrund willkürlicher
Gewalt wahrscheinlich ist, ist hingegen eine wertende Prognoseentscheidung.
Dabei sind nach der Rechtsprechung des EuGH drei unterschiedliche Maßstäbe
anzuwenden: Fehlen besondere Unterscheidungsmerkmale, ist ein „hoher
Gefahrengrad“ maßgebend. Werden derartige Merkmale geltend gemacht, findet
eine „gleitende Skala“ Anwendung. Kann der Antragsteller zudem eine ernsthafte
Bedrohung als ausreisebestimmenden Anlass geltend machen, findet die
Vermutungswirkung der früheren Bedrohung Anwendung (Art. 4 Abs. 4 RL
2004/83/EG). Es empfiehlt sich daher zunächst zu prüfen, ob eine frühere
Bedrohung, welche das Niveau von Art. 15 der Richtlinie erreicht hat
(Vorschädigung), glaubhaft gemacht worden ist. Ist dies der Fall, bedarf es keiner
weiteren Prüfung mehr. Ist keine erhebliche oder eine nur vorübergehende
Änderung der Verhältnisse im Herkunftsland eingetreten, wird der subsidiäre
Schutzstatus gewährt.
b)
Gefahrenprognose bei fehlenden Unterscheidungsmerkmalen
Festzuhalten ist, dass aufgrund der festgestellten Prognosetatsachen zur
allgemeinen Lage stichhaltige Gründe die Annahme rechtfertigen müssen, dass
der Eintritt einer ernsthaften Bedrohung des Antragstellers aufgrund willkürlicher
Gewalt im Rahmen eines bewaffneten Konfliktes wahrscheinlich ist. Die Intensität
der Gewalt muss also hoch genug sein, um dem Elgafaji-Test gerecht zu werden.
Dies ist der Fall, wenn aufgrund der ermittelten Gefährdungsfaktoren die
Bedrohung für die Zivilbevölkerung ernsthaft genug ist.276 Das Erfordernis der
stichhaltigen Gründe verweist auf die erforderlichen Prognosetatsachen. Auf deren
Grundlage ist zu entscheiden, ob das erforderliche „ hohe Niveau“ an willkürlicher
Gewalt besteht. Dazu ist die Prognose erforderlich, ob das für die
Zivilbevölkerung bestehende Gewaltniveau aufgrund der unterschiedlichen
Gefährdungsfaktoren ernsthaft genug ist.277 Dies ist der Fall, wenn am
Herkunftsort des Antragstellers eine akute und andauernde Situation willkürlicher
Gewalt herrscht. Nicht erforderlich sind stichhaltige Gründe, dass „für den
Antragsteller“ aufgrund seiner persönlichen Situation eine ernsthafte Bedrohung
seines Lebens oder seiner Unversehrtheit in Folge willkürlicher Gewalt besteht.
Anders als bei Satz 1 fehlt dieser Hinweis in Satz 2 von § 60 Abs. 7 AufenthG.
Vielmehr ist die Folge der Feststellung des erforderlichen hohen Gewaltniveaus
im Konfliktgebiet, dass das Leben oder die Unversehrtheit des Antragstellers
allein aufgrund seiner Anwesenheit in diesem Gebiet ernsthaft bedroht sein wird.
Die auf Tatsachen beruhende Feststellung, dass im Herkunftsland oder der
276
UK UT CG (2010) UKUT 331 (IAC) Rdn. 67 lit. h), 82 – HM.
277
UK UT CG (2010) UKUT 331 (IAC) Rdn. 67 lit. h), 82 – HM.
57
Herkunftsregion des Antragstellers das erforderliche hohe Gewaltniveau herrscht,
schließt damit seine ernsthafte Bedrohung ein.
Die erforderliche, nicht aus besonderen Unterscheidungsmerkmalen folgende
ernsthafte Bedrohung des Antragstellers setzt also ein hohes Gewaltniveau voraus.
Die Verwendung des Begriffs „außergewöhnlich“ durch den Gerichtshof bedeutet
nach Auffassung des britischen Berufungsgerichtes lediglich, dass nicht jeder
bewaffnete Konflikt oder jede Gewaltsituation zur Anwendung von Art. 15
Buchst. c) RL 2004/83/EG führt.278 Bereits nach dem Wortlaut der Norm
begründet nicht jede Gewaltsituation das erforderliche hohe Gewaltniveau,
sondern eine Situation „willkürlicher Gewalt.“ Ist diese festgestellt worden, ist
damit ein derartiges Gewaltniveau erreicht und bedarf es nicht mehr der
Darlegung
besonderer
auf
den
Antragsteller
zielender
Unterscheidungsmerkmale.279 Die Richtlinie schützt nicht vor bloßen
hypothetischen Möglichkeiten willkürlicher Gewalt, sondern vor tatsächlich
andauernden gefährlichen Situationen im Rahmen willkürlicher Gewalt, wie z.B.
Autobomben auf Marktplätzen, Heckenschützen, die gezielt auf Passanten in den
Straßen schießen. Ob willkürliche Gewalt herrscht und damit das erforderliche
Gewaltniveau erreicht ist, bedarf also einer Abgrenzung tatsächlicher Gefahren
von eher theoretischen oder hypothetischen Risiken, etwa dass eine nicht mehr
aktive Miliz erneut den Kampf aufnehmen könnte oder Gerüchte, es könnten
Wasserbrunnen vergiftet sein.280 Gehen terroristische Bombenangriffe über einen
längeren Zeitraum erheblich zurück und werden lediglich noch vereinzelt
Gewaltakte festgestellt, besteht nicht mehr eine tatsächliche Situation
willkürlicher Gewalt und ist deshalb das erforderliche Gewaltniveau nicht
erreicht.281 Im Irak etwa erscheint derzeit eine Situation vermehrter
Einzelanschläge zu bestehen, die erneut in andauernde willkürliche Gewalt
umschlagen kann. In Syrien besteht diese bereits.
Es sind also Feststellungen geboten, dass in der Herkunftsregion des
Antragstellers die Kampfhandlungen oder Anschläge ein „gewisses Maß an
Intensität und Dauerhaftigkeit“ aufweisen282 Wenn etwa die Angriffe der Taliban
in bestimmten Provinzen von Afghanistan „kriegsähnliche Dimensionen“
annehmen, können am Bestehen einer ausreichend intensiven und dauerhaften
Situation willkürlicher Gewalt keine Zweifel bestehen.283 Jede zusätzliche
Voraussetzung, etwa dass die willkürliche Gewalt ein „beständiges Muster“
(„consistent pattern“) oder eine außergewöhnliche Dimension aufweisen müsste,
verfehlt den Zweck des Art. 15 Buchst. c) RL 2004/83/EG.284 Nicht erst bei einer
278
UK Court of Appeal (2009) EWCA Civ 620 Rdn. 25 – QD.
279
UK Court of Appeal (2009) EWCA Civ 620 Rdn. 25 – QD.
UK Court of Appeal (2009) EWCA Civ 620 Rdn. 27 – QD; UK UT CG (2010) UKUT 331 (IAC) Rdn. 67
lit. h), 67 Buchst. d) – HM.
280
Finnland Supreme Administrative Court, Urt. v. 30. 12. 2010 – KHO: 2010:84,
http://www.unhcr.org/refworld/docid/4ea028162.html
281
282
BVerwGE 136, 361 (369) Rdn. 23 = EZAR NF 69 Nr. 7 = InfAuslR 2010, 404.
283
BVerwGE 136, 361 (370) Rdn. 25 = EZAR NF 69 Nr. 7 = InfAuslR 2010, 404.
UK Court of Appeal (2009) EWCA Civ 620 Rdn. 32 – QD; UK UT CG (2010) UKUT 331 (IAC) Rdn. 67
lit. h), 67 Buchst. g) – HM.
284
58
derart hohen Vielzahl einzelner Übergriffe, dass daraus für jeden Bewohner der
Kampfregion ein ihm geltender Gewaltakt abgeleitet werden kann, ist das
erforderliche Gewaltniveau erreicht, sondern wenn die Feststellungen ergeben,
dass die Zivilbevölkerung tatsächlich in erheblichem Umfang von Gewaltakten
betroffen ist. Maßgebend für die Annahme des erforderlichen Gewaltniveaus ist
also nicht eine statistisch zu ermittelnde Zahl von Anschlägen, sondern die durch
Tatsachen getragene Feststellung, dass in der Region derartige Anschläge nicht
lediglich vereinzelt, sondern im großen Umfang und dauerhaft verübt werden.
Es bedarf dazu auf der Grundlage der festgestellten allgemeinen Tatsachen einer
Einschätzung, ob in der betreffenden Region nicht lediglich die Möglichkeit
besteht, dass Kämpfe, Anschläge und sonstige Gewaltakte möglicherweise
irgendwann in der Zukunft stattfinden oder aufgrund von Gerüchten die früher
vorherrschende Situation willkürlicher Gewalt wieder aufleben könnte, sondern
dass diese Situation tatsächlich besteht. Der vom Unionsrecht gewollte Schutz
gegen willkürliche Gewalt kann nicht anhand begrifflicher Abstraktionen anhand
quanitativer Kriterien, sondern muss auf der Grundlage einer tatsächlichen
Gefahreneinschätzung im konkreten Einzelfall gewährt werden.
c)
Gefahrenprognose bei besonderen Unterscheidungsmerkmalen
Nach der Rechtsprechung des EuGH ist der erforderliche Gefahrengrad
willkürlicher Gewalt umso geringer, je mehr der Antragsteller zu belegen vermag,
dass er aufgrund „von seiner persönlichen Situation innewohnenden Umständen
spezifisch betroffen ist.“285 Die Anforderungen an das erforderliche Gewaltniveau
werden also im Rahmen einer „gleitenden Skala“ in dem Maße herabgestuft, wie
ein oder mehrere Unterscheidungsmerkmale geltend gemacht werden. Der EuGH
orientiert sich an der Rechtsprechung des EGMR orientiert, will aber über diese
hinausgehen. Andererseits hat der EGMR in seiner neuesten Rechtsprechung,
ohne das besondere Merkmale vorgebracht wurden, wegen einer Situation
extremer Armut, die durch die Unfähigkeit gekennzeichnet ist, Grundbedürfnisse
wie Nahrung, Hygiene und Unterbringung zu erfüllen, ein tatsächliches Risiko,
einer Art. 3 EMRK zuwiderlaufenden Behandlung ausgesetzt zu werden,
angenommen.286
Nach dem EuGH kann der „Grad willkürlicher Gewalt“ geringer sein, wenn
Unterscheidungsmerkmale dargelegt werden. Die Rechtsprechung in den
Mitgliedstaaten vermeidet eine Auseinandersetzung mit dem Gewaltbegriff,
sondern wendet den differenzierenden Gefahrenmaßstab in Situationen an, in
denen willkürliche Gewalt tatsächlich nicht mehr besteht, sondern nur noch
vereinzelt Anschläge verübt werden. Während in derartigen Situationen bei
fehlenden Unterscheidungsmerkmale eine ernsthafte Bedrohung nicht mehr
besteht, wird für bestimmte Risikogruppen, wie etwa Regierungsbedienstete,
Mitglieder der Sicherheitskräfte, politische Führer, Mitglieder religiöser
285 EuGH, InfAuslR 2009, 138 (139) Rdn. 39 = EZAR NF 69 Nr. 5 = NVwZ 2009, 705 = AuAS 2009, 86 –
Elgafaji.
286
EGMR, U. v. 28. 6. 2011 – Nr. 8319/07, 11449/07 Rdn. 267 bis 292, 296 – Sufi and Elmi.
59
Minderheiten ein größeres Risiko angenommen.287 Obwohl der Gerichtshof in
Rdn. 39 in Elgafaji die Herabstufung anhand besonderer Merkmale innerhalb
einer Situation „willkürlicher Gewalt“ zulässt, wird in der Praxis der
Mitgliedstaaten dieser Test auch dann angewandt, wenn diese an sich aktuell nicht
mehr besteht. In Wirklichkeit wird aber nicht ein durch entgrenzte Gewalt nicht
mehr steigerungsfähiger Gewaltbegriff nach verschiedenen Gefahrenstufen
differenziert, sondern in aktuelle Situationen willkürlicher Gewalt und in latente
derartige Gewaltsituationen unterschieden.
d)
Gefahrenprognose bei Vorschädigung (Art. 4 Abs. 4 RL 2004/83/EG)
Nach dem EuGH ist bei der Prognoseentscheidung insbesondere das Vorliegen
eines ernsthaften Hinweises auf eine tatsächliche Gefahr im Sinne von Art. 4 Abs.
4 RL 2004/(3/EG zu berücksichtigen. Angesichts dessen könne der Grad der
Gefahr geringer sein.288 Einerseits folgt die Herabstufung bereits aus dem
gleitenden Ansatz, wonach besondere Unterscheidungsmerkmale die Annahme
eines geringeren Grades der Gefahr rechtfertigen. Andererseits folgt diese aus Art.
4 Abs. 4 RL 2004/83/EG. Berücksichtigt der gleitende Ansatz auch politische
Vorbelastungen, die noch nicht die Schwere eines ernsthaften Schadens erreicht
hatten und nicht notwendigerweise im unmittelbaren zeitlichen Zusammenhang
mit der Ausreise stehen, bei der Herabstufung des Gefahrengrades, setzt die
Anwendung des Art. 4 Abs. 4 RL 2004/83/EG voraus, dass der Antragsteller vor
der Ausreise von einer Vorschädigung betroffen war oder dieser ihm gedroht hatte
sowie dass zwischen dieser und der Ausreise ein zeitlicher Zusammenhang
besteht. Zu diesen Fragen äußert sich der Gerichtshof nicht. In Abdulla hatte er
mit Blick auf den Flüchtlingsstatus gefordert, dass Art. 4 Abs. 4 der Richtlinie
eine frühere Verfolgung oder Verfolgungsbedrohung nach Art. 9 der Richtlinie
voraussetzt und an Verfolgungsgründe anknüpfen muss.289
Für die Anwendung des Art. 4 Abs. 4 im Rahmen des Art. 15 der Richtlinie ist
daraus zu schließen, dass jedenfalls ein ernsthafter Schaden im Sinne von Art. 15
der Richtlinie vor der Ausreise gedroht haben muss. Die Anwendung der
Zusammenhangsklausel entfällt. So setzt das BVerwG für die Beweiserleichterung
nach Art. 4 Abs. 4 voraus, dass der Antragsteller bereits einen ernsthaften Schaden
im Sinne von Art. 15 RL 2004/83/EG Herkunftsland erlitten hat oder von einem
solchen Schaden unmittelbar bedroht war (Vorschädigung).290 Hatte dem
Antragsteller vor der Ausreise unmenschliche Behandlung im Sinne von Buchst.
b), jedoch keine ernsthafte Bedrohung nach Buchst. c) von Art. 15 gedroht, ist
diese im Rahmen von Buchst. c) zu berücksichtigen. Ist eine frühere
Verfolgungsgefahr entfallen, steht der Rückkehr aber eine ernsthafte Bedrohung
entgegen, ist diese als Vorschädigung im Rahmen von Art. 15 Buchst. c) zu
beachten. Soweit das BVerwG Feststellungen zum Bestehen einer früheren Gefahr
287
UK UT CG (2010) UKUT 331 (IAC) Rdn. 85 – HM.
288
EuGH, InfAuslR 2009, 138 (139) Rdn. 40 = EZAR NF 69 Nr. 5 = NVwZ 2009, 705 – Elgafaji.
289
EuGH, InfAuslR 2010, 189 (192) Rdn. 96 – Abdulla.
290
BVerwGE 136, 360 (371) Rdn. 29 = EZAR NF 69 Nr. 7 = InfAuslR 2010, 404.
60
für Leib oder Leben des Antragstellers fordert,291 prüft es eine Vorschädigung
nach Buchst. b) von Art. 15 der Richtlinie. Für eine Vorschädigung nach Buchst.
c) muss in der Herkunftsregion des Antragstellers das erforderliche Gewaltniveau
aufgrund einer Situation akuter willkürlicher Gewalt bestanden haben. Ist er
unmittelbar aus der Herkunftsregion ausgereist und hat er zuvor keine interne
Ausweichregion aufgesucht, kommt es wie bei der erlitttenen Verfolgung oder
Verfolgungsbedrohung auf eine in die Zukunft gerichtete Betrachtung an.
Früheren Vorschädigungen kommt Beweiskraft für eine ernsthafte Bedrohung
zu.292 Für deren Eintritt streitet die tatsächliche Vermutung, dass frühere
Vorschädigungen sich wiederholen werden. Es müssen keine stichhaltigen Gründe
dargelegt werden, dass sich die für die Vorschädigung maßgebenden Umstände
bei Rückkehr ins Herkunftsland erneut realisieren werden.293 Die tatsächliche
Vermutung der Vorschädigung kann aber widerlegt werden. Dazu ist erforderlich,
dass stichhaltige Gründe die Wiederholungsträchtigkeit der Vorschädigung
entkräften. Während das BVerwG für die Entkräftung der Beweiskraft der
Vorverfolgung darauf hinweist, dass diese im Einzelfall selbst dann widerlegt sein
kann, wenn keine hinreichende Sicherheit im Sinne des herabgestuften
Wahrscheinlichkeitsmaßstabes besteht,294 ist für Art. 15 Buchst. c) RL
2004/83/EG eine andere Betrachtung angezeigt. Die Beweiskraft der
Vorschädigung kann nicht entkräftet werden, wenn aufgrund willkürlicher Gewalt
eine ernsthafte Bedrohung für Leben oder Unversehrtheit besteht, wobei
besondere Unterscheidungsmerkmale eine Herabsenkung des Gefahrengrades
rechtfertigen. Die nach Art. 4 Abs. 4 der Richtlinie in ihrer Beweiskraft entkräftete
Vorschädigung ist ein derartiges Unterscheidungsmerkmal.
291
BVerwGE 136, 360 (372) Rdn. 28 = EZAR NF 69 Nr. 7 = InfAuslR 2010, 404.
292
EuGH, InfAuslR 2010, 189 (192) Rdn. 96 – Abdulla, für Vorverfolgungen.
293
BVerwG 136, 377 (385) Rdn. 23 = EZAR NF 62 Nr. 21 = InfAuslR 2010, 410, mit Hinweis auf EGMR,
NVwZ 2008, 1330 Rdn. 128 - Saadi.
294 BVerwG 136, 377 (385) = EZAR NF 62 Nr. 21 = InfAuslR 2010, 458, mit Hinweis auf EGMR, NVwZ
2008, 1330 Rdn. 128 - Saadi.
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