Dr. Reinhard Marx Mainzer Landstr. 127 A 60327 Frankfurt am Main Tel.: 069-24271734 Fax: 069-24271735 E-Mail: [email protected] Aktuelle Fragen des Aufenthalts- Asyl- und Flüchtingsrechts 4. Mai 2012 in Berlin Gliederung: A. Aufenthaltsrecht S. 2 I. Erteilung und Verlängerung des Aufenthaltstitels 2 1. Visum zu Besuchszwecken (§ 6 AufenthG) 2 2. Dänemarkehe (§ 39 Nr. 3 AufenthV) 3 3. Antrag auf Erteilung des Aufenthaltstitels 4 4. Titelerteilungssperre nach § 10 Abs. 3 Satz 2 AufenthG 5 5. Sicherung des Lebensunterhalts (§ 2 Abs. 3 AufentG) 7 a) Individualbezogene Berechnung des Lebensunterhalts 7 b) Höhe des Lebensunterhalts 8 6. Anrechnung von Voraufenthaltszeiten (§ 26 Abs. 4 AufenthG 11 II. Familienzusammenführung 12 1. Anwendung des Unionsrechts 12 2. Beweislast 13 3. Sprachtest 14 4. Eigenständiges Aufenthaltsrecht nach § 31 AufenthG 15 a) Keine Anwendung der Dreijahresfrist des § 31 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AufenthG) 15 b) Abweichende Angaben im Scheidungsverfahren zum Trennungszeitpunkt 16 c) Bezugsperson der Unzumutbarkeit im Sinne von § 31 Abs. 2 Satz 2 AufenthG 16 d) Misshandlungen in der Ehe 17 5. Aufenthaltserlaubnis wegen besonderer Härte (§ 36 Abs. 2 Satz 1 AufenthG) 19 III. Ausweisung 19 1. Vorrang des Unionsrechts 19 a) Verbot der generalpräventiven Ausweisung 22 b) Ausweisungsschutz für Daueraufenthaltsberechtigte 22 c) Ausweisungsschutz für türkische Assoziationsberechtigte 25 d) Ausweisungsschutz für drittstaatsangehörige Daueraufenthaltsberechtigte 27 2. Einchränkung der Generalprävention 28 3. Tatsachengestützte ausweisungsrechtliche Bekämpfung 1 des Terrorismus (54 Nr. 5 AufenthG) a) Differenzierung zwischen Vereinigung und individueller Unterstützung b) Begriff der individuellen Unterstützung aa) Begriff des „Sympathisanten“ bb) Erfordernis der Zweckgerichtetheit der individuellen Handlung c) Anforderungen an die Tatsachenfeststellungen B. Asylrecht I. Verordnung (EG) Nr. 343/2003 (Dublin II-Verordnung) II. Streitgegenstand im Asylverfahren III. Ausschluss vom Flüchtlingsschutz IV. „Wegfall-der-Umstände“-Klausel (Art. 1 C Nr. 5 Satz 1 und 6 Satz 7 GFK, Art. 11 Abs. 1 Buchst. e) und f) RL 2004/83/EG) 1. Dauerhafte und grundlegende Veränderung der Umstände 2. Spiegelbildlicher Ansatz 3. Neuartige Umstände 4. Subsidiärer Schutz im Widerrufsverfahren V. Subsidiärer Schutz nach Art. 15 Buchst. c) RL 2004/83/EG, § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG 1. Kein Erfordernis der individualbezogenen Gefährdung 2. Prognosebasis 3. Prognosemaßstab a) Funktion der Prognosemaßstabs b) Gefahrenprognose bei fehlenden Unterscheidungsmerkmalen c) Gefahrenprognose bei besonderen Unterscheidungsmerkmalen d) Gefahrenprognose bei Vorschädigung (Art. 4 Abs. 4 RL 2004/83/EG) 31 31 32 32 34 37 40 40 42 45 48 48 49 52 53 54 54 56 57 57 57 59 60 A. Aufenthaltsrecht I. Erteilung und Verlängerung des Aufenthaltstitels 1. Visum zu Besuchszwecken (§ 6 AufenthG) Der Antrag auf Erteilung eines Besuchervisums ist regelmäßig dahin auszulegen, dass der Antragsteller auch nach Ablauf der Ablauf der Geltungsdauer an seinem Besuchswunsch festhält, sodass er nicht nachträglich einen Daueraufenthalt anstreben kann.1 Begründete Zweifel an der Rückkehrbereitschaft stehen der Erteilung eines Besuchervisums entgegen.2 1 BVerwG, NVwZ 2011, 1201. 2 BVerwG, NVwZ 2011, 1201; BVerwG, Urt. v. 15. Nov. 2011 – BVerwG 1 C 15.10. 2 Ist der stammberechtigte Ehegatte pfegebedürftig, darf die Erteilung der Aufenthaltserlaubnis zum Nachzug nicht wegen eines Visumverstoßes versagt werden.3 Ist einem Familienmitglied ein Verlassen des Bundesgebietes nicht zuzumuten, darf bei bestehender Familiengemeinschaft der ausreisepflichtige Angehörige nicht auf das Visumverfahren verwiesen werden.4 Bei Minderjährigen mit Anspruch auf Erteilung der Aufenthaltserlaubnis (§ 28 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AufenthG), wird das Ermessen (§ 27 Abs. 3 Satz 2 AufenthG) im Sinne des ausweisungsrechtlichen Minderjährigenschutzes (§ 56 Abs. 2 AufenthG) reduziert. Die unerlaubte Einreise5 wegen Fehlens des erforderlichen Visums rechtfertigt nicht Verweisung auf das Visumverfahren.6 Ist die Rückkehr nach Ausreise zwecks Durchführung des Visumverfahrens nicht absehbar, weil die deutsche Auslandsvertretung in der Türkei bei einer Dänemarkehe die türkische Anerkennung der Ehe, ist nach § 5 Abs. 2 Satz 2 Alt. 2 AufenthG hiervon abzusehen.7 2. Dänemarkehe (§ 39 Nr. 3 AufenthV) Nach § 39 Nr. 3 AufenthV können Inhaber eines Schengen-Visums, das nicht notwendigerweise von der Bundesrepublik ausgestellt sein muss, oder sichtvermerksfreie Drittstaatsangehörige im Falle eines Anspruchs auf Erteilung des Aufenthaltstitels diesen im Inland einholen. Hiervon betroffen sind etwa Touristen, die während ihres Kurzaufenthaltes im Bundesgebiet heiraten und daraufhin einen Anspruch auf eine Aufenthaltserlaubnis erwerben.8 Unabhängig von den bei der Einreise bestehenden subjektiven Vorstellungen kann der Inhaber eines Schengen-Visums ebenso wie der sichtvermerksfreie Drittstaatsangehörige den Antrag im Inland stellen, wenn er nach der Einreise durch Eheschließung die Voraussetzungen eines Rechtsanspruchs auf Aufenthaltserlaubnis begründet. § 39 Nr. 3 AufenthV beruht auf der Überlegung, dass bei Nachzugsberechtigten von visumfrei gestellten Drittstaatsangehörigen auf die Wiederausreise verzichtet werden kann, weil diese Personen ohnehin grundsätzlich ohne Vorabkontrolle Zugang zum Schengen-Gebiet haben. Bei Inhabern eines Schengen-Visums ist eine Vorabkontrolle durch das Visumverfahren bereits erfolgt. Es kommt für § 39 Nr. 3 AufenthV nicht darauf an, ob der mit einem Besuchervisum einreisende Antragsteller bei der Einreise bereits einen dauerhaften Aufenthaltszweck anstrebte. Denn § 5 Abs. 2 AufenthG kommt erst 3 BVerfG (Kammer), InfAuslR 2011, 286. 4 BVerfG (Kammer), NVwZ-RR 2011, 585. 5 S. hierzu BVerwG, NVwZ 2011, 871 (874). 6 OVG NW, InfAuslR 2012, 59. 7 Nieders.OVG, InfAuslR 2012, 70 (73). 8 BR-Drucks 823/02, S. 182; siehe auch BR-Drucks 731/04, S. 182. 3 zur Anwendung, wenn die Voraussetzungen des § 39 Nr. 3 AufenthV nicht erfüllt sind. Jeder Inhaber eines Schengen-Visums wird damit unabhängig von dem mit der Einreise verfolgten Aufenthaltszweck – selbst wenn dieser auf einen Daueraufenthalt gerichtet ist – von § 39 Nr. 3 AufenthV erfasst.9 Allerdings wird vorausgesetzt, dass die Anspruchsvoraussetzungen nach der Eineise entstanden sein müssen. Mit „Einreise“ ist die Einreise in das Bundesgebiet10 und nicht die Einreise in das Unionsgebiet11 gemeint. Die Rechtsprechung wendet deshalb § 39 Nr. 3 AufenthV nicht an, wenn der Antragsteller mit einem Schengen-Visum in einen anderen Schengen-Staat oder in das Bundesgebiet einreist, anschließend in Dänemark die Ehe schließt und erst danach in das Bundesgebiet einreist. In diesem Fall seien die Anspruchsvoraussetzungen bereits vor der Einreise in das Bundesgebiet entstanden.12 Mit Einreise sei die letzte Einreise in das Bundesgebiet und nicht die erste Einreise gemeint.13 In diesem Fall ist aber das Ermessen nach § 5 Abs. 2 Satz 2 AufenthG auszuüben.14 Regelmäßig müssen sämtliche Anspruchsvoraussetzungen erst nach der Einreise entstanden sein. Es reicht nicht aus, dass nur der Erwerb der Sprachkenntnisse nach der Einreise erfolgt, die Ehe aber bereits vor der Einreise geschlossen wurde. 15 Nach der Gegenmeinung kommt es auf die Gesamtheit aller Anspruchsvoraussetzungen nach der Einreise an, sodass nicht jede einzelne Voraussetzung nach der Einreise entstanden sein muss.16 3. Antrag auf Erteilung des Aufenthaltstitels Ein humanitärer Aufenthaltstitel kann nicht neben einem ehebezogenen Aufenthaltstitel erteilt werden.17 Die Berufung auf eine Aufenthaltserlaubnis aus humanitären Gründen hat zur Folge, dass die Behörde einen Anspruch auf Erteilung der Aufenthaltserlaubnis 9 BVerwG, NVwZ 2011, 495 (498) = InfAuslR 2011, 186; BVerwG, AuAS 2011, 122 (122 f.); OVG NW, EZAR Nr. 14 = AuAS 2008, 77; VGH BW, InfAuslR 2008, 444 (448); BayVGH, AuAS 2009, 147 (148); so Benassi, InfAuslR 2008, 127 (128); a.A. Nieders.OVG, InfAuslR 2009, 388; Nieders.OVG, AuAS 2009, 254 (255); Hess.VGH, InfAuslR 2009, 14 (15); VG Darmstadt, InfAuslR 2010, 67 (68); offen gelassen OVG Berlin-Brandenburg, AuAS 2008, 158; siehe auch Welte, InfAuslR 2008, 387. 10 Hess.VGH, InfAuslR 2009, 14 (14 f.); VGH BW, InfAuslR 2008, 444 (448); Singer, InfAuslR 2010, 231 (233). 11 So Benassi, InfAuslR 2008, 127 (128). 12 Hess.VGH, InfAuslR 2009, 14 (14 f.); OVG NW, AuAS 2011, 2; VG München, InfAuslR 2011, 68 (69). 10 BVerwG, NVwZ 2011, 495 (498) = InfAuslR 2011, 186; BVerwG, NVwZ 2011, 871; dagegen Oberhäuser, NVwZ 201225 14 VG München, InfAuslR 2011, 68 (69). 15 BVerwG, NVwZ 2011, 495 (498) = INfAuslR 2011, 186; Hess.VGH, InfAuslR 2009, 14 (15); Singer, InfAuslR 2010, 231 (235); a.A. VGH BW, InfAuslR 2008, 444 (449). 16 VGH BW, InfAuslR 2008, 444 (449). 17 BVerwG, NVwZ-RR 2012, 44. 4 nach jeder in Betracht kommenden Vorschrift des 5. Abschnitts zu prüfen hat.18 Hat der Antragsteller etwa die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 4 Satz 1 oder Abs. 5 AufenthG beantragt und wird nachträglich eine Anordnung nach § 23 Abs. 1 AufenthG erlassen, so ist bei noch anhängigem Antragsverfahren von Amts wegen zu prüfen, ob der Antragsteller auch die Voraussetzungen nach der Anordnung erfüllt. Dementsprechend hat das Verwaltungsgericht den Anspruch im anhängigen Prozess nach allen in Betracht kommenden entsprechenden Vorschriften zu prüfen. Auch ein Schengen-Visum ist geeignet, die Fortgeltungsfiktion des § 81 Abs. 4 AufenthG auszulösen.19 Ein verspätet gestellter Verlängerungsantrag begründet in der Regel keine Fortgeltungsfiktion.20 Demgegenüber ging die Gegenmeinung davon aus, dass Gesetzeswortlaut auch die Auslegung zulasse, dass der bisherige Aufenthaltstitel vom Zeitpunkt seines Ablaufs bis zur behördlichen Entscheidung als fortbestehend gilt, wenn der Antragsteller die Verlängerung oder Zweckänderung beantragt. Das ist auch bei verspäteter Antragstellung der Fall,21 sodass in diesem Fall die Antragstellung rückwirkend die Fortgeltungsfiktion an den Ablauf der Geltungsdauer des Aufenthaltstitels anknüpft. 4. Titelerteilungssperre nach § 10 Abs. 3 Satz 2 AufenthG Ist der Asylantrag nach § 30 Abs. 3 AsylVfG abgelehnt worden, darf kein Aufenthaltstitel erteilt werden (absolute Sperrwirkung). Die Sperrwirkung nach § 10 Abs. 3 Satz 2 AufenthG hindert auch die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 22 bis § 26 AufenthG. Dies ist, wie der Vergleich zwischen § 23a Abs. 1 Satz 1 und § 25 Abs. 5 AufenthG verdeutlicht, ungereimt. Dadurch wird ein rechtmäßiger Aufenthalt unmöglich gemacht. Im aufenthaltsrechtlichen Verfahren ist nicht erneut die Rechtmäßigkeit der Offensichtlichkeit der Asylablehnung zu prüfen.22 Der Bescheid des Bundesamtes muss ausdrücklich auf die Norm des § 30 Abs. 3 AsylVfG verweisen. Jedenfalls muss sich aus dem Bescheid eindeutig ergeben, dass der Offensichtlichkeitsausspruch gerade auf diese Vorschrift gestützt wird.23 18 BVerwGE 126, 192 (194 f.) = NVwZ 2006, 1418 = InfAuslR 2007, 4; OVG NW, InfAuslR 2007, 109 = AuAS 2007, 86 19 Nieders.OVG, InfAuslR 2012, 71. 20 BVerwG, NVwZ 2011. 1340; Nieders.OVG, NVwZ-RR 2010, 902 (903). 21 OVG NW, AuAS 2006, 143; OVG NW, InfAuslR 2006, 448 (449 f.);OVG NW, EZAR 94 Nr. 6; OVG NW, AuAS 2010, 207; VG Darmstadt, InfAuslR 2005, 467; Hofmann, in: Hofmann/Hoffmann, Handkommentar AuslR, § 81 AufenthG Rdn. 30 ff.; a.A. OVG Rh-Pf, InfAuslR 2008, 441 ?; BayVGH, InfAuslR 2009, 246 (247) = AuAS 2009, 223; Maor, in: Kluth/Hund/Maaßen, Zuwanderungsrecht, 2008, S. 81 (116 f.) Rdn. 78; Zeitler, ZAR 2010, 133 (135); Huber, in: Hube ,AufenthG, 2010, § 81 AufenthG Rdn. 8; unklar Hess.VGH, AuAS 2007, 74. 22 OVG MV, AuAS 2010, 243. 23 BVerwGE 134, 335 (342 f.) = InfAuslR 2010, 125 (127 f.) = NVwZ 2010, 386 = AUAS 2010, 45; BVerwG, EZAR NF 33 Nr. 23; OVG MV, EZAR 28 Nr. 18 = InfAuslR 2008, 208; VGH BW, EZAR NF 28 Nr. 26. 5 Leitet das Bundesamt nach § 14a Abs. 2 AsylVfG das Asylverfahren ein, ist § 30 Abs. 3 Nr. 7 AsylVfG nicht anwendbar, sodass die Titelerteilungssperre nicht eingreift.24 Nur dann, wenn aufgrund der zeitlich gestaffelten, sukzessiven Stellung von Asylanträgen die Missbrauchsabsicht evident ist, darf der Asylantrag des Kindes als offensichtlich unbegründet nach § 30 Abs. 3 Nr. 7 AsylVfG abgelehnt werden.25 Darüber hinaus muss das Offensichtlichkeitsurteil des § 30 Abs. 3 AsylVfG jeweils gesondert im Blick auf die Voraussetzungen der Asylanerkennung wie auf die Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG festgestellt worden sein.26 Wird ein Klageverfahren durchgeführt und die Klage abgewiesen, kann wegen der Titelerteilungssperre ein isolierter Anfechtungsantrag auf isolierte Aufhebung des Offensichtlichkeitsausspruchs gestellt werden.27 Während im Blick auf die nach Inkrafttreten der Regelung, also nach dem 1. Januar 2005, noch anhängigen Verfahren der isolierte Anfechtungsantrag gestellt werden kann, besteht für die vor diesem Zeitpunkt bestandskräftig abgeschlossenen Asylverfahren nicht die Möglichkeit, nachträglich den isolierten Anfechtungsantrag zu stellen. Die Titelerteilungssperre des § 10 Abs. 3 Satz 2 AufenthG erfasst deshalb nicht die vor dem Inkrafttreten der Vorschrift bereits bestandskräftig abgeschlossenen Asylverfahren. Im Hinblick auf Art. 19 Abs. 4 GG erscheint eine derartig einschneidende Rechtsfolge nur dann gerechtfertigt, wenn der Betroffene die Möglichkeit hat, einen unzutreffenden Offensichtlichkeitsausspruch gerichtlich überprüfen zu lassen.28 Die aufgrund von § 10 Abs. 3 Satz 2 AufenthG eingetretene Sperrwirkung entfällt nach der Rechtsprechung des BVerwG nicht durch nachträgliche Rücknahme des Asylantrags. Weder die gesetzgeberische Bewertung der in § 30 Abs. 3 AsylVfG bezeichneten Verhaltensweisen als Missbrauch noch die dadurch ausgelöste aufenthaltsrechtliche Sanktion verlören ihre Rechtfertigung, wenn der Betroffene den Asylantrag nach Erlass des auf § 30 Abs. 3 AsylVfG gestützten Asylbescheids zurücknehme.29 Der Betroffene ist daher auch dann, wenn die Ausländerbehörde signalisiert, die Voraussetzungen eines humanitären Aufenthaltstitels lägen vor, gut beraten, zunächst den gegen den Offensichtlichkeitsausspruch gerichteten isolierten Aufhebungsantrag (siehe Rn 335) fortzusetzen. Hat der Antragsteller einen Anspruch auf Erteilung eines Aufenthaltstitels (z.B. § 28 Abs. 1, § 30 Abs. 1, § 32 Abs. 2 und 3 AufenthG), ist über diesen durch die Ausländerbehörde eine Entscheidung herbeizuführen. Die Titelerteilungssperre 24 BVerwGE 127, 161 (177) = InfAuslR 2007, 213 07 = NvWz 2007, 465 = EZAR 95 Nr. 11. 25 BVerwGE 127, 161 (171) = InfAuslR 2007, 213 07 = NvWz 2007, 465 = EZAR 95 Nr. 11. 26 OVG MV, EZAR 28 Nr. 18 = InfAuslR 2008, 208, ebenso BVerwGE 132, 382 (386) = NVwZ 2009, 789 = InfAuslR 2009, 224 = AuAS 2009, 89, aber im Ergebnis offen gelassen. 27 BVerwGE 127, 161 (171) = InfAuslR 2007, 213 07 = NvWz 2007, 465 = EZAR 95 Nr. 11; BVerwGE 134, 335 (339) = InfAuslR 2010, 125 (126) = NVwZ 2010, 386 = AUAS 2010, 45. 28 BVerwGE 134, 335 (339) = InfAuslR 2010, 125 (126) = NVwZ 2010, 386 = AuAS 2010, 45. 29 BVerwGE 132, 382 (386 f.) = NVwZ 2009, 789 = InfAuslR 2009, 224 = AuAS 2009, 89. 6 findet keine Anwendung (§ 10 Abs. 3 Satz 3 1. Hs. AufenthG). Ein gesetzlicher Anspruch liegt vor, wenn das Gesetz ausdrücklich die Erteilung des Aufenthaltstitels anordnet und die im Gesetz hierfür bezeichneten Voraussetzungen vorliegen. Die Auffassung, die Ausnahmeregelung des § 10 Abs. 3 Satz 3 AufenthG erfasse auch die Fälle der Ermessensreduktion, hat das BVerwG ausdrücklich zurückgewiesen.30 Die Titelerteilungssperre entfällt darüber hinaus auch dann, wenn der Antragsteller die Voraussetzungen des § 25 Abs. 3 AufenthG erfüllt (§ 10 Abs. 3 Satz 3 2. Hs. AufenthG). Dies bedeutet, dass ungeachtet der Ablehnung des Antrags auf Asylanerkennung und Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft als offensichtlich unbegründet nach Maßgabe des § 30 Abs. 3 AsylVfG die Aufenthaltserlaubnis zu erteilen ist, wenn das Bundesamt ein Abschiebungshindernis nach § 60 Abs. 2 bis 5 oder Abs. 7 AufenthG festgestellt hat (Nr. 10.3.3.2 AufenthG-VwV). Die Voraussetzungen des § 25 Abs. 3 AufenthG liegen nicht vor, wenn ein Ausschlussgrund nach § 25 Abs. 3 Satz 2 und 3 AufenthG vorliegt (vgl. auch Art. 17 Abs. 1 RL 2004/83/EG). Der Anspruch nach § 25 Abs. 3 AufenthG ist andererseits nicht von den Regelerteilungsgründen abhängig (§ 5 Abs. 3 Satz 1 AufenthG). Die Ausnahmeregelung des § 10 Abs. 3 Satz 3 2. Hs. AufenthG ist dem Rechtsanwendungsvorrang des Art. 24 Abs. 2 RL 2004/83/EG geschuldet. Die Titelerteilungssperre des § 11 Abs. 1 Satz 2 AufenthG ist in ihrer Wirkung auf die Titel nach dem 5. Abschnitt des AufenthG beschränkt.31 5. Sicherung des Lebensunterhalts (§ 2 Abs. 3 AufentG) a) Individualbezogene Berechnung des Lebensunterhalts Bei der Erteilung der Aufenthaltserlaubnis wie auch der Niederlassungserlaubnis (vgl. § 9 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2, § 26 Abs. 4 Satz 2 AufenthG) kommt es ausschließlich auf den Lebensunterhalt des Antragstellers an. Leistungen für Familienangehörige sind nicht anzusetzen, da sich § 2 Abs. 3 AufenthG lediglich auf den Lebensunterhalt des einzelnen Antragstellers bezieht. Zwar differenziert die Rechtsprechung danach, ob eine Aufenthaltserlaubnis zum Familiennachzug oder ob eine Niederlassungserlaubnis beantragt wird und stellt beim Nachzug auf den Gesamtbedarf des Stammberechtigten und seiner unterhaltsberechtigten Familienangehörigen ab.32 Hiergegen hat das BVerfG eingewandt, es komme auch beim Nachzug allein auf den einen Aufenthaltstitel begehrenden Antragsteller an.33 Einigkeit besteht, dass es bei der Niederlassungserlaubnis unerheblich ist, ob auch der Lebensunterhalt der Angehörigen sichergestellt ist.34 30 BVerwGE 132, 382 (390) = NVwZ 2009, 789 = InfAuslR 2009, 224 = AuAS 2009, 89; dafür: Müller, in: Hofmann/Hoffmann, AuslR, § 10 AufenthG Rn 5, 15; Huber, in: Huber, AufenthG, § 10 AufenthG Rn 11. 31 BVerwGE 136, 284 (288) = InfAuslR 2010, 353) 32 Hess.VGH, InfAuslR 2010, 299 (300); VG Stuttgart, AuAS 2006, 206; ausführlich Marx, Aufenthalts-, Asyl- und Flüchtlingsrecht, 4. Auflage, 2011, S. 116 ff.. 33 BVerfG (Kammer), NVwZ 20071302 (1303) = InfAuslR 2007, 336 = AuAS 2007, 182. 34 Hess.VGH, InfAuslR 2010, 299 (300); VG Neustadt, InfAuslR 2008, 219. 7 Eine Zusammenrechnung ist hingegen ausgeschlossen, wenn hierdurch die Ehegatten schlechter gestellt sein würden als im Falle der Trennung (Nr. 2.3.2.1 Abs. 4 AufenthG-VwV).35 Ein eventueller Bezug von Sozialleistungen durch deutsche Unterhaltsberechtigte ist insoweit ohne Bedeutung.36 Der Umstand, dass Familienangehörige auf Sozialleistungen angewiesen sind, begründet einen Ausweisungstatbestand nach § 55 Abs. 2 Nr. 6 AufenthG. Aus diesem Grund werden in der Verwaltungspraxis bei der Berechnung der Höhe des Lebensunterhaltes regelmäßig auch die Familienangehörigen einbezogen. Der Bezug von Leistungen nach dem AsylbLG ist hingegen nicht als Sozialhilfe eingestuft, sodass deren Bezug durch einen Angehörigen keinen Ausweisungsgrund erfüllt.37 Bei alleinstehenden Antragstellern ohne Bindungen im Bundesgebiet ist hingegen allein auf dessen Person abzustellen. Es darf der Bedarf nur solcher Personen zugrunde gelegt werden, denen gegenüber der Antragsteller gesetzlich oder vertraglich zum Unterhalt verpflichtet ist. Dazu gehören einerseits auch Familienangehörige, die nicht mit dem Antragsteller in häuslicher Lebensgemeinschaft leben, andererseits aber nicht solche Personen, die mit dem Antragsteller zwar zusammenleben, wie die Lebenspartnerin sowie deren Kind, das nicht gemeinsames Kind der Partnerin und des Antragstellers ist. Nicht titulierte Unterhaltsansprüche von im Ausland lebenden Kindern dürfen aus unionsrechtlichen Gründen nicht berücksichtigt werden.38 Das Gesetz bietet keine Rechtsgrundlage, dass derjenige Antragsteller, der selbst über ausreichendes Einkommen verfügt, gewissermaßen unter den sozialleistungsrechtlichen Bedarf „arm gerechnet“ wird zugunsten anderer Ausländer, denen er rechtlich nichts schuldet, mit der Folge, dass dann gegebenenfalls bei keiner Person der Lebensunterhalt mehr gesichert ist. 39 Der Abzug eines titulierten Unterhaltsanspruchs ist hingegen nach Art. 7 Abs. 1 Buchst. c) RL 2003/86/EG zulässig.40 Bei der Niederlassungserlaubnis nach § 28 Abs. 2 Satz 1 AufenthG kommt es grundsätzliche auf eine individualbezogene Betrachtung an.41 b) Höhe des Lebensunterhalts Der Bedarf für den Lebensunterhalt ist nach den besonderen Umständen des Einzelfalles unter dem Gesichtspunkt eines menschenwürdigen Daseins und der persönlichen Lebenssituation wie Alter, Beruf und Familienstand sowie Gesundheitszustand zu ermitteln. Der Standard des notwendigen Lebensunterhalts wird durch das AufenthG nicht näher bestimmt. Als 35 So auch BVerfG, InfAuslR 2007, 336 (338). 36 BVerwGE 122, 94 (101) = NVwZ 2005, 460; VG Düsseldorf, InfAuslR 1993, 344; VG Hamburg, NVwZRR 2008, 831. 37 Hess.VGH, InfAuslR 2010, 299 (302).. 38 VG Berlin, U. v. 17. 6. 2010 – VG 15 K 239.09 V; gegen BVerwG, U. v.7. 4. 2009 – BVerwG 1 C 32.07. 39 VG Berlin, AuAS 2006, 206 (206 f.). 40 VG Berlin, U. v. 17. 6. 2010 – VG 15 K 239.09 V; gegen BVerwG, U. v.7. 4. 2009 – BVerwG 1 C 32.07. 41 BVerwG, InfAuslR 2012, 53 8 Anhaltspunkte für die Bedarfsermittlung können die nach § 28 SGB XII festgesetzten Regelsätze zuzüglich der angemessenen Kosten für Unterkunft und Heizung (§ 19 Nr. 1 SGB II) sowie Beiträge zu Kranken- und Pflegeversicherung sowie alle weiteren in § 11 Abs. 2 SGB II herangezogen werden (Nr. 2.3.4 AufenthG-VwV).42 Die Regelleistungen des SGB II umfassen – wie bereits der notwendige Lebensunterhalt nach § 12 BSHG, der allerdings durch laufende und einmalige Leistungen gedeckt wurde – insbesondere Ernährung, Kleidung, Körperpflege, Hausrat, Bedarf des täglichen Lebens sowie in vertretbarem Umfang auch Beziehungen zur Umwelt und eine Teilnahme am kulturellen Leben (§ 20 Abs. 1 SGB II). Das Existenzminimum entspricht danach der Summe der jeweiligen Regelbedarfssätze der einzelnen Familienmitglieder nach Maßgabe der jeweiligen landesrechtlichen Rechtsverordnung aufgrund von § 28 Abs. 2 Satz 1 SGB XII, den Unterkunftskosten (Miete und Nebenkosten) für ausreichenden Wohnraum und den für die Familie voraussichtlich aufzubringenden Kranken- und Pflegeversicherungsbeiträgen.43 Sowohl nach § 28 Abs. 2 Satz 1 SGB XII in Verbindung mit der jeweiligen landesrechtlichen Regelsatzfestsetzungsverordnung (§ 40 SGB XII) wie auch nach § 20 Abs. 2 SGB II wird der gesamte Bedarf zur Sicherung des notwendigen Lebensunterhalts mit Ausnahme der Unterkunfts- und Nebenkosten (§ 29 Abs. 1 SGB XX/§ 22 SGB II) sowie der Beiträge zur Kranken- und Pflegeversicherung (§ 32 SGB XII/§ 26 SGB II) – _ - für Haushaltsvorstände oder Alleinstehende mit Euro 364,– (§ 20 Abs. 2 SGB II) mit, für den Partner ab Beginn des 19. Lebensjahres betragen die entsprechenden Werte Euro 328,für nicht erwerbsfähige Angehörige der Bedarfsgemeinschaften (§ 7 Abs. 3 SGB II) ab Vollendung des 14. Jahren Euro 291,–, Kinder ab 6 bis einschließlich 13 Jahren Euro 251,--Kinder ab 14 bis einschließlich 17 Jahren Euro 287,-und Kinder bis zur Vollendung des 5. Lebensjahres Euro 215,–. Nach der Rechtsprechung des BVerwG wird jedoch bei erwerbstätigen Zusammenführenden außerhalb des Unionsrechts vom Bruttolohn gemäß § 11 Abs. 2 Satz 2 SGB II ein pauschalisierter Betrag von 100,-- Euro abgesetzt. Darüber hinaus wird eine weitere Einkommensreduzierung um die nach § 11 Abs. 2 Satz 1 Nr. 6 in Verb. mit § 30 SGB II vom Einkommen abzusetzenden Freibeträge vorgenommen. Das BVerwG räumt zwar ein, dass seine Auslegung des § 11 Abs. 2 SGB II sich nicht aus dem Wortlaut dieser Norm herleiten lasse. Sinn und Zweck der Norm in Verbindung mit den Gesetzesmaterialien und der systematischen Stellung im Rahmen des AufenthG stützten indes seine Ansicht. Nach Sinn und Zweck des § 11 Abs. 2 SGB II sollten „neue Belastungen für die öffentlichen Haushalte“ vermieden werden. Dies spreche dafür, dass im Falle eines voraussichtlichen Anspruchs auf öffentliche Mittel – soweit sie nicht ausdrücklich nach § 2 Abs. 3 Satz 2 AufenthG außer Betracht zu bleiben hätten – der 42 OVG Berlin, InfAuslR 2006, 277 (278); OVG Berlin, InfAuslR 2003, 138 (140) = NVwZ-RR 2003, 527; OVG Berlin, InfAuslR 2005, 110 (111); VG Berlin, InfAuslR 2006, 21 (22); VG Stuttgart, AuAS 2006, 206. 43. OVG Berlin, InfAuslR 2003, 138 (140) = NVwZ-RR 2003, 527; OVG Berlin, InfAuslR 2004, 237 (238); OVG Berlin, InfAuslR 2005, 110. 9 Lebensunterhalt nicht als gesichert angesehen werden könne, da dann auch eine Inanspruchnahme dieser Mittel zu erwarten oder jedenfalls nicht auszuschließen sei.44 Ob die Leistungen tatsächlich in Anspruch genommen würden, sei nach dem gesetzgeberischen Regelungsmodell unerheblich. Wenn der Gesetzgeber zusätzliche Belastungen für öffentliche Haushalte vermeiden wolle, nehme er es auch in seinen Willen auf, dass sich die Nachzugsvoraussetzungen bei steigenden Sozialleistungen für den Lebensunterhalt zwangsläufig verschärften. Derartige fiktive Berechnungsmodelle sind für gemeinschaftsrechtliche Sachverhalte (Familienzusammenführung zu Drittstaatsangehörigen, Erlaubnis zum Daueraufenthalt-EG) nicht zulässig. Nach der Rechtsprechung des EuGH ist der Begriff „Sozialhilfe“ in Art. 7 Abs. 1 Buchst. c) RL 2003/86/EG dahin auszulegen, dass er sich auf eine Hilfe bezieht, die einen Mangel an ausreichenden festen und regelmäßigen Einkünften ausgleicht, nicht aber eine Hilfe, die es erlauben würde, außergewöhnliche oder unvorhergesehene Bedürfnisse (besondere Sozialhilfe) zu befriedigen45 Daher darf bei der Berechnung des berücksichtigungsfähigen Einkommens kein Abzug der Freibeträge nach § 11 Abs. 2 Satz 1 Nr. 6 in Verb. mit § 30 SGB II vorgenommen werden.46 Die Rechtsprechung des BVerwG führt zu einem fiktiven Armerechnen, wie am folgenden Beispiel eines Bruttogehalts von 1.000,-- Euro aufgezeigt wird: Vom monatlichen um die Sozialabgaben verminderten Bruttogehalt (Nettogehalt) sind die Pauschale von Euro 100,- nach § 11 Abs. 2 Satz 2 SGB II und die Freibeträge nach § 11 Abs. 2 Nr. 6 in Verb. mit § 30 SGB II abzuziehen Schließlich wird der um 100,- Euro verminderte Nettoverdienst um die Freibeträge nach § 30 SGB II, also 20% von 700,- Euro (§ 30 Nr. 1 SGB II) sowie 10% von 200,- Euro (§ 30 Nr. 2 SGB II) – im konkreten Beispiel also insgesamt 160,- Euro, vermindert. Nach der Rechtsprechung des EuGH ist der Begriff „Sozialhilfe“ in Art. 7 Abs. 1 Buchst. c) RL 2003/86/EG dahin auszulegen, dass er sich auf eine Hilfe bezieht, die einen Mangel an ausreichenden festen und regelmäßigen Einkünften ausgleicht, nicht aber eine Hilfe, die es erlauben würde, außergewöhnliche oder unvorhergesehene Bedürfnisse (besondere Sozialhilfe) zu befriedigen47 Daher darf bei der Berechnung des berücksichtigungsfähigen Einkommens kein Abzug der Freibeträge nach § 11 Abs. 2 Satz 1 Nr. 6 i.V.m. § 30 SGB II vorgenommen werden.48 Inzwischen hat das BVerwG seine Rechtsprechung überprüft und eingeräumt, dass der Freibetrag für Erwerbstätige nach § 11 Abs. 2 Satz 1 Nr. 6 i.V.m. § 30 SGB II, der in erster Linie aus arbeitsmarktpolitischen Gründen gewährt wird, nicht dem unionsrechtlichen Begriff der Sozialhilfe zuzuordnen sei 44 BVerwGE 131, 370 (377) = InfAuslR 2009, 8 (11) = AuAS 2009, 14 EuGH, InfAuslR 2010, 221 (222) = NVwZ 2010, 697, Rdn. 48 – Chakroun; zust. Huber, NVwZ 2010, 701 (702);Zeran, InfAuslR 2010, 223. 45 VG Berlin, U. v. 17. 6. 2010 – VG 15 K 239.09 V; Marx, ZAR 2010, 222 (226), beide gegen BVerwGE 131, 370 (377) = InfAuslR 2009, 8 (11) = AuAS 2009, 14, offen gelassen Dörig, NVwZ 2010, 921 (925). 46 47 EuGH, InfAuslR 2010, 221 (222) = NVwZ 2010, 697, Rn 48 – Chakroun; zust. Huber, NVwZ 2010, 701 (702); Zeran, InfAuslR 2010, 223. 48 VG Berlin, Urt. v. 17. 6. 2010 – VG 15 K 239.09 V; Marx, ZAR 2010, 222 (226), beide gegen BVerwGE 131, 370 (377) = InfAuslR 2009, 8 (11) = AuAS 2009, 14, offen gelassen Dörig, NVwZ 2010, 921 (925). 10 und deshalb nicht berücksichtigt werden dürfe. Die Werbungskostenpauschale in Höhe von 100,00 EUR nach § 11 Abs. 2 Satz 2 SGB II wird hingegen ersetzt durch eine individuelle Prüfung. Daher sei zu berücksichtigen, dass der Betroffene einen geringeren als die gesetzlich veranschlagten 100,00 EUR nachweisen kann.49 6. Anrechnung von Voraufenthaltszeiten nach § 26 Abs. 4 AufenthG Zeiten des Besitzes einer Duldung vor dem 1. Januar 2005 werden angerechnet (§ 102 Abs. 2 AufenthG). Duldungszeiten nach dem 1. Januar 2005 können nicht berücksichtigt werden. Maßgebend ist eine materiellrechtliche Betrachtung. Da der Gesetzgeber nicht auf die Duldungsbescheinigung nach § 66 Abs. 1 Satz 1 AuslG 1990 abstellt, werden alle Zeiten, in denen eine Abschiebung aus rechtlichen oder tatsächlichen Gründen nach § 55 Abs. 2, Abs. 4 Satz 1 AuslG 1990 nicht zulässig war, unabhängig davon angerechnet, ob der Antragsteller deshalb im Besitz der Duldungsbescheinigung war oder nicht. Das BVerwG wendet den Grundsatz des fort Das Erfordernis eines grundsätzlich durchgehenden Titelbesitzes gilt auch im Rahmen der Anrechnung der Zeiten des Besitzes einer Aufenthaltsbefugnis oder einer Duldung (§ 102 Abs. 2 AufenthG). Deshalb müssen die entsprechenden Anrechnungszeiten „grundsätzlich nahtlos ineinander übergehen“. Unterbrechungen können jedoch bis zu einem Jahr geheilt werden. Dies gilt auch für Unterbrechungen in Zeiten des Besitzes einer Aufenthaltsbefugnis oder einer Duldung. Beträgt die Unterbrechung nur wenige Tage, ist das behördliche Ermessen auf Null reduziert. Die Zeit der Unterbrechung wird auf die Siebenjahresfrist nicht angerechnet.50 Das der Erteilung der Aufenthaltserlaubnis zuletzt vorangegangene Asylverfahren wird auf die Frist angerechnet. Bei mehreren Asylverfahren wird mithin nur die Dauer des der Erteilung der Aufenthaltserlaubnis unmittelbar vorangegangenen Asylverfahrens berücksichtigt.51 Ein durch einen Asylfolgeantrag eingeleitetes Asylverfahren ist ein Asylverfahren. In diesem Fall werden unabhängig vom Ausgang des eingeleiteten Asylverfahrens nur die Zeiten des Folgeantragsverfahrens und nicht die des ersten Asylverfahrens angerechnet. Führt der gestellte Folgeantrag nicht zur Durchführung eines Asylverfahrens, weil die Zulässigkeitsvoraussetzungen (§ 51 Abs. 1 bis 3 VwVfG) verneint wurden oder der Antragsteller den Antrag zurückgenommen hatte, ist kein weiteres Asylverfahren durchgeführt worden. In diesem Fall werden die Aufenthaltszeiten des ersten Asylverfahrens berücksichtigt. Das Asylfolgeantragsverfahren wird danach jedenfalls dann ausschließlich berücksichtigt, wenn es zur Durchführung eines weiteren Verfahrens geführt hat.52Darüber hinaus werden auch die 49 BVerwGE 138, 353 = InfAuslR 2011, 144 (148) = AuAS 2011, 62 Rn 31 ff., 50 BVerwGE 135, 225 (231 ff.) = NVwZ 2010, 914; Hess.VGH, EZAR NF 24 Nr. 4 = ZAR 2007, 332; VGH BW, EZAR NF 24 Nr. 5 = ZAR 2007, 333; OVG Sachsen, EZAR NF 24 Nr. 1 = ZAR 2007, 246. 51 BVerwG, InfAuslR 1998, 10 (12) = NVwZ 1998, 191 = EZAR 015 Nr. 15; VGH BW, InfAuslR 1996, 205 (207); BVerwG, InfAuslR 2012, 55 = NVwZ-RR 2012, 41. 52 VGH BW, InfAuslR 1996, 205 (207). 11 Aufenthaltszeiten während der Zulässigkeitsprüfung des Asylfolgeantrags berücksichtigt, wenn der Antragsteller während dieser Zeit im Besitz einer Aufenthaltserlaubnis nach dem 5. Abschnitt des 2. Kapitels des AufenthG unter Berücksichtigung der Fortgeltungsregelung des § 101 Abs. 2 AufenthG gewesen war. Für die Zeit bis zum 31. Dezember 2004 werden darüber hinaus auch Zeiten der Duldung angerechnet (vgl. § 102 Abs. 2 AufenthG). Wurde kein weiteres Asylverfahren eingeleitet, hindert deshalb der gestellte Folgeantrag, der nicht zur Durchführung eines weiteren Asylverfahrens geführt hat, nicht die Berücksichtigung dieser Aufenthaltszeiten II. Familienzusammenführung 1. Anwendung des Unionsrechts Auf drittstaatsangehörige Ehegatten Deutscher findet Unionsrecht nur Anwendung, wenn der deutsche Ehegatte einen grenzüberschreitenden Sachverhalt glaubhaft machen kann. Wer daher nicht für eine gewisse Zeit in einem anderen Mitgliedstaat war, kann sich für den Nachzug nicht auf Unionsrecht berufen (Grundsatz der Inländerdiskriminierung). In der Rechtsprechung des EuGH geht es lediglich um die Frage der aufenthaltsrechtlichen Folgen für Drittstaatsangehörige eines minderjährigen Unionsbürgers. Seit Zambrano geht es insoweit um die Legalisierung des illegalen Aufenthaltes des drittstaatsangehörigen Elternteils eines minderjährigen Unionsbürgers sowie um den Einreiseanspruch eines im Ausland lebenden drittstaatsangehörigen Verwandten eines Unionsbürgers.53 Nach Zambrano hat der Gerichtshof nicht mehr die Frage des Aufenthaltsrechts der drittstaatsangehörigen Sorgeberechtigten minderjähriger Unionsbürger behandelt. Die Begründung in Zambrano ist sehr kurz gehalten und lässt daher viele unionsrechtliche Zweifelsfragen offen. In der Literatur wird Zambrano dahin gedeutet, dass das Aufenthaltsrecht des drittstaatsangehörigen Sorgeberechtigten nicht aus den familienschützenden Bestimmungen von Art. 9 GRCh und Art. 8 EMRK, sondern unmittelbar aus dem Unionsverfassungsrecht durch Rückgriff auf den Unionsbürgerstatus des Art. 20 AEUV begründet wird.54 Geklärt ist in der Rechtsprechung des EuGH, dass es kein allgemeines Recht auf Familienzusammenführung der drittstaatsangehörigen Ehegatten von Unionsbürgern, die keinen grenzüberschreitenden Sachverhalt erfüllt haben, gibt.55 In Dereci hat der Europäische Gerichtshof diese Rechtsprechung nochmals bekräftigt.56 Der Gerichtshof hat in Rdn. 67 in Dereci darauf hingewiesen, dass das Aufenthaltsrecht nicht verweigert werden darf, da EuGH, InfAuslR 2011, 179 (180) Rdn. 43 – Zambrano; EuGH, InfAuslR 2011, 269 (271) Rdn. 54 ff. – Mc Carthy; EuGH, NVwZ 2012, 97 (100) Rdn. 68 ff. – Derici. 53 54 Nettesheim, JZ 2011, 1030 (1032); Huber, NVwZ 2011, 856 (857 f.); Gutmann, InfAuslR 2011, 177 (178); Frenz, ZAR 2011, 221 (223). 55 EuGH, InfAuslR 2011, 268 (271) Rdn. 54 ff. – McCarthy. 56 EuGH, NVwZ 2012, 97 (100) Rdn. 65 f. – Dereci. 12 sonst die Unionsbürgerschaft der zuletzt genannten Person ihrer praktischen Wirksamkeit beraubt würde. Erst recht muss daher die Schutzwirkung von Art. 20 AEUV Anwendung finden, wenn nicht nur das Aufenthaltsrecht des sorgeberechtigten Elternteils verweigert, sondern sein bislang bestehendes rechtmäßiges Aufenthaltsrecht entzogen wird. Offen bleibt nach Rdn. 69 in Dereci, ob aufgrund anderer Grundlagen, insbesondere aufgrund des Rechts auf Schutz des Familienlebens, ein Aufenthaltsrecht verweigert werden darf. Geklärt ist jedoch, dass aus Art. 20 AEUV ein Aufenthaltsrecht des drittstaatsangehörigen Elternteils eines sorgeberechtigten Unionsbürgers, der auf den Unterhalt durch den Drittstaatsangehörigen angewiesen ist, folgt. Die Rechtsprechung lehnt es ab, diese Grundsätze auf das deutsche Pflegekind, das mit einem Drittstaatsangehörigen zusammenlebt, anzuwenden.57 Besteht jedoch zwischen dem vollziehbar ausreisepflichtigen Vater und seinem Kind, das in familiärer Gemeinschaft mit der als Flüchtling anerkannten Mutter lebt, ist es dem Kind nicht zuzumuten, seinem Vater zu folgen58 Das BVerwG hat sich ausdrücklich auf McCarthy bezogen und es abgelehnt, Unionsrecht anzuwenden, wenn der deutsche Staatsangehörige von seinem Freizügigkeitsrecht keinen Gebrauch gemacht hat.59 Ist der mit seiner Mutter im Bundesgebiet lebende minderjährige Deutsche nicht gezwungen, dem dritsstaatsangehörigen Elternteil zur Durchführung des Visumsverfahrens zu folgen, sieht die Rechtsprechung nicht den Kernbestand des Unionsbürgerstatus verletzt.60 2. Beweislast Ist die innere Tatsache, eine eheliche Lebensgemeinschaft führen zu wollen, nach Ausschöpfung der zugänglichen Beweisquellen auch bei nur einem der Ehepartner nicht erweislich, trägt nach der Rechtsprechung der Antragsteller die materielle Beweislast.61 Das BVerwG räumt zwar ein, dass § 27 Abs. 1a Nr. 1 AufenthG als Versagungsgrund ausgestaltet ist, sodass bei einer Wortlautauslegung die Beweislast die Behörde trifft.62 Diese Hürde nimmt das BVerwG indes mit seiner Ansicht nach „deutlichen Befunden der historischen Auslegung.“ Im Übrigen sei § 27 Abs. 1a Nr. 1 AufenthG nicht als abschließende Regelung zu verstehen und verdränge bei Nichterweislichkeit ihrer Voraussetzungen nicht den Grundtatbestand des § 27 Abs. 1 AufenthG. Für diesen sei anerkannt, dass der Herstellungswille beider Ehegatten zu den günstigen Tatsachen gehöre, für die 57 Nieders.OVG, InfAuslR 2012, 13. 58 Nieders.OVG, NVwZ-RR 2011, 707. 59 BVerwG, NVwZ 2012, 52. 60 Hess.VGH, InfAuslR 2012, 63. 61 BVerwGE 136, 222 (228 ff.) = InfAuslR 2010, 350 = NVwZ 2010, 1367 = AuAS 2010, 158, mit Hinweisen; bekräftigt BVerwG, NVwZ 2012, 52; so auch Hess.VGH, NVwZ-RR 2009, 264 (265) = EZAR NF 34 Nr. 17; Hess.VGH, Beschl. v. 29.6.2009 – 9 B 1815/09. 62 Marx, in: GK-AufenthG II – § 27 AufenthG Rn 192 ff.; Göbel-Zimmermann, ZAR 2008, 169 (170); Oestmann, InfAuslR 2008, 17 (19 f.). 13 derjenige, der ein Visum zum Familiennachzug begehre, die materielle Beweislast trage.63 Diese Rechtsprechung hat es erneut bestätigt.64 Überzeugend ist diese Rechtsprechung nicht. Die Verwaltungsgerichtsbarkeit wird sich aber in Zukunft an dieser ausrichten. Sie findet aber nur in den Verfahren Anwendung, in denen ein Visum oder eine Aufenthaltserlaubnis zum Nachzug beantragt wird. Will die Behörde hingegen das Aufenthaltsrecht wegen Zweifel an der Führung der ehelichen Lebensgemeinschaft entziehen, trägt sie bei Nichterweislichkeit der entsprechenden Voraussetzungen nach dem Günstigkeitsprinzip die Beweislast. 3. Sprachtest Art. 7 Abs. 2 RL 2003/86/EG (Familienzusammenführungsrichtlinie) eröffnet den Mitgliedstaaten die Möglichkeit, nach ihrem nationalen Recht zu regeln, dass nachziehende Ehegatten Integrationsmaßnahmen nachkommen müssen. Danach handelt es sich bei dieser unionsrechtlichen Norm um eine Öffnungsklausel, welche abweichend von allgemeinen Regeln der Richtlinie den Mitgliedstaaten für ihr nationales Recht weitergehende Befugnisse einräumt. Da es sich um Ausnahmen von allgemeinen Grundsätzen handelt, sind diese restriktiv auszulegen. Das BVerwG erachtet den Sprachtest mit Unionsrecht für vereinbar und sieht ungeachtet der auch von ihm zur Kenntnis genommenen Kritik insoweit keine europarechtliche Zweifelsfrage, die Anlass zur Klärung durch den EuGH gebe.65 Zwar vermittle die Richtlinie ein subjektives Recht auf Familienzusammenführung, Art. 7 Abs. 2 erlaube es den Mitgliedstaaten jedoch, dieses Recht davon abhängig zu machen, dass bereits vor der Einreise Integrationsmaßnahmen nachgewiesen würden. Dies folge aus der Entstehungsgeschichte der Richtlinie und werde dadurch bekräftigt, dass weitere Mitgliedstaaten von der Öffnungsklausel Gebrauch gemacht hätten. Diese Begründung überzeugt nicht. Insbesondere überzeugt nicht, dass das BVerwG hinsichtlich seiner Auslegung, dass Art. 7 Abs. 2 RL 2003/86/EG Sprachnachweise vor der Einreise zulasse, von einem „acte claire“ ausgeht und deshalb keine Vorlagepflicht erkennen wollte.66 Denn nur, wenn an dem Auslegungsergebnis vernünftigerweise kein Zweifel besteht, also nur unter sehr strengen Voraussetzungen, entfällt die Vorlagepflicht. Zumindest muss zu der Auslegungsfrage bereits eine Entscheidung des EuGH vorliegen. 63 BVerwGE 136, 222 (228 ff.) = InfAuslR 2010, 350 = NVwZ 2010, 1367 = EZAR NF 34 Nr. 22 = AuAS 2010, 158, unter Hinweis auf BVerwG, Buchholz 402.240 § 23 AuslG Nr. 10; BVerfG, DVBl. 2003, 1260; so auch OVG NW, InfAuslR 2000, 290 (291) = NVwZ-Beil. 2000, 115 = AuAS 2000, 111; Hess.VGH, NVwZ-RR 2000, 639 (640) = InfAuslR 2000, 385 = EZAR 023 Nr. 20; Hess.VGH, InfAuslR 2002, 426 (430). 64 BVerwG, NVwZ 2012, 53.. 65 BVerwGE 136, 231 (239 ff.) = NVwZ 2010, 964 (966) = InfAuslR 2010, 331, Rn 22 bis 28; bestätigt durch BVerfG (Kammer), NVwZ 2011, 870.. 66 BVerwGE 136, 231 (241 f.) = NVwZ 2010, 964 (966) = InfAuslR 2010, 331, Rn 26. 14 Nunmehr hat das Gericht in einem Erledigungsbeschluss angedeutet, dass es insoweit eine unionsrechtliche Zweifelsfrage sieht.67 Dem EuGH liegt derzeit ein niederländisches Vorabentscheidungsersuchen zu dieser Frage vor.68 Nach der Rechtsprechung des EuGH haben die Mitgliedstaaten zu berücksichtigen, dass die Genehmigung der Familienzusammenführung die Grundregel darstellt und deshalb nationale Ermessensspielräume – wie hier Art. 7 Abs. 2 RL 2003/86/EG – eng auszulegen sind. Insbesondere darf dieser nicht in einer Weise genutzt werden, die das Richtlinienziel – die Begünstigung der Familienzusammenführung – und die praktische Wirksamkeit der Richtlinie beeinträchtigen würde.69 Genau dieses Auslegungsergebnis erzielt das BVerwG für den nachzugswilligen Ehegatten, dem aus „sonstigen persönlichen, von ihnen nicht zu vertretenden Gründen der Spracherwerb nur schwer oder gar nicht möglich ist.“70 Der EuGH begründet seine Auslegung des Sekundärrechts mit primärrechtlichen Erwägungen. Aus Erwägungsgrund Nr. 2 RL 2003/86/EG folge, dass Maßnahmen zur Familienzusammenführung in Übereinstimmung mit der Verpflichtung zum Schutze der Familie und zur Achtung des Familienlebens getroffen werden sollten, die in zahlreichen Instrumenten des Völkerrechts verankert sei. Die Richtlinie 2003/86/EG stehe nämlich im Einklang mit den Grundrechten und berücksichtige die Grundsätze, die insbesondere in Art. 8 EMRK und der Charta anerkannt würden. Daher seien die Bestimmungen der Richtlinie, u.a. Art. 7 RL 2003/86/EG, im Lichte der Grundrechte und insbesondere des Rechts auf Achtung des Familienlebens auszulegen.71 Diese klaren unionsrechtlichen Vorgaben des EuGH stehen der Anwendung der „acte claire-Doktrin“ in dieser Frage entgegen. Der Sprachtest verletzt das Stillstandsgebot des Art. 13 ARB 1/80. Der EuGH hat im Blick auf die Niederlande entschieden, dass der Sprachtest einem bilateralen Abkommen zwischen den Niederlandes und der Türkei widerspreche. Hierauf hat sich am nunmehr der österreichische Verwaltungsgerichtshof bezogen und für Österreich den Sprachtest außer Kraft gesetzt.72 4. Eigenständiges Aufenthaltsrecht nach § 31 AufenthG a) Keine Anwendung der Dreijahresfrist des § 31 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AufenthG) Für assoziationsberechtigte türkische Staatsangehörige bleibt es bei der früheren Bestandszeit von zwei Jahren, da das Stillhaltegebot des Art. 13 ARB 1/80 sich 67 BVerwG, NVwZ 2012, 870. 68 Rad van Staat, Vorabentscheidungsersuchen v. 16. August 2011- Rs. C.155/11 PPU 69 EuGH, InfAuslR 2010, 221 = NVwZ 2010, 697 Rn 43 – Chakroun; Marx, ZAR 2010, 222 (223 f.). 70 BVerwGE 71 EuGH, 72 136, 231 (251 f.) = NVwZ 2010, 964 (970) = InfAuslR 2010, 331, Rn 45. InfAuslR 2010, 221 = NVwZ 2010, 697 Rn 44 f. – Chakroun. SZ v. 25. April 2012 15 auch auf Verschärfungen einer nach dem 1. Dezember 1980 eingeführten Bestimmung bezieht, die eine Erleichterung der in diesem Zeitpunkt geltenden Bestimmung vorsah.73 Bei der Zweijahresfrist des § 19 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AuslG 1990, die mit Wirkung zum 1. Juni 2000 die bis dahin geltende Frist von vier Jahren verkürzte, handelt es um eine vom Stillhaltegebot des Art. 13 ARB 1/80 erfasste Vergünstigung. Auch die Bundesregierung räumt ein, dass die Neuregelung des § 31 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AufenthG für türkische Assoziationsberechtigte nicht gilt.74 Umstritten ist derzeit, ob die Neuregelung rückwirkend auch auf die vor dem Zeitpunkt des Inkrafttretens 1. Juli 2011 erfolgten Trennungen Anwendung findet. Der Hess.VGH hat seine zunächst auf eine Rückwirkung bezogene Position geändert und entschieden, es komme für die Anwendung der Neuregelung auf den Zeitpunkt der Beantragung des auf § 31 AufenthG zielenden Antrags an.75 Überzeugend ist das nicht. Das VG Düsseldorf stellt auf den Zeitpunkt der Trennung ab.76 b) Abweichende Angaben im Scheidungsverfahren zum Trennungszeitpunkt Der Nachweis für das vorzeitige Ende der familiären Lebensgemeinschaft obliegt der Ausländerbehörde.77 Demgegenüber trifft den Antragsteller die Darlegungslast für die Führung einer ehelichen Lebensgemeinschaft.78 Bei unterschiedlichen Angaben über den Trennungszeitpunkt im Scheidungsverfahren einerseits sowie im ausländerrechtlichen Verfahren andererseits ist zu bedenken, dass in der familienrechtlichen Praxis übereinstimmende Angaben der Eheleute zum Trennungszeitpunkt regelmäßig ungeprüft übernommen werden. Es ist deshalb im ausländerrechtlichen Verfahren nicht gerechtfertigt, unabhängig von den Umständen des jeweiligen Einzelfalls von der Richtigkeit der im Scheidungsurteil getroffenen Feststellungen zum Trennungszeitpunkt auszugehen.79 Dagegen hat sich nunmehr das OVG Saarland ausgesprochen.80 c) Bezugsperson der Unzumutbarkeit im Sinne von § 31 Abs. 2 Satz 2 AufenthG Die Entstehung des eigenständigen Aufenthaltsrechts zur Vermeidung einer besonderen Härte setzt nach § 31 Abs. 2 Satz 2 Alt. 2 AufenthG tatbestandlich die nach objektive Grundsätzen zu bewertende subjektive Unzumutbarkeit des 73 EuGH, NVwZ 2011, 349 (351 f.), Rn 60 ff. - Toprak; s. hierzu Farahat, NVwZ 2011, 343; BT-Drucks. 17/4623. 74 BT-Drucks. 17/4623, S. 3. 75 Hess.VGH, NVwZ-RR 2012, 215 (LS). 76 Vgl. Düsseldorf 77 OVG MV, AuAS 2002, 98 (99). 78 OVG Brandenburg, AuAS 2001, 218. 79 OVG Hamburg, InfAuslR 2001, 125 (127) = NVwZ–RR 2001, 339; a.A. OVG NW, NVwZ-RR 1991, 586; OVG Saarlouis, NVwZ-RR 2011, 125 (126). 80 OVG Saarland, NVwZ-RR 2011, 957 16 weiteren Festhaltens an der ehelichen Lebensgemeinschaft für den nachgezogenen Ehegatten voraus, nicht aber, dass die Aufhebung der ehelichen Lebensgemeinschaft durch ihn erfolgte.81 Der Umstand, dass der betroffene Ehegatte aufgrund des vom Ehemann ausgeübten „Psychoterrors“ nicht mehr zu einer freien Willensentscheidung in der Lage war,82 bezeichnet einen besonders krassen Fall der Unzumutbarkeit, darf aber nicht dahin verstanden werden, dass nur unter diesen Voraussetzungen vom betroffenen Ehegatten nicht die Auflösung der ehelichen Lebensgemeinschaft verlangt werden kann. Vielmehr kommt es auf die anhand objektiver Umstände zu bewertende Situation der Unzumutbarkeit für den nachgezogenen Ehegatten an, an der ehelichen Lebensgemeinschaft festzuhalten. Ob der stammberechtigte oder der betroffene Ehegatte den Trennungsentschluss fasst, ist deshalb unerheblich. Die Motive für ein Festhalten an der ehelichen Lebensgemeinschaft können vielfältiger Art sein, etwa kulturelle, wirtschaftliche Motive, Angst vor Eskalation und weiteren Gewalttätigkeiten oder auch die Hoffnung auf Besserung. Das OVG Saarland hat sich zwar der Rechtsprechung angeschlossen, wonach bei „Psychoterrors“ nicht mehr von einer freien Willensentscheidung auszugehen sein. Alkoholsucht des Ehegatten führe aber nicht in jedem Fall zu einer im objektiven Sinne zu verstehenden Unzumutbarkeit.83 d) Misshandlungen in der Ehe Typischer Fall der Beeinträchtigung schutzwürdiger Belange sind Misshandlungen oder vergleichbare Beeinträchtigungen von Rechtsgütern. Der Gesetzgeber wollte mit der Einfügung von § 31 Abs. 2 Satz 2 Alt. 2 AufenthG die frühere enge Rechtsprechung84 überwinden. Durch die Herabstufung der außergewöhnlichen zur besonderen Härte und durch den Verzicht auf eine „erhebliche“ Beeinträchtigung der schutzwürdigen Belange wurde dieser Rechtsprechung der Boden entzogen worden. So sind etwa die durch eidesstattliche Versicherung glaubhaft gemachten Angaben über Monate dauernde erhebliche Schikanen verbunden mit Bedrohungen durch unkontrollierte Aggressionen des Ehemannes infolge von Alkoholmissbrauch erheblich. Beeinträchtigt sind dadurch insbesondere das Recht auf sexuelle Selbstbestimmung und das Recht auf Eigentum. 85 Unzumutbar ist auch die Ausübung psychischen Zwangs zwecks Einwilligung in nicht erwünschte 81 Hess.VGH, EZAR NF 34 Nr. 10; VGH BW, InfAuslR 2003, 232 (233) = NVwZ-RR 2003, 782 = AuAS 2003, 332; Göbel-Zimmermann, in: Huber, AufenthG § 31 Rn 16; a.A. Hess.VGH, AuAS 2005, 266; VG Saarlouis, Beschl. vom 22. 12. 2010 – 10 L 2181/10. 82 VGH 83 BW, InfAuslR 2003, 232 (233) = NVwZ-RR 2003, 782 = AuAS 2003. OVG Saarland, NVwZ-RR 2012, 214 (215). 84 BVerwG, InfAuslR 1999, 72 (73); OVG Hamburg, InfAuslR 2000, 184 (185) = AuAS 2000, 51; OVG RhPf, InfAuslR 1999, 233 (235) = NVwZ-RR 1999, 470 = NVwZ-Beil. 1999, 41 = AuAS 1999, 88; Hess.VGH, InfAuslR 1994, 313 (314); Hess.VGH, AuAS 2000, 86; VG Hannover, AuAS 1997, 98 (99); VG Wiesbaden, Hess.VGRspr. 1999, 63 (64). 85 VG Neustadt, InfAuslR 2001, 441 (442). 17 sexuelle Praktiken sowie das Mitbringen von Prostituierten in die Ehewohnung.86 Ebenso liegt ein besonderer Härtefall vor, wenn die Antragstellerin seit dem ersten Tag ihrer Ehe durch ihren Ehemann jeglicher freien Entfaltung ihrer Persönlichkeit beraubt und wie eine Gefangene in der Wohnung gehalten wird und niemanden anrufen und ohne ihren Ehemann nicht die Wohnungstür öffnen darf.87 Eine Beeinträchtigung schutzwürdiger Belange ist insbesondere auch bei Misshandlungen, etwa durch Ausdrücken von Zigarettenkippen auf dem Rücken der Betroffenen, zu unterstellen.88 Darüber hinaus ist eine besondere Härte auch anzunehmen, wenn es im Rahmen von Ehestreitigkeiten wiederholt zu Erniedrigungen gekommen ist, hierbei nicht nur verbale Entgleisungen, sondern auch etwa Schläge mit einer Plastikschüssel auf den Kopf der Betreffenden glaubhaft gemacht werden. Auch die Tatsache, dass die Ehefrau mit Füßen aus dem Bett getreten und gestoßen worden ist, weil sie den sexuellen Wünschen des Ehemannes nicht nachgekommen ist, ist zu berücksichtigen.89 Die Tatsache, dass der Ehemann bei der Eheschließung verschwiegen hat, dass er bereits in religiöser Ehe mit einer Frau zusammenlebt und er diese Beziehung auch nach der Aufnahme der ehelichen Lebensgemeinschaft fortsetzt, kommt für die soziokulturell auf die Einehe eingerichtete Frau einer körperlichen Misshandlung gleich und ist deshalb erheblich.90 Ebenso unzumutbar ist das weitere Festhalten an der ehelichen Lebensgemeinschaft, wenn der stammberechtigte Ehegatte während der Ehe eine zweite Frau ehelicht, da Bigamie mit der hier geltenden Wertordnung unvereinbar und deshalb der betroffenen Ehefrau nicht zumutbar ist.91 Der Nachweis von Misshandlungen kann, muss nicht zwingend durch ein ärztliches, nervenärztliches oder psychologisches Gutachten erbracht werden. Es erleichtert aber die Darlegungslast, wenn ein nervenärztliches Gutachten vorgelegt wird, das ausgeprägte psychische Störungen wie etwa Wahnstimmung mit Verfolgungsideen, Wahrnehmungsstörungen und akustische Halluzinationen feststellt, die nach ärztlicher Einschätzung eindeutig als Auswirkung einer schweren anhaltenden psychischen Belastung im ursächlichen Zusammenhang mit dem Verhalten des Ehemannes zu sehen sind.92 Derartige psychologische oder nervenärztliche Stellungnahmen können regelmäßig erst nach einer längeren Behandlungsdauer vorgelegt werden. Auch kann die Behandlung wegen der typischen Konfliktsituation erst nach Auflösung der ehelichen Lebensgemeinschaft begonnen werden, sodass sie nicht unverzüglich vorgelegt werden kann. Ärztliche Atteste zum Nachweis von Misshandlungsfolgen können häufig nicht beigebracht werden, weil der Ehemann den Arztbesuch während der 86 VGH BW, Beschl. v. 22.11.2010 – 11 S 2448/10. 87 VGH BW, InfAuslR 2003, 232 (233) = NVwZ-RR 2003, 782 = AuAS 2003, 14; ähnlich VGH BW, Beschl. v. 22.11.2010 – 11 S 2448/10; VG Karlsruhe, AuAS 2009, 218 (219). 88 VG Aachen, Beschl. v. 8.3.2000 – 8 L 1320/99. 89 VG Würzburg, AuAS 2002, 220 (221). 90 VG Gelsenkirchen, InfAuslR 2001, 214 (215). 91 VG Karlsruhe, AuAS 2009, 218 (219). 92 VGH BW, InfAuslR 2003, 232 (233) = NVwZ-RR 2003, 782 = AuAS 2003. 18 Führung der ehelichen Lebensgemeinschaft verhindert und nach Auflösung der ehelichen Lebensgemeinschaft ärztliche Feststellungen kaum noch getroffen werden können. Auch der Nachweis einer polizeilichen Anzeige kann häufig nicht geführt werden, weil die eheliche Konfliktsituation einer polizeilichen Meldung entgegenstand und diese zu weiteren Eskalationen geführt hätte. 5. Aufenthaltserlaubnis wegen besonderer Härte (§ 36 Abs. 2 Satz 1 AufenthG) Eine außergewöhnliche Härte im Sinne von § 36 Abs. 2 Satz 1 AufenthG setzt grundsätzlich voraus, dass der nachzugswillige Angehörige ein eigenständiges Leben nicht führen kann. Bei Adoptionen richtet sich der Nachzug demgegenüber nach § 7 Abs. 1 Satz 3 AufenthG. Grundsätzlich muss im Ausland das Adoptionsverfahren nach dem Haager Adoptionsübereinkommen durchgeführt worden sein bzw. muss eine positive Entscheidung der zuständigen Adoptionsvermittlungsstelle liegt in Aussicht stehen.93 6. Ausweisung 1. Vorrang des Unionsrechts a) Verbot der generalpräventiven Ausweisung Das FreizügG/EU setzt die Richtlinie 2004/38/EG um. Grundsätzlich werden damit alle Unionsbürger und diesen rechtlich gleichgestellte Personen sowie deren Familienangehörige, die sich aufgrund der Richtlinie in einem Mitgliedstaat aufhalten, Inländern gleichgestellt.94 Der Gleichstellungsgrundsatz muss deshalb auch die Einschränkungsmöglichkeiten nach Art. 28 der Richtlinie leiten. Maßgebend für die Auslegung und Anwendung des deutschen Rechts (§ 6 FreizügG/EU) sind die Bestimmungen der Art. 27 ff. der Richtlinie. Diese regeln einen dreistufigen Ausweisungsschutz. Zunächst bestimmt Art. 27 RL 2004/38/EG, unter welchen Voraussetzungen ein freizügigkeitsberechtigter Unionsbürger und seine Familienangehörigen sein Aufenthaltsrecht verlieren kann. Diese Vorschrift übernimmt die Vorgaben der Rechtsprechung des EuGH. Mit der zunehmenden Verfestigung des Aufenthaltsrechts steigen die materiellen Anforderungen an die Beschränkung der Freizügigkeit (vgl. Erwägungsgrund 24 RL 2004/38/EG). Entsprechend der Grundnorm des Art. 27 RL 2004/38/EG bestimmt § 6 Abs. 1 FreizügG/EU, dass der Verlust des Freizügkeitsrechts nur aus Gründen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit oder Gesundheit zulässig ist. Auf diese Privilegierung können sich nicht nur Arbeitnehmer, sondern auch Nichterwerbstätige im Sinne der Richtlinie 90/364/EWG berufen.95 Bei jeder Beschränkung der Freizügigkeit haben Behörden und Verwaltungsgerichte die 93 BVerwG, NVwZ 2011, 1199 94 Nieders.OVG, 95 Hess.VGH, NVwZ-RR 2006, 288 (289). InfAuslR 2004, 144 (146). 19 besondere Rechtsstellung der vom Unionsrecht privilegierten Personen und die entscheidende Bedeutung des Grundsatzes der Freizügigkeit zu berücksichtigen.96 Nach Erwerb des Daueraufenthaltsrechts, also nach einem rechtmäßigen fünf Jahre dauernden Aufenthalt (Art. 16 Abs. 1 RL 2004/38/EG) ist eine Ausweisung nur noch aus „schwerwiegenden Gründen der öffentlichen Sicherheit oder Ordnung“ zulässig (Art. 28 Abs. 2 RL 2004/38/EG, § 6 Abs. 4 FreizügG/EU). Nach einem zehnjährigen Aufenthalt darf die Ausweisung nur noch aus zwingenden Gründen der öffentlichen Sicherheit verfügt werden (Art. 28 Abs. 3 RL 2004/38/EG, § 6 Abs. 5 FreizügG/EU). Für den unionsrechtlichen Ausweisungsschutz gilt, dass die Tatsache einer strafrechtlichen Verurteilung für sich allein den Verlust der Freizügigkeit nicht rechtfertigt (Art. 27 Abs. 1 RL 2004/38/EG § 6 Abs. 2 Satz 2 Hs. 2 FreizügG/EU). Vielmehr darf diese ausschließlich auf das persönliche Verhalten des betroffenen Unionsbürgers gestützt werden.97 Der rechtmäßige Verlust der Rechtsstellung eines freizügigkeitsberechtigten Unionsbürgers setzt damit zunächst voraus, dass aufgrund des persönlichen Verhaltens des Betroffenen außer der Störung der öffentlichen Ordnung, die jede Gesetzesverletzung darstellt, eine tatsächlich und hinreichend schwere Gefährdung vorliegt, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt (§ 6 Abs. 2 Satz 3 FreizügG/EU).98 Die Gefährdung kann sich im Einzelfall zwar auch allein aufgrund des abgeurteilten Verhaltens ergeben. Es besteht aber keine dahin gehende Regel, dass bei schwerwiegenden Taten das abgeurteilte Verhalten die hinreichende Besorgnis neuer Verfehlungen begründet. Eine vom Einzelfall losgelöste oder auf generalpräventive Gesichtspunkte gestützte Begründung der Ausweisung ist in jedem Fall unzulässig. Ein Mitgliedstaat kann etwa den Verbrauch von Betäubungsmitteln als eine Gefährdung der Gesellschaft ansehen, die besondere Maßnahmen zum Schutze der öffentlichen Ordnung gegen Ausländer rechtfertigt. Auch insoweit hängt aber die Zulässigkeit der Ausweisung von den konkreten Umständen des Einzelfalls, insbesondere von dem persönlichen Verhalten des Betroffenen ab.99 Soweit die Rechtsprechung früher bei den gefährlichen und schwer zu bekämpfenden Rauschgiftdelikten pauschal einen Vorrang des Interesses am Schutz der Bevölkerung bejahte und deshalb insbesondere gegenüber Drogenhändlern die Anforderungen an einen spezialpräventiven Ansatz für die Ausweisung nicht hoch ansetzen wollte,100 ist diese Rechtsprechung überholt. 96 BVerwGE 121, 296 (304) = EZAR 034 Nr. 17 = NVwZ 2005, 220 = InfAuslR 2005, 18. 97 BVerwGE 121, 296 (304) = EZAR 034 Nr. 17 = NVwZ 2005, 220 = InfAuslR 2005, 18, mit Hinweis auf EuGH, NVwZ 2004, 1099. EuGH, InfAuslR 2004, 268 (275 f.) = NVwZ 2004, 1099 – Orfanopoulos und Oliveri; EuGH, EZAR 810 Nr. 1 = NJW 1983, 1250; BVerwGE 57, 61 (64) = EZAR 126 Nr. 1; VGH BW, EZAR 124 Nr. 12. 98 99 BVerwGE 121, 296 (305) = EZAR 034 Nr. 17 = NVwZ 2005, 220 = InfAuslR 2005, 18. 100 VGH BW, InfAuslR 2001, 206 (207); OVG NW, InfAuslR 2004, 224 (227 f.); siehe aber VG Stuttgart, InfAuslR 2002, 66. 20 Formelhafte behördliche Ausführungen zur Wiederholungsgefahr genügen nicht den Anforderungen an individualisierbare Feststellungen.101 Eine vom Einzelfall losgelöste Begründung der Ausweisung ist in jedem Fall unzulässig.102 Der unionsrechtliche Maßstab verweist, anders als der polizeirechtliche Gefahrenbegriff, nicht auf die Gesamtheit aller Rechtsnormen, sondern auf einen spezifischen Rechtsgüterschutz, nämlich ein Grundinteresse der Gesellschaft, das berührt sein muss.103 Eine strafrechtliche Verurteilung allein kann den Verlust des Freizügigkeitsrechts nur insoweit rechtfertigen, als die ihr zugrunde liegenden Umstände ein persönliches Verhalten erkennen lassen, das eine gegenwärtige Gefährdung der öffentlichen Ordnung darstellt (§ 6 Abs. 2 Satz 2 Hs. 2 FreizügG/EU).104 Ob die Begehung der Straftat nach Art und Schwere ein persönliches Verhalten erkennen lässt, das ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt, lässt sich nur aufgrund der Umstände des Einzelfalls beurteilen. Anhaltspunkte hierfür können sich insbesondere auch aus einer Verurteilung wegen der in § 53, § 54 AufenthG bezeichneten Straftaten ergeben. Dies ist indes nicht im Sinne einer Regelvermutung zu verstehen. Erforderlich und ausschlaggebend sind vielmehr in jedem Fall die unter Berücksichtigung der konkreten Umstände des Einzelfalls vorzunehmende Bewertung des persönlichen Verhaltens des Unionsbürgers und die insoweit anzustellende Gefährdungsprognose. Das Erfordernis der gegenwärtigen Gefährdung der öffentlichen Ordnung nach Art. 27 Abs. 2 UAbs. 2 RL 2004/38/EG, § 6 Abs. 2 Satz 2 FreizügG/EU besagt nicht, dass eine „gegenwärtige Gefahr“ im Sinne des deutschen Polizeirechts vorliegen müsste, die voraussetzt, dass der Eintritt des Schadens sofort und nahezu mit Gewissheit zu erwarten ist. Es verlangt vielmehr eine hinreichende, unter Berücksichtigung der Verhältnismäßigkeit nach dem Ausmaß des möglichen Schadens und dem Grad der Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts differenzierende Wahrscheinlichkeit, dass der Betroffene künftig die öffentliche Ordnung im Sinne von Art. 39 Abs. 3 EGV beeinträchtigen wird.105 Ob eine Wiederholungsgefahr in diesem Sinne besteht, kann nicht gleichsam automatisch – bereits aus der Tatsache einer strafrechtlichen Verurteilung – geschlossen, sondern nur aufgrund einer individuellen Würdigung der Umstände des Einzelfalls beurteilt werden. Dabei sind insbesondere die einschlägigen strafrichterlichen Entscheidungen heranzuziehen, soweit sie für die Prüfung der Wiederholungsgefahr bedeutsam sind. Zu prüfen ist u.a., ob eine etwaige Verbüßung der Strafe erwarten lässt, dass der Unionsbürger künftig keine die öffentliche Ordnung gefährdende Straftaten mehr begehen wird, und was gegebenenfalls aus einer Strafaussetzung zur Bewährung (§ 56 StGB) folgt. Fehlt 101 VG Hamburg, InfAuslR 2002, 188 (189). 102 BVerwGE 121, 296 (304) = EZAR 034 Nr. 17 = NVwZ 2005, 220 = InfAuslR 2005, 18, mit Verweis auf EuGH, Slg. 1975; 297 = NJW 1975, 1096; so bereits BVerwGE 49, 60 = NJW 1976, 494; BVerwG, InfAuslR 1988. 103 BVerwGE 104 EuGH, 121, 296 (304 f.) = EZAR 034 Nr. 17 = NVwZ 2005, 220 = InfAuslR 2005, 18. InfAuslR 2004, 268 (275 f.) = NVwZ 2004, 1099 – Orfanopoulos und Oliveri. 105 BVerwGE 121, 296 (305 f.) = EZAR 034 Nr. 17 = NVwZ 2005, 220 = InfAuslR 2005, 18. 21 es danach bereits an einer gegenwärtigen und schwerwiegenden Gefahr für wichtige Rechtsgüter, so darf die Feststellung des Verlustes der Rechtsstellung nicht verfügt und aufrechterhalten werden.106 b) Ausweisungsschutz für Daueraufenthaltsberechtigte Nach Art. 28 Abs. 2 RL 2004/38/EG dürfen die Mitgliedstaaten gegen daueraufenthaltsberechtigte Unionsbürger107 und ihre Familienangehörigen eine Ausweisung nur aus „schwerwiegenden Gründen der öffentlichen Ordnung oder Sicherheit“ verfügen. Anders als auf der ersten ist nach Art. 28 Abs. 2 RL 2004/38/EG auf der zweiten Stufe die Ausweisung aus Gründen der Gesundheit nicht zulässig. § 6 Abs. 4 FreizügG/EU setzt diese Norm um, ohne die Rechtsgüter zu bezeichnen. Die nationale Norm ist richtlinienkonform auszulegen. Nach § 4a Abs. 1 FreizügG/EU erwerben Unionsbürger und deren Familienangehörige bzw. Lebenspartner das Daueraufenthaltsrecht, wenn sie sich seit fünf Jahren ständig rechtmäßig im Bundesgebiet aufgehalten haben. Nach § 4a Abs. 2 und 3 FreizügG/EU kann das Daueraufenthaltsrecht auch bereits vor Ablauf von fünf Jahren entstehen. Es ist deklaratorischer Natur. Ungeachtet der fehlenden Bescheinigung nach § 5 Abs. 6 Satz 1 FreizügG/EU findet deshalb der Ausweisungsschutz nach Art. 28 Abs. 2 RL 2004/38/EG Anwendung. Nach grundsätzlich fünfjährigem rechtmäßigem Aufenthalt wird danach der ohnehin bereits starke Schutz der Unionsbürger vor aufenthaltsbeendenden Maßnahmen noch weiter verstärkt. Die Gesetzesbegründung enthält keine Hinweise darauf, wie dieser Auseisungsschutz inhaltlich konkretisiert werden kann. Aus der Entstehungsgeschichte wird indes deutlich, dass es sich um einen besonders starken Ausweisungsschutz handelt. Zwar wollte die Kommission für die Daueraufenthaltsberechtigten die Ausweisung völlig ausschließen. Mit dieser Auffassung konnte sie sich jedoch nicht durchsetzen.108 Es muss deshalb bereits aus entstehungsgeschichtlicher Sicht davon ausgegangen werden, dass Daueraufenthaltsberechtigte nur noch unter ganz besonders strengen Voraussetzungen ausgewiesen werden können. Die Ausweisungsschwelle liegt zwischen der erheblichen Gefahr (Art. 27 Abs. 2 UAbs. 2 RL 2004/38/EG) und den zwingenden Gründen des Art. 28 Abs. 3 RL 2004/38/EG. Auch hier kann das Strafmaß nur ein erster Anhaltspunkt sein. Maßgebend ist stets das persönliche Verhalten des Betroffenen, das unter Berücksichtigung der konkreten Umstände des Einzelfalls zu beurteilen ist. Die Gefahr eines erneuten Rechtsverstoßes muss dringend und der Rechtsverstoß selbst ganz erheblich sein.109 Im Einzelfall liegen „schwerwiegende Gründe“ vor, wenn konkrete Anhaltspunkte dafür bestehen, dass in Zukunft eine schwere Gefährdung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung durch neue Verfehlungen des Betroffenen ernsthaft droht und damit von diesem eine bedeutsame Gefahr für 106 BVerwGE 107 121, 296 (306) = EZAR 034 Nr. 17 = NVwZ 2005, 220 = InfAuslR 2005, 18. S. hierzu EuGH, InfAuslR 2012, 86 - Ziolkowski. 108 Hailbronner, 109 Alexy, ZAR 2004, 299 (303). in: Hofmann/Hoffmann, Handkommentar zum AuslR, § 6 FreizügG/EU Rn 29. 22 ein wichtiges Schutzgut ausgeht. Wird dies bejaht, wird nach pflichtgemäßem Ermessen über den Verlust der Rechtsstellung entschieden.110 Nach Art. 28 Abs. 3 RL 2004/38/EG darf eine Ausweisung gegen Unionsbürger, die ihren Aufenthalt in den letzten zehn Jahren im Aufnahmemitgliedstaat gehabt haben, sowie gegen minderjährige Unionsbürger nur noch aus zwingenden Gründen verfügt werden. Die Einbeziehung der drittstaatsangehörigen Familienangehörigen § 6 Abs. 5 FreizüG/EU in den Schutz der dritten Stufe ist nach Art. 37 RL 2004/38/EG zulässig.111 Bei Minderjährigen wird kein Mindestaufenthalt vorausgesetzt. Der Begriff der „zwingenden Gründe“ ist erheblich enger als der der „schwerwiegenden Gründe“ und erfordert einen „besonders hohen Schweregrad“ der Bedrohung der öffentlichen Sicherheit.112 Art. 28 Abs. 3 Buchst. a) RL 2004/38/EG verlangt keinen ununterbrochenen rechtmäßigen Aufenthalt.113 Bei Auslandsaufenthalten kommt es unter Berücksichtigung von Art. 16 Abs. 4 RL 2004/38/EG auf die Gesamtdauer, die Häufigkeit der Abwesenheiten sowie die hierfür maßgeblichen Gründe an. Maßgeblich ist. ob sich aufgrund der Abwesenheiten der Mittelpunkt der persönlichen, familiären oder beruflichen Interessen des Betroffenen verlagert hat. Der Umstand, dass er zur Verbüßung einer Freiheitsstrafe zwangsweise in den Aufnahmemitgliedstaat zurück gebracht wurde und die Haftzeit, können für die Prüfung heran gezogen werden, ob die Integrationsverbindungen abgerissen sind.114 Die Vorschrift erfordert kein Durchlaufen der vorangegangenen Stufen und damit den Nachweis des Daueraufenthaltsrechts.115 Die zwingenden Gründe müssen durch die Mitgliedstaaten festgelegt werden. In Abgrenzung zu den beiden ersten Stufen muss es sich um außergewöhnlich schwere Straftaten handeln. Nach § 6 Abs. 5 Satz 3 FreizügG/EU können zwingende Gründe nur dann vorliegen, wenn der Betroffene wegen einer oder mehrerer vorsätzlicher Straftaten rechtskräftig zu einer Freiheits- oder Jugendstrafe von mindestens fünf Jahren verurteilt oder bei der letzten rechtkräftigen Verurteilung Sicherungsverwahrung angeordnet wurde, wenn die Sicherheit der Bundesrepublik betroffen ist oder wenn vom Betroffenen eine terroristische Gefahr ausgeht. Bei mehreren Verurteilungen erfolgt keine Kumulation. Vielmehr muss eine dieser Verurteilung mindestens den Strafrahmen von fünf Jahren überschritten haben.116 Es handelt sich lediglich um ein Mindeststrafmaß. Die Behörde hat anschließend zu prüfen, ob ein Schutzgut der inneren oder äußeren Sicherheit der Bundesrepublik betroffen ist117 und eine Wiederholungsgefahr besteht. 110 Welte, ZAR 2009, 336 (342). 111 Welte, ZAR 2009, 336 (342). 112 EuGH, 113 VG Düsseldorf, InfAuslR 2006, 356 (357); Welte, ZAR 2009, 336 (342). 114 EuGH, 115 VG InfAuslR 2011, 45 (47) = NVwZ 2011, 221 Rn 40 f. – Tsakouridis. InfAuslR 2011, 45 (46) = NVwZ 2011, 221 Rn 33 f. und 38 – Tsakouridis. Düsseldorf, InfAuslR 2006, 356 (357); a.A. Welte, ZAR 2009, 336 (342). 116 BayVGH, 117 VGH InfAuslR 2009, 267 (268). BW, InfAuslR 2008, 439. 23 Die abstrakt auf den Strafrahmen abstellende Fallgruppe ist mit Unionsrecht unvereinbar.118 Vielmehr ist stets nach Maßgabe der verwirkten und verhängten Strafen, des Grades der Beteiligung an der kriminellen Aktivität, des Umfangs des Schadens und gegebenenfalls der Rückfallneigung zu prüfen, ob eine außergewöhnlich schwere Bedrohung der öffentlichen Sicherheit besteht. Der Begriff der öffentlichen Ordnung, der die Wahrung der innerstaatlichen Rechtsvorschriften zum Gegenstand hat, unterscheidet sich wesentlich vom Begriff der öffentlichen Sicherheit. Daher ist es verfehlt, in den Gründen der öffentlichen Sicherheit lediglich eine quantitative Steigerungsform der Gründe der öffentlichen Ordnung zu sehen.119 Als Ausnahme von der durch die Grundfreiheiten etablierten Freizügigkeit ist der Begriff der öffentlichen Sicherheit eng auszulegen.120 Es handelt sich um einen unionsrechtlich auszulegenden Begriff, sodass seine Tragweite nicht einseitig von jedem Mitgliedstaat ohne Nachprüfung der Organe der Gemeinschaft bestimmt werden darf.121 Der Begriff der öffentlichen Sicherheit, auf den sich § 6 Abs. 5 Satz 1 FreizügG/EU bezieht, ist nicht im Sinne des allgemeinen Polizeirechts zu verstehen, sondern verweist auf die innere und äußere Sicherheit des Staates. Der Begriff der öffentlichen Sicherheit kann als Beschränkung der Freizügigkeit nur geltend gemacht werden, wenn für die Existenz des Staates wesentliche Belange gefährdet sind.122 Dabei umfasst dieser sowohl die äußere wie auch die innere Sicherheit des Staates, der sich auf sie beruft.123 Die innere Sicherheit umfasst den Bestand des Staates, seiner Einrichtungen und wichtigen Dienste sowie das Überleben der Bevölkerung.124 Der betroffene Staat darf sich hierbei allerdings nicht auf die bloße Feststellung einer möglichen Gefährdung seiner Einrichtungen beschränken. Vielmehr muss er auch qualifiziert dartun, dass eine Anwendung der unionsrechtlichen Regeln der Freizügigkeit solche Folgen für seine innere Sicherheit zeitigen würde, die er trotz der ihm zur Verfügung stehenden Mittel nicht anders abwenden könnte und denen er trotzdem nicht gewachsen wäre.125 Grundsätzlich beschränkt der EuGH den Begriff der zwingenden Gründe auf den engen Sicherheitsbegriff und bestätigt damit die Rechtsprechung und Lehre, wonach die Ausweisung wegen zwingender Gründe nicht dem privaten EuGH, InfAuslR 2011, 45 (48) = NVwZ 2011, 221 Rn 51 – Tsakouridis; Alexy, in: Hofmann/Hoffmann, Handkommentar zum AuslR, § 6 FreizügG/EU Rn 33 f. 118 119 Alexy, in: Hofmann/Hoffmann, Handkommentar zum AuslR, § 6 FreizügG/EU Rn 33. 120 EuGH, Rs. C-348/96 – Calfa, Slg. 1999, I-11, Rn 20 ff. EuGH, Rs. 41/74 – van Duyn, Slg. 1974, 1337, Rn 18/19; Rs. 36/75 – Rutili, Slg. 1975, 1219, Rn 26/28; Rs. 30/77 – Boucherau, Slg. 1977, 1999, Rn 33/35. 121 122 EuGH, Rs. 72/83 – Campus Oil Limited, Slg. 1984, 2727, Rn 34. 123 EuGH, Rs. C-367/89 – Richardt, Slg. 1991, I-4621, Rn 22. 124 EuGH, Rs. 72/83 – Campus Oil Limited, Slg. 1984, 2727, Rn 34. EuGH, Rs. 231/83 – Cullet, Slg. 1985, 305, Rn 33; Rs. C-265/95 – Kommission/Frankreich, Slg. 1997, I6959, Rn 55 f. 125 24 Rechtsgüterschutz, sondern nur dem Schutz des Bestands und der Funktionstüchtigkeit des Staates und seiner Einrichtungen und den zwischenstaatlichen Beziehungen dient, sodass insbesondere die Verurteilung wegen eines Staatsschutzdeliktes und terroristischer Aktivitäten eine Ausweisung aus zwingenden Gründen rechtfertigen kann.126 Eine Ausnahme macht der EuGH wegen des außergewöhnlichen Charakters der Bedrohung der öffentlichen Sicherheit bei „bandenmäßigem Handel mit Betäubungsmitteln.“ Um zu beurteilen, ob bei einer Verurteilung wegen eines derartigen Deliktes die Ausweisung verhältnismäßig ist, „sind insbesondere die Art der begangenen Zuwiderhandlung, die Dauer des Aufenthaltes des Betroffenen im Aufnahmemitgliedstaat, die seit der Begehung der Zuwiderhandlung vergangene Zeit und das Verhalten des Betroffenen in dieser Zeit sowie die Intensität der sozialen, kulturellen und familiären Bindungen“ zu berücksichtigen.127 Nicht der private Rechtsgüterschutz, sondern wie auch bei terroristischen Taten, rechtfertigt die aus den internationalen Vernetzungen folgende besonders schwere Bedrohung der öffentlichen Sicherheit danach die Ausweisung. c) Ausweisungsschutz für türkische Assoziationsberechtigte Neben der nach Art. 6 ARB 1/80 erworbenen Rechtsstellung128 kommt für den unionsrechtlichen Ausweisungsschutz insbesondere Art. 7 ARB 1/80 eine besondere Bedeutung zu. Sind die entsprechenden Voraussetzungen erfüllt, kann eine Ausweisung nur noch nach Maßgabe von Art. 14 ARB 1/80 und damit nach unionsrechtlichen Grundsätzen vorgenommen werden.129 Bis Ende 2011 war in der Rechtsprechung umstritten, ob der dreistufige unionsrechtliche Ausweisungsschutz nach Art. 27 ff. RL 2004/38/EG, insbesondere der auf „zwingende Gründe der öffentlichen Sicherheit“ (Art. 28 Abs. 3 RL 2004/38/EG) beschränkte, auch auf türkische Assoziationsberechtigte Anwendung findet.130 Sowohl das BVerwG wie auch Instanzgerichte hatten 126 VGH BW, InfAuslR 2008, 439; VG Düsseldorf, InfAuslR 2006, 356 (358); Alexy, in: Hofmann/Hoffmann, Handkommentar zum AuslR, § 6 FreizügG/EU Rn 33 f.; Welte, ZAR 2009, 336 (342); VGH BW, InfAuslR 2009, 268; OVG NW, NVwZ-RR 2010, 79 (LS), beide Vorabentscheidungsersuchen zu dieser Frage an den EuGH; zum Sicherheitsbegriff des Art. 28 Abs. 3 RL 2004/38/EG siehe auch VG Münster, EZAR NF 40 Nr. 10. 127 EuGH, InfAuslR 2011, 45 (47 f.) = NVwZ 2011, 221 Rn 44-56 – Tsakouridis. EuGH, NVwZ 2012, 31 – Unal, zum Verbot der rückwirkenden Rücknahme der Aufenthaltserlaubnis nach Erlangung der Rechtsstellung nach Art. 6 Abs. 1 1. Spiegelstrich ARB 1/80 128 129 Ausführlich Marx, Aufenthalts-, Asyl- und Flüchtlingsrecht, 4. Aufl. 2011, S. 786 ff. 130 Dafür Hess.VGH, InfAuslR 2006, 393 = AuAS 2006, 231 = NVwZ 2006, 1311 (LS); Hess.VGH, InfAuslR 2007, 98; OVG Rh-Pf, InfAuslR 2007, 148 (150) = NVwZ-RR 2007, 488 (490); VG Karlsruhe, Urt. v. 9.11.2006 – 2 K 1559/06; Alexy, in: Hofman/Hoffmann, Handkommentar AuslR, Art. 14 ARB 1/80 Rn 10; Gutmann, InfAuslR 2005, 401 (402); Marx, ZAR 2007, 142 (147 f.); dagegen BVerwG, AuAS 2009, 267 (268) = EZAR NF 19 Nr. 39; Nieders.OVG, NVwZ-RR 2006, 287 (288) = InfAuslR 2005, 453; Nieders.OVG, NVwZ 2006, 1304; Nieders.OVG, Beschl. v. 5.10.2005 – 11 ME 247/05; Nieders.OVG, EZAR NF 19 Nr. 28 = ZAR 2008, 240; OVG NW, InfAuslR 2006, 257 (258) = AuAS 2006, 124 (125); Karger, ZAR 2008, 228 (232 ff.); offen gelassen Kurzidem, ZAR 2010, 121 (126). 25 deshalb den EuGH um Klärung dieser Frage ersucht.131 Das BVerwG begründet seine ablehnende Auffassung mit entstehungsgeschichtlichen und unter Hinweis auf die Freizügigkeitsrichtlinie mit teleologischen Einwänden. Der EuGH hat sich der einschränkenden Auffassung angeschlossen. Damit ist entschieden, dass Art. 14 ARB 1/80 nicht im Sinne von Art. 28 RL 2004/38/EG auszulegen ist. Vielmehr ist der Ausweisungsschutz im Sinne der Daueraufenthaltsrichtlinie (Art. 12 RL 2003/109/EG auszulegen. Dazu verweist der EuGH auf seine traditionelle Rechtsprechung,132 die in Art. 27 Abs. 2 UAbs. 2 RL 2004/38/EG und § 6 Abs. 2 und 3 FreizügG/EU Ausdruck gefunden haben. Für die Anwendung des unionsrechtlichen Ausweisungsschutzes auf türkische Assoziationsberechtigte spricht an sich, dass der EuGH in ständiger Rechtsprechung entschieden hat, die im Primärrecht verankerten Freizügigkeitsrechte müssten soweit wie möglich auf Assoziationsberechtigte übertragen werden.133 Ebenso hat der EuGH Ausgestaltungen und Konkretisierungen der Freizügigkeitsgewährleistungen etwa in Art. 10 VO 1612/68,134 in Art. 3 RL 64/221/EWG135 oder in Art. 8 und 9 RL 64/221/EWG136 ebenfalls auf assoziationsberechtigte türkische Staatsangehörige übertragen. Die Argumentation, die Richtlinie 2004/83/EG stehe im engen Zusammenhang mit dem Unionsbürgerstatus und sei deshalb nicht auf türkische Assoziationsberechtigte übertragbar, ist nicht überzeugend. Soweit indes die Freizügigkeit der Unionsbürger über das Freizügigkeitsrecht türkischer Assoziationsberechtigter hinausgeht – etwa hinsichtlich des genehmigungsfreien Aufenthaltes in den Hoheitsgebieten der Mitgliedstaaten wie auch der Bewegungsfreiheit innerhalb der Gemeinschaft – fehlt es bereits an einer Rechtsgrundlage des Primärrechts für die entsprechende Erstreckung der Freizügigkeit auf türkische Assoziationsberechtigte. Denn die im Assoziierungsabkommen in Bezug genommenen Art. 39, 40 und 41 EGV a.F. verwiesen z.B. nicht auf die in Art. 52 ff. EGV a.F. gewährleistete Niederlassungsfreiheit. Soweit hingegen primärrechtlich – wie hier durch Art. 45 Abs. 3 AEUV – die Einschränkung der Freizügigkeit vorgezeichnet ist, haben die türkischen Assoziationsberechtigten auch Teil an der Fortentwicklung des entsprechenden Sekundärrechts. Daher nimmt auch der Ausweisungsschutz türkischer Assoziationsberechtigter an der Fortentwicklung des unionsrechtlichen Ausweisungsschutzes teil (Prinzip der dynamischen Angleichung des assoziationsrechtlichen an den unionsrechtlichen Ausweisungsschutz). 131 BVerwG, AuAS 2009, 267 (268) = EZAR NF 19 Nr. 39; VGH BW, InfAuslR 2008, 439; VG Berlin, InfAuslR 2008, 440. 132 EuGH, InfAuslR 2012, 43 (46) Rdn. 79 – Ziebell. EuGH, InfAuslR 2000, 161 (164) – Nazli; EuGH, InfAuslR 2005, 13 (15) – Cetinkaya; EuGH, InfAuslR 2005, 252 (354) – Aydinlik. 133 134 EuGH, NVwZ 2005, 73 (§§ 45, 48) = InfAuslR 2004, 416 – Ayas. 135 EuGH, InfAuslR 2005, 13 (15) – Cetinkaya. 136 EuGH, InfAuslR 2005, 289 (290) – Dörr und Ünal. 26 d) Ausweisungsschutz für drittstaatsangehörige Daueraufenthaltsberechtigte Anders als gegenüber Unionsbürgern ist gegenüber langfristig Aufenthaltsberechtigten der unionsrechtliche Ausweisungsschutz nicht nach Art. 27 ff. RL 2004/38/EG, sondern nach Art. 12 Abs. 1 RL 2003/109/EG maßgebend. Danach können die Mitgliedstaaten eine Ausweisung gegen einen langfristig aufenthaltsberechtigten Drittstaatsangehörigen nur verfügen, wenn er „eine gegenwärtige, hinreichend schwere Gefahr für die öffentliche Ordnung oder die öffentliche Sicherheit“ darstellt. Damit ist der langfristig Aufenthaltsberechtigten zukommende Ausweisungsschutz nicht im vollen Umfang mit dem Unionsbürgern und diesen rechtlichen Gleichgestellten zukommende Ausweisungsschutz vergleichbar. Nach Erwägungsgrund Nr. 16 der Richtlinie 2003/109/EG genießen langfristig Aufenthaltsberechtigte verstärkten Ausweisungsschutz. Dieser Schutz orientiere sich an den Kriterien, die der EGMR in seiner Rechtsprechung entwickelt habe. Um den Ausweisungsschutz sicherzustellen, sollten die Mitgliedstaaten wirksam Rechtsschutz vorsehen. Nach Ansicht des Gesetzgebers orientiert sich der in Art. 12 RL 2003/109/EG mit dem Daueraufenthaltstitel verbundene Ausweisungsschutz nicht, wie ursprünglich vorgesehen, am erweiterten Ausweisungsschutz für Unionsbürger.137 Das ist zwar zutreffend, rechtfertigt aber nicht die Anwendung des deutschen Ausweisungsrechts, wie es durch § 56 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1a AufenthG vorgeschrieben wird, auf langfristig Aufenthaltsberechtigte.138 Vielmehr regelt sich der Ausweisungsschutz für langfristig aufenthaltsberechtigte Drittstaatsangehörige ausschließlich nach Unionsrecht. Zutreffend ist zwar, dass der dreistufige Ausweisungsschutz nach Art. 27 bis 28 RL 2004/38/EG nicht auf den Ausweisungsschutz nach der Daueraufenthaltsrichtlinie übertragen werden kann. Zur Bestimmung der gegenwärtigen, hinreichend schweren Gefahr für die öffentliche Ordnung oder Sicherheit sind jedoch dieselben Grundsätze heranzuziehen, wie sie der EuGH und im Anschluss daran das BVerwG für den Ausweisungsschutz der Unionsbürger entwickelt haben. Nach Inkrafttreten der Richtlinie hat der EuGH aus dem Erfordernis einer gegenwärtigen Gefährdung der öffentlichen Sicherheit oder Ordnung abgeleitet, dass eine Ausweisung nur auf das persönliche Verhalten des Betroffenen gestützt werden kann und nationale Regelungen, die automatisch aufgrund einer strafrechtlichen Verurteilung eine Ausweisung verfügen, mit Unionsrecht unvereinbar sind.139 In Ziebell hat der EuGH für den Ausweisungsschutz türkischer Assoziationsberechtigter auf Art. 12 RL 2003/109/EG und seine traditionelle Rechtsprechung,140 die in Art. 27 Abs. 2 137 BT-Drucks 16/5065, S. 337; siehe auch Steinebach/Günes, ZAR 2010, 97 (99). 138 Marx, ZAR 2007, 142 (147); Lüdke, InfAuslR 2007, 177; Discher, in: GK-AufenthG, vor § 53 ff. Rn 721; Alexy, in: Hofmann/Hoffmann, Handkommentar zum AuslR, § 53 AufenthG Rn 34 ff., 56 AufenthG Rn 3; a.A. Hailbronner, ZAR 2004, 163 (166); Wede, InfAuslR 2007, 45. 139 EuGH, 140 InfAuslR 2004, 268 (272) = NVwZ 2004, 1099 – Orfanopoulos und Oliveri. EuGH, InfAuslR 2012, 43 (46) Rdn. 79 – Ziebell. 27 UAbs. 2 RL 2004/38/EG und § 6 Abs. 2 und 3 FreizügG/EU Ausdruck gefunden haben, verweisen. Daher wird entgegenstehendes nationales Ausweisungsrecht verdrängt. 2. Einchränkung der Generalprävention Ein schwerwiegender Ausweisungsgrund kann auch generalpräventiv begründet werden141 und damit den besonderen Ausweisungsschutz nach § 56 AufenthG durchbrechen. Danach müssen nicht zusätzlich individuelle Gründe die Ausweisung tragen, also nicht kumulativ die Voraussetzungen einer spezialpräventiv begründeten Ausweisung vorliegen. Das BVerwG hatte bereits zum früheren Ausweisungsrecht entschieden, auch in Fällen des erhöhten Ausweisungsschutzes dürfe nicht nur die zwingende Ausweisung, sondern auch die Regelausweisung zusätzlich auf generalpräventive Erwägungen gestützt werden.142 Das Vorliegen eines Ausnahmefalles muss danach im Blick auf beide Ausweisungszwecke dargelegt werden.143 Liegt ein Ausnahmefall allein in spezialpräventiver Hinsicht vor, reicht dies nicht aus, um einen schwerwiegenden Ausweisungsgrund zu verneinen. Hinzu kommen muss, dass auch in generalpräventiver Hinsicht ein besonders gelagerter Sachverhalt gegeben ist. Danach kann dahinstehen, ob von dem Betroffenen eine Wiederholungsgefahr ausgeht, wenn feststeht, dass der Ausweisungsgrund jedenfalls in generalpräventiver Hinsicht schwerwiegend ist.144 Neuere Entwicklungen haben diese Grundsätze jedenfalls zugunsten faktisch Inländer (Art. 8 EMRK) erheblich erschüttert.145 Die traditionelle Rechtsprechung beruft sich auf die ordnungsrechtlich Funktion der Ausweisung, die nicht den Zweck der Ahndung eines bestimmten Verhaltens verfolge, sondern künftigen Störungen der öffentlichen Sicherheit und Ordnung oder Beeinträchtigungen sonstiger erheblicher Belange der Bundesrepublik Deutschland vorbeugen solle. Der erhöhte Ausweisungsschutz wirkt sich allerdings dahin aus, dass der Ausweisungsgrund schwerwiegend sein muss und in diesem Zusammenhang dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit besondere Bedeutung zukommt.146 Deshalb werden generalpräventive Gründe nur in 141 Kritisch zur Generalprävention im öffentlichen Recht Roggan, KJ 1999, 69. 142 BVerwGE 101, 247 (255) = EZAR 035 Nr. 16 = InfAuslR 1997, 8 = NVwZ 1997, 297; BVerwG, InfAuslR 1995, 195 (196); bekräftigt BVerwGE 121, 356 (362 f.) = EZAR 41 Nr. 1 = NVwZ 2005, 229 = InfAuslR 2005, 49. 143 BVerwGE 101, 247 (255) = NVwZ 1997, 297= EZAR 035 Nr. 16 = InfAuslR 1997, 8; BayVGH, AuAS 2010, 161 (163); BayVGH, InfAuslR 2010, 198 (200); OVG NW, NVwZ 2008, 450 (451); VG Karlsruhe, InfAuslR 2009, 197 (201) = EZAR NF 44 Nr. 11. 144 BVerwGE 121, 356 (362) = NVwZ 2005, 229 (230) = InfAuslR 2005, 49 = EZAR NF 41 Nr. 1; kritisch hierzu Alexy, in: Hofmann/Hoffmann, Handkommentar AuslR, § 56 AufenthG Rn 24; Mayer, VA 2010, 482 (506 ff.). 145 S. insbesondere VGH BW, InfAuslR 2011, 293; VGH BW, NVwZ-RR 2011, 994; VGH BW, InfAuslR 2012, 1; s. auch BVerfG (Kammer), InfAuslR 2011, 287; s. aber Bay.VGH, InfAuslR 2011, 377: Einreise mit 16 Jahren, Verurteilung zu Jugendstrafe zu zwei Jahren Freiheitsstrafe wegen Vergewaltigung und vorsätzlicher Körperverletzung; ausführlich zur Zurückdrängung der Generalprävention durch Art. 8 EMRK Marx, Aufenthalts-, Asyl- und Flüchtlingsrecht, 4. Aufl. 2011, S. 869 ff. 146 BVerwGE 101, 247 (254) = EZAR 035 Nr. 16 = InfAuslR 1997, 8 = NVwZ 1997, 297. 28 Ausnahmefällen schwer wiegen.147 Traditionell hatte die Rechtsprechung den generalpräventiven Zweck der Ausweisung in aller Regel schematisierend sowie ohne Berücksichtigung der Individualinteressen begründet. Es genüge für die Begründung einer generalpräventiv motivierten Ausweisung, dass diese eine „angemessene generalpräventive Wirkung erwarten lasse.“ Das sei der Fall, wenn nach der Lebenserfahrung damit gerechnet werden könne, dass sich andere Ausländer von „einer kontinuierlichen Ausweisungspraxis in ihrem Verhalten beeinflussen“ ließen.“ Behörden und Gerichte dürften grundsätzlich davon ausgehen, dass eine aus Anlass einer strafgerichtlichen Verurteilung verfügte Ausweisung zur Verwirklichung dieses Ziels geeignet sei. Dem stehe nicht entgegen, dass Ausländer nach wie vor im Bundesgebiet Straftaten begingen. Erforderlich sei, dass es Ausländer gebe, die sich in einer mit dem Betroffenen vergleichbaren Situation befänden und sich durch dessen Ausweisung von gleichen oder ähnlichen Handlungen abhalten ließen.148 Auch eine einmalige Straftat könne danach Anlass zu einer generalpräventiv motivierten Ausweisung geben.149 Die Behörde könne im Rahmen der generellen Gefahrenprognose regelmäßig von den strafgerichtlichen Feststellungen ausgehen und nur ausnahmsweise, wenn sie über bessere Möglichkeiten der Aufklärung verfüge oder die Verurteilung auf einem Irrtum beruhe, hiervon abweichen.150 Anknüpfend an die Rechtsprechung des BVerwG, in der für die generalpräventiv begründete Ausweisung besonderes Gewicht auf den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit gelegt wird,151 hat das BVerfG in seiner neueren Kammerrechtsprechung die generalpräventiv motivierte Ausweisung unter besonderen Begründungszwang gestellt und für die Praxis die materiellen und verfahrensrechtlichen Anforderungen an diesen Ausweisungszweck signifikant erhöht:152 Aus dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit folge, dass die Ausländerbehörde die Umstände der Straftat und die persönlichen Verhältnisse des Betroffenen von Amts wegen sorgfältig ermittle und eingehend würdige. Ohne die Kenntnis von Einzelheiten der Tatbegehung und der persönlichen Situation des Betroffenen könnten in der Regel die Auswirkungen der Ausweisung auf die Individualinteressen nicht hinreichend sicher festgestellt und in einer einzelfallbezogenen Abwägung den die Ausweisung verlangenden Interessen der Allgemeinheit gegenüber gestellt werden. Im Regelfall sei deshalb vor der Entscheidung über die Rechtmäßigkeit der Ausweisung die Einsicht in die 147 BVerwG, InfAuslR 1995, 194 (195) = NVwZ 1995, 1129 = EZAR 035 Nr. 10; BayVGH, NVwZ-Beil. 1994, 43 (44); BVerwG, InfAuslR 1996, 299 (300); OVG NW, NVwZ-RR 1998, 173. 148 OVG NW, NVwZ 2008, 450 (451). 149 BVerwG, NVwZ 1997, 1119 (1121); OVG NW, NVwZ-RR 1996, 173, verneint für zufälligen, aus Freundschaftsdienst begangenen BtmG-Verstoß; BayVGH, InfAuslR 1994, 257 (259), bejaht für einmaliges im Affekt begangenes Tötungsdelikt. 150 BVerwG, InfAuslR 1998, 221 (222). 151 BVerwGE 101, 247 (254) = EZAR 035 Nr. 16 = InfAuslR 1997, 8 = NVwZ 1997, 297; BayVGH, AuAS 2010, 161 (163); BayVGH, InfAuslR 2010, 198 (200); OVG NW, NVwZ 2008, 450 (451). 152 BVerfG (Kammer), NVwZ 2007, 1300 (1301) = InfAuslR 2007, 443 = EZAR NF 42 Nr. 6. 29 Strafakten ebenso unerlässlich wie genaue Feststellungen zu den Bindungen des Betroffenen an die Bundesrepublik Deutschland. Bei der Prüfung der Rechtmäßigkeit der Ausweisung sind danach folgende Anforderungen zu beachten: 1. Im Unionsrecht, also im Blick auf Unionsbürger und diesen rechtlich gleichgestellten Personen, auf türkisch Assoziationsberechtigte sowie auf langfristig Aufenthaltsberechtigte ist die generalpräventiv motivierte Ausweisung von vornherein unzulässig. Die neuere Rechtsprechung des BVerfG kann dahin verstanden werden, dass dies auch gilt, wenn die Schutzwirkung von Art. 8 EMRK Anwendung findet (Rn 585 ff.).153 2. Zulässig ist eine Ausweisung aus Gründen der Generalprävention im Anwendungsbereich des § 56 Abs. 1 Satz 1 AufenthG in Anlehnung an die zum Ausweisungsschutz ausländischer Ehegatten Deutscher entwickelten Maßstäbe nur dann, wenn die Straftat „besonders schwer“ wiegt und deshalb ein dringendes Bedürfnis daran besteht, über eine strafrechtliche Sanktion hinaus durch Ausweisung andere Ausländer von Straftaten ähnlicher Art und Schwere abzuhalten.154 3. Das Gewicht der Straftat ist nicht abstrakt, sondern konkret nach den Umständen der Tatbegehung zu bestimmen.155 Im Grundsatz nicht anders als bei der Würdigung der von dem Ausländer künftig ausgehenden Gefahren im Rahmen spezialpräventiv motivierter Ausweisungen genügt es insbesondere nicht, das Gewicht der für eine Ausweisung sprechenden öffentlichen Interessen allein anhand der Typisierung der den Ausweisungsanlass bildenden Straftaten zu bestimmen.156 4. Für die Geeignetheit der generalpräventiven Wirkung ihrer Ausweisung hat die Behörde insbesondere darzulegen, dass nach der Lebenserfahrung damit zu rechnen ist, dass sich andere Ausländer mit Rücksicht auf eine kontinuierliche Ausweisungspraxis ordnungsgemäß verhalten.157 5. Darüber hinaus ist eine Auseinandersetzung mit den Motiven für die Tatbegehung und den näheren Tatumständen unerlässlich, um die Umstände der Straftat zu erkunden, welche zum Anlass einer Ausweisung zur Abschreckung anderer Ausländer genommen werden soll.158 Denn die Ausweisung muss nach den konkreten Verhältnissen des Einzelfalls und 153 BVerfG (Kammer), NVwZ 2007, 946 (947) = InfAuslR 2007, 275 = EZAR NF 42 Nr. 5. 154 BVerwGE 101, 247 (255) = EZAR 035 Nr. 16 = InfAuslR 1997, 8 = NVwZ 1997, 297. 155 BVerwGE 101, 247 (251 f.) = InfAuslR 1997, 8 = EZAR 035 Nr. 16. 156 BVerfG (Kammer), NVwZ 2007, 1300 (1301) = InfAuslR 2007, 443 = EZAR NF 42 Nr. 6. 157 BVerwGE 102, 63 = InfAuslR 1997, 63 = EZAR 035 Nr. 18; BVerwG, InfAuslR 1996, 299 (302), bejaht für Drogenhandel; BVerwG, NVwZ 1997, 1119 (1121), nicht alle Drogendelikte; BVerwG, NVwZ 1998, 741 (742), bejaht für bandenmäßig organisierten Kfz-Diebstahl. 158 BVerfG (Kammer), NVwZ 2007, 1300 (1301) = InfAuslR 2007, 443 = EZAR NF 42 Nr. 6. 30 nicht lediglich abstrakt geeignet sein, abschreckend auf andere, als potenzielle Straftäter in Betracht kommende Ausländer zu wirken. Namentlich bei Ausweisungen aus Anlass von „Beziehungs- oder Leidenschaftstaten“ kann es an der Eignung der Ausweisung als abschreckender Maßnahme fehlen.159 Wesentliche, in die Betrachtung einzubeziehende Umstände sind insbesondere auch die Tatsache, dass der Betroffene nicht der Drogenszene zurechnet werden kann oder sich durch Umzug das persönlichen Umfeld verändert hat.160 6. Schließlich ist insbesondere zu berücksichtigen, ob die Abschreckungswirkung angesichts der konkreten Einzelfallumstände angemessen ist.161 Jedenfalls bei verwurzelten Ausländern steht Art. 8 EMRK einer generalpräventiven Ausweisung entgegen.162 Die Auswirkungen der veränderten Rechtsprechung werden insbesondere im Bereich der Drogendelikte deutlich. Nach der fachgerichtlichen Rechtsprechung ist bei Rauschgiftdelikten eine generalpräventive Ausweisung von nach § 56 Abs. 1 Satz 1 AufenthG privilegierten Ausländern auch dann zulässig, wenn die Freiheitsstrafe zur Bewährung ausgesetzt ist.163 Demgegenüber weist das BVerfG darauf hin, dass auch bei Drogendelikten weder die gesetzlichen Vorgaben noch ein allgemeines Erfahrungswissen zu einer schematischen Gesetzesanwendung führen dürfe, die im Einzelfall für den Betroffenen sprechende Umstände ausblende. 164 Es verweist in diesem Zusammenhang auf eine wenige Monate zuvor getroffene Entscheidung,165 in der im Blick auf ein Drogendelikt insbesondere auf die aus Art. 8 EMRK folgenden Anforderungen hingewiesen wird. 3. Tatsachengestützte ausweisungsrechtliche Bekämpfung des Terrorismus (54 Nr. 5 AufenthG) a) Differenzierung zwischen Vereinigung und individueller Unterstützung Das BVerwG hat festgestellt, dass bei der Anwendung der aufenthaltsrechtlichen Norm des § 54 Nr. 5 AufenthG im Rahmen der Zurechnung zwischen der Vereinigung, die den Terrorismus unterstützt oder selbst terroristischen Charakter hat (1), einerseits sowie andererseits der erforderlichen individuellen Unterstützung der Vereinigung durch den betroffenen Ausländer oder seiner 159 BayVGH, InfAuslR 2010, 198 (200), mit Hinweis auf BVerwGE 60, 75 (77 f.); a.A. VG Schleswig, InfAuslR 2009, 114 (116). 160 OVG NW, NVwZ 2008, 450 (451). 161 OVG NW, NVwZ-RR 1996, 173. 162 Marx, Aufenthalts-, Asyl- und Flüchtlingsrecht, 4. Aufl. 2011, S. 882 f.; VGH BW, AuAS 2011, 136 (138) mit grundsätzlichen Erwägungen; bekräftigt VGH BW, Urt. vom 15. 4. 2011 – 11 S 189/11. 163 BVerwGE 101, 247 (256) = InfAuslR 1997, 8 = EZAR 035 Nr. 16. 164 BVerfG (Kammer), NVwZ 2007, 1300 (1301) = InfAuslR 2007, 443 = EZAR NF 42 Nr. 6. 165 BVerfG (Kammer), NVwZ 2007, 946 = InfAuslR 2007, 275 = EZAR NF 42 Nr. 5 = AuAS 2007, 242. 31 Zugehörigkeit zu der Vereinigung (2) zu differenzieren ist.166 Für die maßgebliche Unterstützung des Terrorismus durch die Vereinigung selbst (1) sei zu verlangen, dass die von der Vereinigung betriebene Sympathiewerbung für terroristische Aktivitäten Dritter eine Unterstützung des Terrorismus darstellen müsse. Um den Ausweisungstatbestand rechtsstaatlich zu begrenzen, sei es geboten, für das Unterstützen des Terrorismus durch die Vereinigung selbst eine engere Verbindung zu den terroristischen Aktivitäten zu verlangen, als sie bei der individuellen Unterstützung der Vereinigung durch den einzelnen Ausländer (2) gefordert würde. Andernfalls würde dem Einzelnen ein Verhalten zugerechnet, dass weder von seinem Willen, noch von der durch ihm unterstützten Vereinigung getragen werde. Daher müsse die Unterstützung des Terrorismus jedenfalls auch ein Ziel der Vereinigung oder ihrer Tätigkeit sein (BVerwG, Urteil vom 25. Oktober 2011 - BVerwG 1 C 13.10 Rdn. 23). Es müsse festgestellt (§ 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO) werden, dass die Vereinigung den Terrorismus unterstütze, indem sie die Begehung terroristischer Taten durch Dritte veranlasse, fördere oder befürworte. Eine wichtige belastbare Tatsache sei in diesem Zusammenhang die Feststellung, dass die Vereinigung Dritte mit einer entsprechenden Einstellung für den Terrorismus gewinnen wolle (Rdn. 26 f.). Lediglich die Befürwortung bestimmter spezifischer Ideologien oder Weltanschauungen, sofern daraus nicht "spezifische Handlungsanleitungen zur Anwendung von Gewalt zur Durchsetzung politischer oder religiöser Ziele" abgeleitet würden, reiche nicht aus. Soweit es um die Beurteilung der Zwecke oder Tätigkeit der Vereinigung gehe, könne die Vereinigung nur dann als den Terrorismus unterstützende Vereinigung angesehen werden, wenn sie Dritte mit einer entsprechenden Einstellung für die militante Durchsetzung der Ideologie gewinnen will.167 b) Begriff der individuellen Unterstützung aa) Begriff des „Sympathisanten“ Nach der Rechtsauffassung des BVerwG darf der Gesetzgeber zur präventiven Gefahrenabwehr einerseits und zur Strafverfolgung andererseits differenzierte Maßstäbe an den Begriff der Unterstützung des Terrorismus anlegen. Die Ausweisungsnorm des § 54 Nr. 5 AufenthG solle weiterhin alle Verhaltensweisen - und damit auch die Sympathiewerbung - erfassen, die sich in irgendeiner Weise positiv auf die Aktionsmöglichkeiten des Terrorismus auswirkten. Das gelte für beide Unterstützungsbegriffe in § 54 Nr. 5 AufenthG, also sowohl für die Unterstützung des Terrorismus durch die Vereinigung wie auch für das individuelle Unterstützen einer solchen Vereinigung durch den Ausländer. Für die zuletzt bezeichnete individuelle Unterstützung durch den Ausländer bedeute dies, dass weiterhin die in der Senatsrechtsprechung entwickelten Kriterien maßgeblich seien. Dies gelte auch für die Abgrenzung der ausweisungsrechtlich relevanten 166 BVerwG, Urteil vom 25. Oktober 2011 - BVerwG 1 C 13.10 Rdn. 20. 167 BVerwG, Urteil vom 25. Oktober 2011 - BVerwG 1 C 13.10 Rdn. 26 f. 32 Werbung durch die Vereinigung selbst und der ausweisungsrechtlich unbeachtlichen Werbung für einzelne humanitäre Anliegen der Vereinigung.168 Das BVerwG bezieht sich insoweit auf die mit Urteil vom 15. März 2005 entwickelte Rechtsprechung, wonach von einer Unterstützung des Terrorismus auszugehen sei, wenn Veranstaltungen, an denen der Einzelne teilnehme, erkennbar dazu dienten, nicht nur einzelne Meinungen kundzutun, wie sie auch die Vereinigung vertrete, sondern durch die - auch massenhafte - Teilnahme jedenfalls auch der Vereinigung selbst vorbehaltlos und unter Inkaufnahme des Anscheins der Billigung ihrer terroristischen Bestrebungen - beispielsweise wegen des angekündigten Auftretens von Funktionären einer verbotenen Vereinigung, die den internationalen Terrorismus unterstütze - zu fördern. Eine Unterstützung könne ferner dann in Betracht kommen, wenn aufgrund zahlreicher Beteiligungen an Demonstrationen und Veranstaltungen im Vorfeld einer Vereinigung wie der verbotenen PKK bei einer wertenden Gesamtschau zur Überzeugung des Tatsachengerichtes feststehe, dass der Einzelne auch als Nichtmitglied in einer inneren Nähe und Verbundenheit zu der Vereinigung selbst stehe, die er durch sein Engagement als ständiger (passiver) Teilnehmer zum Ausdruck bringe, und damit deren Stellung in der Gesellschaft - vor allem unter Landsleuten begünstigend beeinflusse, ihre Aktionsmöglichkeiten eventuell auch ihr Rekrutierungsfeld erweitere und dadurch insgesamt zur Stärkung ihres latenten Gefahrenpotentials beitrage.169 Diese Rechtauffassung wird dem verfassungsrechtlich geforderten Maßstab des Begriffs der individuellen Unterstützung einer terroristischen Vereinigung im Sinne von § 54 Nr. 5 AufenthG nicht gerecht. Gegen die Rechtsprechung ist zunächst einzuwenden, dass aus verfassungsrechtlichen Gründen wegen der tatbestandlichen Weite des Unterstützungsbegriffs nicht erst im subjektiven Tatbestand darauf zu achten ist, dass nicht unverhältnismäßig namentlich in das Recht auf freie Meinungsäußerung jenseits der zumindest mittelbaren Billigung terroristischer Bestrebungen eingegriffen wird.170 Deshalb ist der Organisationsbezug nicht schon immer dann zu bejahen, wenn „in irgendeiner Form“ auf den verbotenen Verein und seine Aktivitäten hingewiesen wird, ohne dass nach dem deutlich erkennbaren Sinn der Äußerung die Tätigkeit des Vereins gefördert werden soll.171 Damit folgt aus dem Spannungsverhältnis zwischen Grundrechtsschutz und Gefahrenabwehr bei der Beurteilung, ob durch die Inanspruchnahme von Grundrechten eine verbotene Organisation unterstützt wird, eine restriktive Auslegung des Unterstützungsbegriffs.172 Das restriktive Auslegungsgebot steht der Zulassung eines tatbestandlich weiten Unterstützungsbegriffs, dessen Ausfransungen erst im Rahmen der 168 BVerwG, Urteil vom 25. Oktober 2011 - BVerwG 1 C 13.10, Rdn. 21. 169 BVerwGE 123, 114 (125 f.), mit Hinweis auf BGHSt 33, 16; 29, 99 (101); 32, 243 (244). 170 BVerwGE 123, 114 (124, 129). 171 BVerfG (Kammer), NVwZ 2002, 709 (710). 172 BVerfGE 25, 44 (58); s. ausführlich hierzu Marx, Aufenthalts-, Asyl- und Flüchtlingsrecht in der anwaltlichen Praxis, 4. Aufl., 2011, § 7, Rdn. 353 ff., S. 816 ff. 33 Verhältnismäßigkeitsprüfung mühsam wieder eingefangen werden müssen, entgegen. Vielmehr erfordern bereits der Grundrechtsschutz sowie der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz bei der begrifflichen Erfassung der einzelnen Unterstützungshandlungen eine in diesem Sinne restriktive Betrachtungsweise. Einerseits müssen die Unterstützungsleistungen der Vereinigung, welcher der Betroffene angehört, auf die Festigung vorhandener terroristischer Strukturen abzielen,173 andererseits muss dieser selbst einen dem Unterstützungsbegriff gerecht werdenden Beitrag zur Unterstützung der Vereinigung leisten. Das BVerfG weist in diesem Zusammenhang ausdrücklich darauf hin, dass dem Einzelnen nicht verboten werde, selbst bestimmte politische Ziele anzustreben und zu vertreten, wohl aber, dies durch Förderung der verbotenen Tätigkeit des Vereins zu tun.174 bb) Erfordernis der Zweckgerichtetheit der individuellen Handlung Die Gefahrenabwehr richte sich nicht gegen die Handlung des Einzelnen als solche, sondern gegen die mit „ihr verbundene Stärkung der Organisation.“ Hierfür reiche es nicht aus, wenn der Außenstehende gleiche Ansichten wie die verbotene Partei vertrete. Zwar werde in der Regel die Wirkungsmöglichkeit der Organisation verstärkt, wenn von ihr typisch verfolgte Ziele auch von anderer Seite propagiert würden. Trete der Einzelne mit diesen Ansichten in Schriften und Reden an andere heran, könne die Haltung des Adressaten in einer Richtung beeinflusst werden, die es der verbotenen Organisation erleichtere, selbst Einfluss zu nehmen. Mit dem Organisationsverbot solle jedoch nur Gefahren vorgebeugt werden, die von der Verfolgung der Ideen in organisierter Form ausgingen. Wollte man die fast nie ganz auszuschließende Rückwirkung auf die verbotene Organisation zum Anlass nehmen, solche Meinungsäußerungen schlechthin zu verbieten, würde in die Meinungsfreiheit des Einzelnen in einer nicht zumutbaren und auch nicht durch den Zweck des Organisationsverbots gerechtfertigten Weise eingegriffen.175 Daraus folgt, dass nur solche Handlungen erfasst werden dürfen, die gerade unter dem Gesichtspunkt des Gefährdungspotenzials der terroristischen Vereinigung erheblich sind. Diese für die Unterstützung einer verbotenen Vereinigungen entwickelten verfassungsrechtlichen Grundsätze gelten wegen des bei terroristischen Vereinigungen identischen gefahrenabwehrenden Zwecks auch im Rahmen des Unterstützungsbegriffs im Sinne von § 54 Nr. 5 AufenthG. Darüber hinaus muss das Verhalten des Einzelnen auch einen Bezug zur Tätigkeit des Vereins haben. Diesem Verhalten muss folglich eine hinreichende Außenwirkung zukommen, aus der ein objektiver Bezug der Handlung des Einzelnen zur Tätigkeit des Vereins erkennbar wird,176 Einer Meinungsäußerung ist daher nur dann eine objektive Gefahr immanent, wenn zusätzlich äußere, sich 173 Alexy, in: Hofmann/Hoffmann, Handkommentar zum AuslR, 2008, § 54 AufenthG Rdn 26. 174 BVerfGE 25, 44 (57); BVerfG (Kammer), NVwZ 2002, 709 (710); BVerwG, NVwZ 2010, 1372 (1373). 175 BVerfGE 25, 44 (57). 176 BVerfG (Kammer), NVwZ 2002, 709 (710). 34 nicht nur aus der Willensrichtung des Äußernden ergebene Umstände hinzutreten, die der Äußerung einen unmittelbaren Förderungseffekt geben.177 Allen Unterstützungsalternativen des § 54 Nr. 5 AufenthG ist damit - unabhängig von ihrer konkreten Form der Begehung - eine auf die terroristische Tätigkeit der Vereinigung bezogene Zweckgerichtetheit immanent. Dies erfordert dem Regelbeweis genügende Tatsachenfeststellung. Es versteht sich von selbst, dass das Grundrecht auf Meinungsfreiheit das Recht einschließt, die eigene Meinung möglichst wirksam zur Geltung zu bringen. Deshalb ist vor der Bekämpfung einer Meinungsäußerung sorgfältig zu prüfen, ob nicht auch eine andere Auslegung in Betracht kommt, bei der die fragliche Äußerung von der Meinungsfreiheit gedeckt ist.178 Aus dem Spannungsverhältnis zwischen Grundrechtsschutz und Gefahrenabwehr folgt deshalb bei der Beurteilung, ob durch die Inanspruchnahme von Grundrechten eine terroristische Organisation unterstützt wird, eine restriktive Auslegung des Unterstützungsbegriffs. Aus verfassungsrechtlicher Sicht erfüllen danach engagierte Sympathisanten im Umfeld einer terroristischen Organisation, die nicht strukturell in diese eingebunden sind, nicht den Begriff der Unterstützung einer Vereinigung, die ihrerseits den Terrorismus unterstützt. Dies selbst dann nicht, wenn sie sich durch Teilnahme an einer Straßenblockade strafbar gemacht haben.179 Daher gelten für die strafrechtliche wie die polizeirechtliche Anwendung des Unterstützungsbegriffs aus verfassungsrechtlichen Gründen einheitliche Maßstäbe. Dass ein „Hungerstreik nicht eo ipso als Handlung im Umfeld des Terrorismus angesehen werden darf, versteht sich von selbst“.180 Es bedarf daher stets einer „wertenden Gesamtschau“ aller Aktivitäten des Betroffenen, um zu beurteilen, ob die „terroristische Prägung“ überwiegt.181 Daran wird es regelmäßig fehlen, wenn die Betätigung sich auf „Geldspenden, die Verteilung von Zeitungen und Flugblättern, die Teilnahme an friedlichen Demonstrationen, an Hungerstreiks und nicht gewalttätigen Besetzungsaktionen beschränkt“.182 Hingegen ist von einem Überwiegen terroristischer Aktivitäten im Einzelfall auszugehen, wenn der Betreffende aufgrund „seiner hochrangigen Funktionärstätigkeit für die PKK eine qualifizierte Mitverantwortung für deren kriminelle und terroristische Aktivitäten in Deutschland“ trägt.183 Bekräftigt wird diese Rechtsauffassung auch durch die Grundsätze, welche die Rechtsprechung zur Anwendung von Art. 1 F GFK, Art. 12 Abs. 2 Buchst. b) RL 2004/83/EG, § 3 Abs. 2 Nr. 2 AsylVfG herausgebildet hat. Auch dort geht es nicht um eine strafrechtliche, sondern um eine Zurechnung nach 177 BVerfGE 25, 44 (58). 178 BGH, NJW 2003, 2621 (2623). 179 BVerwGE 109, 25 (28) = InfAuslR 1999, 371 = NVwZ 1999, 1353. 180 BVerfG (Kammer), InfAuslR 1991, 257 (260 f.). 181 BVerfG (Kammer), NVwZ-Beil. 2001, 41 (42) = InfAuslR 2001, 89. 182 BVerfG (Kammer), NVwZ-Beil. 2001, 41 (42), unter Verweis auf BVerfG (Kammer), InfAuslR 1991, 257 (261). 183 BVerfG (Kammer), NVwZ-Beil. 2001, 41 (42). 35 verwaltungsrechtlichen Grundsätzen. Auch dort wird wie im Ausweisungsrecht aus Gründen der polizeirechtlichen Gefahrenabwehr der Beweisstandard, werden jedoch nicht die materiellrechtlichen Zurechnungskriterien gegenüber dem Strafrecht, herabgesenkt. Hier wie dort geht es um die Gefährdung wichtiger öffentlicher Schutzgüter durch terroristische Gefahren. Aber auch dort wird nur dann die individuelle Verantwortlichkeit begründet, wenn auf sonstige Weise dadurch zur Begehung eines nichtpolitischen Verbrechens vorsätzlich dazu beigetragen wird, dass diese Beiträge mit dem Ziel geleistet werden, die kriminelle Tätigkeit oder die strafbare Absicht der Gruppe zu fördern. Diese Beiträge müssen also ausreichend sein, die Fähigkeit der Organisation, terroristische Anschläge zu verüben, zu fördern.184 Auch im Flüchtlingsrecht wird nicht verlangt, dass sich der Einzelne an einem konkreten Verbrechen in strafrechtlicher Form beteiligt hat. Vielmehr reicht es aus, dass er einer Organisation zugehörig ist oder diese unterstützt, welche terroristische Anschläge verübt. Es wird nicht ein unmittelbarer Zusammenhang zwischen den konkreten Beiträgen des Einzelnen und konkreten Verbrechen vorausgesetzt. Auch der EuGH fordert in diesem Zusammenhang „eine individuelle Prüfung der genauen tatsächlichen Umstände.“ Dabei ist insbesondere zu berücksichtigen, dass der betreffenden Person „ein Teil der Verantwortung für Handlungen, die von der fraglichen Organisation im Zeitraum der Mitgliedschaft der Person in dieser Organisation begangen wurden, zugerechnet werden kann.“ Diese individuelle Verantwortlichkeit ist anhand objektiver wie subjektiver Kriterien zu beurteilen. Zu prüfen ist die Rolle, welche der Antragsteller bei der Verwirklichung der betreffenden Handlungen tatsächlich gespielt hat, seine Position innerhalb dieser Organisation, der Grad der Kenntnis, die er von deren Handlungen hatte oder haben musste, die etwaigen Pressionen, denen er ausgesetzt gewesen wäre, oder andere Faktoren, die geeignet gewesen seien, sein Verhalten zu beeinflussen“.185 Abschließend stellt der Gerichtshof fest, habe der Antragsteller eine hervorgehobene Position „in einer sich terroristischer Methoden bedienenden Organisation“ innegehabt, könne vermutet werden, dass er „eine individuelle Verantwortung für von dieser Organisation im relevanten Zeitraum begangene Handlungen trägt.“ Diese befreie die Behörde aber nicht von der Prüfung sämtlicher erheblicher Umstände“.186 Der Gerichtshof vermeidet den Begriff der Regelvermutung, sodass nicht die Grundsätze zur Widerlegung heranzuziehen sind. Vielmehr weist er darauf hin, dass bei einer „hervorgehobenen Position“ eine individuelle Verantwortlichkeit vermutet werden könne. Ob diese Vermutung gerechtfertigt ist, erfordert nach seiner Rechtsprechung aber eine Prüfung sämtlicher erheblicher Umstände.“ (EuGH, InfAuslR 2011, 40 (98) = NVwZ 2011, 285 = AuAS 2011, 43 – B. und D, dagegen Bell, InfAuslR 2011, 214 (215)). Das Bundesverwaltungsgericht hat bei der Umsetzung der Entscheidung des Gerichtshofs ausdrücklich darauf hingewiesen, dass bei einer hervorgehobenen Position des Antragstellers in einer sich terroristischer Methoden bedienenden Organisation zwar eine Vermutung 184 UK Upper Tribunal (2011) UKUT 00339 (IOAC) Rdn. 54 ff. - Azimi-Rad. 185 EuGH, InfAuslR 2011, 40 (94 ff.) = NVwZ 2011, 285 = AuAS 2011, 43 – B. und D. EuGH, InfAuslR 2011, 40 (98) = NVwZ 2011, 285 = AuAS 2011, 43 – B. und D, Marx, InfAuslR 2012, 32 (35 f.); dagegen Bell, InfAuslR 2011, 214 (215). 186 36 seiner individuellen Verantwortung angenommen werden könne. Gleichwohl bedürfe es aber der Prüfung sämtlicher Umstände des Einzelfalles (BVerwG, NVwZ 2011, 1450 (1455)). Daraus folgt, dass die Ausländerbehörden und Verwaltungsgerichte erst nach einer umfassenden und konkreten Prüfung des Verhaltens des Betroffenen durch eine wertende Gesamtbetrachtung entscheiden können, ob dieser eine Vereinigung unterstützt, die ihrerseits den Terrorismus unterstützt. c) Anforderungen an die Tatsachenfeststellungen Das Gericht hat gemäß § 86 Abs. 1 VwGO den Sachverhalt von Amts wegen bis zur Grenze der Zumutbarkeit aufzuklären. Die Anwendung des § 54 Nr. 5 AufenthG setzt eine auf Tatsachen gestützte gegenwärtige Gefährlichkeit voraus. Die Prognose ist unter Rückgriff auf den im allgemeinen Polizeirecht entwickelten Gefahrenbegriff zu bestimmen. Danach genügen reine Vermutungen nicht. Ein bloßer Verdacht, der nicht durch Tatsachen belegt ist, entspricht mithin nicht den gesetzlichen Anforderungen. Eine bloße auf Verdachtsgründen oder Vermutungen basierende Ausweisungsverfügung kann keinen rechtlichen Bestand haben. Sie wäre mit rechtsstaatlichen Anforderungen nicht vereinbar und würde die Möglichkeit eröffnen, Ausländer ohne jeden Nachweis einer Tathandlung des Landes zu verweisen.187 Es muss sich vielmehr um verwertbare Tatsachen handeln, die dem Betroffenen auch vorgehalten und im Zweifelsfall auch belegt werden können.188 Eine Unterstützungshandlung erfordert nicht nur eine Vermutung, sondern eine durch Tatsachen gerechtfertigte Schlussfolgerung. Grundlage der Schlussfolgerungen können also nur konkrete und belastbare Tatsachenfeststellungen sein.189 Eine auf Tatsachen gestützte Schlussfolgerung liegt oberhalb der Schwelle „tatsächlicher Anhaltspunkte“ für den „Verdacht“ der Verfolgung oder Unterstützung verfassungsfeindlicher Betätigung. Bereits für diesen haben die Verwaltungsgerichte aus einer Bandbreite von Möglichkeiten die zutreffenden Schlussfolgerungen zu ziehen. Dabei reicht der Nachweis von einem mit Sicherheit eintretenden Ereignis bis zur bloßen abstrakten Hypothese. Eine „gesteigerte Gesamtgefahrenlage“ rechtfertigt nicht die Herabsenkung des erforderlichen Prognosemaßes. Diese verpflichtet die Sicherheitsbehörden zwar zu erhöhten Anstrengungen, vermindere aber nicht die Verdachtsintensität zu Lasten des Betroffenen.190 Diese materiellen Grundsätze müssen umso mehr gelten, wenn nicht bereits der Verdacht der Verfolgung oder Unterstützung terroristischer Bestrebungen ausreicht, sondern ausschließlich Tatsachen eine entsprechende Schlussfolgerung rechtfertigen. Hierfür reicht zwar der auf Tatsachen gestützte hinreichende Tatverdacht aus. Diese Schwelle ist jedoch höher als die durch den Begriff 187 BayVGH, NVwZ 2006, 227 (228); BayVGH, NVwZ 2006, 1306 (1310). BW, Beschl. v. 31.1.2006 – 13 S 2284/05; Langeheine, in: Kluth/Hund/Maaßen, Zuwanderungsrecht, 2008, S. 430 (470). 188 VGH 189 Alexy, in: Hofmann/Hoffmann, Handkommentar zum AuslR, § 54 AufenthG Rn 29. 190 BVerwG, NJW 1991, 581 (582). 37 „Verdacht“ aufgezeigte. Da nach § 54 Nr. 5 AufenthG bloße entsprechende Zweifel nicht ausreichen, sondern Tatsachen die Schlussfolgerung rechtfertigen müssen, dass der Antragsteller einer terroristischen Vereinigung angehört oder diese unterstützt, kann dieser materielle Maßstab nicht ausreichen. Auch im summarischen Eilrechtsschutzverfahren sind belastbare Tatsachen beizubringen und ist zudem die spezifische Zuordnung von Fakten zu den einzelnen Merkmalen der Befugnisnorm unerlässlich.191 Soll eine Ausweisungsverfügung auf den Vorwurf der Unterstützung einer terroristischen Vereinigung gestützt werden, ist es danach zunächst Aufgabe der Behörde, Tatsachen beizubringen, die eine geeignete Erkenntnisbasis für eine aktuelle Gefahrenprognose darstellen können. Mangels eigener Erkenntnisquellen sind dabei die Erkenntnisse der Sicherheitsbehörden von Bedeutung, so dass es in erster Linie deren Aufgabe ist, die Tatsachengrundlage für eine Ausweisungsverfügung zu schaffen. Die Erkenntnisse müssen Tatsachen belegen, die der Ausweisungsentscheidung und der anzustellenden Prognose zugrunde gelegt werden können. Ohne das Vorliegen solcher Tatsachen ist die vom Gesetz gemeinte gegenwärtige Gefahr („unterstützt“) nicht festzustellen. Diese Auslegung entspricht auch dem ausdrücklichen Wortlaut des Gesetzes („wenn Tatsachen belegen“).192 Zwar hindert nach der Rechtsprechung die Einstellung des Verfahrens nach § 170 Abs. 2 StPO die Ausländerbehörde nicht an einer tatsachengestützten Feststellung der Unterstützung einer terroristischen Vereinigung. Können aufgrund der Einwendungen des Betroffenen jedoch auch gegenteilige Schlussfolgerungen getroffen werden, ist Eilrechtsschutz zu gewähren und bedarf es einer umfassenden Bewertung dieser Einwendungen und deren Glaubhaftigkeit sowie der Glaubwürdigkeit des Betroffenen im Hauptsacheverfahren.193 Zwar hat das BVerwG festgestellt, dass im Rahmen von Ausweisungsverfahren nach § 54 Nr. 5 AufenthG in tatsächlicher Hinsicht die gerichtlichen Möglichkeiten zur umfassenden Aufklärung des Sachverhaltes in Fällen, in denen die Ausweisung im Wesentlichen auf Erkenntnissen der Sicherheitsbehörden gestützt ist, begrenzt sein kann.194 Ob allein die förmliche Beiziehung von Erkenntnissen der Verfassungsschutzbehörden diesen "tatrichterlichen Beweisnotstand" beseitigen kann, erscheint zweifelhaft, da auch in diesem Fall keine eigenen Feststellungen des Gerichtes, sondern die anderen als gerichtlichen Zwecken dienenden Berichte der zuständigen Behörden des Verfassungsschutzes das Urteil ausschließlich tragen. Wird das gerichtliche Urteil allein auf Erkenntnisse der Sicherheitsbehörden gestützt, verletzt dies § 86 Abs. 1 VwGO. Während für die richterlichen Tatsachenfeststellungen das Regelbeweismaß gilt, reicht für die Veröffentlichung in Berichten der Verfassungsschutzbehörden, welche das angefochtene Berufungsurteil ausschließlich tragen, bereits der 191 BayVGH, NVwZ 2006, 227 (228), mit Hinweis auf BVerfG (Kammer), InfAuslR 2005, 372 (373 f.) = NVwZ 2005, 1053. 192 BayVGH, 193 VGH 194 NVwZ 2006, 227 (228 f.). BW, InfAuslR 2008, 159 (161) = EZAR NF 42 Nr. 7. BVerwG, Urteil vom 25. Oktober 2011 - BVerwG 1 C 13.10, Rdn. 25. 38 „Hinweis auf den Verdacht“ verfassungsfeindlicher Bestrebungen aus.195 Soweit die Behörde auf nachrichtendienstliche Erkenntnisse zurückgreift, muss dem Betroffenen Gelegenheit gegeben werden, hierzu konkret Stellung nehmen und die ihm vorgehaltenen Erkenntnisse widerlegen zu können.196 Werden Aussagen von V-Leuten herangezogen, ist die Rechtsprechung des BVerfG zur Verwertung von V-Mann-Aussagen durch Ermittlungsbeamte als „Zeugen vom Hörensagen“ zu beachten und zugrunde zu legen.197 Dies gilt insbesondere, wenn die mitgeteilten Erkenntnisse bestritten werden. Die Verwertung der Aussagen von Zeugen vom Hörensagen ist weder grundsätzlich noch im Hinblick auf die mittelbare Einführung von V-MannErkenntnissen bei Beachtung der verfassungsgerichtlichen Rechtsprechung generell unzulässig. Die besonderen Aufklärungsmöglichkeiten nach § 99 VwGO sind zusätzlich zu beachten. Ebenso sind die besonderen Anforderungen an den Zeugenbeweis beim Wiedererkennen von Personen zu berücksichtigen. 198 Für die Tatsachenfeststellungen sind die einzelnen tatbestandlichen Merkmale der Befugnisnorm des § 54 Nr. 5 AufenthG hinreichend aufzubereiten. Danach sind zunächst Tatsachenfeststellungen zum Zweck der Vereinigung, welcher der Betroffene zugeordnet wird, erforderlich.199 Aus den Gesamtumständen muss sich darüber hinaus mit hinreichender Gewissheit die Folgerung ableiten lassen, dass die vom Betroffenen vorgenommenen Handlungen dazu dienen, den Terrorismus zu unterstützen. Dies ist dann nicht der Fall, wenn sowohl die einzelnen Handlungen wie auch das gesamte Auftreten des Betroffenen in einer Gesamtschau in gleicher Weise durch rechtlich nicht zu beanstandende Lebensumstände erklärt werden können.200 In diesem Zusammenhang sind Tatsachen festzustellen, in welcher Form der Betroffene die Vereinigung, die nach ihrem Zweck den Terrorismus fördert, unterstützt, sei es durch Unterstützung konkreter terroristischer Handlungen, sei es durch persönliche Unterstützungshandlungen hinsichtlich einer Vereinigung, die den Terrorismus unterstützt z.B. durch logististische Unterstützung oder sonstige konkrete Beiträge zur Förderung des Terrorismus. 195 BVerfGE 113, 63 (74). 196 Alexy, in: Hofmann/Hoffmann, Handkommentar zum AuslR, § 54 AufenthG Rn 30. 197 BVerwGE 123, 114 (131) = InfAuslR 2005, 374 = NVwz 2005, 1091, mit Hinweis auf BVerfG (Kammer), NJW 2001, 2245. 198 BayVGH, NVwZ 2006, 227 (228) mit Hinweis auf BVerfG (Kammer), NJW 2003, 2444. BayVGH, Beschl. v. 19.2.2009 – 19 CS 08.1175, mit Hinweis auf BVerwGE 123, 114 (129) = InfAuslR 2005, 374 = NVwz 2005, 1091. 199 200 BayVGH, NVwZ 2006, 1306 (1310). 39 B. Asylrecht I. Verordnung (EG) Nr. 343/2003 (Dublin II-Verordnung) Der EuGH hat am 21. Dezember 2011201 eine notwendige Korrektur des grundlegenden Bausteins des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems (GEAS), der Verordnung (EG) Nr. 343/2003 (Dublin-II-Verordnung), vorgenommen, die ein erster Schritt zur Behebung der Dysfunktionalität dieses Systems sein könnte. Die Verordnung leidet – wie bereits ihr Vorgänger, das Dubliner Übereinkommen vom 15. Juni 1990 - an einem Geburtsfehler: Sie soll nach „objektiven und für die Mitgliedstaaten und die Betroffenen gerechten Kriterien“202 die Verantwortlichkeit der Mitgliedstaaten für die Aufteilung der Asylsuchenden in der Union festlegen, obwohl es bislang ungeachtet aller Bemühungen der Union keine einheitlichen materiellen und verfahrensrechtlichen Standards im Feststellungsverfahen und bei der Statusgewährung gibt. Zudem führt das in der Praxis zumeist relevante Zuständigkeitskriterium der illegalen Einreise (Art. 10) zur übermäßigen Belastung grenznaher Mitgliedstaaten und wirkt so dem selbst gesetzten Ziel gerechter Verantwortungsaufteilung im Sinne der Solidarität (Art. 80 AEUV) entgegen. Das gesamte Asylsystem der Union gerät dadurch in eine Schieflage. In Übereinstimmung mit der Generalanwältin203 stellt der EuGH fest, „eine Anwendung der Verordnung (EG) Nr. 343/2003 auf der Grundlage einer unwiderleglichen Vermutung, dass die Grundrechte des Asylbewerbers in dem für die Entscheidung über seinen Antrag normalerweise zuständigen Mitgliedstaat beachtet werden, ist mit der Pflicht der Mitgliedstaaten zur grundrechtskonformen Auslegung und Anwendung der Verordnung Nr. 343/2003 unvereinbar.“204 Da das Sekundärrecht in dieser Frage nicht eindeutig ist, zieht der EuGH den Grundsatz der grundrechtskonformen Auslegung des Sekundärrechts heran. Diese Feststellung des Gerichtshofs ist für das GEAS von zentraler Bedeutung, da der Gerichtshof hiermit deutlich macht, dass er dieses an den Grundrechten messen will. Dies hat insbesondere für die Praxis der Zustellung (§ 34a Abs. 1 AsylVfG) und den Eilrechtsschutz (§ 34a AsylVfG) Bedeutung. Der EuGH hat sich zwar nicht unmittelbar mit dem Eilrechtsschutz gegen Überstellungen auseinandergesetzt. Aus seinen Ausführungen folgt jedoch, dass wirksamer Eilrechtsschutz zu gewährleisten ist.205 Zwar richtet sich die Durchführung materiellen Unionsrechts grundsätzlich nach nationalem Recht. Wie Art. 3 Abs. 2 die Ausübung des Selbsteintrittsrechts überlässt Art. 19 Abs. 2 der Verordnung die Regelung des Eilrechtsschutzes dem Ermessen der 201 EuGH, NVwZ 2012, 417 – N.S.; s. hierzu Hailbronner/Thym, NVwZ 2012, 406; Marx, NVwZ 2012, 409. 202 Erwägungsgrund Nr. 4 Verordnung (EG) Nr. 343/2003. Hervorhebungen nicht im Orginal. 203 Schlussanträge der Generalanwältin Verica Trstenjak vom 22. September 2011 in der Rechtssache C411/10, Rdn. 118. 204 EuGH, NVwZ 2012,…Rdn. 99 ff – N.S. 205 Marx, NVwZ 2012, 409; a.A. Hailbronner/Thym, NVwZ 2012, 406. 40 Mitgliedstaaten. Dieselben Gründe aber, die dafür sprechen, das Ermessen nach Art. 3 Abs. 2 als ein „Element des GEAS“ zu werten,206 tragen auch die Annahme, dass der in das Ermessen gestellte Eilrechtsschutz nach Art. 19 Abs. 2 ein Element dieses Systems ist und durch die Ausübung dieser Norm Unionsrecht im Sinne von Art. 51 Abs. 1 GRCh durchgeführt wird. Dafür spricht auch die ständige Rechtsprechung des EuGH, wonach Ermessensklauseln nur in Übereinstimmung mit den Rechten der EMRK und der Charta der Grundrechte in Anspruch genommen werden dürfen.207 Es ist also die ständige Rechtsprechung zum primärrechtlichen Rechtsschutz anzuwenden. Es ist nichts dafür ersichtlich, dass diese nicht auf Art. 47 GRCh anzuwenden ist. Der EuGH hat festgestellt, ein nationales Gericht, das Unionsrecht anzuwenden habe, wie hier Art. 3 Abs. 2 Verordnung (EG) Nr. 343/2003, müsse in der Lage sein, einstweilige Anordnungen zu erlassen, um die volle Wirksamkeit der späteren Gerichtsentscheidung über das Bestehen unionaler Rechte sicherzustellen.208 Ein Gericht, das unter diesen Umständen einstweilige Anordnungen erlassen würde, wenn dem nicht eine Vorschrift des nationalen Rechts entgegenstünde, dürfe diese (nationale) Vorschrift nicht anwenden.209 Aus dem aus allgemeinen Grundsätzen wie auch aus Art. 47 GRCh abgeleiteten Grundrecht auf effektiven Rechtsschutz folgt damit als immanenter Bestandteil dieses Grundrechts ein grundrechtlicher Anspruch auf Eilrechtsschutz auf Sicherstellung der vollen Wirksamkeit unionsrechtlich begründeter Rechtspositionen. Ein weiteres durchschlagendes Argument für die Sicherstellung des Eilrechtsschutzes gegen Überstellungen folgt daraus, dass der EuGH N.S in den konventionsrechtlichen Kontext stellt: Der vorlegende britische Court of Appeal wollte geklärt wissen, ob der Schutz der einer von der Verordnung (EG) Nr. 343/2003 erfassten Person durch Art. 1, 18 und 47 GRCh gewährt werde, weiter reiche als der Schutz nach Art. 3 EMRK. Zur Beantwortung dieser Frage weist der EuGH auf die nach dem Ergehen des Vorlagebeschlusses ergangene Entscheidung M.S.S. hin. In dieser bestätigt der EGMR seine gefestigte Rechtsprechung, wonach „jeder Hinweis, wonach die Abschiebung in ein anderes Land den Beschwerdeführer einer Art. 3 EMRK zuwiderlaufenden Gefahr aussetzen werde, nach Art. 13 EMRK eine vollständige und sorgfältige Überprüfung erfordere“.210 Diese Überprüfung könne nicht als nachrangige Verpflichtung behandelt werden, weil die Staaten eine Person nicht abschieben dürften, ohne zuvor ihre Beschwerde, dass die Abschiebung Art. 3 EMRK zuwiderliefe, so strikt wie möglich zu prüfen. Da das belgische Eilrechtsschutzverfahren diese Anforderungen nicht erfüllt habe, sei Art. 13 in Verbindung mit Art. 3 EMRK verletzt worden.211 Die Ausführungen in M.S.S. 206 EuGH, NVwZ 2012, 418 Rdn. 68 – N.S. EuGH, NVwZ 2006, 1033 (1034) Rdn. 58 ff. (62 f.) –EP gegen Rat; EuGH, InfAuslR 2010, 221 = NVwZ 2010, 697 Rdn. 44 – Chakroun. 207 EuGH, Urteil vom 19. Juni 1990, Rs. C-213/89, Rdn. 19 ff., Slg. 1990, I-02433 – Factortame u.a.; EuGH, Urteil vom 11. Januar 2001, Rs. C-1/99 Rdn. 46 - 48 – Kofisa Italia Sr.l 208 209 EuGH, Urteil vom 19. Juni 1990, Rs. C-213/89, Rdn. 21, Slg. 1990, I-02433 – Factortame u.a. Urteil vom 21. Januar 2011 – Nr. 30696/09, Rdn. 387 – M.S.S. Urteil vom 21. Januar 2011 – Nr. 30696/09, Rdn. 387 ff. – M.S.S, mit Verweis auf EGMR, Urt. v. 5. Februar. 2002 – Nr. 51564/99, Rdn. 81 bis 83, – Conka. EGMR, Urt. v. 26. April 2007 – Nr. 25389/05, 210EGMR, 211EGMR, 41 entsprechen der gefestigten Rechtsprechung des EGMR zum Eilrechtsschutz nach Art. 13 EMRK. Indem der EuGH auf die Ausführungen in M.S.S. verweist, welche die Verpflichtungen Belgiens im Zusammenhang mit Art. 3 EMRK betreffen, macht er damit zugleich auch die Ausführungen zu Art. 13 EMRK zum Inhalt des Unionsrechts. Ein zentraler Auslegungsgrundsatz in der Rechtsprechung des EuGH ist, dass unionalen Grundrechten „die gleiche Bedeutung und Tragweite beizumessen ist“ wie entsprechenden Grundrechten nach der Konvention in ihrer „Auslegung durch die Rechtsprechung des EGMR.“212 Das Urteil des EuGH bestätigt zwar das Dubliner System, erfordert aber eine grundrechtskonforme Handhabung der Zuständigkeitskriterien. Stellt Art. 3 Abs. 2 Unionsrecht dar, gilt dies auch für die anderen Zuständigkeitskriterien. Dies hat Auswirkungen auf den Eilrechtsschutz. Daraus folgt, dass § 34a Abs. 2 AsylVfG unionsrechtswidrig und aufzuheben ist. Kollisionen zwischen Verfassungsrecht und Unionsrecht bei Zulassung des Eilrechtsschutzes gegen Überstellungen sind nicht zu erkennen, wohl aber eine Kollision des § 31 Abs. 1 Satz 4 und § 34a AsylVfG mit Unionsrecht, weil diese Normen ja nach der Rechtsprechung des BVerfG den Zweck verfolgen, die unmittelbare Durchführung der Überstellung an den Mitgliedstaat unmittelbar mit der Zustellung zu gewährleisten,213 also dazu führen, dass auch in den Fällen, in denen die Sicherheitsvermutung widerlegt werden könnte, die Zustellungspraxis die Erlangung von Eilrechtsschutz verhindert. Mit dieser gesetzgeberischen Konzeption kann die vom EuGH geforderte Widerleglichkeit der Sicherheitsvermutung nicht praktisch wirksam durchgesetzt werden. Auch der Ausschuss gegen Folter hat in seinen abschließenden Bemerkungen vom November 2011 die Bundesrepublik wegen des fehlenden Eilrechtsschutzes kritisiert und empfohlen, die Vorschrift, welche Rechtsmittel gegen die Überstellung im Verfahren nach der Verordnung (EG) Nr. 343/2003 ausschließt, aufzuheben.214 II. Streitgegenstand im Asylverfahren Nach der gefestigten Rechtsprechung des BVerwG sind nationale Abschiebungshindernisse nachrangig gegenüber dem unionsrechtlichen subsidiären Schutz. Die „Abschiebungsverbote“ des § 60 Abs. 2, 3 und 7 Satz 2 AufenthG (Art. 15 RL 2004/83/EG) bilden einen eigenständigen, vorrangig vor den verbleibenden nationalen Abschiebungsverboten des § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 AufenthG zu prüfenden Streitgegenstand.215 Begehrt der Antragsteller Rdn. 66 bis 67 – Gebremedhin; so bereits EGMR, Urt. v. 11. Dezember 2000 – Nr. 42502/06, Rdn. 102 – Muminov. 212 EuGH, NVwZ 2012, 97 (100) Rdn. 70 – Derici. 213 BVerfGE 94, 49 (105 f.) = EZAR 208 Nr. 7 = NVwZ 1996, 700 (702). 214 Ausschuss gegen Folter, Protokoll der 47. Tagung vom 31. Oktober bis zum 25. November 2011: Prüfung der von den Vertragsstaaten nach Artikel 18 des Übereinkommens vorgelegten Berichte – Deutschland, Rdn. 22. 215BVerwGE 134, 188 Rdn. 9 = EZAR 69 Nr. 7 = InfAuslR 2010, 404; BVerwGE 131, 198 (???) Rdn. 11 ff. = EZAR 69 Nr. 7 = InfAuslR 2010, 404; BVerwGE 136, 360 (365) Rdn. 16 f. = EZAR 69 Nr. 7 = InfAuslR 2010, 404; BVerwGE 137, 226 (229) Rdn. 7 f. = InfAuslR 2010, 249; Hess.VGH, EZAR NF 66 Nr. 1, S. 4 f.; Michael, Hoppe, ZAR 2010, 164 (169). 42 unionsrechtlichen subsidiären Schutz und steht ihm zugleich ein nachrangiges nationales Abschiebungsverbot zu, muss er sich nicht auf dieses verweisen lassen. Auch wenn ihm aufgrund des nachrangigen Abschiebungsverbotes ein Aufenthaltstitel nach § 25 Abs. 3 AufenthG erteilt worden ist, hat er weiterhin Anspruch auf Gewährung unionsrechtlichen subsidiären Schutzes, denn die mit diesem verbundenen Rechte erschöpfen sich nicht in der Erteilung eines befristeten Aufenthaltstitels. Zudem würde es dem Sinn und Zweck der Richtlinie 2004/83/EG, die von einer Verpflichtung der Mitgliedstaaten zur Zuerkennung des subsidiären Schutzstatus ausgeht (Art. 18), widersprechen, wenn dem Antragsteller mit Rücksicht auf den nach nationalem Recht erteilten befristeten Aufenthaltstitel eine Entscheidung über das Vorliegen eines unionsrechtllich begründeten Schutzes versagt würde.216 Das BVerwG geht noch einen Schritt weiter und bejaht ein Rechtsschutzinteresse an der Feststellung eines unionsrechtlichen Abschiebungshindernisses, wenn der Antragsteller über den nationalen subsidiären Schutz bereits in den Besitz einer Niederlassungserlaubnis nach § 26 Abs. 4 AufenthG gelangt ist. Da der Gesetzgeber entgegen den Vorgaben von Erwägungsgrund Nr. 5 und Art. 2 Buchst. f) und Art. 18 RL 2004/83/EG den Status des subsidiär Schutzberechtigten im nationalen Recht nicht explizit ausgeformt habe, dürften für Rechtssuchende keine Nachteile entstehen. Dies hätten daher ein legitimes Interesse, dass trotz einer gesicherten aufenthaltsrechtlichen Stellung mit Blick auf diesen Schutzstatus und die damit einhergehenden Vergünstigungen über das Bestehen eines unionsrechtlich begründeten Abschiebungsverbotes entschieden werde.217 Beim nationalen Abschiebungsschutz (§ 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 AufenthG) handelt es sich um einen einheitlichen und nicht weiter teilbaren Verfahrensgegenstand mit mehreren Anspruchgrundlagen (§ 60 Abs. 5, Abs. 7 Satz 1 und 3 AufenthG). Dies entspricht der prozessualen Lage beim unionsrechtlichen subsidiären Schutzstatus (§ 47 Rdn. 1).218 Daher ist eine Abschichtung einzelner nationaler Abschiebungsverbote ungeachtet des materiellen Nachrangs des Abschiebungsverbotes in verfassungskonformer Auslegung des § 60 Abs. 7 Satz 1 und 3 AufenthG nicht zulässig.219 Das BVerwG hat für die Auslegung und Anwendung des § 60 Abs. 5 AufenthG auf den zielstaatsbezogenen Charakter dieses Abschiebungsverbotes hingewiesen. Bei § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG folgt dies bereits aus dem Wortlaut der Norm („dort“).220 Grundlegend für die Konkretisierung rechtlicher Abschiebungshindernisse nach deutschem Recht ist die Unterscheidung in zielstaatsbezogene 216BVerwGE 217BVerwG, 136, 360 (366) Rdn. 17 f. = EZAR 69 Nr. 7 = InfAuslR 2010, 404. U. v. 17. 11. 2011 – BVerwG 10 C 13.10, Rdn. 12 218BVerwGE 131, 198 Rdn. 11 = EZAR NF 69 Nr. 4 = NVwZ 2008, 1241 = InfAuslR 2008, 474; BVerwG, U. v. 8. 9. 2011 – BVerwG 10 C 14.10, Rdn. 16; BVerwG, U. v. 17. 11. 2011 – BVerwG 10 C 13.10, Rdn. 11. 219BVerwG, 220 U. v. 8. 9. 2011 – BVerwG 10 C 14.10, Rdn. 17; BVerwG, U. v. 8. 9. 2011 – BVerwG 10 C 20.10, Rdn. 16. BVerwGE 122, 271 (276 f.) = EZAR 51 Nr. 2. 43 Abschiebungshindernisse (§ 60 Abs. 2 bis 5, 7 AufenthG), bei denen wegen der Verhältnisse im Zielstaat der Abschiebung eine Abschiebung aus rechtlichen Gründen unzulässig ist, und inlandsbezogene Vollstreckungshemmnisse (§ 60a Abs. 2 AufenthG), bei denen die Abschiebung als solche aus rechtlichen oder tatsächlichen Gründen unzulässig ist.221 Beim subsidiären Schutz folgt der zielstaatsbezogene Charakter der Schädigungsgründe bereits aus der Systematik der Regelungen in Art. 15 RL 2004/83/EG. Wegen der Sperrwirkung des § 60 Abs. 7 Satz 3 AufenthG besteht im Hinblick auf den vorrangigen Schutz nach § 60 Abs. 2, 3 und 7 Satz 2 AufenthG keine Schutzlücke, solange die Zuerkennung von subsidiären Schutz nicht ausgeschlossen ist. Es darf daher über den Antrag nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG nicht entschieden werden. Eine bloße Inzidentprüfung des unionsrechtlichen Schutzes im Rahmen der Entscheidung über die Gewährung von Abschiebungsschutz nach § 60 Abs. 7 Satz 1 und 3 AufenthG wäre keine geeignete Alternative, weil das Ergebnis dieser Prüfung keine Bindungswirkung hätte.222 Daraus folgt, dass vor einer Prüfung nationaler Abschiebungsverbote stets erst die Voraussetzungen des unionsrechtlichen subsidiären Schutzstatus nach § 60 Abs. 2, 3 und 7 Satz 1 AufenthG zu prüfen sind. Auch wenn der Kläger im Verwaltungsstreit kein bestimmtes Rangverhältnis kenntlich macht, muss das Gericht - entsprechend der typischen Interessenlage des Schutzsuchenden – das Begehren des Klägers dahingehend auslegen, dass primär über die unionsrechtlichen Abschiebungsverbote entschieden wird.223 Dies entspricht der gefestigten Rechtsprechung des BVerwG, wonach die einzelnen Ansprüche im Asylverfahren nach dem erkennbaren Regelungszweck des AsylVfG und des AufenthG in einem bestimmten Rangverhältnis in dem Sinne stehen, dass Schutz vor geltend gemachten Gefahren im Heimatstaat vorrangig auf der jeweils den umfassenderen Schutz vermittelnden Stufe zu gewähren ist.224 In den Fällen, in denen das Bundesamt vor der gesetzlichen Umsetzung des Art. 15 RL 2004/83/EG durch das Richtlinienumsetzungsgesetz am 28. August 2007 nicht über den unionsrechtlichen subsidiären Schutz entschieden hatte, wächst der unionsrechtliche subsidiäre Schutz im anhängigen Verwaltungsstreit automatisch an. Es braucht nicht erst ein neues Verwaltungsverfahren beim Bundesamt 221 S. hierzu Marx, Kommentar zum AsylVfG, 7. Aufl., 2008, § 24 Rdn. 82 ff., Marx, Aufenthalts-, Asyl- und Flüchtlingsrecht, 3. Aufl., 2007. § 6 Rdn. 63, 72, 178, 250, § 7 Rdn. 435 ff. 222 BVerwG, U. v. 8. 9. 2011 – BVerwG 10 C 14.10, Rdn. 11; BVerwG, U. v. 8. 9. 2011 – BVerwG 10 C 20.10, Rdn. 8 ff. 223 BVerwGE 137, 226 (230) Rdn. 10 = InfAuslR 2010, 249; Hess.VGH, EZAR NF 66 Nr. 1, S. 4 f.; so bereits Marx, Kommentar zum AsylVfG, 7. Aufl., 2009, § 74 Rdn. 34 ff. 224BVerwGE 104, 260 (262) = InfAuslR 1997, 420 (421); bekräftigt BVerwGE 114, 16 (27) = InfAuslR 2001, 353 = EZAR 202 Nr. 31; BVerwGE 115, 111 (117) = EZAR 631 Nr. 52 = NVwZ 2002, 343; BVerwGE 115, 267 (272) = NVwZ 2002, 855; BVerwGE 116, 326 (328f.) = EZAR 631 Nr. 57 = NVwZ 2003, 356 = InfAuslR 2003, 74; BVerwG, B. v. 24. 5. 2000 - BVerwG 9 B 144.00; BVerwG, InfAuslR 2004, 43 (44); VGH BW, AuAS 2000, 190 (191); BVerwG, InfAuslR 2003, 74 (75) = AuAS 2003, 30; EZAR 631 Nr. 57 = NVwZ 2003, 356 = InfAuslR 2003, 74 44 durchgeführt werden.225 Die nationalen Abschiebungsverbote bleiben unbeschieden, wenn der unionsrechtliche Schutz durchgreift. Über diese ist aber dann eine Entscheidung herbeizuführen, wenn der unionsrechtliche Status versagt wird. In diesem Fall entsteht auch wieder eine Schutzlücke und damit ein Rechtsschutzbedürfnis für die Anwendung des § 60 Abs. 7 Satz 3 AufenthG (Rdn. 3). Falls eine gerichtliche Entscheidung, in der das Anwachsen des unionsrechtlich begründeten Schutzes in Übergangsfällen nicht berücksichtigt worden ist, rechtskräftig geworden ist, ist die Rechtshängigkeit dieses Teils des Streitgegenstandes entfallen und kann dieses unbeschieden gebliebene Begehren beim Bundesamt geltend gemacht werden.226 III. Ausschluss vom Flüchtlingsschutz Allgemein anerkannt ist danach, dass Art. 1 F Buchst. b) GFK eine einzelfallbezogene Prüfung aller Umstände mit dem Ziel erfordert, festzustellen, ob von dem Betroffenen gegenwärtig noch eine Gefahr für die Sicherheit des Aufnahmelandes ausgeht. Demgegenüber behandelt der EuGH Buchst. b) und c) von Art. 1 F GFK in diesem Gesichtspunkt nach einheitlichen Kriterien. Diese Ausschlussgründe seien geschaffen worden, um Personen auszuschließen, die des Schutzes für unwürdig angesehen würden und zu verhindern, dass dieser Schutz den Urhebern bestimmter schwerwiegender Straftaten ermögliche, sich einer strafrechtlichen Verantwortung zu entziehen. Es widerspreche dieser doppelten Zielsetzung, den Ausschluss vom Bestehen einer gegenwärtigen Gefahr für den Aufnahmemitgliedstaat abhängig zu machen. Nach der Systematik der Richtlinie sei die Frage, ob vom Flüchtling eine gegenwärtige Gefahr ausgehe, hingegen bei der Anwendung von Art. 14 Abs. 4 Buchst. a) RL 2004/83/EG zu berücksichtigen.227 Umstritten ist darüber hinaus auch, ob Art. 1 F Buchst. b) GFK eine Abwägung der befürchteten Verfolgung gegen die Art der begangenen Straftat voraussetzt (Verhältnismäßigkeitsprüfung). Der Zusammenhang zur Frage der gegenwärtigen Gefahr ist evident. Es erscheint nicht verhältnismäßig, eine Person, die begründete Furcht vor Verfolgung hat und nicht wegen eines internationalen Verbrechens nach Art. 1 F Buchst. a) GFK schutzunwürdig ist, selbst dann noch vom Flüchtlingsschutz auszuschließen, wenn eine Gefahr für die Sicherheit des Aufnahmestaates nicht mehr besteht. Es ist schlechthin nicht nachvollziehbar, aus welchen Gründen die Schutzgewährung zugunsten eines derartigen Flüchtlings die Integrität des Flüchtlingsrechts gefährden könnte. In der Staatenpraxis und im Schrifttum wird die Verhältnismäßigkeitsprüfung als sinnvolles Instrument zur sachgerechten Anwendung von Art. 1 F GFK gehandhabt. So muss nach der kanadischen Rechtsprechung zwischen den Umständen, die auf den »schwerwiegenden« und jenen, die auf den BVerwGE 136, 360 (365) Rdn. 16 = EZAR 69 Nr. 7 = InfAuslR 2010, 404; BVerwG, U. v. 8. 9. 2011 – BVerwG 10 C 14.10, Rdn. 11. 225 BVerwG, U. v. 8. 9. 2011 – BVerwG 10 C 14.10, Rdn. 14 ff., mit Verweis auf BVerwGE 95, 269 (274) = EZAR 230 Nr. 3 = NVwZ 1994, 497 = InfAuslR 1994, 196. 226 227 EuGH, InfAuslR 2011, 40 (42) = NVwZ 2011, 285 = AuAS 2011, 43 Rdn. 101 bis 105 – B und D. 45 nichtpolitischen Charakter des Deliktes hinweisen, unterschieden werden, weil eine humanitäre Abwägung zwischen dem Individuum, das Furcht vor Verfolgung hegt, und den legitimen Interessen des Staates, kriminelle Handlungen zu verfolgen, vollzogen werden müsse.228 Hingegen wendet sich der Oberste Gerichtshof der Vereinigten Staaten im ausdrücklichen Gegensatz zum Handbuch von UNHCR dagegen, das Verfolgungsrisiko gegen das Gewicht der strafrechtlichen Verfehlungen abzuwägen, verweist aber andererseits darauf, dass bei der Ermittlung des Gewichts der Schwere der Straftat zu prüfen sei, ob der politische Charakter den gemeinrechtlichen überwiege,229 wendet damit im Ergebnis ebenfalls den Verhältnismäßigkeitstest an. Der EuGH lehnt demgegenüber das Abwägungsgebot ohne Auseinandersetzung mit der entgegenstehenden Staatenpraxis und Literatur ab. Der Ausschluss hänge mit der Schwere der begangenen Tat zusammen, die von einem derartigen Grad sein müsse, dass der Antragsteller nicht schutzbedürftig sei. Berücksichtige die Behörde bereits im Rahmen ihrer Beurteilung der Schwere der begangenen Handlungen und der individuellen Verantwortung des Antragstellers alle Umstände, die für diese Handlungen und für die Lage der Person kennzeichnend seien und komme sie zu dem Schluss, dass Art. 1 F Buchst. b) GFK Anwendung finde, könne sie nicht zur Vornahme einer Verhältnismäßigkeitsprüfung verpflichtet sein, die eine erneute Beurteilung des Schweregrades der begangenen Handlung einschließe.230 Die Tatsache, dass eine Gruppierung auf einer Liste »terroristischer Organisationen« der internationalen Gemeinschaft oder sogar einzelner Staaten verzeichnet und der Antragsteller mit einer derartigen Gruppierung verbunden ist, rechtfertigt als solche keine von den allgemeinen Grundsätzen abweichende Beurteilung. Keinesfalls begründet allein dieser Umstand einen automatischen Ausschluss vom Flüchtlingsschutz. Der EuGH weist darauf hin, dass nur „schwerwiegende Gründe“ den Ausschluss rechtfertigen. Nach dem Wortlaut von Art. 12 Abs. 2 Buchst. b) und c) 2004/83/EG setzt deren Anwendung voraus, dass „in jedem Einzelfall eine Würdigung der genauen tatsächlichen Umstände“ erforderlich ist. Folglich kann allein die Tatsache der Zugehörigkeit zu einer gelisteten Organisation nicht den automatischen Ausschluss vom Flüchtlingsschutz bewirken.231 Der EuGH fordert „eine individuelle Prüfung der genauen tatsächlichen Umstände.“ Dabei ist insbesondere zu berücksichtigen, dass der betreffenden Person „ein Teil der Verantwortung für Handlungen, die von der fraglichen Organisation im Zeitraum der Mitgliedschaft der Person in dieser Organisation begangen wurden, zugerechnet werden kann.“ Diese individuelle Canada Supreme Court (1998) 1 S.C.R. 982 Rdn. 73 – Pushpanathan; Canada Federal Court (1998) 1 SCR 982, Rdn. 73 – Pushpanathan v. Canada; Canada Court of Appeal (2000) 4 F.C. 390 (2000) F.C.J. No. 1180 Rdn. 6– San Tong Chan. 228 Court, 3 May 1999, www,unhcr.org/refworld/docid/3ae6b74b0.html – Agguire-Agguire; Court of Appeal (Sec. Circuit), 989 F.2d 603, Rdn. 97 f. – McMullen. 229Supreme 230 EuGH, InfAuslR 2011, 40 (43) = NVwZ 2011, 285 = AuAS 2011, 43 Rdn. 108 ff. – B. und D. 231 EuGH, InfAuslR 2011, 40 (41) = = NVwZ 2011, 285 = AuAS 2011, 43 Rdn. 87 ff. – B. und D. 46 Verantwortlichkeit ist anhand objektiver wie subjektiver Kriterien zu beurteilen. Zu prüfen ist die Rolle, welche der Antragsteller bei der Verwirklichung der betreffenden Handlungen tatsächlich gespielt hat, seine Position innerhalb dieser Organisation, der Grad der Kenntnis, die er von deren Handlungen hatte oder haben musste, die etwaigen Pressionen, denen er ausgesetzt gewesen wäre, oder andere Faktoren, die geeignet gewesen seien, sein Verhalten zu beeinflussen.“232 Abschließend stellt der Gerichtshof fest, habe der Antragsteller eine hervorgehobene Position „in einer sich terroristischer Methoden bedienenden Organisation“ innegehabt, könne vermutet werden, dass er „eine individuelle Verantwortung für von dieser Organisation im relevanten Zeitraum begangene Handlungen trägt.“ Diese befreie die Behörde aber nicht von der Prüfung sämtlicher erheblicher Umstände“233 Eine Vermutung hatte der Generalanwalt Mengozzi in seinem Schlussantrag nicht aufgestellt.234 Der EuGH vermeidet den Begriff Regelvermutung, sodass nicht die Grundsätze zur Widerlegung heranzuziehen sind. Vielmehr weist er darauf hin, dass bei einer „hervorgehobenen Position“ eine individuelle Verantwortlichkeit vermutet werden könne. Ob diese Vermutung gerechtfertigt ist, erfordert nach seiner Rechtsprechung aber eine Prüfung sämtlicher erheblicher Umstände.“235 Dies erfordert insbesondere Art. 25 Abs. 3 Bucht. d) i) IStGH-Statut, der Regelvermutungen nicht zulässt. Das BVerwG hat bei der Umsetzung der Entscheidung des EuGH ausdrücklich darauf hingewiesen, dass bei einer hervorgehobenen Position des Antragstellers in einer sich terroristischer Methoden bedienenden Organisation zwar eine Vermutung seiner individuellen Verantwortung angenommen werden könne. Gleichwohl bedürfe es aber der Prüfung sämtlicher Umstände des Einzelfalles.236 Art. 12 Abs. 3 RL 2004/83/EG ist nach Maßgabe von Art. 25 Abs. 3 IStGH-Statut auszulegen (Rdn. 132 f.) ist. Diese Frage betrifft nicht das bei Art. 1 F GFK im Vergleich zum Strafverfahrensrecht abgeschwächte Beweismaß, sondern die materiellen Zurechnungskriterien. Um Konflikte mit dem Völkerstrafrecht auszuschließen, ist Art. 25 IStGH-Statut anzuwenden. Danach wird der aktive Terrorist, der Teilnehmer im engeren strafrechtlichen Sinne (Abs. 3 Buchst. a) bis c)) sowie derjenige, der im Vorfeld Unterstützungshandlungen zugunsten terroristischer Organisationen vornimmt, erfasst.237 Eine starre Vermutungsregel ist insoweit nicht nur wenig hilfreich, sondern verhindert, dass die vom Gerichtshof für erforderlich erachtete Einzelfallprüfung durchgeführt wird. Auch die britische Rechtsprechung geht bei hochrangigen Funktionären „zumeist“ von 232EuGH, InfAuslR 2011, 40 (94 ff.) = NVwZ 2011, 285 = AuAS 2011, 43 – B. und D. 233 EuGH, InfAuslR 2011, 40 (98) = NVwZ 2011, 285 = AuAS 2011, 43 – B. und D, Roland Bell, InfAuslR 2011, 214 (215). 234 Generalanwalt Paolo Mengozzi, Schlussanträge vom 1. Juni 2010 in den verbundenen Rechtssachen C.57/09 und D 101/09, Rdn. 74 bis 82. EuGH, InfAuslR 2011, 40 (98) = NVwZ 2011, 285 = AuAS 2011, 43 – B. und C, dagegen Bell, InfAuslR 2011, 214 (215). 235 236 BVerwG, U. v. 7. 7. 2011 – BVerwG 10 C 26.10 Rdn. 35. 237 BVerfGE 80, 315 (339) = EZAR 201 Nr. 20 = NVwZ 1990, 151 = InfAuslR 1990, 21; BVerwGE 132, 79 (88) = EZAR NF 68 Nr. 3 = NVwZ 2009, 402 (LS); UK Supreme Court (2010) UKSC 15 Rdn. 31 f. – JS. 47 einer Verantwortlichkeit des Betroffenen für die während des Zeitraums seiner Funktionärstätigkeit begangenen Verbrechen der Organisation aus238 und weist damit diesem Gesichtspunkt ein besonderes Gewicht zu, hebt aber die Pflicht zur Einzelfallwürdigung sämtlicher Umstände des Einzelfalls nicht auf. IV. „Wegfall-der-Umstände“-Klausel (Art. 1 C Nr. 5 Satz 1 und 6 Satz 7 GFK, Art. 11 Abs. 1 Buchst. e) und f) RL 2004/83/EG) 1. Dauerhafte und grundlegende Veränderung der Umstände Nach der Rechtsprechung des EuGH haben die Behörden sich im Blick auf die individuelle Lage des Flüchtlings zu vergewissern, ob durch die veränderten Umstände die für die Flüchtlingsanerkennung maßgebenden Ursachen beseitigt worden sind. Nach Art. 7 Abs. 2 RL 2004/83/EG ist zu prüfen, ob die Schutzakteure tatsächlich Schutz bieten können, geeignete Schritte eingeleitet haben, um die Verfolgung zu verhindern, dass sie demgemäß insbesondere über wirksame Rechtsvorschriften zur Ermittlung, Strafverfolgung und Ahndung von Verfolgungshandlungen verfügen und der Flüchtling Zugang zu diesem Schutz haben wird. Für diese Nachprüfung haben sie die Funktionsweise der Institutionen, Behörden und Sicherheitskräfte einerseits und aller Gruppen oder Einheiten des Herkunftslandes, die durch ihr Handeln oder Unterlassen für Verfolgungen gegenüber dem Flüchtling ursächlich werden können, andererseits zu beurteilen. Art. 4 Abs. 3 Buchst. a) RL 2004/83/EG, der sich auf die Prüfung der Ereignisse und Umstände bezieht, zielt insbesondere auf die Rechts- und Verwaltungsvorschriften des Herkunftslandes und die Art und Weise, in der sie angewandt werden, sowie den Umfang, in dem in diesem die Achtung grundlegender Menschenrechte gewährleistet ist.239 Auch nach der Rechtsprechung des BVerwG ist mit dem Begriff »Wegfall der Umstände« im Sinne von Art. 1 C Nr. 5 Abs. 1 und Nr. 6 Abs. 1 GFK, aufgrund derer die Anerkennung erfolgt, »eine nachträgliche erhebliche und nicht nur vorübergehende Änderung der für die Anerkennung maßgeblichen Verhältnisse« zu verstehen.240 Es müsse eine prinzipiell schutzmächtige Herrschaftsgewalt im Sinne von Art. 7 RL 2004/83/EG im Herkunftsland vorhanden sein und, anders als nach der bisherigen Rechtsprechung des BVerwG, dem Betroffenen auch kein ernsthafter Schaden im Sinne von Art. 15 RL 2004/83/EG und keine sonstigen Gefahren etwa im Hinblick auf die allgemeine Sicherheitslage oder die allgemeinen Lebensbedingungen drohten.241 2. Spiegelbildlicher Ansatz 238 UK Supreme Court (2010) UKSC 15 Rdn. 29 und 31 – JS. 239 EuGH, InfAuslR 2010, 188 (190) = NVwZ 2010, 505 = AuAS 2010, 150 Rdn. 69 bis 71 – Abdulla. 240 BVerwGE 124, 276 (283 f) = NVwZ 2006, 707 = InfAuslR 2006, 244 = AuAS 2006, 92; BVerwG, EZAR NF 60 Nr. 6 = InfAuslR 2008, 183 = AuAS 2008, 118; BVerwG, NVwZ 2006, 1420 (1421). 241 BVerwG, InfAuslR 2008,183 = AuAS 2008, 118. 48 Umstritten ist, ob Art. 1 C Nr. 5 und 6 GFK ein spiegelbildlicher Ansatz mit Art. 1 A Nr. 2 GFK zugrunde liegt, sodass bei Wegfall der für die Statuszuerkennung maßgebenden Verfolgung es nicht mehr des Schutzes gegen diese Verfolgung bedarf und deshalb der Status auch dann aufzuheben ist, wenn die Sicherheitslage noch instabil ist. Dagegen wird argumentiert, erst wenn wieder wirksame Schutzstrukturen hergestellt seien, dürfe der Status aufgehoben werden. Die Rechtsprechung des EuGH legt den Schwerpunkt der Prüfung auf die Schutzakteure und in diesem Zusammenhang insbesondere auch auf internationale Organisationen. Der Gerichtshof vermeidet andererseits eine Auseinandersetzung mit der Frage, ob die Beendigung des Flüchtlingsstatus eine Wiederherstellung wirksamer Schutzstrukturen voraussetzt. Fraglich ist aber, ob aus diesem Schweigen auf eine Ablehnung dieser Position geschlossen werden kann.242 Generalanwalt Mazak hatte in seinen Schlussanträgen die Ansicht vertreten, dass die Beendigung des Flüchtlingsstatus von zwei Voraussetzungen abhängig sei, zwischen denen ein innerer Zusammenhang bestehe. Festzustellen sei, dass die Umstände, aufgrund deren der Flüchtling anerkannt worden sei, weggefallen seien und das Herkunftsland sowohl in der Lage wie auch willens sei, den Flüchtling zu schützen. Genüge allein die Feststellung des Wegfalls der Umstände, aufgrund deren eine Person als Flüchtling anerkannt worden sei, wäre die Formulierung in Art. 1 C Nr. 5 GFK „nicht mehr ablehnen kann, den Schutz des Landes in Anspruch zu nehmen, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt“, völlig überflüssig. Das Erlöschen der Flüchtlingseigenschaft beruhe daher darauf, dass es im Herkunftsland zu einer Veränderung der Umstände gekommen sei, die es dem Betroffenen erlaube, den Schutz dieses Landes tatsächlich in Anspruch zu nehmen.243 Wortlaut und Entstehungsgeschichte der Beendigungsklauseln des Art. 1 C Nr. 5 und 6 GFK, die Systematik der Konventionsbestimmungen sowie ihr Ziel und Zweck sprechen gegen den spiegelbildliche Ansatz. Dieser verkürzt das besondere Erfordernis, dass nach Art. 1 C Nr. 5 Satz 1 2. Hs. GFK zusätzlich zum Wegfall der Umstände, welche die Furcht vor Verfolgung begründeten, zu prüfen ist, ob es der Flüchtling zumutbarerweise ablehnen kann, den Schutz des Herkunftslandes in Anspruch zu nehmen, auf die Frage des Schutzes der früheren Verfolgung. Die behauptete Symmetrie zwischen Art. 1 A Nr. 2 GFK und Art. 1 C Nr. 5 GFK besteht nur im Blick auf den ersten Halbsatz von Art. 1 C Nr. 5 GFK, nämlich auf den Wegfall der Umstände, welche die frühere Verfolgung verursacht haben. Aus dem zweiten Absatz dieser Norm folgt jedoch das zusätzliche Erfordernis, zu prüfen, ob es der Flüchtling aufgrund der veränderten Umstände nunmehr ablehnen kann, den Schutz des Herkunftslandes in Anspruch zu nehmen. Anders als die angelsächsiche Rechtsprechung unterstellt, gibt es keine zwingende Symmetrie zwischen dem Schutzbegriff in Art. 1 C Nr. 2 einerseits und Art. 1 C Nr. 5 Satz 1 GFK andererseits. Gegen diese Symmetrie spricht der Wortlaut des Art. 1 C Nr. 5 Satz 1 2. Hs. GFK. Bei einer spiegelbildlichen Betrachtung hätte es des zweiten Halbsatzes nicht bedurft. 242 Errera, International Journal of Refugee Law 2011521 (535). 243 Jan Mazák, Schlussanträge in den verbundenen Rechtssachen C-175/08 u.a. Rdn. 46 f. – Abdulla. 49 In der angelsächsischen Rechtsprechung wird in diesem Zusammenhang betont, dass die Umstände, die im Zeitpunkt der Entscheidung über die Flüchtlingseigenschaft, im Herkunftsland vorgeherrscht und die Furcht vor Verfolgung ausgelöst hatten, auch die Prüfung im Rahmen der Beendigungsklauseln bestimmen. Hatten etwa die Verfolger im damaligen Zeitpunkt weite Bereiche des Staatsgebietes beherrscht, ist aber ihr Einfluss im Zeitpunkt der Entscheidung über die Beendigung des Flüchtlingsstatus weitgehend zurück gedrängt worden, reicht die Feststellung, dass es für die Verfolger keine realistische Chance auf Rückeroberung der Macht gibt, nicht für die Beendigung des Status aus. Vielmehr muss die Behörde sorgfältig prüfen, ob und in welchem Umfang Aktivitäten aus den Reststrukturen der früheren Verfolger im Herkunftsland, insbesondere in der Herkunftsregion des Flüchtlings, hervorgebracht werden und ob die Regierung fähig ist, hiergegen wirksamen Schutz zu gewähren. Ist die Situation noch immer instabil und die Regierung nicht in der Lage, den Flüchtling gegen die Verfolger zu schützen, haben sich die Umstände, aufgrund deren er als Flüchtling anerkannt wurde, nicht verändert.244 Auch nach dem spiegelbildlichen Ansatz ist damit eine Beendigung des Flüchtlingsstatus erst dann zulässig, wenn sich die Umstände, aufgrund deren der Flüchtling anerkannt wurde, grundlegend und dauerhaft verändert haben, die Sicherheitssituation also stabil ist und die politischen Machtstrukturen, unter denen früher die Verfolgung ausgeübt wurde, nicht mehr bestehen. Sind noch Reststrukturen der früheren Verfolgungsakteure aktiv, löst dies Zweifel an der wirksamen Fähigkeit, gegen diese Schutz zu gewähren, aus. Solange es der Regierung nicht gelingt, diese Strukturen vollständig zu beseitigen, spricht viel dagegen, dass es der Regierung gelungen ist, ein wirksames Schutzsystem zu errichten. Es geht hier nicht um allgemeine Gefahren, z.B. aufgrund von Kriegen, Revolutionen oder Naturkatastrophen, die als solche unerheblich sind.245 Vielmehr bedürfen derart allgemeine Gefahren einer sorgfältigen Analyse, ob in diesen auch Aktivitäten von Restbeständen früherer Verfolgungsakteure zum Ausdruck kommen. Ist dies der Fall, ist die Änderung nicht dauerhaft und wird dadurch die Schutzfähigkeit in Frage gestellt. Das Schutzbedürfnis entfällt daher erst dann, wenn frühere Verfolgungsstrukturen als ein in der Vergangenheit abgeschlossener Prozess erscheinen. Gerade in fragilen und historisch nicht abgeschlossenen Übergangsprozessen wie z.B. in Afghanistan und im Irak kann daher auch nach dem spiegelbildlichen Ansatz solange nicht ein Wegfall der Umstände angenommen werden, wie nicht ein effektives Schutzsystem hervorgebracht wurde und die früheren Machtstrukturen wirksam aufgelöst worden sind. Wird das spiegelbildliche Konzept so verstanden, können Differenzen zum weitergehenden Schutzansatz kaum noch ausgemacht werden. Im Fokus beider Ansätze steht die wirksame Wiederherstellung nationaler Schutzstrukturen. Dabei geht es nicht um einen lückenlosen Schutz gegen jede denkbare Form von Menschenrechtsverletzungen, sondern um einen wirksamen Schutz gegen 244 Australia Federal Court (2005) FCAFC 136 Rdn. 73 ff. – QAAH, zu den Taliban in Afghanistan. 245 BVerwG, EZAR NF 60 Nr. 6, S. 9 = AuAS 2008, 118. 50 Verfolgungen, die aus den Restbeständen der früheren Machtstrukturen hervorgehen können. Solange diese nicht vollständig beseitigt sind, bestehen Zweifel, ob die Übergangsregierung oder die demokratisch gewählte Regierung in der Lage ist, wirksamen Schutz gegen Bedrohungen sicherzustellen, die aus diesen Restbeständen hervorbrechen können (Rdn. 74). Die Etablierung einer funktionsfähigen Regierung und grundlegender Verwaltungsstrukturen sowie eine angemessene Infrastruktur, innerhalb derer die Bewohner ihre Rechte ausüben können,246 ist das offenkundigste Anzeichen für das vollständige Verschwinden früherer Machtstrukturen. Auch der spiegelbildliche Ansatz des EuGH zwingt zur Prüfung, ob die Faktoren, die die Verfolgungsfurcht begründeten, „dauerhaft beseitigt“ sind. Die Beurteilung der Veränderung der Umstände als „erheblich und nicht nur vorübergehend“ setzt danach das „Fehlen begründeter Befürchtung“ voraus, Verfolgungen ausgesetzt zu sein, die schwerwiegende Menschenrechtsverletzungen darstellen (Rdn. 92).247 Die Prüfung ist also nicht ausschließlich auf den Wegfall der Verfolgungsgefahr beschränkt, sondern erfasst die Faktoren, die für die frühere Verfolgung von Bedeutung waren. Diese sind im Einzelnen zu analysieren, bevor ein Schluss auf den qualifizierten Charakter der Änderungen möglich ist.248 Da der Gerichtshof an der Schutzunfähigkeit anknüpft, sind im Beendigungsverfahren auch die Faktoren zu prüfen, die im Statusverfahren für die fehlende Schutzfähigkeit, z.B. Mangel an Rechtsstaatlichkeit, allgemein schwaches Niveau der Achtung der Menschenrechte, ursächlich waren.249 Ob der Gerichtshof diese Konsequenz ziehen wollte, ist indes fraglich.250 Aus der Forderung nach einer grundlegenden und dauerhaften Änderung der die frühere Verfolgung begründenden Verhältnisse folgt jedoch, dass erst die Hervorbringung wirksamer Schutzstrukturen Zweifel an der Schutzfähigkeit gegen frühere Verfolgungen beseitigen251Es geht beiden Ansätzen also darum, in historischen Übergangsprozessen den Flüchtlingsstatus nicht vorschnell zu beenden. Zutreffend weisen Rechtsprechung und Literatur darauf hin, dass diese Frage letztlich durch ein angemessenes Verfahren gelöst werden muss (Rdn. 106 ff.).252 3. Neuartige Umstände Der Flüchtlingsstatus darf nur beendet werden, wenn nicht mehr mit dem Wiederaufleben der ursprünglichen oder der Entstehung neuer Fluchtgründe 246 UNHCR, NVwZ-Beil. 2003, 57 (59); UNHCR, AuAS 2005, 211 (212 f.). 247 EuGH, InfAuslR 2010, 188 (190) = NVwZ 2010, 505 = AuAS 2010, 150 Rdn. 73 – Abdulla. 248 Australia Federal Court (2005) FCAFC 136 Rdn. 73 ff. – QAAH.. 249 Bank, NVwZ 2011, 401 (405). 250 Wittkopf, ZAR 2010, 170 (173). 251Hathaway, The Rights of Refugees under International Law, 2005, , S. 925. Australia Federal Court (2005) FCAFC 136 Rdn. 69 – QAAH; Goodwin-Gill/McAdam, The Refugee in International Law, 3. Aufl., 2007, S. 143; Kneebone/O’Sullivan, in: Andreas Zimmermann, The 1951 Convention relating to the Status of Refugees and its 1967 Protocol, 2011, Article 1 C Rdn. 176. 252 51 gerechnet werden kann.253 Insbesondere im Falle der gewaltsam herbeigeführten Veränderung der politischen Verhältnisse im Herkunftsland, z. B. durch einen Umsturz des bisherigen politischen Regimes oder den militärischen Sieg einer Bürgerkriegspartei, bedarf die Feststellung des dauerhaften Charakters der Änderung der Umstände einer längeren und sorgfältigen Beobachtung der Entwicklungen vor Ort.254 Das BVerwG hatte in diesem Zusammenhang dem EuGH die Frage zur Klärung vorgelegt, ob in einer Situation, in der die bisherigen Umstände, aufgrund deren der Betreffende als Flüchtling anerkannt worden ist, entfallen sind, neue andersartige verfolgungsbegründende Umstände am Wahrscheinlichkeitsmaßstab zu messen sind, der für die Statuszuerkennung gilt oder unter Berücksichtigung der Beweiserleichterung von Art. 4 Abs. 4 RL 2004/83/EG zu beurteilen sind.255 In seiner bisherigen Rechtsprechung hatte das BVerwG in diesem Zusammenhang den allgemeinen Prognosemaßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit angewandt, wenn dem „Betroffenen keine Verfolgungswiederholung im engeren Sinne droht, sondern eine gänzlich neue und andersartige Verfolgung, die in keinem inneren Zusammenhang mit der früheren mehr steht.“256 Auf diese Rechtsprechung hatte das BVerwG in seinem Vorlagebeschluss ausdrücklich hingewiesen.257 Nach dem EuGH kann bei einer derartigen Fallgestaltung Art. 4 Abs. 4 RL 2004/83/EG anwendbar sein, wenn frühere Verfolgungen oder Bedrohungen vorliegen und eine Verknüpfung mit dem in diesem Stadium geprüften Verfolgungsgrund aufwiesen. Dies könne insbesondere der Fall sein, wenn der Flüchtling einen anderen Verfolgungsgrund als den im Anerkennungsverfahren festgestellten geltend mache und er vor seinem ursprünglichen Antrag Verfolgungen oder Bedrohungen ausgesetzt gewesen sei, die aus diesem anderen Grund gegen ihn gerichtet gewesen seien, er diese damals aber nicht geltend gemacht habe oder er nach der Ausreise Verfolgungen oder Bedrohungen aus dem bezeichneten Grund ausgesetzt gewesen sei und diese im Herkunftsland ihren Ursprung hätten.258 Der EuGH wendet also die Beweiskraft früherer Verfolgungen oder Bedrohungen an, wenn der andere Verfolgungsgrund bereits im Anerkennungsverfahren hätte berücksichtigt werden können, der Flüchtling diesen aber nicht vorgebracht hatte, weil er bereits aus anderen Gründen anerkannt wurde. In diesem Fall soll er nicht des Privilegs der Beweiskraftwirkung verlustig gehen, weil ihm wegen der aus anderen Gründen erfolgten Anerkennung kein Vorwurf der fehlenden Mitwirkung gemacht werden kann. Probleme dürfte die nachträgliche Beweisführung, dass der andere Verfolgungsgrund im Anerkennungsverfahren bereits bestanden hatte, 253UNHCR, 254 AuAS 2005, 211 (212). UNHCR, NVwZ-Beil. 2003, 57 (59); UNHCR, AuAS 2005, 211 (212). 255 BVerwG, InfAuslR 2008, 183 = AuAS 2008, 118; BVerwG, NVwZ 2009, 592 = EZAR NF 68 Nr. 4 256 BVerwG, NVwZ 2006, 1420 (1422); BVerwG, NVwZ 2007, 1330 (1331) = InfAuslR 2007, 401 = AuAS 2007, 225; so auch OVG NW, EZAR 69 Nr. 1; OVG Rh-Pf, AuAS 2007, 60; offen gelassen BVerwG, EZAR 214 Nr. 3; BVerwGE 124, 276 (281) = NVwZ 2006, 707 = InfAuslR 2006, 244 = AuAS 2006, 92; BVerwG, NVwZ 2011, 944 (945) = AuAS 2011, 107 (LS); so auch Kathrin Groh, ZAR 2009,1 (7).. 257 BVerwG, EZAR NF 60 Nr. 6, S. 19 = InfAuslR 2008, 183 = AuAS 2008, 118. 258 EuGH, InfAuslR 2010, 188 (190) = NVwZ 2010, 505 = AuAS 2010, 150 Rdn. 96 - Abdulla. 52 bereiten. Im zweiten Fall handelt es sich um objektive Nachfluchtgründe (§ 30 Rdn. 7 ff.), die seit der Ausreise aus dem Herkunftsland bis zur Entscheidung über die Beendigung des Flüchtlingsstatus eingetreten sind, also nicht zwingend bereits im Zeitpunkt der Anerkennungsentscheidung vorgelegen haben müssen. In dem Fall hingegen, in dem der Flüchtling unter Berufung auf den für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft maßgebenden Verfolgungsgrund einwendet, dass nach dem Wegfall der Umstände, aufgrund deren er als Flüchtling anerkannt worden ist, andere Tatsachen eingetreten sind, die eine Furcht vor Verfolgung aus dem gleichen Grund befürchten lassen, richtet sich die Prognoseprüfung nicht nach Art. 4 Abs. 4, sondern nach Art. 11 Abs. 2 RL 2004/83/EG. In diesem Fall ist zu prüfen, ob die behauptete Veränderung der Umstände, z.B. das Verschwinden eines Verfolgers und das anschließende Auftreten eines anderen Verfolgers hinreichend erheblich ist, um die Furcht des Flüchtlings vor Verfolgung nicht mehr als begründet ansehen zu können.259 Damit bestätigt der EuGH die frühere Rechtsprechung des BVerwG (Rdn. 113), zugleich aber wird die These des BVerwG, im Unionsrecht gelte ein „einheitlicher Prognosemaßstab„, widerlegt. 4. Subsidiärer Schutz im Widerrufsverfahren Drohen neuartige Verfolgungsgefahren, die also weder von den früheren Verfolgern ausgehen noch auf den ursprünglichen Verfolgungsgrund zielen, sind diese im Beendigungsverfahren nach Maßgabe der allgemeinen Prognosegrundätze zu prüfen. Davon zu trennen ist der Fall, dass zwar keine neuartigen Verfolgungen drohen, wohl aber ein ernsthafter Schaden im Sinne von Art. 15 RL 2004/83/EG. Hier bestehen also keine flüchtlingsrelevanten Risiken, sondern Gefahren, welche den subsidiären Schutzstatus begründen. Fraglich ist, ob diese im Beendigungsverfahren zu prüfen sind und der Beendigung des Flüchtlingsstatus entgegenstehen. Der übergreifende Schutzansatz will zwar verhindern, dass Flüchtlinge nicht unfreiwillig in Verhältnisse zurückkehren müssen, die möglicherweise zu einer neuerlichen Flucht und der Notwendigkeit der Flüchtlingsanerkennung führen.260 Da ein ernsthafter Schaden nach Art. 15 RL 2004/83/EG (§ 60 Abs. 2, 3 und 7 Satz 2 AufenthG) nicht an einen Konventionsgrund anknüpft, kann dieser die Beibehaltung des Flüchtlingsstatus nicht rechtfertigen. Die humanitäre Klausel stellt allein auf den Kausalzusammenhang zwischen früherer Verfolgung und der fortdauernden schweren psychischen Belastung ab und setzt eine gegenwärtige Gefahr für Leib und Leben nicht voraus. Ein ernsthafter Schaden im Sinne von Art. 15 RL 2004/83/EG kann daher nicht als humanitärer Härtefall im Beendigungverfahren behandelt werden. Allgemein anerkannt ist jedoch, dass im Beendigungsverfahren ein derartiger Schaden zwar nicht die Aufhebung des Flüchtlingsstatus hindert, jedoch im Beendigungsverfahren ein eigenständiges Prüfprogramm erfordert, sodass beim 259 EuGH, InfAuslR 2010, 188 (190) = NVwZ 2010, 505 = AuAS 2010, 150 Rdn. 96 - Abdulla. 260 UNHCR, Richtlinien zur Beendigung des Flüchtlingseigenschaft, NVwZ-Beil. 2003, 57 (57). 53 Vorliegen eines ernsthaften Schaden zwar der Flüchtlingsstatus aufgehoben wird, aber eine Feststellung zum Vorliegen eines ernsthaften Schadens zu treffen ist.261 Für das deutsche Asylverfahren leitet das BVerwG diese Kompetenz aus einer Rechtsanalogie zu den Regelungen in §§ 24 Abs. 2, 31 Abs. 3 Satz 1, 31 Abs. 3 Satz 1, 32, 39 Abs. 2 und 73 Abs. 1 bis 3 AsylVfG ab. Diesen Normen lasse sich als gemeinsamer Leitgedanke entnehmen, dass nach Beendigung des Flüchtlingsstatus nicht offen bleiben kann, ob und in welcher Form subsidiärer Schutz zu gewähren ist.262 Droht ein ernsthafter Schaden, ist eine entsprechende Feststellung geboten und der subsidiäre Schutzstatus zu gewähren. Das BVerwG hatte deshalb den EuGH die Frage vorgelegt, ob im Beendigungsverfahren ein ernsthafter Schaden der Beendigung des Flüchtlingsstatus entgegensteht.263 Der EuGH hat daraufhin festgestellt, dass die Richtlinie zwei unterschiedliche Schutzregelungen im Rahmen des „internationalen Schutzes“ kenne und beide Bereiche verkannt würden, würde die Beendigung des Flüchtlingsstatus von der Feststellung abhängig gemacht, dass die Voraussetzungen für die Anwendung des subsidiären Schutzes nicht erfüllt seien. Daher trete nach der Systematik der Richtlinie das Erlöschen des Flüchtlingsstatus unbeschadet des Rechts des Betroffenen ein, um die Zuerkennung des subsidiären Schutzstatus zu ersuchen.264 V. Subsidiärer Schutz nach Art. 15 Buchst. c) RL 2004/83/EG, § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG 1. Kein Erfordernis der individualbezogenen Gefährdung Die bisherige Rechtsprechung des EuGH zur Frage des maßgeblichen Gefahrengrads bei Art. 15 Buchst. c) RL 2004/83/EG lässt viele Zweifelsfragen offen.265 Manche sind aber auch bereits geklärt. Nach Auffassung des EuGH ist das Adjektiv „individuell“ in der bezeichneten Norm dahin zu verstehen, dass es sich auf schädigende Eingriffe bezieht, die sich gegen Zivilpersonen ungeachtet ihrer Identität richten, wenn der den bestehenden bewaffneten Konflikt kennzeichnende Grad „ein so hohes Niveau erreicht“, dass stichhaltige Gründe für die Annahme bestehen, dass der Antragsteller allein durch seine Anwesenheit in der Region, in der ein bewaffneter Konflikt herrscht, Gefahr läuft, ernsthaften Bedrohungen von Leben oder Unversehrtheit ausgesetzt zu sein.266 Wann im Einzelnen dieser Grad erreicht und anhand welcher Kriterien er festzustellen ist, 261 BVerwG, DVBl. 1996, 624 = VBlBW 1996, 255; BVerwG, InfAuslR 1996, 322 = EZAR 240 Nr. 6 = AuAS 1996, 166; BVerwG, NVwZ-Beil. 1999, 113 (114) = InfAuslR 1999, 373; BVerwGE 124, 276 (284 f.) = NVwZ 2006, 707 = InfAuslR 2006, 244 = AuAS 2006, 92; BVerwG, NVwZ 2007, 1330 (1331) = InfAuslR 2007, 401 = AuAS 2007, 225; VGH BW, EZAR 214 Nr. 4; OVG NW, EZAR 69 Nr. 1; a.A. BayVGH, NVwZ-Beil. 1996, 61. 262 BVerwG, NVwZ-Beil. 1999, 113 (113f.) = InfAuslR 1999, 373. 263 BVerwG, InfAuslR 2008, 183 264 EuGH, InfAuslR 2010, 188 (190) = NVwZ 2010, 505 = AuAS 2010, 150 Rdn. 79 - Abdulla; ebenso Groh, ZAR 2009, 1 (8). 54 d.h, welche Tatsachen in die Prognose einzustellen sind und welcher Gefahrengrad eine ernsthafte Bedrohung begründet, hat der Gerichtshof offen gelassen. Die Mitgliedstaaten handhaben den Elgafaji-Test als „gleitende Skala“ („sliding scale“). Bei fehlenden persönlichen Unterscheidungsmerkmalen wird er jedoch überwiegend auf „außergewöhnlich hohe Gefahren“ beschränkt.267 Dieser extreme Standard ist sicherlich einerseits der auf individuelle Verfolgungen fokussierten traditionellen europäischen Praxis der Schutzgewährung, andererseits aber auch dem Hinweis des Gerichtshofs auf eine „außergewöhnliche Situation“268 geschuldet. UNHCR kommt aufgrund einer Untersuchung der Praxis zu Art. 15 Buchst. c) der Richtlinie – bezogen auf Anträge ohne besondere Unterscheidungsmerkmale – zu dem Schluss, dass nicht nur der Gefahrengrad unklar sei, sondern überdies auch, nach welchen methodologischen Kriterien das Ausmaß willkürlicher Gewalt und die daraus folgende ernsthafte Bedrohung festzustellen seien. Einige Mitgliedstaaten unterschieden nicht klar zwischen dem für Buchst. c) einerseits und dem für Buchst. b) von Art. 15 andererseits erfoderlichen Gefahrengrad, andere verfehlten die in die Zukunft gerichtete Gefahreneinschätzung und wiederum andere unterließen die gebotene methodologisch und prognoserechtlich gebotene Klärung des Standards aus Furcht, einer „Gruppenanerkennung“ die Tür zu öffnen.269 Der Gerichtshof hat die Grundlagen für die methodologischen Kriterien, nach denen das Ausmaß der willkürlichen Gewalt im Herkunftsland oder einer Region in diesem festzustellen ist, bereits geklärt: Art. 15 Buchst. c) RL 2004/83/EG umfasst eine Schadensgefahr „allgemeinerer Art“. Dort ist in einem weiteren Sinne von einer „Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit“ statt von bestimmten, auf den einzelnen zielenden Gewalteinwirkungen die Rede. Außerdem ergibt sich diese Bedrohung „aus einer allgemeinen Lage“ eines bewaffneten Konfliktes.270 Daraus folgt, dass nach dem ersten Prüfungsschritt Feststellung eines bewaffneten Konfliktes im Herkunftsland oder in einer Region in diesem - sowie nach dem zweiten - Feststellung willkürlicher Gewalt - im dritten Prüfungsschritt die Tatsachen und Umstände zu identifizieren sind, die auf eine ernsthafte Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit hinweisen. Nur mit dem dritten Schritt befasst sich dieser Beitrag.271 2. 265 Prognosebasis S. hierzu ausführlich Marx, InfAuslR 2012, 145 EuGH, InfAuslR 2009, 138 (35) Rdn. 36 = EZAR NF 69 Nr. 5 = NVwZ 2009, 705 = AuAS 2009, 86 – Elgafaji. 266 267UNHCR, 268EuGH, Safe at last?, 2011, 49 f., 33 ff. InfAuslR 2009, 138 (35) Rdn. 36 = EZAR NF 69 Nr. 5 = NVwZ 2009, 705 = AuAS 2009, 86 – Elgafaji. 269 UNHCR, Safe at last?, 2011, 30. 270 EuGH, InfAuslR 2009, 138 (139) Rdn. 36 = EZAR NF 69 Nr. 5 = NVwZ 2009, 705 - Elgafaji. 271 Ausführlich zu Art. 15 Buchst. c) RL 2004/83/EG: Marx, Handbuch zum Flüchtlingsschutz. Erläuterungen zur Qualifikationsrichtlinie, § 42, erscheint demnächst. 55 Die Prognose einer Gefahr setzt klare und verbindliche Kriterien voraus, auf welcher tatsächlichen Grundlage diese Prognose zu treffen ist. Nach dem ElgafajiTest besteht Klarheit, dass der durch bewaffnete Konflikte geprägte besondere Charakter von Art. 15 Buchst. c) RL 2004/83/EG auf Schadensgefahren „allgemeinerer Art“ beruht. Nicht „bestimmte Gewalteinwirkungen“, sondern „Bedrohungen des Lebens oder der Unversehrtheit“ von Zivilpersonen „ungeachtet ihrer Identität“ werden in die Prognosebasis eingestellt. Es sind also die Faktoren zu berücksichtigen, die ihren unmittelbaren oder mittelbaren Grund in den zwar eher zufälligen, aber dennoch gefährlichen Auswirkungen und Bedrohungen, die mit militärischen Kämpfen und anderen Gewaltakten einhergehen und Schutz- und Rechtlosigkeit zur Folge haben,272 in die Prognose einzustellen. Die Bedrohungen des Lebens und der Unversehrtheit müssen nicht notwendigerweise durch einen der Konfliktbeteiligten oder den Staat ausgeübt werden. Maßgebend ist, dass kriminelle Gewalt wie jede andere Form von willkürlicher Gewalt ernsthaft ist.273 Ist die Versorgungslage als mittelbare Folge des bewaffneten Konflikts zusammengebrochen oder jedenfalls ernsthaft gestört, dürfen diese Schadensgefahren „allgemeinerer Art“ nicht von vornherein aus der Prüfung ausgeschlossen werden. Die entgegenstehende Rechtsprechung des BVerwG, die „allgemeine Lebensgefahren“, die lediglich Folge des bewaffneten Konflikts sind – etwa eine dadurch bedingte Verschlechterung der Versorgungslage -, nicht berücksichtigt,274 ist durch die Rechtsprechung des EuGH überholt. Es wird nicht die „konkrete Lebensgefahr“ gegenüber der „allgemeinen Lebensgefahr“ abgegrenzt. Vielmehr kommt es auf ernsthafte Bedrohungen an, die durch Schadensgefahren „allgemeinerer Art“ hervorgerufen werden.275 Der Fokus bei der Identifizierung der Prognosetatsachen liegt demnach nicht auf der Abgrenzung „allgemeiner“ von „konkreten“ Lebensgefahren. Dieser traditionelle, nach persönlichen Unterscheidungsmerkmalen differenzierende Ansatz ist mit dem Elgafaji-Test unvereinbar. Auch der Gesetzgeber erkennt die Vorgabe des Art. 15 Buchst. c) RL 2004/83/EG an, indem er den Begriff „konkret“ zwar in Satz 1, nicht aber in Satz 2 von § 60 Abs. 7 AufenthG verwendet. Damit sind nicht lediglich die von den Konfliktbeteiligten ausgehenden Gewaltakte und Bedrohungen, sondern alle mit dem bewaffneten Konflikt zusammenhängenden Auswirkungen in den Blick zu nehmen, unabhängig davon, ob sie gezielt oder ungezielt, mittelbar oder unmittelbar Leben oder Unversehrtheit der Zivilbevölkerung gefährden. Maßgebend ist allein, ob diese Auswirkungen zu „ernsthaften Bedrohungen des Lebens oder der Unversehrtheit“ der Zivilbevölkerung führen. 3. a) 272 Prognosemaßstab Funktion der Prognosemaßstabs So für den bewaffneten Konflikt Arboleda, in: International Journal of Refugee Law 1991, 185 (194, 203). 273 UK Court of Appeal (2010) UKUT 331, Rdn. 80 - HM; UK Asylum and Immigration Tribunal (2009) UK AIT 00044, Rdn. 65 - GS. 274 BVerwGE 131, 198 (214) Rdn. 24, 35 =EZAR NF 69 Nr. 4 = NVwZ 2008 1241 = InfAuslR 2008, 474. 275 EuGH, InfAuslR 2009, 138 (139) Rdn. 35 = EZAR NF 69 Nr. 5 = NVwZ 2009, 705 – Elgafaji. 56 Nicht anders wie bei der flüchtlingsrechtlichen Prognoseprüfung ist im Rahmen der Gefahrenprognose beim Schutz vor willkürlicher Gewalt zwischen dem Beweismaß für die Feststellung allgemeiner Prognosetatsachen einerseits sowie dem Gefahrengrad einer ernsthaften Bedrohung aufgrund willkürlicher Gewalt andererseits zu unterscheiden. Für die Prognosetatsachen findet das Regelbeweismaß Anwendung. Ob aufgrund der festgestellten Prognosetatsachen der Eintritt der ernsthaften Bedrohung des Antragstellers aufgrund willkürlicher Gewalt wahrscheinlich ist, ist hingegen eine wertende Prognoseentscheidung. Dabei sind nach der Rechtsprechung des EuGH drei unterschiedliche Maßstäbe anzuwenden: Fehlen besondere Unterscheidungsmerkmale, ist ein „hoher Gefahrengrad“ maßgebend. Werden derartige Merkmale geltend gemacht, findet eine „gleitende Skala“ Anwendung. Kann der Antragsteller zudem eine ernsthafte Bedrohung als ausreisebestimmenden Anlass geltend machen, findet die Vermutungswirkung der früheren Bedrohung Anwendung (Art. 4 Abs. 4 RL 2004/83/EG). Es empfiehlt sich daher zunächst zu prüfen, ob eine frühere Bedrohung, welche das Niveau von Art. 15 der Richtlinie erreicht hat (Vorschädigung), glaubhaft gemacht worden ist. Ist dies der Fall, bedarf es keiner weiteren Prüfung mehr. Ist keine erhebliche oder eine nur vorübergehende Änderung der Verhältnisse im Herkunftsland eingetreten, wird der subsidiäre Schutzstatus gewährt. b) Gefahrenprognose bei fehlenden Unterscheidungsmerkmalen Festzuhalten ist, dass aufgrund der festgestellten Prognosetatsachen zur allgemeinen Lage stichhaltige Gründe die Annahme rechtfertigen müssen, dass der Eintritt einer ernsthaften Bedrohung des Antragstellers aufgrund willkürlicher Gewalt im Rahmen eines bewaffneten Konfliktes wahrscheinlich ist. Die Intensität der Gewalt muss also hoch genug sein, um dem Elgafaji-Test gerecht zu werden. Dies ist der Fall, wenn aufgrund der ermittelten Gefährdungsfaktoren die Bedrohung für die Zivilbevölkerung ernsthaft genug ist.276 Das Erfordernis der stichhaltigen Gründe verweist auf die erforderlichen Prognosetatsachen. Auf deren Grundlage ist zu entscheiden, ob das erforderliche „ hohe Niveau“ an willkürlicher Gewalt besteht. Dazu ist die Prognose erforderlich, ob das für die Zivilbevölkerung bestehende Gewaltniveau aufgrund der unterschiedlichen Gefährdungsfaktoren ernsthaft genug ist.277 Dies ist der Fall, wenn am Herkunftsort des Antragstellers eine akute und andauernde Situation willkürlicher Gewalt herrscht. Nicht erforderlich sind stichhaltige Gründe, dass „für den Antragsteller“ aufgrund seiner persönlichen Situation eine ernsthafte Bedrohung seines Lebens oder seiner Unversehrtheit in Folge willkürlicher Gewalt besteht. Anders als bei Satz 1 fehlt dieser Hinweis in Satz 2 von § 60 Abs. 7 AufenthG. Vielmehr ist die Folge der Feststellung des erforderlichen hohen Gewaltniveaus im Konfliktgebiet, dass das Leben oder die Unversehrtheit des Antragstellers allein aufgrund seiner Anwesenheit in diesem Gebiet ernsthaft bedroht sein wird. Die auf Tatsachen beruhende Feststellung, dass im Herkunftsland oder der 276 UK UT CG (2010) UKUT 331 (IAC) Rdn. 67 lit. h), 82 – HM. 277 UK UT CG (2010) UKUT 331 (IAC) Rdn. 67 lit. h), 82 – HM. 57 Herkunftsregion des Antragstellers das erforderliche hohe Gewaltniveau herrscht, schließt damit seine ernsthafte Bedrohung ein. Die erforderliche, nicht aus besonderen Unterscheidungsmerkmalen folgende ernsthafte Bedrohung des Antragstellers setzt also ein hohes Gewaltniveau voraus. Die Verwendung des Begriffs „außergewöhnlich“ durch den Gerichtshof bedeutet nach Auffassung des britischen Berufungsgerichtes lediglich, dass nicht jeder bewaffnete Konflikt oder jede Gewaltsituation zur Anwendung von Art. 15 Buchst. c) RL 2004/83/EG führt.278 Bereits nach dem Wortlaut der Norm begründet nicht jede Gewaltsituation das erforderliche hohe Gewaltniveau, sondern eine Situation „willkürlicher Gewalt.“ Ist diese festgestellt worden, ist damit ein derartiges Gewaltniveau erreicht und bedarf es nicht mehr der Darlegung besonderer auf den Antragsteller zielender Unterscheidungsmerkmale.279 Die Richtlinie schützt nicht vor bloßen hypothetischen Möglichkeiten willkürlicher Gewalt, sondern vor tatsächlich andauernden gefährlichen Situationen im Rahmen willkürlicher Gewalt, wie z.B. Autobomben auf Marktplätzen, Heckenschützen, die gezielt auf Passanten in den Straßen schießen. Ob willkürliche Gewalt herrscht und damit das erforderliche Gewaltniveau erreicht ist, bedarf also einer Abgrenzung tatsächlicher Gefahren von eher theoretischen oder hypothetischen Risiken, etwa dass eine nicht mehr aktive Miliz erneut den Kampf aufnehmen könnte oder Gerüchte, es könnten Wasserbrunnen vergiftet sein.280 Gehen terroristische Bombenangriffe über einen längeren Zeitraum erheblich zurück und werden lediglich noch vereinzelt Gewaltakte festgestellt, besteht nicht mehr eine tatsächliche Situation willkürlicher Gewalt und ist deshalb das erforderliche Gewaltniveau nicht erreicht.281 Im Irak etwa erscheint derzeit eine Situation vermehrter Einzelanschläge zu bestehen, die erneut in andauernde willkürliche Gewalt umschlagen kann. In Syrien besteht diese bereits. Es sind also Feststellungen geboten, dass in der Herkunftsregion des Antragstellers die Kampfhandlungen oder Anschläge ein „gewisses Maß an Intensität und Dauerhaftigkeit“ aufweisen282 Wenn etwa die Angriffe der Taliban in bestimmten Provinzen von Afghanistan „kriegsähnliche Dimensionen“ annehmen, können am Bestehen einer ausreichend intensiven und dauerhaften Situation willkürlicher Gewalt keine Zweifel bestehen.283 Jede zusätzliche Voraussetzung, etwa dass die willkürliche Gewalt ein „beständiges Muster“ („consistent pattern“) oder eine außergewöhnliche Dimension aufweisen müsste, verfehlt den Zweck des Art. 15 Buchst. c) RL 2004/83/EG.284 Nicht erst bei einer 278 UK Court of Appeal (2009) EWCA Civ 620 Rdn. 25 – QD. 279 UK Court of Appeal (2009) EWCA Civ 620 Rdn. 25 – QD. UK Court of Appeal (2009) EWCA Civ 620 Rdn. 27 – QD; UK UT CG (2010) UKUT 331 (IAC) Rdn. 67 lit. h), 67 Buchst. d) – HM. 280 Finnland Supreme Administrative Court, Urt. v. 30. 12. 2010 – KHO: 2010:84, http://www.unhcr.org/refworld/docid/4ea028162.html 281 282 BVerwGE 136, 361 (369) Rdn. 23 = EZAR NF 69 Nr. 7 = InfAuslR 2010, 404. 283 BVerwGE 136, 361 (370) Rdn. 25 = EZAR NF 69 Nr. 7 = InfAuslR 2010, 404. UK Court of Appeal (2009) EWCA Civ 620 Rdn. 32 – QD; UK UT CG (2010) UKUT 331 (IAC) Rdn. 67 lit. h), 67 Buchst. g) – HM. 284 58 derart hohen Vielzahl einzelner Übergriffe, dass daraus für jeden Bewohner der Kampfregion ein ihm geltender Gewaltakt abgeleitet werden kann, ist das erforderliche Gewaltniveau erreicht, sondern wenn die Feststellungen ergeben, dass die Zivilbevölkerung tatsächlich in erheblichem Umfang von Gewaltakten betroffen ist. Maßgebend für die Annahme des erforderlichen Gewaltniveaus ist also nicht eine statistisch zu ermittelnde Zahl von Anschlägen, sondern die durch Tatsachen getragene Feststellung, dass in der Region derartige Anschläge nicht lediglich vereinzelt, sondern im großen Umfang und dauerhaft verübt werden. Es bedarf dazu auf der Grundlage der festgestellten allgemeinen Tatsachen einer Einschätzung, ob in der betreffenden Region nicht lediglich die Möglichkeit besteht, dass Kämpfe, Anschläge und sonstige Gewaltakte möglicherweise irgendwann in der Zukunft stattfinden oder aufgrund von Gerüchten die früher vorherrschende Situation willkürlicher Gewalt wieder aufleben könnte, sondern dass diese Situation tatsächlich besteht. Der vom Unionsrecht gewollte Schutz gegen willkürliche Gewalt kann nicht anhand begrifflicher Abstraktionen anhand quanitativer Kriterien, sondern muss auf der Grundlage einer tatsächlichen Gefahreneinschätzung im konkreten Einzelfall gewährt werden. c) Gefahrenprognose bei besonderen Unterscheidungsmerkmalen Nach der Rechtsprechung des EuGH ist der erforderliche Gefahrengrad willkürlicher Gewalt umso geringer, je mehr der Antragsteller zu belegen vermag, dass er aufgrund „von seiner persönlichen Situation innewohnenden Umständen spezifisch betroffen ist.“285 Die Anforderungen an das erforderliche Gewaltniveau werden also im Rahmen einer „gleitenden Skala“ in dem Maße herabgestuft, wie ein oder mehrere Unterscheidungsmerkmale geltend gemacht werden. Der EuGH orientiert sich an der Rechtsprechung des EGMR orientiert, will aber über diese hinausgehen. Andererseits hat der EGMR in seiner neuesten Rechtsprechung, ohne das besondere Merkmale vorgebracht wurden, wegen einer Situation extremer Armut, die durch die Unfähigkeit gekennzeichnet ist, Grundbedürfnisse wie Nahrung, Hygiene und Unterbringung zu erfüllen, ein tatsächliches Risiko, einer Art. 3 EMRK zuwiderlaufenden Behandlung ausgesetzt zu werden, angenommen.286 Nach dem EuGH kann der „Grad willkürlicher Gewalt“ geringer sein, wenn Unterscheidungsmerkmale dargelegt werden. Die Rechtsprechung in den Mitgliedstaaten vermeidet eine Auseinandersetzung mit dem Gewaltbegriff, sondern wendet den differenzierenden Gefahrenmaßstab in Situationen an, in denen willkürliche Gewalt tatsächlich nicht mehr besteht, sondern nur noch vereinzelt Anschläge verübt werden. Während in derartigen Situationen bei fehlenden Unterscheidungsmerkmale eine ernsthafte Bedrohung nicht mehr besteht, wird für bestimmte Risikogruppen, wie etwa Regierungsbedienstete, Mitglieder der Sicherheitskräfte, politische Führer, Mitglieder religiöser 285 EuGH, InfAuslR 2009, 138 (139) Rdn. 39 = EZAR NF 69 Nr. 5 = NVwZ 2009, 705 = AuAS 2009, 86 – Elgafaji. 286 EGMR, U. v. 28. 6. 2011 – Nr. 8319/07, 11449/07 Rdn. 267 bis 292, 296 – Sufi and Elmi. 59 Minderheiten ein größeres Risiko angenommen.287 Obwohl der Gerichtshof in Rdn. 39 in Elgafaji die Herabstufung anhand besonderer Merkmale innerhalb einer Situation „willkürlicher Gewalt“ zulässt, wird in der Praxis der Mitgliedstaaten dieser Test auch dann angewandt, wenn diese an sich aktuell nicht mehr besteht. In Wirklichkeit wird aber nicht ein durch entgrenzte Gewalt nicht mehr steigerungsfähiger Gewaltbegriff nach verschiedenen Gefahrenstufen differenziert, sondern in aktuelle Situationen willkürlicher Gewalt und in latente derartige Gewaltsituationen unterschieden. d) Gefahrenprognose bei Vorschädigung (Art. 4 Abs. 4 RL 2004/83/EG) Nach dem EuGH ist bei der Prognoseentscheidung insbesondere das Vorliegen eines ernsthaften Hinweises auf eine tatsächliche Gefahr im Sinne von Art. 4 Abs. 4 RL 2004/(3/EG zu berücksichtigen. Angesichts dessen könne der Grad der Gefahr geringer sein.288 Einerseits folgt die Herabstufung bereits aus dem gleitenden Ansatz, wonach besondere Unterscheidungsmerkmale die Annahme eines geringeren Grades der Gefahr rechtfertigen. Andererseits folgt diese aus Art. 4 Abs. 4 RL 2004/83/EG. Berücksichtigt der gleitende Ansatz auch politische Vorbelastungen, die noch nicht die Schwere eines ernsthaften Schadens erreicht hatten und nicht notwendigerweise im unmittelbaren zeitlichen Zusammenhang mit der Ausreise stehen, bei der Herabstufung des Gefahrengrades, setzt die Anwendung des Art. 4 Abs. 4 RL 2004/83/EG voraus, dass der Antragsteller vor der Ausreise von einer Vorschädigung betroffen war oder dieser ihm gedroht hatte sowie dass zwischen dieser und der Ausreise ein zeitlicher Zusammenhang besteht. Zu diesen Fragen äußert sich der Gerichtshof nicht. In Abdulla hatte er mit Blick auf den Flüchtlingsstatus gefordert, dass Art. 4 Abs. 4 der Richtlinie eine frühere Verfolgung oder Verfolgungsbedrohung nach Art. 9 der Richtlinie voraussetzt und an Verfolgungsgründe anknüpfen muss.289 Für die Anwendung des Art. 4 Abs. 4 im Rahmen des Art. 15 der Richtlinie ist daraus zu schließen, dass jedenfalls ein ernsthafter Schaden im Sinne von Art. 15 der Richtlinie vor der Ausreise gedroht haben muss. Die Anwendung der Zusammenhangsklausel entfällt. So setzt das BVerwG für die Beweiserleichterung nach Art. 4 Abs. 4 voraus, dass der Antragsteller bereits einen ernsthaften Schaden im Sinne von Art. 15 RL 2004/83/EG Herkunftsland erlitten hat oder von einem solchen Schaden unmittelbar bedroht war (Vorschädigung).290 Hatte dem Antragsteller vor der Ausreise unmenschliche Behandlung im Sinne von Buchst. b), jedoch keine ernsthafte Bedrohung nach Buchst. c) von Art. 15 gedroht, ist diese im Rahmen von Buchst. c) zu berücksichtigen. Ist eine frühere Verfolgungsgefahr entfallen, steht der Rückkehr aber eine ernsthafte Bedrohung entgegen, ist diese als Vorschädigung im Rahmen von Art. 15 Buchst. c) zu beachten. Soweit das BVerwG Feststellungen zum Bestehen einer früheren Gefahr 287 UK UT CG (2010) UKUT 331 (IAC) Rdn. 85 – HM. 288 EuGH, InfAuslR 2009, 138 (139) Rdn. 40 = EZAR NF 69 Nr. 5 = NVwZ 2009, 705 – Elgafaji. 289 EuGH, InfAuslR 2010, 189 (192) Rdn. 96 – Abdulla. 290 BVerwGE 136, 360 (371) Rdn. 29 = EZAR NF 69 Nr. 7 = InfAuslR 2010, 404. 60 für Leib oder Leben des Antragstellers fordert,291 prüft es eine Vorschädigung nach Buchst. b) von Art. 15 der Richtlinie. Für eine Vorschädigung nach Buchst. c) muss in der Herkunftsregion des Antragstellers das erforderliche Gewaltniveau aufgrund einer Situation akuter willkürlicher Gewalt bestanden haben. Ist er unmittelbar aus der Herkunftsregion ausgereist und hat er zuvor keine interne Ausweichregion aufgesucht, kommt es wie bei der erlitttenen Verfolgung oder Verfolgungsbedrohung auf eine in die Zukunft gerichtete Betrachtung an. Früheren Vorschädigungen kommt Beweiskraft für eine ernsthafte Bedrohung zu.292 Für deren Eintritt streitet die tatsächliche Vermutung, dass frühere Vorschädigungen sich wiederholen werden. Es müssen keine stichhaltigen Gründe dargelegt werden, dass sich die für die Vorschädigung maßgebenden Umstände bei Rückkehr ins Herkunftsland erneut realisieren werden.293 Die tatsächliche Vermutung der Vorschädigung kann aber widerlegt werden. Dazu ist erforderlich, dass stichhaltige Gründe die Wiederholungsträchtigkeit der Vorschädigung entkräften. Während das BVerwG für die Entkräftung der Beweiskraft der Vorverfolgung darauf hinweist, dass diese im Einzelfall selbst dann widerlegt sein kann, wenn keine hinreichende Sicherheit im Sinne des herabgestuften Wahrscheinlichkeitsmaßstabes besteht,294 ist für Art. 15 Buchst. c) RL 2004/83/EG eine andere Betrachtung angezeigt. Die Beweiskraft der Vorschädigung kann nicht entkräftet werden, wenn aufgrund willkürlicher Gewalt eine ernsthafte Bedrohung für Leben oder Unversehrtheit besteht, wobei besondere Unterscheidungsmerkmale eine Herabsenkung des Gefahrengrades rechtfertigen. Die nach Art. 4 Abs. 4 der Richtlinie in ihrer Beweiskraft entkräftete Vorschädigung ist ein derartiges Unterscheidungsmerkmal. 291 BVerwGE 136, 360 (372) Rdn. 28 = EZAR NF 69 Nr. 7 = InfAuslR 2010, 404. 292 EuGH, InfAuslR 2010, 189 (192) Rdn. 96 – Abdulla, für Vorverfolgungen. 293 BVerwG 136, 377 (385) Rdn. 23 = EZAR NF 62 Nr. 21 = InfAuslR 2010, 410, mit Hinweis auf EGMR, NVwZ 2008, 1330 Rdn. 128 - Saadi. 294 BVerwG 136, 377 (385) = EZAR NF 62 Nr. 21 = InfAuslR 2010, 458, mit Hinweis auf EGMR, NVwZ 2008, 1330 Rdn. 128 - Saadi. 61