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Dr. Reinhard Marx
Mainzer Landstr. 127a
60327 Frankfurt am Main
T.
0049-69-24271734
F.
0049-69-24271735
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Aufbaukurs
zum
Ausländer- und Asylrecht
1
Gliederung:
A.
Aufenthaltserlaubnis zwecks Erwerbstätigkeit
Seite 8
I.
Aufenthaltstitel zur Ausübung einer nichtselbständigen
Erwerbstätigkeit (§ 18 bis § 20 AufenthG)
8
1.
Allgemeines
8
2.
Verwaltungsverfahren
9
3.
Beschäftigungsverbote für geduldete Antragsteller
10
4.
Rechtsschutz
13
a)
Allgemeines
13
b)
Form des Rechtsschutzes im Hauptsacheverfahren
14
aa)
Beschäftigungserlaubnis kraft Gesetzes
(§ 4 Abs. 2 Satz 1 1. Alt. AufenthG)
14
bb)
Aufenthaltstitel zur Ausübung der Beschäftigung
(§ 4 Abs. 2 Satz 2 2. Alt. AufenthG)
15
cc)
Rechtsschutz gegen auflösende Bedingung
15
Muster: Verüpfichtungsklage auf Aufhebung der
auflösenden Bedingung im Blick auf die
Beschäftigungserlaubnis
17
dd)
Rechtsschutz gegen die Versagung der
Beschäftigungserlaubnis
(§ 4 Abs. 2 Satz 3 AufenthG)
17
Muster: Bescheidungsklage gegen die Versagung
der Beschäftigungserlaubnisntrag nach § 80 Abs.5
VwGO
18
c)
Begründungsanforderungen an den Eilrechtsschutz
18
aa)
Eilrechtsschutz gemäß § 123 VwGO wegen
Versagung der beantragten
Beschäftigungserlaubnis
18
Muster: Eilrechtsschutz gegen Versagung die
Versagung der beantragten
Beschäftigungserlaubnis
19
bb)
Antrag wegen Änderung oder Aufhebung der
Beschäftigungserlaubnis
20
cc)
Eilrechtsschutz zur Sicherstellung der
Beschäftigungserlaubnis während des
aufenthaltsrechtlichen Rechtsschutzverfahrens
(§ 84 Abs. 2 Satz 2 AufenthG)
20
Muster: Eilrechtsschutzantrag auf
Bescheinigung der Fortbestehensfiktion
21
ee)
Eiltrechtsschutz gegen Beschäftigungsverbot
bei geduldeten Antragstellern
21
Muster: Eilrechtsschzutzantrag gegen die Versagung
der Beschäftigungserlaubnis
21
ff)
Eilrechtsschutz gegen Rücknahme oder
Widerruf der Beschäftigungserlaubnis
22
II.
Türkische Arbeitnehmer
22
1.
Funktion von Art. 6 ARB 1/80
22
2.
Voraussetzungen des Aufenthaltsrechts nach
Art. 6 Abs. 1 ARB 1/80
23
III.
Selbständige Erwerbstätigkeit (§ 21 AufenthG)
25
2
B.
Aufenthaltserlaubnis zur Familienzusammenführung
(§ 27 bis § 36 AufenthG)
27
I.
Allgemeine Voraussetzungen
27
1.
Allgemeines
27
2.
Erforderlicher Aufenthaltszweck (§ 27 Abs. 1 AufenthG)
28
a)
Allgemeines
28
b)
Bestehen einer familiären Lebensgemeinschaft
28
c)
„Scheinehe“ (§ 27 Abs. 1a Nr. 1 AufenthG)
30
aa)
Voraussetzungen der „Scheinehe“
30
bb)
Anhaltspunkte für die Zulässigkeit
behördlicher Ermittlungen
32
cc)
Grenzen der Ermittlungen
33
cc)
Darlegungslasten im ausländerbehördlichen
Verfahren
34
ee)
Darlegungslasten im Einreiseverfahren
35
d)
Nötigung zu Eheschließung (§ 27 Abs. 1a Nr. 2 AufenthG)35
e)
Vorwirkungen der Eheschließungsfreiheit
37
aa)
Erfordernis der unmittelbar
bevorstehenden Eheschließung
37
bb)
Schwangerschaft
38
cc)
Beibringung der Eheschließungsunterlagen
39
dd)
Antrag auf Befreiung vom Nachweis des
Ehefähigkeitszeugnisses
40
ee)
Nachweis eines gültigen Passes
41
3.
Aufenthaltsrecht des stammberechtigten Familienangehörigen
(§ 29 Abs. 1 Nr. 1AufenthG
42
4.
Ausreichender Wohnraum (§ 29 Abs. 1 Nr. 2
in Verb. mit § 2 Abs. 4 AufenthG
43
5.
Sicherung des Lebensunterhaltes (§ 5 Abs. 1 Nr. 1
in Verb. mit § 2 Abs. 3 AufenthG)
44
6.
Versagungsgründe (§ 27 Abs. 3 AufenthG)
44
a)
Angewiesensein auf Sozialleistungen
(§ 27 Abs. 3 Satz 1 AufenthG)
44
b)
Vorliegen eines Ausweisungsgrundes
(§ 27 Abs. 3 Satz 2 AufenthG)
47
II.
Ehegattennachzug zu ausländischen Stammberechtigten
(§ 30 AufenthG)
50
III.
Ehegattennachzug zu deutschen Staatsangehörigen
(§ 28 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AufenthG)
52
IV.
Familiennachzug zu Asylberechtigten und Flüchtlingen
(§ 29 Abs. 2 AufenthG)
53
IV.
Familiennachzug zu subsidiär Schutzberechtigten
(§ 29 Abs. 3 Satz 1 AufenthG)
53
VI.
Erteilung und Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis
54
VII. Eigenständiges Aufenthaltsrecht des Ehegatten (§ 31 AufenthG)
55
1.
Allgemeine Grundsätze
55
2.
Zweijähriger Ehebestand (§ 31 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AufenthG)
56
3.
Tod des Ehepartners (§ 31 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AufenthG)
58
4.
Besondere Härte (§ 31 Abs. 2 AufenthG)
59
a)
Allgemeines
59
b)
Begriff der besonderen Härte
59
3
c)
C.
I.
Zielstaatsbezogene Härtegründe
(§ 31 Abs. 2 Satz 2 1. Hs. AufenthG)
60
d)
Inlandsbezogene Härtegründe
(§ 31 Abs. 2 Satz 2 2. Hs. AufenthG)
63
5.
Charakter des eigenständigen Aufenthaltsrechts
66
VIII.
Kindernachzug (§ 32 AufenthG)
67
1.
Rechtsansprüche
67
2.
Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis
72
3.
Eigenständiges Aufenthaltsrecht (§ 34 Abs. 2, § 35 AufenthG)
74
4.
Ausschluss der Niederlassungserlaubnis (§ 35 Abs. 3 AufenthG) 75
IX.
Aufenthaltserlaubnis für den sorge- oder umgangsberechtigten
Elternteil eines minderjährigen ledigen Kindes
(§ 36, § 28 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 AufenthG)
75
1.
Allgemeines
75
2.
Vaterschaftsanerkennung oder –feststellung
76
a)
Aufenthaltsrechtliche Bedeutung der
Vaterschaftsanerkennung
76
b)
Nachträglicher Verlust der deutschen Staatsangehörigkeit
des Kindes
77
3.
Ausstellung der Geburtsurkunde
77
Muster: Antrag auf gerichtliche Verpflichtung an das Standesamt,
die Vaterschaftsanerkenntnis dem Geburtenbuch beizuschreiben 79
4.
Vorwirkung der bevorstehenden Geburt
79
5.
Bestehen einer familiären Gemeinschaft mit dem Kind
80
a)
Allgemeines
80
b)
Ausländischer Elternteil mit Personensorge
81
c)
Ausländischer Elternteil ohne Personensorge
82
aa)
Allgemeines
82
bb)
Subjektives Recht des Kindes auf Umgang
mit nichtsorgeberechtigten Elternteil
(§ 1684 Abs. 1 BGB)
83
cc)
Umgangsrecht und familiäre Gemeinschaft
83
dd)
Kein Gebot der Führung einer häuslichen
Gemeinschaft mit dem Kind
85
ee)
Recht des nichtsorgeberechtigten Elternteils auf
Prozessführung
87
Aufenthaltsbeendigung
89
Erlöschensgründe
89
II.
Auflösende Bedingung (§ 51 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG)
89
III.
Nachträgliche Befristung (§ 7 Abs. 2 Satz 2 AufenthG)
90
Muster:
Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung
gemäß § 123 VwGO zur Sicherstellung des weiteren Aufenthaltes
bei Ablauf der befristeten Aufenthaltserlaubnis bei nachträglicher
Befristung nach § 7 Abs. 2 Satz 2 AufenthG
92
IV.
Widerruf (§ 52 AufenthG)
92
V.
Rücknahme (§ 51 Abs. 1 Nr. 3 AufenthG in Verb. mit § 48 VwVfG) 93
VI.
Nicht nur vorübergehende Ausreise
(§ 51 Abs. 1 Nr. 6 und 7, Abs. 2 und 9 AufenthG)
95
Muster:
Feststellungsklage und Eilrechtsschutzantrag nach
§ 123 VwGO bei Streit um die Beendigung des Aufenthaltstitels
4
VII.
wegen nicht nur vorübergehender Ausreise
96
Ausweisung (§ 53 bis 56 AufenthG)
97
1.
Funktion der Ausweisung
97
2.
Systematik des Ausweisungsrechts
98
3.
Besonderer Ausweisungsschutz
98
a)
Ausweisungsschutz für Unionsbürger und
drittstaatsangehörige Familienmitglieder
99
aa)
Allgemeine Grundsätze
99
bb)
Ausweisungsschutz nach Art. 27 RL 2004/38/EG,
§ 6 Abs. 1 bis 3 FreizügG/EU
99
cc)
Ausweisungsschutz für Daueraufenthaltsberechtigte
(Art. 28 Abs. 2 RL 2004/38/EG,
§ 6 Abs. 4 FreizügG/EU)
102
dd)
Zwingende Gründe nach Art. 28 Abs. 3
RL 2004/38/EG, § 6 Abs. 5 FreizügG/EU
103
ee)
Verbot der Anwendung der Ausweisungssystematik
nach § 53 bis 56 AufenthG
103
ff)
Maßgeblicher Zeitpunkt für die Beurteilung der
Sach- und Rechtslage
103
b)
Ausweisungsschutz für langfristig Daueraufenthaltsberechtigte
(Art. 12 RL 2003/109/EG)
105
aa)
Konstituiver oder deklaratorischer Charakter der
Rechtsstellung?
105
bb)
Richtlinienkonforme Anwendung des
Ausweisungsschutzes
106
c)
Ausweisungsschutz für assoziationsrechtlich privilegierte
türkische Arbeitnehme
106
a)
Allgemeine Grundsätze
106
bb)
Gebot der Spezialprävention
109
cc)
Anwendbarkeit der Freizügigkeitsrichtlinie auf
türkische Arbeitnehmer
108
dd)
Besitz der Rechtsstellung nach Art. 7 Satz 1
ARB 1/80 für Familienangehörige
108
d)
Ausweisungsschutz nach Art. 8 EMRK für
„faktische Inländer“
111
4.
Ausweisungsrechtlicher Rechtsschutz
113
a)
Zweck und Funktion des Eilrechtsschutzverfahrens
113
b)
Stillhalteabkommen
113
c)
Hängebeschluss
114
d)
Zulässigkeit des Eilrechtsschutzantrags
115
aa)
Form des Antrags
115
bb)
Rechtsschutzbedürfnis
116
cc)
Antragsbefugnis des Ehegatten
117
e)
Begründetheit des Eilrechtsschutzantrags
118
aa)
Maßgebender Beurteilungszeitpunkt
118
bb)
Prüfkriterien
118
cc)
Beachtung der behördlichen
Zuständigkeitsvorschriften
119
dd)
Ermessensfehler
119
ee)
Rechtlicher Bezugsrahmen der
Rechtmäßigkeitskontrolle im
5
D.
Eilrechtsschutzverfahren
120
Muster 13: Vorläufiger Rechtsschutz
gegen Ausweisungs- und Versagungsverfügung
nach § 80 Abs. 5 VwGO
122
f)
Abänderungsantrag nach § 80 Abs. 7 Satz 2 VwGO
Asyl- und Flüchtlingsrecht
123
I.
Rechtsschutz im asylrechtlichen Hauptsacheverfahren
123
1.
Klageerhebung
123
2.
Örtlich zuständiges Verwaltungsgericht
123
a)
Gerichtsstand nach § 52 Nr. 2 Satz 3 VwGO
123
b)
Verweisungsantrag
124
3.
Klagefrist (§ 74 AsylVfG)
125
4.
Formelle Voraussetzungen der Klageerhebung
125
a)
Formerfordernisse der Klageschrift
125
b)
Anwaltliche Sorgfaltspflichten bei Klageerhebung
durch Fax
128
c)
Vorlage der Vollmacht
128
aa)
Anforderungen an die Vollmacht
128
bb)
Zustellung an den Prozessbevollmächtigten
128
cc)
Prozessuale Sorgfaltspflichten bei Doppelklage
129
dd)
Zustellung durch Empfangsbekenntnis
129
5.
Rechtsschutzbedürfnis
130
a)
Der untergetauchte Kläger
130
b)
Der ausgereiste Kläger
131
6.
Begründung der Klage
131
a)
Monatsfrist (§ 74 Abs. 2 Satz 1 AsylVfG)
131
b)
Fakultative Präklusion (§ 74 Abs. 2 Satz 2 AsylVfG
in Verb. mit § 87b Abs. 3 VwGO)
131
c)
Umfang des Klagebegründungspflicht
132
d)
Klagearten im Asylprozess
134
aa)
Verpflichtungsklage auf Asylanerkennung und
Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft
134
bb)
Verpflichtungsklage im Asylvolgeantragsverfahren 134
cc)
Untätigkeitsklage (§ 75 VwGO)
135
dd)
Verpflichtungsklage auf Gewährung
subsidiären Schutzes
135
Musterklage: Asylanerkennung,
Flüchtlingsschutz, subsidiärer Schutzstatus
136
ee)
Anfechtungsklage gegen die
Abschiebungsandrohung
137
ff)
Anfechtungsklage gegen Widerruf
und Rücknahme
137
(1)
Allgemeines
137
(2)
Anordnung der sofortigen Vollziehung
137
(3)
Aufenthaltsrechtliche Situation nach
Widerruf bzw. Rücknahme
138
II.
Eilrechtsschutz im Asylverfahren
140
1.
140
Eilrechtsschutzverfahren nach § 36 Abs. 3 AsylVfG
6
2.
3.
4.
a)
Funktion des Eilrechtsschutzverfahrens
b)
Antragsfrist
c)
Unverzügliches Begründungserfordernis
d)
Persönliche Anhörung
e)
Gegenstand des Eilrechtsschutzverfahrens
f)
Gerichtliche Ermittlungstiefe im Eilrechtsschutzverfahren
g)
Prüfkriterien
Eilrechtsschutz im Asylfolgeantragsverfahren
a)
System des Rechtsschutzes im Asylfolgeantragsverfahren
b)
Eilrechtsschutzverfahren nach § 71 Abs. 5 AsylVfG
in Verb. mit § 123 VwGO
Muster: Klage und Eilrechtsschutzantrag bei Ablehnung
des Asylfolgeantrags nach § 71 Abs. 5 AsylVfG
c)
Eilrechtsschutzverfahren nach § 71 Abs. 5 AsylVfG
in Verb. mit § 123 VwGO
d)
Prüfkriterien
Eilrechtsschutz beim Wiederaufgreifensantrag
nach § 51 Abs. 5 VwVfG
a)
Funktion des Wiederaufgreifensantrags im weiteren Sinne
b)
Kein Antragserfordernis
c)
Eilrechtsschutz
Abänderungsantrag (§ 80 Abs. 7 Satz 2 VwGO
a)
Zulässigkeit des Antrags
b)
Abänderung von Amts wegen oder auf Antrag
c)
Voraussetzungen des Abänderungsantrags nach
§ 80 Abs. 7 Satz 2 VwGO
140
140
140
141
141
142
143
144
144
145
146
147
147
148
148
149
149
150
150
151
152
7
A.
Aufenthaltserlaubnis zwecks Erwerbstätigkeit
Der Begriff der Erwerbstätigkeit ist in § 2 Abs. 2 AufenthG gesetzlich definiert.
Erwerbstätigkeit ist ein Oberbegriff, der die selbständige Erwerbstätigkeit wie auch die
Beschäftigung im Sinne des § 7 SGB IV erfasst. Während der Begriff der Beschäftigung in §
7 Abs. 1 SGBIV definiert wird, ist der Begriff der selbständigen Erwerbstätigkeit nicht
gesetzlich definiert. Er ergibt sich aus der Umkehr der Kennzeichnungsmerkmale einer
abhängigen Beschäftigung. Die Abgrenzung zwischen selbständiger Erwerbstätigkeit und
Beschäftigung ist anhand der Kriterien in § 7 Abs. 1 SGBIV vorzunehmen (Nr. 2.2.3 VAH).
Die Erlaubnis zur Ausübung einer nichtselbständigen Erwerbstätigkeit wird als
Beschäftigungserlaubnis (vgl. § 2 Abs. 2, § 4 Abs. 2 Satz 3 AufenthG, § 7 Abs. 1 SGBIV)
und die Berechtigung zur selbständigen Erwerbstätigkeit als Erlaubnis zur Ausübung einer
selbständigen Erwerbtätigkeit bezeichnet.
I. Aufenthaltstitel zur Ausübung einer nichtselbständigen Erwerbstätigkeit (§ 18 bis §
20 AufenthG)
1. Allgemeines
Der Aufenthalt zu Erwerbszwecken ist im 4. Abschnitt des 2. Kapitels des AufenthG geregelt.
§ 18 AufenthG ist die Zentralnorm für die aufenthaltsrechtliche Steuerung des Zugangs zur
nichtselbständigen Erwerbstätigkeit. Aus dem Gesamtzusammenhang der Regelungen dieser
Vorschrift folgt, dass diese den seit 1973 geltenden Anwerbestopp fortschreibt (Nr. 18.1
VAH). Die Berücksichtigung der Verhältnisse auf dem Arbeitsmarkt sowie das Erfordernis,
die Arbeitslosigkeit wirksam zu bekämpfen (§ 18 Abs. 1 AufenthG), sind programmatische
Ziele und haben als solche ermessenslenkende Funktion für die Erteilung der Zustimmung zur
Beschäftigung durch die Bundesagentur für Arbeit. Sie werden in den folgenden Absätzen
näher ausgeführt und finden ihren Ausdruck in der Ausgestaltung der Bestimmungen der
BeschV sowie der BeschVerfV (Nr. 18.1 VAH).
§ 7 BeschVerfV regelt die Härtefallregelung. Danach kann die Zustimmung zur Ausübung
einer Beschäftigung ohne Vorrangprüfung erteilt werden, wenn deren Versagung unter
Berücksichtigung der besonderen Verhältnisse des Einzelfalls eine besondere Härte bedeuten
würde. Die der vollgerichtlichen Überprüfung unterliegende Beurteilung erfolgt im Rahmen
einer umfassenden Interessenabwägung zwischen dem Schutzinteresse der bevorrechtigten
Arbeitnehmer und dem Individualinteresse des Antragstellers, das aufgrund besonderer
Einzelfallumstände überragendes Gewicht erlangen muss. Zweck der Härtefallregelung ist es,
aus besonderen sozialen Gründen die Arbeitsaufnahme entgegen dem Vorrangprinzip zu
ermöglichen. Persönliche Schwierigkeiten aufgrund der Ausländer allgemein belastende
Umstände genügen nicht. Vielmehr wird eine durch die Versagung entstehende besondere
Härte gefordert, die ihren Grund in den persönlichen Verhältnissen des Antragstellers haben
muss und in Beziehung zum Vorrang Bevorrechtigter zu setzen ist Es müssen mithin
außergewöhnliche Schwierigkeiten dargetan werden, die mit der Erwerbstätigkeit im
Bundesgebiet im Zusammenhang stehen und die Gleichstellung mit den sonstigen
Privilegierten rechtfertigen. Je geringer die Schutzinteressen bevorrechtigter Arbeitnehmer
berührt werden können, desto eher kann im Sinne abgestufter Anforderungen die individuelle
Betroffenheit eine besondere Härte begründen.1
1
BSG, EZAR 316 Nr. 1 = InfAuslR 1989, 310 = NVwZ 1990, 197.
8
Darüber hinaus begründet die Verweigerung der Zustimmung zu Lasten von Personen, denen
im Asylverfahren Abschiebungsschutz nach § 60 Abs. 2 bis 7 AufenthG gewährt worden ist,
eine besondere Härte. Ebenso begründet es eine besondere Härte, wenn die Abschiebung des
Antragstellers auf unabsehbare Zeit wegen seiner Staatenlosigkeit ausgeschlossen ist. Dabei
darf für die individuelle Not des Antragstellers nicht außer Acht gelassen werden, dass er
ohne Zustimmung anders als sonstige Sozialhilfebezieher dauerhaft und perspektivlos auf
Sozialhilfe angewiesen wäre. Darüber hinaus ist zu berücksichtigen, dass die Ausübung einer
Beschäftigung aller Wahrscheinlichkeit nach die aufenthaltsrechtliche Situation verbessern
wird.2
In folgenden Fällen liegt nach der DA Nr. 3.7.113 – 3.7.120 zu § 7 BeschVerfV ein Härtefall
vor:
Bei ehelichen Kindern sowie bei Stief- und Adoptivkindern deutscher
Staatsangehöriger bis zur Vollendung des 18. Lebensjahres.
Bei ausländischen Ehegatten deutscher Staatsangehöriger, die keinen Aufenthaltstitel
besitzen.
Bei Zuwanderern jüdischen Glaubens. Dies gilt auch, wenn sie sich zunächst in einem
Drittland aufgehalten haben. Für die Zugehörigkeit zu diesem Personenkreis genügt
es, dass ein Elternteil jüdischen Glaubens ist.
Bei ausländischen Arbeitnehmern, die als Betriebsrat oder als Schwerbehinderte oder
nach dem Mutterschutzgesetz Kündigungsschutz genießen.
Bei Ausländern, die im Zeugenschutzprogramm aufgenommen wurden (vgl. auch § 25
Abs. 4a AufenthG), setzen sich die zuständigen Polizeidienststellen mit den bekannten
Ansprechpartnern der Arbeitsagenturen in Verbindung.
Traumatisierte Flüchtlinge, die eine Duldung oder Aufenthaltserlaubnis wegen eines
behandlungsbedürftigen Traumas besitzen, erhalten Arbeitsmarktzugang, wenn der
behandelnde Facharzt oder ein psychologischer Psychotherapeut bestätigt, dass die
angestrebte Beschäftigung Bestandteil der Therapie ist. Hat die Ausländerbehörde die
Duldung oder Aufenthaltserlaubnis nicht wegen eines behandlungsbedürftigen
Traumas, sondern aus anderen Gründen erteilt, kann der Arbeitsmarktzugang
ermöglicht werden, wenn die Ausländerbehörde bestätigt, dass in den nächsten drei
Monaten
keine
aufenthaltsbeendenden
Maßnahmen
eingeleitet
werden.
Familienangehörige werden durch diese Erleichterungen nicht privilegiert.
Die Vorrangprüfung kann bei Vorbeschäftigungszeiten oder längerfristigem Voraufenthalt
zugunsten von Antragstellern entfallen, die eine Aufenthaltserlaubnis besitzen und drei Jahre
rechtmäßig eine versicherungspflichtige Beschäftigung im Bundesgebiet ausgeübt haben oder
sich seit vier Jahren im Bundesgebiet ununterbrochen erlaubt oder geduldet aufhalten. Die
Zustimmung wird unabhängig von Lage und Entwicklung des Arbeitsmarktes erteilt, d.h.
einer Prüfung des Arbeitsmarktes bedarf es nicht. Die Zustimmung ist auch ohne Nachweis
eines konkreten Arbeitsplatzes möglich. Die Arbeitsplatzprüfung kann durch eine globale
Zustimmung der regionalen Arbeitsverwaltung ersetzt werden (DA Nr. 3.9.111 zu § 9
BeschVerfV). Die Zustimmung ist ohne die Beschränkungen nach § 13 BeschVerfV zu
erteilen (§ 9 Abs. 4 BeschVerfV).
2.
Verwaltungsverfahren
Ein Aufenthaltstitel berechtigt zur Ausübung einer Erwerbstätigkeit, sofern es nach dem
AufenthG bestimmt ist oder der Aufenthaltstitel die Ausübung einer Erwerbstätigkeit
2
LSG Berlin, InfAuslR 2002, 44 (46).
9
ausdrücklich erlaubt (§ 4 Abs. 2 Satz 1 AufenthG). Jeder Aufenthaltstitel muss erkennen
lassen, ob die Ausübung einer Beschäftigung erlaubt ist (§ 4 Abs. 2 Satz 2 AufenthG). § 39
AufenthG enthält den Grundsatz, dass neben der ausländerbehördlichen Entscheidung über
den aufenthaltsrechtlichen Teil eines Aufenthaltstitels die Entscheidung der
Arbeitsverwaltung über die Zustimmung zur Beschäftigung zu erfolgen hat. Die Entscheidung
über den Aufenthalt und die Ausübung einer Erwerbstätigkeit ergeht gegenüber dem
Ausländer einheitlich.
Der Antrag auf Ausübung einer Beschäftigung ist bei der örtlich zuständigen
Ausländerbehörde zu stellen. Diese prüft, ob das Zustimmungsverfahren durchzuführen ist
oder nicht. Insoweit sind zunächst die in § 105 AufenthG enthaltenen Übergangsregelungen
zu beachten. In den Fällen, in denen bereits kraft Gesetzes die Beschäftigung erlaubt ist (§ 9
Abs. 1 Satz 2 1. Hs., § 16 Abs. 3, § 20 Abs. 6, § 22 Satz 3, § 25 Abs. 1 Satz 4, Abs. 2 Satz 2,
§ 28 Abs. 4, § 29 Abs. 5 1. Hs., § 31 Abs. 1 Satz 2, § 37 Abs. 1 Satz 2, § 38 Abs. 4 Satz 1
AufenthG), wird kein Zustimmungsverfahren durchgeführt. Vielmehr vermerkt die
Ausländerbehörde auf der Aufenthaltserlaubnis die Beschäftigungserlaubnis (§ 4 Abs. 2 Satz
2 AufenthG). Der Vermerk hat lediglich deklaratorische Funktion. Ist kraft Gesetzes die
Erwerbstätigkeit erlaubt, wird nicht nur eine (abhängige) Beschäftigung, sondern auch die
selbstständige Erwerbstätigkeit zugelassen.
Liegt kein Fall einer kraft Gesetzes erlaubten Erwerbstätigkeit vor, hat die Ausländerbehörde
vor Durchführung des Zustimmungsverfahrens zu prüfen, ob die Beschäftigung erlaubt ist. Ist
dies nicht der Fall, wird kein Zustimmungsverfahren durchgeführt. Die Ausländerbehörde
vermerkt dies im Aufenthaltstitel durch den Zusatz „Erwerbstätigkeit nicht erlaubt“. Findet
kein Erwerbstätigkeitsverbot Anwendung, wird das Zustimmungsverfahren durchgeführt.
Auch in den Fällen, in denen keine Vorrangprüfung durchgeführt wird (§ 1 bis 9
BeschVerfV), ist das Zustimmungsverfahren wegen Prüfung der Arbeitsbedingungen
(Arbeitsplatzprüfung) durchzuführen. Versagt die Arbeitsagentur die Zustimmung, darf die
Ausländerbehörde die Beschäftigung nicht erlauben. Stimmt die Arbeitsverwaltung zu, erteilt
die Ausländerbehörde im Rahmen der pflichtgemäßen Ermessensausübung die
Beschäftigungserlaubnis. In die Ermessenserwägung darf die Ausländerbehörde keine
arbeitsmarktpolitischen, sondern lediglich ausländerpolitische Aspekte einstellen.
Nach § 84 Abs. 2 Satz 2 AufenthG gilt für Zwecke der Aufnahme oder Ausübung einer
Erwerbstätigkeit der Aufenthaltstitel als fortbestehend, solange die Frist zur Erhebung des
Widerspruchs oder der Klage noch nicht abgelaufen ist, während eines
Eilrechtsschutzverfahrens oder solange der eingelegte Rechtsbehelf aufschiebende Wirkung
hat. Damit hat der Gesetzgeber sichergestellt, dass bis zum Eintritt der Vollziehbarkeit der
Abschiebungsandrohung
nach
Bekanntgabe
etwa
einer
Versagungsoder
Ausweisungsverfügung die Beschäftigungserlaubnis fort gilt. Die Berechtigung, einer
Erwerbstätigkeit nachzugehen, ist dem Berechtigten zu bescheinigen.3
3.
3
Beschäftigungsverbote für geduldete Antragsteller
OVG Hamburg, InfAuslR 2006, 60 (62); Nr. 4.3.1 VAH.
10
§ 11 BeschVerfV bestimmt, dass geduldeten Ausländern die Beschäftigung nicht erlaubt
werden darf, wenn sie sich in das Inland begeben haben, um Leistungen nach dem AsylbLG
zu erlangen, oder wenn bei diesen Ausländern aus von ihnen zu vertretenden Gründen
aufenthaltsbeendende Maßnahmen nicht vollzogen werden können. Im Hinblick auf die erste
Alternative (vgl. auch § 1a Nr. 1 AsylbLG) ist erforderlich, aber auch ausreichend, dass nach
den objektiven Umständen von einem Wissen und Wollen mindestens im Sinne eines
bedingten Vorsatzes ausgegangen werden kann, der für den Einreiseentschluss von prägender
Bedeutung gewesen sein muss.4 Eine derart prägende Bedeutung kann nicht angenommen
werden, wenn dieser Gedankengang für den Einreiseentschluss lediglich mitursächlich war
oder eine untergeordnete Funktion gespielt hat.5
Darüber hinaus muss die Möglichkeit des Angewiesenseins auf Leistungen nach dem
AsylbLG nicht nur mitursächlich, sondern darüber hinaus subjektiv, sei es allein, sei es neben
anderen Gründen, in besonderer Weise prägend gewesen sein. Damit verengt sich diese
Ausnahmebestimmung auf eindeutige, besonders gelagerte Ausnahmefälle. Allein die
qualifizierte Asylablehnung nach § 30 AsylVfG berechtigt nicht zur Anwendung dieser
Ausnahmeklausel. Insoweit ist etwa nach § 30 Abs. 2 AsylVfG die Furcht vor den Gefahren
eines Bürgerkrieges ausreisebestimmend. Die Verletzung verfahrensrechtlicher
Mitwirkungspflichten (§ 30 Abs. 3 AsylVfG) erlaubt noch kein Urteil über die den
Einreiseentschluss prägenden Umstände.
Nach § 11 Satz 1 2. Alt. BeschVerfV darf die Beschäftigung nicht erlaubt werden, wenn aus
von dem Antragsteller zu vertretenden Gründen aufenthaltsbeendende Maßnahmen nicht
vollzogen werden können. Nach Auffassung des BMI darf zwar nach § 25 Abs. 5 Satz 3 und 4
AufenthG eine Aufenthaltserlaubnis auch dann nicht erteilt werden, wenn aus von dem
Antragsteller zu vertretenden Gründen eine Ausreise nicht möglich ist, hingegen der
Versagungsgrund des § 11 Satz 1 2. Alt. BeschVerfV erfordert, dass bei dem Antragsteller
aufenthaltsbeendende Maßnahmen aus von ihm zu vertretenden Gründen nicht vollzogen
werden können. Das bedeute, dass Ausländern, denen zwar die Aufenthaltserlaubnis nach §
25 Abs. 5 AufenthG wegen eines Versagungsgrundes nach § 25 Abs. 5 Satz 3 und 4
AufenthG nicht erteilt werden könne und die deshalb weiterhin im Besitz einer Duldung
seien, dennoch die Aufnahme einer Beschäftigung erlaubt werden könne, wenn nicht
gleichzeitig die Unmöglichkeit der zwangsweisen Aufenthaltsbeendigung von ihnen
verschuldet werde. Die Beschäftigung könne damit denjenigen Antragstellern erlaubt werden,
die zwar freiwillig ausreisen, aber nicht abgeschoben werden könnten.6
Kann dem Antragsteller danach nicht der Vorwurf gemacht werden, dass aus von ihm zu
vertretenden Gründen die Abschiebung nicht vollzogen werden kann, so kann die
Beschäftigungserlaubnis nicht mit der Begründung versagt werden, dass aus von ihm zu
vertretenden Gründen die Ausreise nicht möglich ist. Auf die Möglichkeit oder die
4
Vgl. BVerwGE 59, 73 (76 f.) = DVBl. 1980, 378; OVG Bremen, InfAuslR 1986, 153 (154); OVG
Hamburg, InfAuslR 1989, 210 (211); OVG NW, InfAuslR 1983, 320; OVG NW, InfAuslR 1988, 85; OVG NW,
B. v. 9. 11. 2005 – 17 B 1585/05; OVG Lüneburg, InfAuslR 1984, 147 (148) = NVwZ 1984, 674.
5
OVG Hamburg, InfAuslR 1989, 210 (211); OVG Lüneburg, InfAuslR 1984, 147 (148)= NVwZ 1984,
674.
6
BMI v. 18. März 2005 an Innenverwaltungen der Länder; Innenministerium NRW v. 24. März 2005.
11
Voraussetzungen einer freiwilligen Ausreise kommt es danach nicht an.7 Werden im Blick auf
bestimmte Personengruppen Abschiebungen in das Herkunftsland aufgrund einer generellen
Anordnung nach § 60a Abs. 1 AufenthG nicht durchgeführt, hat der Antragsteller die
Unmöglichkeit der Abschiebung nicht zu vertreten. Dass in derartigen Fällen die Ausreise in
das Herkunftsland auf eigene Initiative möglich ist, steht der Erteilung der
Beschäftigungserlaubnis nicht entgegen. Nach dem eindeutigen Wortlaut des § 11 Satz 1 2.
Alt. BeschVerfV kann nämlich die „freiwillige Ausreise“ nicht als „aufenthaltsbeendende
Maßnahme“ qualifiziert werden.8 Ebenso wenig hat es der Antragsteller zu vertreten, wenn
die Abschiebung nicht möglich ist, weil UN-Mitarbeiter die Rückführung verweigern.9
Für die Anwendung des Versagungsgrundes nach § 11 Satz 1 2. Alt. BeschVerfV spitzt sich
damit die Prüfung auf die Frage zu, ob der Antragsteller das ihm Mögliche und Zumutbare
zur Beschaffung eines nationalen Ausreiseausweises unternommen hat. Nicht erst ein aktives,
die Abschiebung hinderndes Verhalten steht danach der Anwendung der Vorschrift entgegen.
Vielmehr findet der Versagungsgrund bereits dann Anwendung, wenn der Antragsteller es
ablehnt, Heimreisedokumente zu beschaffen,10 oder an der Beschaffung entsprechender
Dokumente nicht genügend mitwirkt.11 Dabei reicht allein eine telefonische und schriftliche
Anfrage an die zuständige Auslandsvertretung nicht aus. Hat der Antragsteller im
Asylverfahren vorgetragen, sein Personalausweis und eine Staatsangehörigkeitsurkunde
befänden sich bei ihm im Herkunftsland, gehört zum erschöpfenden Sachvortrag, dass er alles
Erforderliche und Zumutbare zur Erlangung dieser Urkunden unternommen hat.12
Hat der Antragsteller jedoch im konkreten, von der Behörde eingeleiteten
Passbeschaffungsverfahren die erforderlichen Mitwirkungshandlungen erfüllt, kann die
Beschäftigungserlaubnis nicht mit dem Einwand versagt werden, die Mitwirkung entbinde
nicht von der Verpflichtung zu weiteren eigenen zumutbaren Anstrengungen zur Beschaffung
von Heimreisedokumenten.13 Nur ein gegenwärtiges schuldhaftes und kausal wirkendes
Pflichtversäumnis darf danach berücksichtigt werden Demgegenüber erachtet es die
Gegenmeinung für zumutbar, dass der Antragsteller zur Beibringung von Belegen über seine
Herkunft u.a. dritte private Personen oder einen Vertrauensanwaltes vor Ort beauftragt, sofern
ihm dies seiner wirtschaftlichen Lage nach zumutbar ist
Das Verhalten des Ausländers muss kausal für die Aufenthaltsbeendigung sein.14 Daran fehlt
es bei Krankheitsgründen oder in Fällen der generellen Aussetzung der Abschiebung nach §
60a Abs. 1 AufenthG. Daher kommt es in diesen Fällen auf die fehlende Mitwirkung bei der
Passbeschaffung nicht an. Jedenfalls ist insoweit die Ausländerbehörde darlegungs- und
beweispflichtig.15 Genügt die Behörde ihrer Darlegungslast nicht, darf die fehlende
Nieders.OVG, B. v. 8. 11. 2005 – 12 ME 397/05; VG Koblenz, NVwZ 2005, 724; VG Braunschweig,
AuAS 2005, 158 (161); VG Frankfurt am Main, InfAuslR 2007, 14 (15); VG Gießen, AuAS 2006, 221.; VG
Sigmaringen, B. v. 25. 8. 2005 – 8 K 1285/05.
8
VG Koblenz, NVwZ 2005, 724.
9
VG Gießen, AuAS 2006, 221.
10
OVG NW, B. v. 8. 6. 2005 – 17 B 1118/05; Nieders.OVG, B. v. 7. 10. 2005 – 9 ME 82//05; VGH BW,
AuAS 2007, 63 (64 f.).
11
OVG NW, InfAuslR 2006, 222 (224).
12
VGH BW, InfAuslR 2006, 131 (134 f.)
13
Nieders.OVG, B. v. 8. 11. 2005 – 12 ME 397/05; VG Hannover, Asylmagazin 6/2005, 44; VG
Sigmaringen, U. v. 14. 6. 2005 – 4 K 468/05; VG Augsburg, B. v. 13. 11. 2002 – Au 6 S 02.1065; a.A.
Hess.VGH, InfAuslR 2006, 453 (454).
14
OVG NW, InfAuslR 2006, 222 (225); OVG NW, AuAS 2006, 143 (143); VGH BW, InfAuslR 2006,
131 (134); VG Koblenz, NVwZ 2005, 724; VG Frankfurt am Main, InfAuslR 2007, 14 (15).
15
VG Münster, AuAS 2005, 128 (129).
7
12
Mitwirkung bei der Passbeschaffung im Rahmen der Ermessensausübung nicht berücksichtigt
(Berücksichtigungsverbot) werden.16 Das zu vertretende Verhalten des Antragstellers muss
fortwirken. Hat der Antragsteller sein Verhalten geändert und wirkt er nunmehr an der
Passbeschaffung mit, besteht kein von ihm zu vertretendes Abschiebungshindernis mehr.
Liegen seine Mitwirkungspflichtverletzungen in der Vergangenheit, wirken aber noch fort
und hindern aufenthaltsbeendende Maßnahmen, kann darin allerdings ein Versagungsgrund
liegen.17 Unter diesen Umständen dürfte für den Einwand des Fortwirkens allerdings die
Behörde beweisbelastet sein.
Ein Versagungsgrund liegt insbesondere vor, wenn der Antragsteller das
Abschiebungshindernis durch Täuschung über seine Identität oder seine Staatsangehörigkeit
oder durch falsche Angaben herbeiführt (§ 11 Satz 2 BeschVerfV). Es muss sich um
gegenwärtige Verstöße handeln. Entsprechende Angaben im vorangegangenen Asylverfahren
wirken dann nicht fort, wenn der Antragsteller im konkreten Verfahren der Passbeschaffung
wahrheitsgemäße und erschöpfende Angaben macht und an der Aufklärung des Sachverhaltes
aktiv mitwirkt.
Über die beantragte Beschäftigungserlaubnis wird gemäß § 10 BeschVerfV nach Ermessen
entschieden. Die Rechtsprechung erachtet es für zulässig, die Versagungsentscheidung auf
integrationspolitische Belange zu stützen und deshalb die Frage, ob ein Versagungsgrund
nach § 11 BeschVerfV Anwendung findet, nicht zu prüfen.18 Die Behörde dürfe die
Entscheidung nach § 10 BeschVerfV auch aus einwanderungspolitischen Erwägungen
versagen. Eine Auslegung der Vorschriften der § 10, § 11 BeschVerfV, dass im Rahmen der
Ermessensausübung einwanderungspolitische Erwägungen nur unter den Voraussetzungen
des § 11 BeschVerfV berücksichtigt werden dürften, finde im Gesetz keine Stütze.19 Auf die
Frage, ob durch die Beschäftigung eines geduldeten Ausländers überhaupt eine rechtliche
Verfestigung des Aufenthaltes eintreten könne, komme es nicht an. Entscheidend sei
vielmehr, dass eine berufliche Betätigung zu einer verstärkten Integration in die hiesigen
Verhältnisse führe, sei als problematisch anzusehen. Deshalb stelle die Absicht der
Vermeidung einer Aufenthaltsverfestigung eine sachgerechte Begründung für das
Beschäftigungsverbot dar.20
4.
a)
Rechtsschutz
Allgemeines
Folge des einheitlichen Verwaltungsaktes (vgl. § 4 Abs. 2 Satz 2 AufenthG) ist, dass sich der
Rechtsschutz auch im Blick auf die Beschäftigungserlaubnis im Aufenthaltstitel nach § 40
VwGO richtet, den Verwaltungsgerichten insoweit die früher den Sozialgerichten
zugewiesene sachliche Zuständigkeit für die Überprüfung der Beschäftigungserlaubnis
obliegt. Gegen die Versagung des Beschäftigungserlaubnis kann – in den Bundesländern, die
VG Sigmaringen, B. v. 25. 8. 2005 – 8 K 1285/05; VG Koblenz, NVwZ 2005, 724; a. A. VGH BW,
InfAuslR 2006, 131 (133 f.); VG Karlsruhe, AuAS 2005, 194 (195) = InfAuslR 2005, 320.
17
OVG NW, InfAuslR 2006, 222 (226).
18
OVG NW, B. v. 9. 11. 2005 – 17 B 1585/05; so auch Zühlcke, ZAR 2005, 317 (320).
19
OVG NW, B. v. 9. 11. 2005 – 17 B 1585/05; wohl auch BayVGH, B. v. 10. 3. 2006 – 24 CE 05.2685,
24 C 05.2686.
20
Hess.VGH, B. v. 28. 1. 2005 – 9 ZU 1412/04; a.A. VG Braunschweig, AuAS 2005, 158 (160).
16
13
das Widerspruchsverfahren nicht abgeschafft haben, nach Durchführung des Vorverfahrens
(§ 68 VwGO) - Verpflichtungsklage erhoben werden. Der Widerspruch muss nicht jeweils
wiederholt werden, wenn die beantragte Geltungsdauer des Aufenthaltstitels während des
gerichtlichen Verfahrens abläuft und der Antrag unverändert auf Erteilung eines
Aufenthaltstitels zur Ausübung einer Beschäftigung gerichtet bleibt.21
Da die Arbeitsverwaltung nach außen nicht in Erscheinung tritt, sondern nach § 18 in Verb.
mit § 39 Abs. 1 AufenthG nur im verwaltungsinternen Zustimmungsverfahren beteiligt ist,
können gegen die Arbeitsverwaltung keine Rechtsmittel eingelegt werden. Nach geltendem
Recht sind deshalb die Verwaltungsgerichte zuständig. Die Verwaltungsgerichte müssen
inzidenter auch die ihnen an sich fachfremde Materie des Arbeitsgenehmigungsrechts mit
behandeln. Da die Ausländerbehörde bei der Erteilung des Aufenthaltstitels an die
Zustimmung sowie die mit der Zustimmung verbundenen Vorgaben, wie etwa Befristung,
bestimmter Betrieb, gebunden ist (§ 39 Abs. 1 Satz 1 AufenthG), die Ausländerbehörde zu
abweichenden Entscheidung mithin nicht gerichtlich verpflichtet werden kann, ist die
Bundesagentur für Arbeit notwendig im Verwaltungsstreitverfahren beizuladen (§ 65 Abs. 2
VwGO) und auf Antrag durch das Verwaltungsgericht zur Erteilung der Zustimmung zu
verpflichten. Da die Ausländerbehörde die Bundesagentur für Arbeit beteiligen muss, ist diese
im Prozess notwendig beizuladen (§ 65 Abs. 2 VwGO). Die Beiladung entfällt in den
zustimmungsfreien Fällen (§ 2 bis § 4 BeschVerfO), nicht jedoch in den Fällen, in denen die
Vorrangprüfung (z. B. § 5 bis § 9 BeschVerfV) entfällt, da insoweit das
Zustimmungsverfahren wegen der Prüfung der Arbeitsbedingungen (vgl. § 39 Abs. 2 Satz 1
letzter Hs. AufenthG) durchzuführen ist.
b)
Form des Rechtsschutzes im Hauptsacheverfahren
aa)
Beschäftigungserlaubnis kraft Gesetzes (§ 4 Abs. 2 Satz 1 1. Alt. AufenthG)
Die Form des Rechtsschutzes ist abhängig von dem Verhältnis zwischen dem Aufenthaltstitel
und der arbeitsgenehmigungsrechtlichen Berechtigung. Zu unterscheiden ist in die Fälle, in
denen der Aufenthaltstitel kraft Gesetzes (§ 9 Abs. 1 Satz 2 1. Hs., § 16 Abs. 3, § 20 Abs. 6, §
22 Satz 3, § 25 Abs. 1 Satz 4, Abs. 2 Satz 2, § 28 Abs. 4, § 31 Abs. 1 Satz 2, § 37 Abs. 1 Satz
2, § 38 Abs. 4 Satz 1 AufenthG) die Erwerbstätigkeit erlaubt (§ 4 Abs. 2 Satz 1 1. Alt.
AufenthG), in die Fälle der Erteilung des Aufenthaltstitels zur Erwerbstätigkeit (§ 4 Abs. 2
Satz 1 2. Alt. AufenthG) und in die Beschäftigungserlaubnis nach § 4 Abs. 2 Satz 3
AufenthG. Insoweit ist der Rechtsschutz jeweils unterschiedlich gestaltet.
In den Fällen des § 4 Abs. 2 Satz 1 1. Alt. AufenthG (z. B. § 9 Abs. 1 Satz 2 1. Hs., § 16 Abs.
3, § 20 Abs. 6, § 22 Satz 3, § 25 Abs. 1 Satz 4, Abs. 2 Satz 2, § 28 Abs. 4, § 31 Abs. 1 Satz 2,
§ 37 Abs. 1 Satz 2, § 38 Abs. 4 Satz 1 AufenthG) wird ein Aufenthaltstitel erstrebt, der zu
anderen Zwecken als den der Ausübung einer Erwerbstätigkeit berechtigt, zugleich aber kraft
Gesetzes die Erwerbstätigkeit erlaubt. Die Rechtsprechung des BVerwG zum Charakter der
früheren arbeitsgenehmigungsrechtlichen Nebenbestimmung kann auf diesen Fall keine
Anwendung finden. Denn bei der modifizierenden Auflage ist zu fragen, ob die Behörde eine
potenziell verbindliche Rechtsfolge gesetzt hat, d.h. ob durch die behördliche Regelung
Rechte begründet, geändert, aufgehoben oder verbindlich festgestellt werden oder die
Begründung, Änderung, Aufhebung oder verbindliche Feststellung solcher Rechte mit
Außenwirkung abgelehnt wird. Eine derart potenziell verbindliche Regelung kann auch dann
anzunehmen sein, wenn eine generelle und abstrakte Regelung des Gesetzes für den Einzelfall
21
BSG, EZAR 310 Nr. 1; BSG, EZAR 310 Nr. 2.
14
mit Bindungswirkung als bestehend oder nicht bestehend festgestellt, konkretisiert oder
individualisiert wird.22
Es gibt keine offenen Voraussetzungen, die durch Nebenbestimmung geregelt werden
könnten. Lediglich wegen der Bezeichnungspflicht in § 4 Abs. 2 Satz 2 AufenthG ist die
Behörde gehalten, die arbeitsgenehmigungsrechtliche deklaratorische Folge in dem
Aufenthaltstitel zum Ausdruck zu bringen. Erteilt die Ausländerbehörde antragsgemäß den
begehrten Aufenthaltstitel, verweigert sie aber die Vornahme des nach § 4 Abs. 2 Satz 2
AufenthG vorgeschriebenen klarstellenden Hinweises, lassen Rechtsmittel gegen die
Versagung des arbeitsgenehmigungsrechtlichen Hinweises die Wirksamkeit des
Aufenthaltstitels unberührt. Es kann sich auch aus diesem Grund nicht um eine
modifizierende Auflage handeln. Da andererseits eine kraft Gesetzes nicht einschränkbare
Erlaubnis zur Ausübung der Beschäftigung erstrebt wird, kann mit Ausnahme der
Fallgestaltungen nach § 29 Abs. 5 1. HS AufenthG nicht um den Erlass einer Auflage
gestritten werden.
Der arbeitgenehmigungsrechtliche Teil des Aufenthaltstitels nach § 4 Abs. 2 Satz 1 1. Alt.
AufenthG ist damit im Regelfall weder eine selbständige noch eine modifizierende Auflage,
sondern zwingender, freilich lediglich deklaratorisch wirkender Inhalt des Anspruchstitels.
Der Rechtsschutz im Falle des § 4 Abs. 2 Satz 1 1. Alt. AufenthG zielt auf die Verpflichtung
zur vollständigen deklaratorischen Bezeichnung des bestehenden Rechtsanspruchs gemäß § 4
Abs. 2 Satz 2 AufenthG. Daher ist Verpflichtungsklage mit dem Ziel zu erheben, die Behörde
zu verpflichten, den nach § 4 Abs. 2 Satz 2 AufenthG erforderlichen Hinweis in dem
Aufenthaltstitel zu vermerken, dass der Begünstigte aufgrund des erteilten Aufenthaltstitels
kraft Gesetzes berechtigt ist, jede selbständige und unselbständige Erwerbstätigkeit
auszuüben. In den Fällen des § 29 Abs. 5 1. Hs. AufenthG, in denen durch Auflage die
Grenzen der erlaubten Beschäftigung festzulegen sind, kann durch Verpflichtungsklage der
Erlass einer entsprechenden, rechtlich vom Aufenthaltstitel unabhängigen Auflage
durchgesetzt werden. Eilrechtsschutz ist gemäß § 123 VwGO zu erlangen.
bb)
Aufenthaltstitel zur Ausübung der Beschäftigung (§ 4 Abs. 2 Satz 2 2. Alt. AufenthG)
Bei § 4 Abs. 2 Satz 1 2. Alt. AufenthG zielt der Rechtsschutz auf die Verpflichtung zur
Erteilung des Aufenthaltstitels nach §§ 18 ff. AufenthG mit gleichzeitiger Festlegung von Art
und Umfang der Beschäftigungserlaubnis. Eine davon losgelöste Verpflichtung zum Erlass
einer die Erwerbstätigkeit regelnden Auflage ist nicht möglich, weil der Aufenthaltstitel nach
§§ 18 ff. AufenthG ohne die inhaltlich konkretisierte Erlaubnis zur Ausübung der
Beschäftigung nicht ergehen kann.
cc)
Rechtsschutz gegen „auflösende Bedingung“
In der Verwaltungspraxis wurde früher die Aufenthaltsgenehmigung in ihrer
Rechtswirksamkeit häufig unmittelbar von der Befolgung einer Nebenbestimmung abhängig
gemacht. In diesem Fall führte der gewillkürte Wechsel des Arbeitgebers, die unanfechtbare
Kündigung durch den Arbeitgeber, der Aufhebungsvertrag oder das anderweitig beendete
Arbeitsverhältnis unmittelbar zur Beendigung des Aufenthaltsrechtes mit der Folge des
Eintritts der Ausreisepflicht.23 Eine derartige Bedingung, welche die Rechtswirksamkeit des
22
23
BVerwGE 79, 291 (293) = EZAR 222 Nr. 7 = NVwZ 1988, 941 = InfAuslR 1988, 251.
OVG Frankfurt (Oder), NVwZ-RR 1999, 146; s. auch BAG, InfAuslR 2000, 296.
15
erteilten Aufenthaltstitels von dem Fortbestand des einmal eingegangenen
Arbeitsverhältnisses abhängig macht, ist eine auflösende Bedingung im Sinne des § 36 Abs. 2
Nr. 2 VwVfG. Die den Verwaltungsakt auflösende Bedingung ist in diesem Fall die
Auflösung des Arbeitsverhältnisses. Ist diese auflösende Bedingung einmal eingetreten, ist
der Verwaltungsakt unwirksam geworden (vgl. auch § 158 Abs. 2 BGB) und kann später
nicht mehr, auch nicht aufgrund eines Rechtsbehelfs wieder aufleben.24
Der Verordnungsgeber geht offensichtlich davon aus, dass § 4 Abs. 2 Satz 1 2. Alt. AufenthG
die Fortsetzung dieser Verwaltungspraxis erlaubt. Denn nach § 14 Abs. 4 BeschVerfV erlischt
die Zustimmung mit der Beendigung des Arbeitsverhältnisses, wenn sie nur für ein
bestimmtes Beschäftigungsverhältnis erteilt worden ist. Dies gilt auch für die im
Visumverfahren erteilte Zustimmung (vgl. § 44 BeschV). Beschränkungen bei der Erteilung
der Zustimmung sind in dem Aufenthaltstitel zu übernehmen (§ 18 Abs. 2 Satz 2 AufenthG).
Dies spricht dafür, dass die Ausländerbehörde die in der Zustimmung enthaltene auflösende
Bedingung im Aufenthaltstitel nach § 4 Abs. 2 Satz 2 AufenthG übernimmt.
Zwar erlischt nach der obergerichtlichen Rechtsprechung mit der Kündigung des
Arbeitsverhältnisses der Aufenthaltstitel. Die Frage der Berechtigung der Kündigung sei für
das Aufenthaltsrecht jedenfalls so lange irrelevant, wie nicht eine arbeitsgerichtliche
Entscheidung vorliege, die das Fortbestehen des Arbeitsverhältnisses feststelle.25 Daraus ist
im Umkehrschluss zu folgern, dass die Ausländerbehörde sich nach dem rechtlichen
Wirksamwerden der Kündigung nicht unmittelbar auf den Eintritt der auflösenden Bedingung
berufen kann. Vielmehr ist vor Einleitung aufenthaltsbeendender Maßnahmen zunächst
abzuwarten, bis eine arbeitsgerichtliche Entscheidung über die Rechtmäßigkeit der
Kündigung ergangen ist.
Unzulässig ist diese Praxis in den Fällen des § 4 Abs. 2 Satz 1 1. Alt. und Satz 3 AufenthG.
Im ersteren Fall ist kraft Aufenthaltstitel der uneingeschränkte Zugang zum Arbeitsmarkt
sicherzustellen. Wird das Beschäftigungsverhältnis aufgelöst, bleibt hiervon sowohl der
Aufenthaltstitel wie die Beschäftigungserlaubnis unberührt. Im zweiten Fall ist der aus
humanitären oder zum Zwecke des Nachzugs erteilte Aufenthaltstitel in seinem Bestand von
der Ausübung einer Beschäftigung unabhängig. Eine den Bestand unmittelbar aufhebende
akzessorische Nebenbestimmung widerspricht damit dieser Vorschrift.
Eine isolierte Anfechtung der Nebenbestimmung nach Eintritt der auflösenden Bedingung ist
nicht möglich.26 Denn in diesem Fall ist auch der Haupt-Verwaltungsakt rechtlich erloschen.
Fraglich ist, ob die auflösende Bedingung unmittelbar im Anschluss an ihren Erlass
anfechtbar ist. Die Anfechtung der auflösenden Bedingung hat keinen Einfluss auf den
Bestand des von der Behörde mit sofortiger Wirkung verfügten Bescheides. Da es bei der
Beschäftigungserlaubnis nach § 17 bis § 20 AufenthG jedoch um Ermessensverwaltung geht,
sollte mit der Behörde im Verhandlungswege vor Erteilung der auflösenden Bedingung oder
vor der Verwirklichung des Entschlusses, den Arbeitsgeber zu wechseln, eine weniger
restriktive Lösung ausgehandelt werden.
24
BVerwGE 89, 357 (359) = NVwZ 1992, 570.
OVG SH, InfAuslR 2004, 342.
26
OVG SH, InfAusl 2004, 342; A. A. OVG NW, NVwZ 1993, 488; offen gelassen in BVerwGE 89, 357
(359) = NVwZ 1992, 570.
25
16
Ist die Behörde hierzu nicht bereit und der Antragsteller bereits über mehrere Jahre im Besitz
des Aufenthaltstitels mit auflösender Bedingung, kann unter Berufung auf den
Verhältnismäßigkeitsgrundsatz Bescheidungsklage mit dem Ziel erhoben werden, den
Aufenthaltstitel mit der inhaltlich im Einzelnen zu bestimmenden Beschäftigungserlaubnis
ohne auflösende Bedingung zu verlängern. Spätestens nach Ablauf von fünf Jahren (vgl. § 9
Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 AufenthG) ist die Beifügung einer auflösenden Bedingung unzulässig.
Einstweiliger Rechtsschutz ist wegen des Verbots der Vorwegnahme der Hauptsache wenig
Erfolg versprechend. Der Betroffene muss sich deshalb für die Dauer des anhängigen
Verwaltungsstreits mit der bereits erteilten auflösenden Bedingung begnügen.
Muster..:
Verpflichtungsklage auf Aufhebung der auflösenden Bedingung im Blick auf die
Beschäftigungserlaubnis
An das
Verwaltungsgericht
Antrag
des tunesischen Staatsangehörigen
gegen
Land
wegen Ausländerrecht
Unter Vollmachtsvorlage erhebe ich Klage und beantrage:
Der Beklagte wird verpflichtet, unter Aufhebung der Verfügung des Landkreises vom in
Gestalt des Widerspruchsbescheides des Regierungspräsidiums vom dem Kläger eine
Aufenthaltserlaubnis mit der Auflage „selbständige Erwerbstätigkeit oder vergleichbare
nichtselbständige Erwerbstätigkeit nicht gestattet“ zu erteilen.
dd) Rechtsschutz gegen die Versagung der Beschäftigungserlaubnis (§ 4 Abs. 2 Satz 3
AufenthG)
Ebenso wie der rechtliche Charakter der Beschäftigungserlaubnis nach § 4 Abs. 2 Satz 3
AufenthG ist der hiermit zusammenhängende Rechtsschutz umstritten. Wird die begehrte
Beschäftigungserlaubnis nach § 4 Abs. 2 Satz 3 AufenthG verweigert, bleibt es beim
bisherigen Aufenthaltsstatus. Kraft Gesetzes ist die Beschäftigung untersagt. 27 Die bloße
Beseitigung des Vermerks „ Erwerbstätigkeit nicht gestattet“ führt als solche nicht bereits zu
der begehrten und benötigten Rechtskreiserweiterung.28 Vielmehr bedarf es einer
ausdrücklichen die Beschäftigung zulassenden Einzelfallregelung. Der Belastete macht sich
für den Fall der Arbeitsaufnahme ohne eine derartige Regelung strafbar, ohne dass es einer
besonderen behördlichen Verfügung bedürfte. Will er gegen die Versagung der begehrten
Beschäftigungserlaubnis vorgehen, hilft ihm die Anfechtungsklage nicht weiter. 29 Denn
wegen § 4 Abs. 2 Satz 3 AufenthG ist eine belastende Auflage denklogisch nicht möglich. Es
wird vielmehr die Anordnung eines begünstigenden Verwaltungsaktes begehrt.
Daher ist Verpflichtungsklage in Form der Bescheidungsklage (vgl. § 113 Abs. 5 Satz 2
VwGO) auf Erteilung der begehrten Beschäftigungserlaubnis nach § 4 Abs. 2 Satz 3
27
VGH BW, InfAuslR 2006, 131 (132); VG Karlsruhe, AuAS 2005, 194 (195) = InfAuslR 2005, 320; VG
Braunschweig, AuAS 2005, 158 (160); VG Sigmaringen, U. v. 14. 6. 2005 – 4 K 468/05.
28
OVG NW, InfAuslR 2006, 222 (223).
29
Zühlcke, ZAR 2005, 317 (322).
17
AufenthG zu erheben. Die Bundesagentur ist notwendig beizuladen. Stützt die
Ausländerbehörde die Versagung der Beschäftigungserlaubnis auf die fehlende Zustimmung,
beruft sich auf Rechtsgründe, sodass maßgeblicher Zeitpunkt für die Beurteilung der Sachund Rechtslage der Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung in der Tatsacheninstanz
ist.30 Hat die Bundesagentur für Arbeit bereits ihre Zustimmung erteilt und wird die
Beschäftigungserlaubnis ausschließlich auf ausländerrechtliche Gesichtspunkte gestützt,
entfällt die Beiladung. Die Ausländerbehörde darf die begehrte Beschäftigungserlaubnis nicht
mit der Begründung ablehnen, die Arbeitsverwaltung habe zu Unrecht ihre Zustimmung
erteilt.31
Muster..: Bescheidungsklage gegen die Versagung der Beschäftigungserlaubnis
An das
Verwaltungsgericht
Antrag
des marokkanischen Staatsangehörigen
gegen
Land
wegen Ausländerrecht.
Unter Vollmachtsvorlage erhebe ich Klage und beantrage:
Der Beklagte wird verpflichtet, über den Antrag des Klägers auf Erteilung einer
Beschäftigungserlaubnis mit dem Inhalt, dass ihm die Beschäftigung bei der Firma XY als
Gabelstapelfahrer gestattet wird, nach Maßgabe der Rechtsauffassung des
Verwaltungsgerichtes zu entscheiden.
c)
Begründungsanforderungen an den Eilrechtsschutz
aa)
Eilrechtsschutz gemäß § 123 VwGO wegen Versagung der beantragten
Beschäftigungserlaubnis
In allen Fallgestaltungen ist einstweiliger Rechtsschutz gegen die Versagung der beantragten
Beschäftigungserlaubnis gemäß § 123 VwGO beim Verwaltungsgericht zu beantragen.
Gemäß § 123 Abs. 1 Satz 2 VwGO kann das Verwaltungsgericht zur Regelung eines
vorläufigen Zustandes im Blick auf ein streitiges Rechtsverhältnis eine einstweilige
Anordnung erlassen, wenn diese Regelung erforderlich ist, um wesentliche Nachteile von dem
Antragsteller abzuwenden. Der Anordnungsgrund wie auch der Anordnungsanspruch sind
glaubhaft zu machen. § 123 Abs. 5 VwGO hindert nicht den Eilrechtsschutz nach § 123
VwGO bezogen auf die Beschäftigungserlaubnis, wenn zugleich im aufenthaltsrechtlichen
Verfahren der Eilrechtsschutz nach § 80 Abs. 5 VwGO zu beantragen ist.32
Im Blick auf den Anordnungsgrund ist glaubhaft zu machen, dass der Antragsteller aus Zeitund Gründen des effektiven Rechtsschutzes nicht auf den Weg der Verpflichtungsklage
verwiesen werden kann. Dazu ist erforderlich, dass dargetan und glaubhaft gemacht wird,
dass der Beginn des vom Antragsteller angestrebten Arbeitsverhältnisses unmittelbar
bevorsteht. In diesem Fall greift insbesondere bei Ausbildungsverhältnissen ein besonders
dringliches Interesse zugunsten des Antragstellers durch.33 Wird nicht glaubhaft gemacht,
30
31
32
33
VG Karlsruhe, B. v. 4. 1. 2006 – 4 K 2142/05.
VG Karlsruhe, B. v. 4. 1. 2006 – 4 K 2142/05.
VGH BW, InfAuslR 2007, 59 (61).
VG Sigmaringen, B. v. 25. 8. 2005 – 8 K 1285/05.
18
dass der Arbeitsplatz noch zur Verfügung steht, fehlt es am Anordnungsgrund. 34 Ein
schützwürdiges Interesse besteht auch bei einer drohenden Kündigung infolge des Ablaufs der
Beschäftigungserlaubnis.35 Führt die Ausreise mit hoher Wahrscheinlichkeit dazu, dass der
geltend gemachte Anspruch vom Ausland aus nicht mehr mit Erfolg geltend gemacht werden
kann, besteht ein besonders dringliches Interesse an einer vorläufigen Regelung.36
Im Blick auf den Anordnungsanspruch scheitern im Eilrechtsschutzverfahren die Mehrzahl
der Anträge, weil die Erteilung der Beschäftigungserlaubnis mit Ausnahme der in § 4 Abs. 2
Satz 1 1. Alt. AufenthG geregelten Fälle regelmäßig im behördlichen Ermessen liegt. Leidet
die behördliche Entscheidung am Ermessensmangel, kann im Eilrechtsschutz erreicht werden,
dass zumindest eine erneute Entscheidung im Ermessenswege getroffen werden muss.37
Voraussetzung für eine den Anspruch auf eine ermessensfehlerhafte Entscheidung sichernde
einstweilige Anordnung ist die Glaubhaftmachung eines Ermessensfehlers bei Ablehnung
oder Unterlassung der begehrten Behördenentscheidung und die gerichtliche Prognose anhand
der vorgebrachten oder sonst wie ersichtlichen Tatsachen, dass die ermessensfehlerfreie (Neu)
Bescheidung der Behörde mit überwiegender Wahrscheinlichkeit zur Erteilung der
Beschäftigungserlaubnis führen wird.38
Mit der einstweiligen Anordnung kann allerdings nur eine vorübergehende Regelung
getroffen werden. Eine Vorwegnahme der Hauptsache ist daher grundsätzlich unzulässig.39
Eine Ausnahme von diesem Grundsatz ist dann zu machen, wenn der geltend gemachte
Anspruch hinreichend wahrscheinlich ist (Annordnungsanspruch) und dem Antragsteller im
Falle der Nichterfüllung des geltend gemachten Anspruchs bis zum Ergehen einer
Entscheidung in der Hauptsache unzumutbare Nachteile drohen (Anordnungsgrund).40 Eine
lediglich auf die vorläufige Beschäftigung gerichtete einstweilige Anordnung bis zur
Entscheidung in der Hauptsache äußert keine auch im Hauptsacheverfahren irreversiblen
Wirkungen für die Zukunft und ist deshalb zulässig.41 Vielmehr kann die Ausländerbehörde
mit einer rechts- und ermessensfehlerfreien Hauptsachentscheidung den status quo ante
wiederherstellen.42
Muster..: Eilrechtsschutzantrag gegen die Versagung der Beschäftigungserlaubnis
An das
Verwaltungsgericht
Antrag
des marokkanischen Staatsangehörigen
gegen
Land
wegen Ausländerrecht.
Unter Vollmachtsvorlage wird beantragt,
im Wege der einstweiligen Anordnung gemäß § 123 VwGO anzuordnen, dass dem
Antragsteller bis zur Entscheidung im Hauptsacheverfahren eine Beschäftigungserlaubnis
34
35
36
37
38
39
40
41
42
OVG NW, InfAuslR 2006, 222 (224).
VG Koblenz, NVwZ 2005, 724 (725).
VGH BW, InfAuslR 2000, 378 (379).
VGH BW, InfAuslR 2000, 378 (380); VG Koblenz, NVwZ 2005, 724.
Vgl. VGH BW, InfAuslR 2000, 378 (380).
OVG NW, InfAuslR 2006, 222 (223); BayVGH, B. v. 10. 3. 2006 – 24 CE 05.2685, 24 C 05.2686.
VG Koblenz, NVwZ 2005, 724.
OVG NW, InfAuslR 2006, 222 (223); VG Sigmaringen, B. v. 25. 8. 2005 – 8 K 1285/05.
VG Sigmaringen, B. v. 25. 8. 2005 – 8 K 1285/05.
19
mit dem Inhalt erteilt wird, dass ihm die beantragte Beschäftigung bei der Firma XY als
Gabelstapelfahrer vorläufig erlaubt ist.
bb)
Antrag nach § 80 Abs. 5 VwGO bei
Beschäftigungserlaubnis
Änderung
oder
Aufhebung der
Anders ist die prozessuale Situation, wenn der Antragsteller sich gegen die Änderung oder
Aufhebung der bestehenden Beschäftigungserlaubnis wenden will. In diesen Fällen hat der
Rechtsbehelf gegen die behördliche Verfügung nach § 84 Abs. 1 Nr. 3 AufenthG
aufschiebende Wirkung. Insoweit bleibt es damit bei der früheren Rechtslage. Die Änderung
oder Aufhebung der Beschäftigungserlaubnis setzt jedoch deren wirksamen Bestand voraus.
Ist eine Beschäftigungserlaubnis noch nie erteilt worden oder ist sie aufgrund der ihr
innewohnenden zeitlichen oder sachlichen Begrenzung erloschen, kann der Rechtsschutz
nicht über § 80 Abs. 5 VwGO, sondern nur über § 123 VwGO erlangt werden.43
cc)
Eilrechtsschutz zur Sicherstellung der Beschäftigungserlaubnis während des
aufenthaltsrechtlichen Rechtsschutzverfahrens (§ 84 Abs. 2 Satz 2 AufenthG)
Nach § 84 Abs. 2 Satz 2 AufenthG gilt der Aufenthaltstitel für Zwecke der Aufnahme oder
Ausübung einer Beschäftigung als fortbestehend, solange die Frist zur Erhebung des
Widerspruchs oder der Klage noch nicht abgelaufen ist, während eines gerichtlichen
Verfahrens über einen zulässigen Antrag auf Anordnung oder Wiederherstellung der
aufschiebenden Wirkung oder solange der eingelegte Rechtsbehelf aufschiebende Wirkung
hat (§ 84 Abs. 2 Satz 2 AufenthG). Dadurch, dass für die jeweils bezeichneten Zeiträume das
Fortbestehen des Aufenthaltstitels (nur) zum Zwecke der Ausübung einer Erwerbstätigkeit
fingiert wird, wird der nach § 4 Abs. 2 und 3 AufenthG erforderliche Zusammenhang
zwischen Aufenthaltstitel und Beschäftigungserlaubnis gewahrt.44 Eine vor dem 1. Januar
2005 erteilte Arbeitserlaubnis bzw. Arbeitsberechtigung behält ihre Gültigkeit bis zum Ablauf
ihrer Gültigkeitsdauer bzw. gilt unbefristet fort (§ 105 Abs. 1 Satz 1, Abs. 2 AufenthG). Für
diese Fälle bedarf es bis zum Eintritt der Vollziehbarkeit der Ausreisepflicht nicht der
Fortgeltungsfiktion des § 84 Abs. 2 Satz 2 AufenthG, da die Beschäftigungserlaubnis
unmittelbar aus § 105 Abs. 1 Satz 1, Abs. 2 AufenthG folgt.
Die Anwendung des § 84 Abs. 2 Satz 2 AufenthG ist nicht auf solche Fälle beschränkt, in
denen nach Versagung des Verlängerungsantrags die Fortgeltungsfiktion des § 81 Abs. 4
AufenthG entfallen ist. Vielmehr kommt die – auf Zwecke der Erwerbstätigkeit
eingeschränkte – Regelung über die Fortbestehensfiktion des § 84 Abs. 2 Satz 2 AufenthG
nach ihrem systematischen Zusammenhang sowie ihrem Sinn und Zweck auch in
Ausweisungsfällen in Betracht, in denen die aufschiebende Wirkung eines Rechtsbehelfs
durch eine gerichtliche Entscheidung wiederhergestellt worden ist.45
Über die Berechtigung, eine Erwerbstätigkeit auszuüben, ist eine Bescheinigung auszustellen.
Zwar enthält das Gesetz hierzu keine ausdrücklichen Regelungen. Doch ergibt sich dieser
Anspruch mittelbar aus § 4 Abs. 2 Satz 1 und Abs. 3 Satz 1 AufenthG, in den Altfällen aus §
105 Abs. 1 Satz 1 oder Abs. 2 in Verb. mit § 84 Abs. 2 Satz 2 AufenthG. Wegen der in § 4
Abs. 2 Satz 2 AufenthG geregelten Nachweispflicht besteht ein anzuerkennendes Bedürfnis
des Betroffenen, dass ihm die Ausländerbehörde gegebenenfalls die Berechtigung zur
Ausübung einer Beschäftigung in geeigneter Form bescheinigt. Dieses Recht kann
43
44
45
Zühlcke, ZAR 2006, 317 (322).
OVG Hamburg, InfAuslR 2006, 60 (62); OVG NW, AuAS 2007, 158 = ZAR 2007, 251.
VGH BW, AuAS 2003, 232 (234).
20
gegebenenfalls mit dem einstweiligen Anordnungsantrag (§ 123 VwGO) durchgesetzt
werden.46
Muster..: Eilrechtsschutzantrag auf Bescheinigung der Fortbestehensfiktion
An das
Verwaltungsgericht
Antrag
des türkischen Staatsangehörigen
gegen
Land
wegen Ausländerrecht.
Unter Vollmachtsvorlage wird beantragt,
im Wege der einstweiligen Anordnung gemäß § 123 VwGO die Antragsgegnerin zu
verpflichten, dem Antragsteller eine Bescheinigung auszustellen, dass ihm nach § 84 Abs.
2 Satz 2 AufenthG erlaubt ist, bis zur Entscheidung über seinen Eilrechtsschutzantrag auf
Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung seines Widerspruchs vom … gegen die
Verfügung des Landrates … vom… eine Beschäftigung auszuüben
- alternativ: bis zur unanfechtbaren Entscheidung über seine Klage gegen die Verfügung
des Kreises…vom …eine Beschäftigung auszuüben.
dd)
Eilrechtsschutz gegen Beschäftigungsverbot bei geduldeten Antragstellern
Will ein geduldeter Ausländer erreichen, dass die ihm erteilte Duldungsbescheinigung um
eine Erlaubnis zur Beschäftigung erweitert wird, ist Rechtsschutz im Wege eines Antrags auf
Erlass einer einstweiligen Anordnung und im Hauptsacheverfahren im Wege der
Verpflichtungsklage zu erreichen. Ein Anordnungsgrund besteht etwa dann, wenn der
Antragsteller bereits in einem Arbeitsverhältnis steht und dieses im Falle der Versagung der
beantragten Erlaubnis beendet zu werden droht. Ein Anordnungsanspruch setzt eine
Ermessensreduzierung auf Null voraus. Ist das nicht der Fall, kann im
Eilrechtsschutzverfahren ein Anspruch auf ermessensfehlerfreie Entscheidung gegeben sein.47
Muster: Eilrechtsschutzantrag gegen die Versagung der Beschäftigungserlaubnis
An das
Verwaltungsgericht
Antrag
des türkischen Staatsangehörigen
gegen
Land
wegen Ausländerrecht.
Unter Vollmachtsvorlage wird beantragt,
die Antragsgegnerin im Wege der einstweiligen Anordnung gemäß § 123 VwGO zu
verpflichten, dem Antragsteller vorläufig eine Beschäftigungserlaubnis zur Ausübung
46
OVG Hamburg, InfAuslR 2006, 60 (62); OVG NW, AuAS 2007, 158 = ZAR 2007, 251; VG Aachen,
InfAuslR 2006, 456 (457); VG Magdeburg, InfAuslR 2008, 259.
47
OVG NW, AuAS 2006, 143; OVG Rh-Pf, NVwZ-RR 2007, 494; OVG Rh-Pf, B. v. 4. 6. 2007 – 7 B
10282/07, beide Verpflichtungsklage gegen Beschäftigungsverbot.
21
einer Beschäftigung bei der Firma …gemäß § 4 Abs. 2 Satz 3 AufenthG zu erteilen, bis
in der Hauptsache über den Antrag des Antragstellers auf Erteilung der
Beschäftigungserlaubnis entschieden ist.
ee)
Eilrechtsschutz gegen Rücknahme oder Widerruf der Beschäftigungserlaubnis
Zwar regelt § 84 Abs. 1 Nr. 3 AufenthG unmittelbar nur den Rechtsschutz gegen die
Änderung oder Aufhebung einer Nebenbestimmung zur Ausübung einer Beschäftigung.
Allgemein wird davon ausgegangen, dass der Gesetzgeber die Konsequenzen der Regelungen
in § 4 Abs. 2 und 3 AufenthG bei der erst im Vermittlungsverfahren eingefügten Regelung
des § 84 Abs. 1 Nr. 3 AufenthG nicht ausreichend bedacht habe. Da eine
Beschäftigungserlaubnis nach allgemeiner Auffassung als selbständiger Verwaltungsakt und
nicht als Nebenbestimmung ergeht, wird deshalb teilweise eine erweiternde oder analoge
Anwendung des § 84 Abs. 3 Nr. 3 AufenthG auf die selbständige Beschäftigungserlaubnis
vorgeschlagen.48 Teilweise wird von einem redaktionellen Versehen des Gesetzgebers
ausgegangen und deshalb die Vorschrift unmittelbar auf den Entzug oder die Rücknahme der
Beschäftigungserlaubnis angewandt.49 Auch der Widerruf und die Rücknahme der einer
Duldung beigefügten (selbständigen) Beschäftigungserlaubnis unterfällt nach dieser Ansicht
der Vorschrift des § 84 Abs. 1 Nr. 3 AufenthG.
In der Konsequenz dieser Ansicht liegt es, dass in der Hauptsache Widerspruch und Klage
gegen den Widerruf oder die Rücknahme der Beschäftigungserlaubnis einzulegen bzw. zu
erheben und im Eilrechtsschutzverfahren der Antrag auf Anordnung der aufschiebenden
Wirkung des Rechtsbehelfs gegen den Widerruf bzw. die Rücknahme der
Beschäftigungserlaubnis zu stellen ist. Die Glaubhaftmachung eines Anordnungsgrundes
entfällt. Das Verbot der Vorwegnahme der Hauptsache stellt sich nicht. Es findet lediglich
eine summarisch ausgerichtete Interessenabwägung statt. Wer diesen Weg nicht gehen und §
84 Abs. 1 Nr. 3 AufenthG auf den Widerruf bzw. die Rücknahme der
Beschäftigungserlaubnis nicht anwenden will, muss im Eilrechtsschutzverfahren nach § 123
VwGO vorgehen.
II.
Türkische Arbeitnehmer
Das AufenthG verweist in § 4 Abs. 1 und Abs. 5 auf das spezifische Assoziationsrecht für
türkische Arbeitnehmer. Ebenso bestimmt § 15 BeschVerfV, dass günstigere Regelungen des
Beschlusses ARB 1/80 unberührt von den Beschränkungen dieser Verordnung bleiben. Dies
ist dem Anwendungsvorrang des Gemeinschaftsrechtes geschuldet. Das Assoziationsrecht
schafft keine besonderen Vorschriften für diese Personengruppe, soweit es um den Zugang
zum Arbeitsmarkt geht. Dieser regelt sich auch für türkische Staatsangehörige nach den
allgemeinen aufenthaltsrechtlichen Vorschriften. Erst wenn nach diesen der Zugang zum
Arbeitsmarkt eröffnet wird, findet das Assoziationsrecht Anwendung.
1. Funktion von Art. 6 ARB 1/80
In diesem Zusammenhang gewinnt der Beschluss Nr. 1/80 des Assoziationsrates
(Assoziationsratsbeschluss – ARB Nr. 1/80) eine besondere Bedeutung. Nach Art. 36 des
Zusatzprotokolls vom 23. November 1970 zum Assoziierungsabkommen ist in
verfahrensrechtlicher Hinsicht bestimmt worden, dass der nach Art. 6 und 22 des Abkommens
48
49
Michael Funke-Kaiser, in: GK-AufenthG II - § 84 AufenthG Rdn.20.
Britta Bartelheim, InfAuslR 2005, 458 (461 f.).
22
errichtete Assoziationsrat EWG/Türkei die für die schrittweise Herstellung der Freizügigkeit
erforderlichen Regelungen festlegen soll. Der Assoziationsrat hatte zunächst im Jahre 1976
den Beschluss Nr. 2/76 erlassen, der nach seinem Art. 1 eine erste Stufe der Freizügigkeit der
Arbeitnehmer zwischen der EG und der Türkei bildet. Am 19. September 1980 erließ der
Assoziationsrat sodann den Beschluss Nr. 1/80 (Assozitionsratsbeschluss – ARB 1/80), der zu
einer besseren Regelung zugunsten der Arbeitnehmer und ihrer Familienangehörigen führen
soll und den Beschluss Nr. 2/76 ersetzt. Der Beschluss ARB 1/80 begründet zwar keinen
Einreiseanspruch. Vielmehr richten sich Einreise und Aufenthalt von türkischen
Staatsangehörigen weiterhin nach innerstaatlichem Recht.
Der Beschluss ARB 1/80 verstärkt über bestimmte Zeitphasen schrittweise das
Aufenthaltsrecht bis hin zur Verfestigung. Nach anfänglichen Unsicherheiten in der Praxis ist
durch die Rechtsprechung des EuGH klargestellt worden, dass ARB-Beschlüsse einen
integrierenden Teil der Gemeinschaftsrechtsordnung bilden und daher in den Mitgliedstaaten
unmittelbare Wirkung haben.50 Art. 6 und 7 ARB 1/80 regeln zwar nur die
beschäftigungsrechtliche und nicht die aufenthaltsrechtliche Stellung des Arbeitnehmers. Da
beide Aspekte indes eng miteinander verbunden sind, kann sich ein türkischer Arbeitnehmer
zur Begründung seines Verlängerungsantrags gegenüber der Ausländerbehörde deshalb
unmittelbar auf diesen Beschluss berufen.51 Dies wird auch durch § 4 Abs. 1 AufenthG
bestätigt. Allerdings trifft den türkischen Arbeitnehmer eine Nachweispflicht in Ansehung der
tatbestandlichen Voraussetzungen seines Anspruchs (§ 4 Abs. 5 Satz 1 AufenthG).
2. Voraussetzungen des Aufenthaltsrechtes nach Art. 6 Abs. 1 ARB 1/80
Ein zum regulären Arbeitsmarkt zugelassener türkischer Arbeitnehmer hat nach Art. 6 Abs. 1
erster Spiegelstrich ARB 1/80 nach einem Jahr ordnungsgemäßer Beschäftigung bei
demselben Arbeitnehmer Anspruch auf Erneuerung seiner Arbeitserlaubnis. Nach drei Jahren
ordnungsgemäßer Beschäftigung erhält er gemäß Art. 6 Abs. 1 zweiter Spiegelstrich ARB
1/80 das Recht, sich für den gleichen Beruf bei einem Arbeitgeber seiner Wahl auf ein
anderes Stellenangebot zu bewerben, wobei allerdings Gemeinschaftsangehörigen bei der
Arbeitssuche Vorrang zukommt. Nach vier Jahren erhält der türkische Arbeitnehmer nach
Art. 6 Abs. 1 dritter Spiegelstrich ARB 1/80 schließlich das Recht auf freien Zugang zu jeder
von ihm gewählten unselbständigen Beschäftigung. Gemeinschaftsangehörige sind ihnen
gegenüber dann nicht mehr bevorrechtigt.52
Bis zur Erreichung der Position nach Art. 6 Abs. 1 dritter Spiegelstrich ARB 1/80 besteht eine
Bindungswirkung
des
Erneuerungsanspruchs
an
die
Fortdauer
des
Beschäftigungsverhältnisses. Der EuGH hat wiederholt entschieden, dass die in Art. 6 Abs. 1
ARB 1/80 verliehenen Rechte nach der Dauer einer ordnungsgemäßen Beschäftigung im
Lohn- oder Gehaltsverhältnis in abgestufter Weise erweitert werden und bezwecken, die
Situation der Betroffenen im jeweiligen Mitgliedstaat schrittweise zu verfestigen. Aus der
Systematik und der praktischen Wirksamkeit des mit Art. 6 Abs. 1 ARB 180 geschaffenen
Systems einer abgestuften Eingliederung der türkischen Arbeitnehmer in den Arbeitsmarkt
50
EuGH, NVwZ 1991, 255 (256) = EZAR 811 Nr. 11 = InfAuslR 1991, 2 – Sevince; EuGH, NVwZ 1993,
258 (260 f.) = EZAR 810 Nr. 7 – Kus; EuGH, InfAuslR 2003, 41= AuAS 2003, 134 – Kurz; EuGH, NVwZ
2007, 187 (188) – Güzeli; so auch BVerwGE 97, 301 (304) = NVwZ 1995, 1110; so auch die Allgemeinen
Anwendungshinweise des BMI, InfAuslR 2002, 349 (350).
51
EuGH, NVwZ 1995, 53 (54) = EZAR 814 Nr. 4 – Eroglu; EuGH, NVwZ 1995, 1093 (1094) = EZAR
811 Nr. 23 = InfAuslR 1995, 261 – Bozkurt; EuGH, NVwZ 1997, 677 (678) = EZAR 811 Nr. 29 – Tetik.
52
Dörig, DVBl. 2005, 1221 (1222);
23
des Mitgliedstaates, folge, dass die in den drei Gedankenstrichen dieser Bestimmung jeweils
aufgestellten Bedingungen von den Betroffenen nacheinander erfüllt werden müssten.53
Der Gerichtshof hat deshalb ausdrücklich festgestellt, dass die Inanspruchnahme der Rechte,
die einem türkischen Arbeitnehmer nach Art. 6 Abs. 1 dritter Spiegelstrich ARB 1/80
zustehen, grundsätzlich voraussetzt, dass dieser zuvor den Tatbestand des Art. 6 Abs. 1
zweiter Spiegelstrich ARB 1/80Abs. 1 erfüllt hat. Somit könne ein türkischer
Wanderarbeitnehmer generell ein Recht nach Art. 6 Abs. 1 dritter Spiegelstrich ARB 1/80
nicht allein aufgrund der Tatsache geltend machen, dass er im Mitgliedstaatmehr als vier
Jahre lang rechtmäßig eine Tätigkeit im Lohn- oder Gehaltsverhältnis ausgeübt hat, wenn er
nicht, erstens, mehr als ein Jahr bei demselben Arbeitgeber und, zweitens, zwei weitere Jahre
für diesen gearbeitet habe.54 Die Erreichung der nächst höheren Integrationsstufe setzt danach
voraus, dass das Beschäftigungsverhältnis noch besteht. Wer vor Erreichung der dritten
Verfestigungsstufe den Arbeitgeber wechselt, dessen Anwartschaft beginnt mit Beginn des
nunmehr eingegangenen Arbeitsverhältnisses von vorn, d.h. er muss nach dem
Arbeitgeberwechsel erneut drei Jahre warten, um die dritte Verfestigungsstufe zu erreichen.
Erreicht der Arbeitnehmer die zweite Verfestigungsstufe nicht, weil er unverschuldet
arbeitslos wird, bleibt ihm die erworbene und zu sichernde Anwartschaft erhalten. Nicht erst
nach dem Erreichen der zweiten, sondern bereits nach dem Erreichen der ersten
Verfestigungsstufe findet Art. 6 Abs. 2 Satz 2 ARB 1/80 Anwendung. Unterbrechungen
infolge unfreiwilliger Arbeitslosigkeit sind zwar nicht den Zeiten der Beschäftigung
hinzuzurechnen, sie berühren indes nicht den erreichten Verfestigungsanspruch und sind
deshalb insoweit unschädlich. Nach fünf Jahren wird nach innerstaatlichem Recht (§ 9 Abs. 2
Satz 1 Nr. 1 AufenthG) der Weg in die Verfestigung eröffnet.136 Die in Art. 6 Abs. 1 ARB
1/80 enthaltenen, zeitlich gestaffelten Zugangsrechte zum Arbeitsmarkt bauen danach
systematisch aufeinander auf und fördern die Integration türkischer Arbeitnehmer.
Wechselt der türkische Arbeitnehmer vor Erreichen der Jahresfrist den Arbeitgeber, gehen
seine zuvor zurückgelegten Beschäftigungszeiten verloren55 und müssen beim neuen
Arbeitgeber erst wieder aufgebaut werden. Eine Zustimmung der Ausländerbehörde zum
Arbeitgeberwechsel ist ohne Bedeutung. Beim Betriebsübergang ist nicht bereits deshalb ein
zweites Arbeitsverhältnis anzunehmen, weil der neue Arbeitgeber mit dem bisherigen
Personal neue Arbeitsverträge abschließt. Erklärt der neue Arbeitgeber, der neue
Arbeitsvertrag habe lediglich bescheinigen sollen, dass ein Arbeitsverhältnis mit ihm als
Nachfolger besteht, spricht dies dafür, dass der neue Arbeitsvertrag eine für Art. 6 Abs. 1
ARB 1/80 erster Spiegelstrich unschädliche Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses darstellt.
Der Umstand, dass im neuen Arbeitsvertrag eine Probezeit vereinbart worden ist, kann unter
diesen Voraussetzungen nicht als ausschlaggebendes Indiz für ein zweites Arbeitsverhältnis
gewertet werden.56
EuGH, InfAuslR 2006, 106 (§ 37) – Sedef.
EuGH, InfAuslR 2006, 106 (§ 43) – Sedef; dagegen Gerrit Glupe, InfAuslR 2006, 253; anders noch
Hess. VGH, InfAuslR 2003, 219 (221).
53
54
55
Mallmann, NVwZ 1998, 1025 (1026); Hess. VGH, AuAS 1999, 158 (159); krit. hierzu Gutmann, in: GKAuslR, ARB Nr. 1/80 EWG/Türkei, Art. 6 Rn 119 ff.
56
OVG SA, InfAuslR 2004, 229 = NVwZ-RR 2004, 789.
24
III.
Selbständige Erwerbstätigkeit (§ 21 AufenthG)
§ 21 AufenthG regelt die selbständige Erwerbstätigkeit. Zuvor sind allerdings gesetzliche
Privilegierungen zu prüfen. Es bedarf deshalb keines Rückgriffs auf § 21 AufenthG in den
Fällen, in denen bereits kraft Gesetzes die Ausübung einer Erwerbstätigkeit und damit auch
eine selbständige Tätigkeit (z.B. § 9 Abs. 1 Satz 2 1. Hs., S 20 Abs. 6, § 22 Satz 3, § 25 Abs.
1 Satz 4, Abs. 2 Satz 2, § 28 Abs. 4, § 29 Abs. 5 Nr. 1, § 31 Abs. 1 Satz 2, § 37 Abs. 1 Satz 2,
§ 38 Abs. 4 Satz 1 AufenthG) erlaubt ist. Wegen des Vorrangs der Gemeinschaftsrechtes und
damit der kraft des Freizügigkeitsrechtes gewährten Möglichkeit der Ausübung einer
selbständigen Erwerbstätigkeit findet § 21 auf Angehörige der Mitglied- und EWR-Staaten57
sowie auf deren drittstaatsangehörige Familienangehörige keine Anwendung. Den
schweizerischen Staatsangehörigen steht nach dem Freizügigkeitsabkommen der EU mit der
Schweiz das Recht auf Niederlassung zu. Eine Beteiligung der Kammern und sonstiger
Stellen findet in diesen Fällen nicht statt (Nr. 21.0.1 VAH).
In erster Linie geht es bei der selbständigen Erwerbstätigkeit um den Betrieb eines Gewerbes
in verschiedenen Rechtsformen. Betrieb eines Gewerbes ist die selbständige, generell
erlaubte, auf Gewinnerzielung gerichtete Tätigkeit von einer gewissen Dauer im
wirtschaftlichen Bereich. Begünstigt sind nicht nur Unternehmensgründer oder
Einzelunternehmer, sondern auch Geschäftsführer und gesetzliche Vertreter von Personenund Kapitalgesellschaften. Generell erschließt sich der Begriff der selbständigen
Erwerbstätigkeit aus einer Umkehr der prägenden Merkmale der nichtselbständigen
Erwerbstätigkeit. Zu Lösung von Abgrenzungsproblemen zwischen selbständiger
Erwerbstätigkeit und Beschäftigung kann im Einzelfall die Bundesagentur für Arbeit beteiligt
werden (Nr. 21.03 VAH).
Soweit in der Rechtsprechung für die Aufnahme einer selbständigen Erwerbstätigkeit die
Beherrschung der deutschen Sprache gefordert wird,58 ist einschränkend darauf hinzuweisen,
dass § 21 AufenthG ein derartiges Erfordernis nicht enthält und im Übrigen für ein
Unternehmen, das überwiegend im internationalen Handel tätig ist, dann nicht verlangt
werden kann, wenn der bestellte Geschäftsführer bzw. Prokurist ausschließlich für die Pflege
und Fortentwicklung der internationalen Geschäftsbeziehungen des Unternehmens
vorgesehen ist. Dass in dem der Erwerbstätigkeit zugrunde liegenden Vertrag der Begriff
„Angestellter“ verwendet wird, ist dann unerheblich, wenn aufgrund des
Gesellschaftsvertrages und des mit dem Betreffenden abgeschlossenen Anstellungsvertrages
dieser alleinvertretungsberechtigt und von den Beschränkungen des § 181 BGB befreiter
Geschäftsführer ist. Im Hinblick auf eine derart beherrschende Stellung im Betrieb und den
Einfluss auf die Geschäftsführung kann unter diesen Voraussetzungen nicht von einer
abhängigen, unselbständigen Beschäftigung ausgegangen werden.59
Man kann insoweit auch die Lösung über den Begriff der vergleichbaren unselbständigen
Erwerbstätigkeit suchen, die von Geschäftsführern und Prokuristen ausgeübt wird. Eine
57
58
59
Norwegen, Island und Lichtenstein.
VG Köln, NVwZ-Beil. 2003, 108 (109); VG Berlin, InfAuslR 2003, 217 (219).
VGH BW, InfAuslR 1993, 336 (338).
25
selbständige Erwerbstätigkeit umfasst nicht nur die Betätigung als Einzelunternehmer,
sondern auch vergleichbare Tätigkeiten wie etwa:
geschäftsführungsberechtigter Gesellschafter einer Gesellschaft bürgerlichen Rechts, einer
OHG oder einer KG,
gesetzlicher Vertreter einer juristischen Person (z. B. als Geschäftsführer einer GmbH),
leitender Angestellter mit Generalvollmacht oder Prokura,
unselbständiger Reisegewerbetreibender (z. B. als unselbständiger Handelsvertreter) sowie
Stellvertreter nach § 45 Gewerbeordnung oder § 9 Gaststättengesetz.
Eine Reihe von bilateralen Abkommen, welche die Bundesrepublik mit bestimmten Staaten
abgeschlossen hat, enthalten Wohlwollens- oder Meistbegünstigungsklauseln. Diese
schränken nach Maßgabe des jeweiligen Vertrages das ansonsten bei der Entscheidung über
einen Antrag auf Erteilung des Aufenthaltstitels zur Ausübung einer selbständigen
Erwerbstätigkeit bestehende Ermessen der Ausländerbehörde erheblich ein, vermitteln indes
keinen Anspruch auf Einreise und Aufenthalt wegen Ausübung einer selbständigen
Erwerbstätigkeit.60. Dieser Grundsatz leitet auch das behördliche Ermessen bei der
Anwendung des § 21 Abs. 2 AufenthG. Bei einer derartigen Entscheidung sind in jedem
Einzelfall alle öffentlichen und privaten Belange gegeneinander abzuwägen. Da Antragsteller
aus Vertragsstaaten gegenüber anderen ausländischen Antragstellern nach dem Vertrag
begünstigt werden, sind ihre persönlichen Interessen im Rahmen der Ermessensausübung
positiv zu würdigen. Die nichtselbständige Erwerbstätigkeit wird von diesen Abkommen nicht
erfasst.61
Bei der Entscheidung über einen Aufenthaltstitel zum Zwecke einer selbständigen
Erwerbstätigkeit ist es mit dem Gebot einer wohlwollenden Ermessensausübung nicht zu
vereinbaren, wenn die beabsichtigte Erwerbstätigkeit allein mit Hinweisen auf staatliche
Belange – z. B. Fehlen eines besonderen örtlichen Bedürfnisses oder eines übergeordneten
wirtschaftlichen Interesses an der Erwerbstätigkeit (vgl. § 21 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AufenthG) –
versagt wird. Insoweit privilegiert § 21 Abs. 2 AufenthG Antragsteller gegenüber den
Antragstellern, die ihren Antrag auf § 21 Abs. 1 AufenthG stützen. Bei der Anwendung von
§ 21 Abs. 2 AufenthG ist in jedem Einzelfall auch das private Interesse des Antragstellers an
der selbständigen Erwerbstätigkeit positiv zu würdigen. Auch der erstmals einreisende und
eine selbständige Erwerbstätigkeit anstrebende Antragsteller hat daher einen Anspruch auf
wohlwollende Ermessensausübung.
Bei der Ermessensausübung gebieten die Wohlwollensklauseln die positive Würdigung der
persönlichen Interessen des Antragstellers. Je nach der Art der angestrebten Tätigkeit kann
auch der Aufenthaltsdauer des Antragstellers im Bundesgebiet eine erhebliche Bedeutung
zukommen. Wer z.B. ein selbständiges Handelsgewerbe betreiben will, muss mit Kunden,
Lieferanten und Behörden umgehen können. Dabei ist die Vertrautheit mit den hiesigen
Lebensverhältnissen und der Sprache von Bedeutung. Bei einem selbständigen Künstler ist
dies hingegen in aller Regel nicht erforderlich.62 Die Arbeitsmarktprüfung wird insoweit für
zulässig erachtet.63
60
OVG Rh-Pf, EZAR NF 30 Nr. 3 = ZAR 2007, 368
61
VGH BW, InfAuslR 2007, 59 (62).
Stiegeler, in: Hofmann/Hoffmann, Ausländerrecht, § 21 AufenthG Rdn. 13.
OVG Rh-Pf, B. 4. 6. 2007 – 7 B 10282/07.
62
63
26
Danach vermitteln die in völkerrechtlichen Verträgen verankerten Wohlwollens- oder
Meistbegünstigungsklauseln zwar keinen Rechtsanspruch auf Aufnahme einer selbständigen
Erwerbstätigkeit (vgl. auch § 21 Abs. 2 AufenthG), schränken jedoch das ansonsten
bestehende behördliche Ermessen im Sinne eines Wohlwollensgebotes ein. Das im Regelfall
durchschlagende Fehlen eines übergeordneten wirtschaftlichen Interesses oder besonderen
örtlichen Bedürfnisses trägt die Versagung nicht. Insbesondere darf dem Antragsteller weder
der Grundsatz der Zuwanderungsbeschränkung noch der des Konkurrentenschutzes
entgegengehalten werden.64
Folgende Abkommen enthalten Wohlwollensgebote, die in der Verwaltungspraxis jedoch
unterschiedliche Berücksichtigung finden:
Dominikanische Republik: Freundschafts-, Handels- und Schifffahrtsvertrag vom
23.12.1957 (BGBl. 1959 II S. 1468) – Art. 2 Abs. 1: Wohlwollensklausel
Indonesien: Handelsabkommen vom 22.4.1953 nebst Briefwechsel (BAnz. Nr. 163); Briefe
Nr. 7 und 8: Meistbegünstigungsklausel
Iran: Niederlassungsabkommen vom 17.2.1929 (RGBl. 1930 II S. 1002); Art. 1 Abs. 2:
Wohlwollensklausel
Japan: Handels- und Schifffahrtsvertrag vom 20.7.1927 (RGBl. II S. 1087); Art. 1 Abs. 2
Nr. 1: Meistbegünstigungsklausel
Philippinen: Übereinkunft über Einwanderungs- und Visafragen vom 3.3.1964 (BAnz.
Nr. 89); Nr. 1, 2 und 4: Wohlwollensklausel
Sri Lanka: Protokoll über den Handel betreffende allgemeine Fragen vom 22.11.1972
(BGBl. 1955 II S. 189); Art. 1: Meistbegünstigungsklausel
Türkei: Niederlassungsabkommen vom 12.1.1927 (RGBl. II S. 76; BGBl. 1952 S. 608);
Art. 2 Satz 3 und 4: Meistbegünstigungsklausel
Vereinigte Staaten von Amerika: Freundschafts-, Handels- und Schifffahrtsvertrag vom
29.10.1954 (BGBl. 1956 II S. 487); Art. II Abs. 1: Meistbegünstigungsklausel
B.
Aufenthaltserlaubnis zur Familienzusammenführung (§ 27 bis § 36 AufenthG)
I.
Allgemeine Voraussetzungen
1.
Allgemeines
Das Gesetz unterscheidet beim Nachzug zu Ausländern wie früher zwischen dem
Ehegattennachzug (§ 29 AufenthG) sowie dem Kindernachzug (§ 32 AufenthG). Erhebliche
Verbesserungen sind für den Nachzug zu Konventionsflüchtlingen eingeführt worden (vgl.
§ 31 AuslG 1990 einerseits und §§ 29 Abs. 2, 30 Abs. 1 Nr. 2, 32 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG
andererseits). Durch das Gesetz zur Umsetzung aufenthalts- und asylrechtlicher Richtlinien
der EU sind die Vorschriften zum Familiennachzug verschärft worden. So wurde in § 27 Abs.
1a AufenthG eine Beweislastregel im Blick auf Zweifel an der bestehenden Absicht, die
eheliche Lebensgemeinschaft zu führen, in § 30 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AufenthG erstmals ein
Mindestalter für den Ehegattennachzug und in § 30 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AufenthG ebenfalls
erstmals festgelegt, dass der nachziehende Ehegatte sich zumindest auf einfache Art in
deutscher Sprache verständigen können muss.
64
BVerwG, EZAR 100 Nr. 9.
27
Der Familiennachzug ist rechtlich vergemeinschaftet worden. §§ 27 ff. AufenthG sind am
Anwendungsvorrang der Richtlinie 2004/86/EG (Familienzusammenführungsrichtlinie) zu
messen. Diese ist mit Wirkung vom 3. Oktober 2005 unmittelbar anwendbar. Ziel der
Richtlinie ist die Festlegung der Bedingungen für die Ausübung des Rechts auf
Familienzusammenführung durch Drittstaatsangehörige, die sich rechtmäßig im Gebiet der
Mitgliedstaaten aufhalten (Art. 1 RL 2003/86/EG). Die3 Richtlinie gilt also nicht für die
drittstaatsangehörigen Familienangehörigen von Unionsbürgern. Deren Recht auf
Familienzusammenführung regelt die Unionsbürgerrichtlinie (vgl. Art. 2 Nr. 2, Art. 5 Abs. 2,
Art. 9, Art. 12 bis 14, Art. 16 bis 18, Art. 20, Art. 23 RL 2004/38/EG). Die
Familienzusammenführungsrichtlinie gestattet den Mitgliedstaaten die Einführung strengerer
nationaler Rechtsvorschriften. Diese sind an Art. 8 EMRK und an der Grundrechtscharta zu
messen.65
2.
Erforderlicher Aufenthaltszweck (§ 27 Abs. 1 AufenthG)
a)
Allgemeines
§ 27 Abs. 1 AufenthG enthält die für den Familiennachzug maßgebende Zweckbindung, die
nicht nur bei der Ersterteilung, sondern auch bei der Verlängerung (§§ 27 Abs. 1, 8 Abs. 1
AufenthG) zu beachten ist, und zwar so lange, bis ein eigenständiges Aufenthaltsrecht
entstanden ist (§§ 31, 35 AufenthG), also regelmäßig mit der Erteilung der
Niederlassungserlaubnis (§ 31 Abs. 4 Satz 2 AufenthG). Der in § 27 Abs. 1 AufenthG
bezeichnete Aufenthaltszweck ist eine zwingende Erteilungsvoraussetzung. Er erfordert, dass
der Antragsteller zu einem im Bundesgebiet lebenden Familienangehörigen ziehen und mit
diesem zusammenleben will. Dieser muss mit der Herstellung der familiären
Lebensgemeinschaft einverstanden sein. Die Zweckbindung nach § 27 Abs. 1 AufenthG
betrifft den Ehegattennachzug zu ausländischen Ehepartnern (§ 29 AufenthG) wie zu
Deutschen (§ 28 AufenthG), den Kindernachzug (§ 32 AufenthG) sowie den Nachzug
sonstiger Familienangehöriger nach § 36 AufenthG. Die Vorschriften des §§ 27 ff. AufenthG
regeln den Nachzug zu Ausländern mit Aufenthaltserlaubnis abschließend. Daher liegt kein
Nachzug vor, wenn außerhalb einer ehelichen oder familiären Lebensgemeinschaft der
Nachzug angestrebt wird.
Allerdings finden die Nachzugsvorschriften auf die
lebenspartnerschaftliche Gemeinschaft entsprechende Anwendung (vgl. § 27 Abs. 2
AufenthG). Der Familiennachzug nach Gemeinschaftsrecht richtet sich nach § 3
FreizügG/EU.
b)
Bestehen einer familiären Lebensgemeinschaft
Nach § 27 Abs. 1 AufenthG wird die Aufenthaltserlaubnis zur Herstellung und Wahrung der
familiären Lebensgemeinschaft im Bundesgebiet für ausländische Familienangehörige zum
Schutz von Ehe und Familie gemäß Art. 6 GG erteilt und verlängert. Das lediglich formale
Eheband genießt deshalb im allgemeinen Ausländerrecht keinen Schutz. Art. 6 Abs. 1 GG
und die Vorschrift des § 27 Abs. 1 AufenthG erfordern die familiäre Lebensgemeinschaft in
Form der Beistandsgemeinschaft zwischen erwachsenen Angehörigen oder der
65
EuGH, NVwZ 2006, 1033 §§ 52 ff.; s. hierzu Thym, NJW 2006, 3249.
28
Erziehungsgemeinschaft zwischen erwachsenen und minderjährigen Angehörigen. Eine
familiäre Lebensgemeinschaft liegt vor, wenn die Eheleute einen intensiven persönlichen
Kontakt pflegen und wenn deren tatsächliche Verbundenheit in konkreter Weise in
Erscheinung tritt, indem die Ausgestaltung der Beziehung diese Verbundenheit auch nach
außen erkennen lässt.66
Im Allgemeinen ist vom Vorliegen einer familiären Lebensgemeinschaft auszugehen, wenn
die Angehörigen regelmäßigen Kontakt zueinander pflegen, der über ein bloßes Besuchen
hinausgeht. Das Vorhandensein einer gemeinsamen Wohnung ist keine zwingende
Voraussetzung, wenn eine dieser Gemeinschaft entsprechende Beistands- oder
Betreuungsgemeinschaft auf andere Weise verwirklicht wird. Es ist mit der Führung einer
ehelichen Lebensgemeinschaft nicht unvereinbar, wenn ein Ehegatte Kontakte zu einem
vorehelich geborenen nicht gemeinsamen Kind pflegt und bei dieser Gelegenheit auch
Kontakte mit der Kindesmutter aufrechterhält. Erst wenn der andere Ehegatte sein Leben so
einrichtet, dass er überwiegend nicht in der ehelichen Wohnung zusammen mit seinem
Ehepartner, sondern das Leben mit einer anderen Person verbringt, kann von einer ehelichen
Lebensgemeinschaft tatsächlich nicht mehr gesprochen werden. Eine eheliche
Lebensgemeinschaft ist dann nicht mehr gegeben, wenn der Ehegatte seinen
Lebensmittelpunkt an einen anderen Ort verlegt und nur noch gelegentlich in die eheliche
Wohnung und zu dem Ehepartner zurückkehrt.67
Es wird stets auf eine zusammenfassende Bewertung aller Umstände des jeweiligen
Lebenssachverhaltes ankommen. Das Leben in einer gemeinsamen Wohnung ist für eine
eheliche Lebensgemeinschaft typisch. Leben die Eheleute getrennt, bedarf es erkennbarer
Anhaltspunkte dafür, dass diese gewählte Ausgestaltung der Beziehung mit den für eine
familiäre Lebensgemeinschaft notwendigen Voraussetzungen eines intensiven persönlichen
Kontaktes und der zwischen den Eheleuten bestehenden Verbundenheit vereinbar ist. Solche
Anhaltspunkte liegen vor, wenn sich die Eheleute häufig besuchen, gegenseitig
Beistandsleistungen erbringen und gemeinsame Kontakte zu Dritten wahrnehmen. Ein
überwiegendes Getrenntleben der Familienangehörigen, insbesondere wenn einzelne
Mitglieder ohne Notwendigkeit über eine eigene Wohnung verfügen, deutet eher auf das
Vorliegen einer nach Art. 6 Abs. 1 GG aufenthaltsrechtlich nicht besonders schutzwürdigen
Begegnungsgemeinschaft hin. Jedoch bestimmen die Eheleute Art und Weise des
Zusammenlebens eigenverantwortlich.
Bei Bestehen eines gemeinsamen Lebensmittelpunktes ist ein Zusammenleben in ehelicher
Gemeinschaft auch in der Weise möglich, dass beide Ehepartner aus beruflichen Gründen
neben der als Lebensmittelpunkt dienenden gemeinsamen Ehewohnung einen Nebenwohnsitz
unterhalten oder dass einer der Eheleute aus beruflichen Gründen einen derartigen
Nebenwohnsitz unterhält und die Eheleute nur an Wochenenden oder zu sonstigen Zeiten
gemeinsam in der Ehewohnung zusammentreffen. Ist die gemeinsame Ehewohnung etwa in
Frankfurt am Main, unterhält der Ehepartner indes aus beruflichen Gründen im Hunsrück eine
Nebenwohnung, spricht allenfalls ein auffälliges Missverhältnis zwischen dem zeitlichen
Umfang einer beruflichen Tätigkeit außerhalb des Bereichs des Lebensmittelpunktes und des
hieraus erzielten Einkommens zu den mit der beruflichen Trennung für das Eheleben
66
OVG Sachsen, InfAuslR 2002, 297 (298) = AuAS 2002, 108 (LS); OVG Brandenburg, AuAS 2001,
218 (219)
67
Hess. VGH, InfAuslR 2002, 426 (430).
29
verbundenen Belastungen gegen ein eheliches Zusammenleben.68 Es ist nicht ein irgendwie
vorgegebenes Regel-Ausnahme-Verhältnis zugrunde zu legen. Es kommt vielmehr auf die
Gründe an, die den Eheleuten ein durchgehendes Zusammenleben in gemeinsamer Wohnung
nicht erlauben.
Wie lange ein Ehepaar die mit einer solchen zeitlichen Trennung verbundenen Belastungen
auf sich nimmt, hat es im Rahmen der allein ihm obliegenden Gestaltung seiner
Lebensverhältnisse selbst zu entscheiden. Eine solche sich über lange Zeit hinziehende, mit
beruflichen Gegebenheiten begründete Lebensgestaltung kann allenfalls bei Hinzutreten
weiterer, für eine „Scheinehe“ sprechender Gesichtspunkte zusätzliches Indiz für eine
dauerhafte Trennung des Ehepaares sein.69 Eine Trennung gilt nach der obergerichtlichen
Rechtsprechung allerdings dann als vollzogen, wenn die Ehepartner die gemeinsame
Wohnung ohne unabweisbaren Grund aufgegeben haben und in getrennten Wohnungen
leben.70 Ist z.B. ein Ehepartner etwa aus berufsbedingten Gründen auf Dauer in den
Herkunftsstaat zurückgekehrt, so ändern auch gelegentliche Besuchsreisen zu seinem im
Bundesgebiet lebenden Ehegatten nichts an der Tatsache der dauerhaften Auflösung der
ehelichen Lebensgemeinschaft.71
Die Unterbringung eines Ehegatten in einem Behinderten- oder Pflegeheim oder berufs- und
ausbildungsbedingte Gründe können etwa zu einer Trennung oder dazu führen, dass nur an
den Wochenenden eine häusliche Gemeinschaft geführt werden kann.72 Ebenso wenig muss
die Haft eines Ehepartners zwingend der Annahme einer gemeinsamen Lebensführung
entgegenstehen. Vielmehr kann im Einzelfall eine in § 27 Abs. 1 AufenthG geregelte
Beistands- und Betreuungsgemeinschaft vorliegen,73 wenn Anhaltspunkte dafür bestehen,
dass die familiäre Lebensgemeinschaft nach Beendigung der Haft fortgesetzt wird. Auch die
familienrechtliche Rechtsprechung geht davon aus, dass eine haftbedingte Trennung der
Ehegatten allein, unabhängig von der Dauer der Haft, jedenfalls so lange nicht zu einem
Getrenntleben der Ehegatten im rechtlichen Sinne führt, wie beide beabsichtigen, die eheliche
Lebensgemeinschaft nach Beendigung der Haft fortzusetzen.
Anders ist die Rechtslage bei Familienangehörigen von Gemeinschaftsbürgern, weil das dem
Angehörigen
vermittelte
Aufenthaltsrecht
unabhängig
vom
Fortbestand
der
Lebensgemeinschaft ist. Es bleibt auch dann erhalten, wenn der Angehörige die gemeinsame
68
Hess. VGH, AuAS 2000, 244 (245 f.) = Hess. VGRspr. 2001, 44; ähnlich OVG SH, InfAuslR 2001, 82
(83).
69
Hess. VGH, AuAS 2000, 244 (246).
70
71
OVG NW, InfAuslR 2000, 290 (291) = NVwZ-Beil. 2000, 115 = AuAS 2000, 111.
Hess. VGH, InfAuslR 2000, 370 (371) = NVwZ-Beil. 2000, 118 = EZAR 023 Nr. 19.
72
VGH BW, NVwZ-RR 1991, 430 = EZAR 023 Nr. 1; OVG Brandenburg, AuAS 2001, 218 (219).
73
Hess. VGH, AuAS 1998, 15 (16); VG Frankfurt/M., Beschl. v. 30.4.1997 – 11 G 2884/95(1).
30
Wohnung verlässt und auf Dauer getrennt lebt.74 Das gilt allerdings nicht, wenn der
Aufenthaltstitel durch Täuschung der Behörde erreicht worden ist.75
c)
„Scheinehe“ (§ 27 Abs. 1a Nr. 1 AufenthG)
aa)
Voraussetzungen der „Scheinehe“
Nach § 27 Abs. 1a Nr. 1 AufenthG wird der Nachzug nicht zugelassen, wenn feststeht, dass
die Ehe oder das Verwandtschaftsverhältnis ausschließlich zu dem Zweck geschlossen oder
begründet wurde, dem Nachziehenden Einreise und Aufenthalt zu ermöglichen. Mit der
Einschränkung „ausschließlich“ wird klargestellt, dass alleiniger Zweck des Nachzugs die
Erlangung eines Aufenthaltsrechts sein muss. Selbstverständlich geht es Eheleuten und
Verwandten mit dem Nachzug um die Erlangung eines Aufenthaltsrechts. Anders kann die
familiäre Lebensgemeinschaft ja gar nicht geführt werden. Nur wenn feststeht, dass die
familiäre Lebensgemeinschaft nicht geführt werden soll, dürfen Einreise und Aufenthalt
versagt werden. Es müssen deshalb entsprechende eindeutige Feststellungen getroffen
werden. In Zweifelsfällen trägt die Behörde die Beweislast, weil sie dem an sich bestehenden
Rechtsanspruch einen Ausschlusstatbestand entgegen hält.
Bei berechtigtem Anlass darf die Ausländerbehörde nach § 27 Abs. 1a Nr. 1 AufenthG
überprüfen, ob der Wille zur Führung der ehelichen Lebensgemeinschaft nur vorgeschützt
ist.76 Die Einleitung von Ermittlungen durch die Ausländerbehörde setzt einen hinreichend
klaren Begriff der ehelichen Lebensgemeinschaft voraus. Denn nach der Rechtsprechung des
BVerwG bedeutet „Scheinehe“, dass die „Eheschließung nicht dem Ziel dient, eine – in
welcher Form auch immer zu führende – eheliche Lebensgemeinschaft zu begründen, sondern
einen anderen Zweck verfolgt, insbesondere den, dem ausländischen Partner ein sonst nicht
zu erlangendes Aufenthaltsrecht zu verschaffen“.77 Der Standesbeamte muss nach § 1310
Abs. 1 Satz 2 2. Hs. BGB die Mitwirkung verweigern, wenn offenkundig ist, dass die Ehe
nach § 1314 Abs. 2 BGB aufhebbar wäre. Damit soll insbesondere die Eingehung von sog.
Scheinehen vermieden werden.
Offenkundig ist indes nicht im Sinne von § 291 ZPO als allgemeinkundig oder amtskundig zu
verstehen. Im Hinblick auf die grundsätzlich bestehende Eheschließungsfreiheit sind im
konkreten Fall sehr erhebliche und gewichtige Gründe festzustellen, um die Versagung der
Eheschließung zu stützen. Der Standesbeamte darf deshalb nur in aus sich heraus evidenten
Missbrauchsfällen seine Mitwirkung bei der Eheschließung versagen. Verbleiben auch nur die
geringsten Zweifel, so muss die Ehe angemeldet werden. Will zumindest einer der beiden
Ehepartner eine tatsächliche Lebensgemeinschaft durch die Eheschließung begründen, kann
die beabsichtigte Eheschließung nicht mehr als rechtsmissbräuchlich angesehen werden.78
74
BVerwGE 98, 298 (308) = InfAuslR 1995, 349 (351, 352).
VG Darmstadt, AuAS 1999, 231 (232); so auch für Art. 8 EMRK, EGMR, EuGRZ 1985, 567 (570 f.) –
Abdulaziz; EGMR, InfAuslR 1996, 245 (246 f.) – Gül; EGMR, InfAuslR 1997, 141 – Ahmut, in Gül und Ahmut
mit abweichenden Meinungen; VG Wiesbaden, Hess.VGRspr. 1999, 71, für das allgemeine Ausländerrecht.
75
76
BVerwGE 65, 174 (181) = InfAuslR 1982, 122; BVerwG, InfAuslR 1992, 305 = EuGRZ 1987, 449;
BVerwG, InfAuslR 1995, 393; OVG Hamburg, InfAuslR 1991, 343; OVG Hamburg, AuAS 1994, 230;
Hess. VGH, AuAS 1994, 183 (184); s. auch Jšst, InfAuslR 2000, 204.
77
BVerwGE 98, 298 (302) = InfAuslR 1995, 349 = NVwZ 1995, 1119 (1120); BVerwGE 119, 17 (29) =
InfAuslR 2004, 99; BVerwGE 123, 190 (…) = NVwZ 2005, 1329 = InfAuslR 2005, 403 (404); OVG Berlin,
AuAS 2004, 172 (173)
78
LG Frankfurt/M., InfAuslR 2000, 31 (32).
31
Das Fehlen eines gültigen Aufenthaltstitels für sich allein rechtfertigt nicht die Versagung der
Mitwirkung des Standesbeamten, zumal es keine Vermutung dafür gibt, dass von und mit
erfolglosen Asylbewerbern schlechthin nur Scheinehen beabsichtigt werden.
Die ausländerbehördliche Zwecküberprüfung hat allein an objektiv feststellbare Umstände
anzuknüpfen. Das der Eheschließung zugrunde liegende Motiv ist unerheblich. Entscheidend
ist vielmehr, dass das mit der Ehe verbundene gegenseitige Pflichtenverhältnis nicht gewollt
ist.79 Ob die Ehe harmonisch verläuft oder nicht, ist hingegen ebenso unerheblich wie die
Frage, ob die für die Eheschließung maßgeblichen Motive den Idealvorstellungen einer Ehe
gerecht werden oder andere Beweggründe eine wesentliche oder gar eine ausschlaggebende
Rolle spielen. Die Beziehungen der Ehepartner müssen insbesondere auch nicht von einem –
mit den Aufklärungsmöglichkeiten des Verwaltungs- wie auch des Strafrechts ohnehin kaum
feststellbaren – unbedingten Willen zur Ehe auf Lebenszeit getragen sein.80
Sobald eine Ehe geschlossen ist, ist sie auch von der Ausländerbehörde zu beachten. Selbst
wenn es dem ausländischen Ehegatten mit der Begründung einer ehelichen
Lebensgemeinschaft insbesondere darum gehen sollte, dadurch ein sonst nicht zu erlangendes
Aufenthaltsrecht zu erlangen bzw. aufenthaltsbeendende Maßnahmen zu verhindern, kann
einer derartigen Verbindung nicht allein deshalb unter dem Verdikt der „Scheinehe“
aufenthaltsrechtlicher Schutz versagt werden. Für die Annahme einer „Scheinehe“ reicht es
nicht aus, dass der ausländische Ehegatte die Ehe wegen der mit ihr verbundenen
ausländerrechtlichen Vorteile eingegangen ist. Eine derartige Intention stellt für sich
betrachtet keinen Missbrauch dar.81 Entscheidend ist nicht das Motiv der Heirat, sondern
vielmehr allein, ob die Ehegatten – aus welchen Gründen auch immer – die dem Bild der Ehe
entsprechende persönliche Beziehung tatsächlich unterhalten.82
Besteht eine tatsächliche Lebensgemeinschaft, so kommt es nicht darauf an, wie sich die
ehelichen Beziehungen im Übrigen gestalten. Es ist etwa unerheblich, ob zwischen den
Ehegatten eine Geschlechtsgemeinschaft besteht oder die Ehegatten homosexuelle oder
heterosexuelle Beziehungen mit Dritten unterhalten.83 Auch wenn der Ehemann mit einer
anderen Frau während der Ehe Kinder gezeugt hat, schließt dies keineswegs aus, dass beide
Ehepartner an der ehelichen Lebensgemeinschaft bewusst und gewollt festhalten
wollen.84Andererseits kann allein durch den Nachweis der Erbringung von Haushalts- und
79
OVG Hamburg, InfAuslR 1991, 343; OVG Rh-Pf, InfAuslR 1999, 417 (418); Hess. VGH, EZAR 023
Nr. 22 = AuAS 2001, 64.
80
BayObLG, InfAuslR 2001, 210 (212) = EZAR 355 Nr. 25
81
Hess. VGH, EZAR 023 Nr. 22 = AuAS 2001, 64; OVG SH, InfAuslR 2001, 82 (83).
Hess. VGH, EZAR 023 Nr. 22 = AuAS 2001, 64.
82
83
84
OVG Rh-Pf, InfAuslR 1999, 417 (418).
OVG Hamburg, InfAuslR 2001, 125 = NVwZ-RR 2001, 339.
32
Geldleistungen nicht das Bestehen einer auf Dauer angelegten und durch enge Verbundenheit
und gegenseitigen Beistand geprägten Beziehung dargelegt werden.85
bb)
Anhaltspunkte für die Zulässigkeit behördlicher Ermittlungen
Da den Ehegatten sowohl die Freiheit, ihr eheliches Zusammenleben souverän zu gestalten,
wie auch der Schutz vor staatlichen Eingriffen grundsätzlich gewährleistet ist, ist bei einer
wirksam geschlossenen Ehe grundsätzlich anzunehmen, dass die Ehepartner auch eine
eheliche Lebensgemeinschaft zu führen bereit und imstande sind. Eine behördliche Prüfung
des Einzelfalls auf das Vorliegen einer „Scheinehe“ kommt daher ausnahmsweise nur bei
einem triftigen Anlass in Betracht, zumal sie letztlich nur bei Kenntnis von Umständen aus
dem höchstpersönlichen Bereich der Betroffenen erfolgen kann.86 Es wäre jedoch mit Art. 1
Abs. 1 i.V.m. Art. 2 Abs. 1 GG schwerlich vereinbar, wenn die Verwaltung es unternähme,
sich diese Kenntnis von Amts wegen zu verschaffen, und wenn dem Betroffenen vorbehaltlos
die Last auferlegt würde darzutun, dass es sich bei ihrer Ehe nicht um eine „Scheinehe“
handelt.87
Als Anfangsverdacht für das Nichtbestehen einer Lebensgemeinschaft reicht daher der bloße
Verdacht nicht aus.88 Vielmehr können erst äußere Anhaltspunkte außerhalb der Intimsphäre
Anlass zur Einleitung von entsprechenden Ermittlungsmaßnahmen geben.89 Derartige
Anhaltspunkte müssen indes gewichtig sein. So sind etwa anonyme Anzeigen ohne jegliche
Bedeutung.90 Bereits die Einleitung von Ermittlungsmaßnahmen bringt für die davon
Betroffenen wegen der damit verbundenen Befragung von Dritten, insbesondere Nachbarn
und Arbeitgeber, regelmäßig erhebliche Nachteile mit sich. Daher darf die Behörde erst bei
vernünftig begründeten Zweifeln an der Führung der ehelichen Lebensgemeinschaft
Ermittlungsmaßnahmen ins Werk setzen. Denunziationen Dritter, insbesondere anonymer
Natur, sind im Allgemeinen unerheblich. Allerdings darf die Behörde bei melderechtlichen
Um- und Abmeldungen eines Ehepartners, die ihr im automatischen Datenaustauschverfahren
bekannt werden, Ermittlungen durchführen. Erst ernsthafte Anzeichen dafür, dass die Ehe nur
zum Zwecke eingegangen worden ist, um ein Aufenthaltsrecht zu erlangen, rechtfertigen
mithin behördliche Ermittlungsmaßnahmen.91 Demgegenüber setzt der Erlass einer
Verfügung hinreichend zuverlässige Feststellungen voraus,92 die dem Regelbeweismaß
genügen müssen. Verbleiben Zweifel, fehlt es an der erforderlichen Zuverlässigkeit.
cc)
Grenzen der Ermittlungen
Bei der Wahl der Ermittlungsmethoden und der Fragestellungen hat die Behörde die
Grundrechte, insbesondere den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zu beachten. In diesem
Zusammenhang darf die Behörde allerdings auch Fragen zum ehelichen Zusammenleben
stellen. Dabei handelt es sich nicht um Beziehungen, die der Außenwelt nicht zugänglich sind
und deshalb eine Offenlegung der Intimsphäre zum Gegenstand haben.93 So mögen etwa ein
85
86
87
88
89
90
91
92
93
VG Minden, AuAS 1998, 230 (231)
Hess. VGH, InfAuslR 2002, 426 (429)
Hess. VGH, InfAuslR 2002, 426 (429).
OVG Bremen, InfAuslR 1988, 281 = NVwZ-Beil. 1988, 92, für das Eilrechtsschutzverfahren.
Hess. VGH, InfAuslR 2002, 426 (429).
OVG SH, InfAuslR 2001, 82 (83).
OVG Hamburg, InfAuslR 1991, 343; OVG Hamburg, AuAS 1994, 230.
BVerwG, InfAuslR 1995, 393.
OVG Hamburg, InfAuslR 1991, 343 (344); s. auch OVG Hamburg, AuAS 2004, 172 (173).
33
rascher Wechsel der „Ehekandidaten“ und widersprüchliche Einlassungen der Eheleute
berechtigten Anlass zu Ermittlungen geben.94 Tragfähige, die Verfügung tragende tatsächliche
Annahmen sind damit jedoch noch nicht dargetan worden. Auch die Tatsache, dass der
Ehemann noch im Monat der Eheschließung aus der ehelichen Wohnung ausgezogen war,
untermauert jedenfalls dann nicht den Verdacht einer „Scheinehe“, wenn sich die Eheleute
nach den Angaben der Ehefrau bereits seit sieben Jahren gekannt und bereits vor dem
Nachzug enge Beziehungen gepflegt hatten.95 Auch wenn die Ehegatten keine genauen
Kenntnisse etwa über die jeweiligen Urlaubsgepflogenheiten haben, spricht dies nicht
zwingend für eine „Scheinehe“, sondern dafür, dass sich die Eheleute verhältnismäßig wenig
für die jeweiligen Lebensumstände des Ehepartners interessieren. Ein derartiges Desinteresse
begründet indes nicht zugleich den Verdacht, dass eine eheliche Lebensgemeinschaft nicht
geführt wird.96
Macht die als Zeugin geladene geschiedene Ehefrau eines Ausländers vor dem
Verwaltungsgericht von ihrem Zeugnisverweigerungsrecht (§ 98 VwGO i.V.m. § 383 Nr. 2
ZPO) Gebrauch, steht dies der Verwertung ihrer früheren vom Familiengericht bekundeten
Angaben zum anfänglichen Nichtbestehen einer ehelichen Lebensgemeinschaft nach der
Rechtsprechung nicht entgegen.97 Begründet wird dies damit, dass im Falle der Berufung auf
das Zeugnisverweigerungsrecht das unmittelbare Beweismittel der persönlichen Vernehmung
nicht das nur mittelbare Beweismittel der Urkunde über Zeugenwahrnehmungen verdränge.
Das Verwaltungsgericht dürfe vielmehr den nicht möglichen Zeugenbeweis durch einen
Urkundenbeweis ersetzen.98
Soweit behördliche Wohnungsbesichtigungen oder andere Ermittlungsmaßnahmen
durchgeführt werden, die nicht ohne Zustimmung der Betroffenen erfolgen können, sind diese
grundsätzlich nicht erzwingbar. Der Umstand, dass die Eheleute bei verschiedenen an
Werktagen durchgeführten Überprüfungen nicht in der Ehewohnung angetroffen wurden,
besagt nichts über das Bestehen eines gemeinsamen Lebensmittelpunktes, wenn die Eheleute
aus beruflichen Gründen nur an Wochenenden zusammenleben.99 Allerdings besteht unter
diesen Voraussetzungen ein erhöhter Erklärungsbedarf.100 Der das Aufenthaltsrecht
erstrebende Ehegatte hat nach der Rechtsprechung jedoch den Nachteil zu tragen, wenn es
ihm nach Verweigerung der Mitwirkung an derartigen Ermittlungsmaßnahmen nicht gelingt,
begründete behördliche Zweifel auszuräumen.101
Diese Rechtsprechung ist nicht bedenkenfrei, da sie die grundrechtlich geschützte Ausübung
der Willensfreiheit in Ansehung der Unverletzlichkeit der Wohnung (Art. 12 Abs. 1 GG)
verfahrensrechtlich sanktioniert. Kann die Behörde keine stichhaltigen Feststellungen zur
94
95
96
97
98
OVG Hamburg, InfAuslR 1991, 343 (344).
BVerwG, InfAuslR 1995, 393, Ehefrau war anschließend verstorben.
OVG Hamburg., InfAuslR 2001, 125 = NVwZ-RR 2001, 339.
OVG Berlin, AuAS 2004, 172 (173).
OVG Berlin, AuAS 2004, 172 (173), unter Berufung auf BVerwG, Buchholz 418.00 Ärzte Nr. 38
(S. 9 ff.)
99
Hess. VGH, AuAS 2000, 244 (246) = Hess.VGRspr. 2001, 44.
OVG SH, InfAuslR 2001, 82 (83).
101
Hess. VGH, NVwZ-RR 2000, 639 (640) = InfAuslR 2000, 385 = EZAR 023 Nr. 20; Hess. VGH,
InfAuslR 2002, 426 (430).
100
34
Untermauerung ihres Verdachts treffen, dass eine eheliche Lebensgemeinschaft nicht geführt
wird, so ist von einer tatsächlich geführten Lebensgemeinschaft auszugehen. Der Betroffene
ist nicht verpflichtet, zur Zerstreuung eines nicht zureichend begründeten behördlichen
Verdachts, ganz oder teilweise auf die Ausübung seines Grundrechts auf Unverletzlichkeit der
Wohnung zu verzichten. Damit in Übereinstimmung steht die Rechtsprechung, die der
Behörde regelmäßig für den Nachweis der Trennung der Eheleute die Beweislast auferlegt.102
dd)
Darlegungslasten im ausländerbehördlichen Verfahren
Nach der Rechtsprechung gehört die Führung einer ehelichen Lebensgemeinschaft zu den für
den Betreffenden günstigen Umständen, die er unter Angabe nachprüfbarer Umstände
unverzüglich geltend zu machen und mit Nachweisen zu belegen hat. 103 Allerdings darf die
Behörde erst bei ernsthaften, gegen das Führen der ehelichen Lebensgemeinschaft
sprechenden Anhaltspunkten in Ermittlungen eintreten und besteht erst unter diesen
Voraussetzungen eine Mitwirkungspflicht der Eheleute. Zwar besteht bei der Feststellung des
Vorliegens einer Lebensgemeinschaft keine Beweislast der Behörde. Der Umfang der
Darlegungslast richtet sich insoweit nach den jeweiligen individuellen Verhältnissen,
insbesondere nach den Wohnverhältnissen und den beruflichen Tätigkeiten der Ehepartner.
Zu einer näheren Darlegung ihrer innerfamiliären Lebensumstände sind sie nur dann
verpflichtet, wenn die Ausländerbehörde begründete Zweifel am Bestehen der ehelichen
Lebensgemeinschaft hegt und diese gegenüber dem ausländischen Ehegatten äußert.104 Kann
die Behörde keine hinreichend zuverlässigen Feststellungen treffen, dass die eheliche
Lebensgemeinschaft nicht geführt wird, trägt sie die Beweislast für die nicht erweisliche
Tatsache.
§ 27 Abs. 1a Nr. 1 AufenthG verschärft die bisherige Rechtsprechung dahin, dass die
Beweislast für das Vorliegen einer nicht schützenswerten Lebensgemeinschaft der Behörde
auferlegt wird. Dies folgt sowohl aus dem Wortlaut von § 27 Abs. 1a Nr. 1 AufenthG wie
auch aus dem Gesetzeszusammenhang. Während Abs. 1 von § 27 AufenthG eine Regel
aufstellt, enthält Abs. 1a eine Ausnahme hiervon. Darüber hinaus wird nach § 27 Abs.1a Nr. 1
AufenthG ein Familiennachzug (nur dann) nicht zugelassen, wenn feststeht (§ 108 Abs.1 Satz
1 VwGO), dass die Ehe ausschließlich aus ausländerrechtlichen Gründen angestrebt wird.
Damit werden hohe Anforderungen an den Ausschluss des grundsätzlich anerkannten
Nachzugsanspruchs gestellt und trägt die Behörde die Beweislast für die Unerweislichkeit der
Tatsache, dass die Ehe ausschließlich geschlossen wurde, dem Nachziehenden die Einreise in
das und den Aufenthalt im Bundesgebiet zu ermöglichen. Demgegenüber differenziert die
Rechtsprechung zwischen dem Aufhebung eines Aufenthaltsrechts, in Bezug auf den die
Behörde die Feststellungslast trifft, und der Beantragung dieses Rechts, bei der der
Antragsteller die Beweislast trägt.105
ee)
Darlegungslasten im Einreiseverfahren
Besondere Schwierigkeiten bereiten Nachweisfragen im Einreiseverfahren. Auch im Falle des
Ehegattennachzugs zu einem freizügigkeitsberechtigten Unionsbürger wird insoweit
102
OVG NW, InfAuslR 2000, 290 (291) = NVwZ-Beil. 2000, 115 = AuAS 2000, 111.
Hess. VGH, NVwZ-RR 2000, 639 (640) = InfAuslR 2000, 385 = EZAR 023 Nr. 20; Hess. VGH,
InfAuslR 2002, 426 (430).
104
Hess. VGH, NVwZ-RR 2000, 639 (640) = InfAuslR 2000, 385 = EZAR 023 Nr. 20; Hess. VGH, InfAuslR
2002, 426 (430).
105
Hess.VGH, NVwZ-RR 2007, 491.
103
35
vorausgesetzt, dass tatsächlich eine eheliche Lebensgemeinschaft geführt werden soll.106
Anders als in Inlandsfällen, in denen objektive und grundsätzlich auch feststellbare
Anhaltspunkte für die Führung einer ehelichen Lebensgemeinschaft dargelegt bzw. ermittelt
werden können, leben hier die Eheleute noch nicht zusammen und ist evident, dass bloße
behördliche Behauptungen nicht ausreichen können. Es kommt nach § 27 Abs. 1 AufenthG
auf ein subjektives Element, nämlich den Herstellungswillen an. Dabei handelt es sich um eine
innere Tatsache, auf deren Existenz nur durch äußere Anzeichen geschlossen werden kann.107
Ausgangspunkt ist nach der Rechtsprechung insoweit die Erfahrungstatsache, dass Paare, die
nach einiger Zeit des Kennenlernens die Ehe schließen, diese auch führen, mithin die eheliche
Lebensgemeinschaft herstellen. Stellt ein Außenstehender Gemeinsamkeiten der Eheleute
fest, wie sie üblicherweise nach längerer Vertrautheit entstehen, so ist der Schluss auf den
Willen der Eheleute zur Führung der Lebensgemeinschaft tragfähig. Das Fehlen derartiger
durch längere Vertrautheit erlangter Gemeinsamkeiten steht aber dem Herstellungswillen
nicht entgegen.
d)
Nötigung zu Eheschließung (§ 27 Abs. 1a Nr. 2 AufenthG)
Nach § 27 Abs. 1a Nr. 2 AufenthG wird der Nachzug nicht zugelassen, wenn tatsächliche
Anhaltspunkte die Annahme begründen, dass einer der Ehegatten zur Ehe genötigt wurde.
Dieser Tatbestand wurde durch das Gesetz zur Umsetzung aufenthalts- und asylrechtlicher
Richtlinien der EU in § 27 AufenthG eingefügt. Mit dem Tatbestand der Nötigung zur Ehe
greift der Gesetzgeber die Diskussion um „Zwangsehen“ auf. Die Vorschrift ist im
Zusammenhang mit § 30 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 und Nr. 2 sowie § 28 Abs. 1 Satz 4 AufenthG zu
sehen. Sämtliche Vorschriften dienen der Bekämpfung von „Zwangsverheiratungen“.
Zwangsverheiratungen sind als besonders schwerer Fall der Nötigung (§ 240 Abs. 4 Satz 2
Nr. 1 StGB) strafbar. Die Auslegung und Anwendung der Vorschrift setzt deshalb eine
präzise Unterscheidung in „Zwangsehen“ einerseits und in „arrangierte Ehen“ andererseits
voraus.
Eine Zwangsehe liegt vor, wenn mindestens einer der Ehegatten durch eine Drucksituation
zur Ehe gezwungen wurde und mit seiner Weigerung keine Gehör gefunden oder es nicht
gewagt hatte, sich der Eheschließung zu widersetzen. Der Druck muss dabei durch Gewalt
oder durch Drohung mit einem empfindlichen Übel (vgl. § 240 Abs. 1 StGB) ausgeübt
worden sein. In Betracht kommen insoweit physische oder psychische wie insbesondere auch
sexuelle Gewalt, Einsperrung, Entführung sowie Sanktionsandrohungen.108 Demgegenüber
handelt es sich bei der „arrangierten Ehe“ um eine Ehe, die auf Wunsch, mit Einverständnis
oder Duldung beider Ehegatten durch Verwandte oder Bekannte initiiert wurde. Hier beruht
die Eheschließung – anders als bei der Zwangsehe – auf dem freien Willen beider
Ehepartner.109 Derartige, auf der freien Willensentscheidung beider Eheschließenden
beruhende Ehen fallen nicht unter § 27 Abs. 1a Nr. 2 AufenthG).
Die Übergänge zwischen beiden Formen der Eheschließung sind fließend. Daher muss in
konkreten Einzelfall danach abgegrenzt werden, ob in der Phase vor Eingehung der Ehe die
objektive Möglichkeit einer Weigerung bestanden hatte und darüber hinaus, ob das Fehlen
einer solchen objektiven Möglichkeit von den Ehegatten überhaupt subjektiv als Zwang erlebt
wurde. Dies hängt davon ab, wie stark die Betroffenen in die sozio-kulturellen Verhältnisse
106
VG Berlin, InfAuslR 2004, 288; s. aber Hess. VGH, InfAuslR 2004, 223, zur aufschiebenden Wirkung
von Rechtsmitteln bei Scheinehen von Drittstaatsangehörigen mit Unionsbürgern.
107
OVG Berlin, NVwZ-Beil. 2002, 107.
108
Göbel-Zimmermann/ Born, ZAR 2007, 54.
109
Göbel-Zimmermann/ Born, ZAR 2007, 54.
36
eingebunden und deshalb mit traditionellen Vorstellungen über das Zustandekommen von
Ehen verflochten sind bzw. ob nach dem Erfahrungshorizont überhaupt eine Vorstellung über
das Vorhandensein alternativer Eheschließungs- bzw. Lebensmodelle bestand. Je schwächer
diese Vorstellung ausgeprägt war, desto eher dürfte die Verheiratung subjektiv – gemessen an
den vorherrschenden soziokulturellen Verhältnissen – als „normal“ und damit nicht als
Nötigung empfunden worden sein.
Dementsprechend
hat
die
Rechtsprechung
bereits
vor
Inkrafttreten
des
Richtlinienumsetzungsgesetzes festgestellt, dass eine nicht von den Eheleuten ausgehende
Arrangierung der Ehe durch Dritte – wie sie unter Deutschen nicht mehr üblich ist - kein
Beleg für eine Scheinehe darstellt.110 Aus früheren Zeiten sei bekannt, dass im Bundesgebiet
auch solchermaßen geschlossene Ehen geführt worden seien und Bestand gehabt hätten.
Allerdings bedarf es auch bei solchen Ehen der Überzeugung, dass die Eheleute die eheliche
Lebensgemeinschaft herstellen wollen. Kann dazu – wie im Einreiseverfahren – auf die sonst
gebräuchlichen Anzeichen nicht zurückgegriffen werden, sind andere den Rückschluss auf
den Herstellungswillen ermöglichende Anzeichen erforderlich.111
3 27 Abs. 1a Nr. 2 AufenthG bietet insbesondere keine Handhabe dafür, eine Beurteilung der
angestrebten Lebensgemeinschaft auf Übereinstimmung mit deutschen Gepflogenheiten,
Sitten oder Wertvorstellungen vorzunehmen. Vielmehr ist einzig und allein Funktion der
tatbestandlichen Anknüpfung an diese Norm, dass die formale Eheschließung als Vehikel zur
Umgehung der Einreisevorschriften genutzt wird.112 Im Regelfall wird in der
Verwaltungspraxis im Einreiseverfahren allerdings keine besondere Darlegungslast gefordert.
Erst beim Auftreten von Besonderheiten, wie etwa bei einer durch Dritte arrangierten Ehe,
oder wenn konkrete Zweifel am Herstellungswillen durch die Behörde geltend gemacht
werden, besteht ein besonderer, auf den Herstellungswillen bezogener Begründungsbedarf.
Es bedarf tatsächlicher Anhaltspunkte für die Feststellung einer Nötigung zur Ehe. Es müssen
danach gewichtige und hinreichend zuverlässige Tatsachen und Umstände festgestellt werden,
welche den sicheren Schluss auf eine Nötigungssituation zulassen. Bloße Vermutungen oder
Hypothesen, etwa anhand der Häufigkeit von arrangierten Eheschließungen in dem
betreffenden Herkunftsland, reichen nicht aus. Ohne ausdrückliche Erklärung des Ehegatten,
in Bezug auf den die Behörde von einer Drucksituation ausgeht, kann eine derartige
Feststellung nicht getroffen werden.
e)
Vorwirkungen der Eheschließungsfreiheit
aa)
Erfordernis der unmittelbar bevorstehenden Eheschließung
Die Vorschriften über den Ehegattennachzug nach § 28, § 30 AufenthG sind erst
anwendbar, wenn die Ehe geschlossen ist. Art 6 Abs. 1 GG schützt Ehe und Familie. Dies
bedeutet, dass grundsätzlich erst nach erfolgter Eheschließung ein Aufenthaltstitel zum
Familiennachzug erteilt werden kann. Das Verlöbnis unterfällt damit grundsätzlich nicht
dem Schutz nach Art. 6 Abs. 1 GG, ist allerdings in die Ermessensabwägung
einzubeziehen. Darüber hinaus entfaltet das Verlöbnis bzw. die bekundete ernsthafte
Absicht der Eheschließung unter bestimmten Voraussetzungen aufenthaltsrechtliche
Wirkungen. Streit besteht indes in der Rechtsprechung darüber, unter welchen
Voraussetzungen derartige Wirkungen eingreifen. Nach wohl herrschender Auffassung ist
110
111
112
OVG Berlin, NVwZ-Beil. 2002, 107.
OVG Berlin, NVwZ-Beil. 2002, 107.
VG Berlin, InfAuslR 2002, 472 (474).
37
die bekundete Eheschließungsabsicht ausländerrechtlich nur dann geschützt, sofern die Ehe
unmittelbar bevorsteht, wozu grundsätzlich der Nachweis gehört, dass die Ehe bereits
angemeldet ist (§ 4 PStG) und nach Auskunft des Standesamtes unverzüglich durchgeführt
werden kann.113 Im Bundesland Hessen wird insoweit durch Erlass angeordnet, dass nach
Mitteilung des Standesbeamten, dass die Ehe vorgenommen werden kann (§ 6 Abs. 1
PStG), die Eheschließung innerhalb von vier Wochen stattfinden muss. 114 Im Bundesland
Baden-Württemberg beträgt diese Zeitspanne regelmäßig zwei Monate.115
Dieser sehr restriktiven Auffassung steht eine andere Auffassung in der Rechtsprechung
entgegen, wonach die Vorwirkungen“ von Art. 6 GG das Recht des ausländischen Verlobten
einschließt, dass ihm die für das Eheanmeldungsverfahren üblicherweise erforderliche Zeit
eingeräumt wird. Daher umfasst die aufenthaltsrechtliche Schutzwirkung von Art. 6 Abs. 1
GG auch die Zeitspanne, welche das OLG für die Entscheidung über das Befreiungsgesuch
benötigt und seine Entscheidung dem Standesbeamten vorliegt.116 Jedenfalls darf die Behörde
eine Abschiebung dann nicht durchsetzen, wenn die Ehe sicher erscheint und unmittelbar
bevorsteht117 oder der Termin zur Eheschließung jedenfalls bestimmbar ist.118
Gegen die Verwaltungspraxis werden in der Rechtsprechung Bedenken erhoben. Im Blick auf
die Frage, wann im konkreten Einzelfall die Eheschließung unmittelbar bevorstehe, gebe es
„keine allgemeine gültige, feste zeitliche Grenze“. Vielmehr sei jeweils unter
Berücksichtigung der gegebenen Umstände im Einzelfall zu entscheiden, ob eine
Eheschließung ernstlich beabsichtigt und unmittelbar bevorstehe oder völlig ungewiss sei.
Außer den zeitlichen Anforderungen an eine hinreichende Bestimmbarkeit eines Termins zur
Eheschließung seien insbesondere die formellen und materiellen Voraussetzungen für die
beabsichtigte Eheschließung zu berücksichtigen, deren Erfüllung in die Sphäre der Verlobten
falle.119 Ob eine Eheschließung schon immer dann unmittelbar bevorstehe, wenn das
erforderliche Ehefähigkeitszeugnis vorliege, könne offen bleiben. Jedenfalls dann, wenn das
Ehefähigkeitszeugnis bereits vorliege, indes noch die „Ehemündigkeitserklärung“ der Braut
ausstehe, hätten die Verlobten ersichtlich alle in ihre Sphäre fallenden Anforderungen an eine
unverzügliche Eheschließung erfüllt, sodass die Eheschließung als unmittelbar bevorstehend
anzusehen sei.120
Generell kann gesagt werden, dass die Eheschließung im Allgemeinen dann als sicher und
unmittelbar bevorstehend erscheint, wenn die Verlobten bereits beim Standesamt einen
zeitnahen Termin vereinbart haben, an dem die Ehe geschlossen werden soll. Bei der
Entscheidung über die Aussetzung der Abschiebung ist auch zu berücksichtigen, ob dem
Verlobten nach seiner Abschiebung ein – auch nur – kurzfristiges Betreten des
Bundesgebietes zum Zwecke der Eheschließung ermöglicht werden kann. Insoweit ist auch zu
113
OVG Hamburg, NVwZ-RR 1991, 107 (108) = InfAuslR 1990, 328; OVG Hamburg, NVwZ-RR 2007,
559(560); OVG Bremen, EZAR 045 Nr. 4; Thür.OVG, NVwZ-RR 1996, 710; OVG MV, NVwZ-RR 2000, 641
(642); OVG NW, InfAuslR 1991, 193; VG Ansbach, InfAuslR 1992, 137 (138); VG München, InfAuslR 1996,
178; VG Freiburg, NVwZ-Beil. 1998, 50 (51).
114
Hess.MdI, Erlass vom 19. 10. 1998 – II A 42 – 23 d (Au 3.938 a.
115
VG Freiburg, NVwZ-Beil. 1998, 50 (51).
116
BayVGH, BayVBl. 1990, 54 (55).
117
VG Dessau, NVwZ-RR 2004, 299 = InfAuslR 200, 163, VG Halle, InfAuslR 1998, 501.
118
OVG MV, NVwZ-RR 2000, 641 (642); OVG Sachsen, SächsVBl. 1996, 119 (120); OVG Sachsen, B.
v. 10. 6. 2002 – 3 BS 214/02; OVG Sachsen, NVwZ-RR 2007, 62.
119
VGH BW, InfAuslR 2002, 228 (229 f.) = AuAS 2002, 28 (29 f.) = NVwZ-Beil. 2001, 55.
120
VGH BW, InfAuslR 2002, 228 (229 f.) = AuAS 2002, 28 (29 f.) = NVwZ-Beil. 2001, 55.
38
bedenken, dass dieser im Herkunftsland seinen Wehrdienst leisten muss.121 Wird dadurch die
geplante Eheschließung auf nicht absehbare Zeit unmöglich gemacht, ist die Abschiebung
jedenfalls bis zum bevorstehenden Eheschließungstermin auszusetzen.
bb)
Schwangerschaft
Eine durch Vorlage eines ärztlichen Attestes glaubhaft gemachte Schwangerschaft zeitigt
aufenthaltsrechtliche Vorwirkungen. Art. 6 Abs. 1 GG gebietet es, zum Zwecke des
notwendigen Beistandes des Kindesvaters bei der Geburt und in der unmittelbaren Zeit
danach den Aufenthalt zu gewährleisten.122 Darüber hinaus kann die Risikoschwangerschaft
der ausländischen Verlobten einen Anspruch auf Erteilung der Aufenthaltserlaubnis nach
§ 25 Abs. 4 AufenthG123 - wobei es allerdings häufig am hierfür geforderten rechtmäßigen
Aufenthalt fehlen dürfte - oder wegen der dadurch hervorgerufenen Erforderlichkeit der
Betreuung der Verlobten durch den Verlobten einen Aussetzungsanspruch nach § 60a Abs. 2
AufenthG124 begründen.
Ebenso begründet die Beziehung zum ungeborenen Kind einen Schutzanspruch. Denn den
Staat trifft eine besondere Schutzpflicht gegenüber dem ungeborenen Leben. Danach hat die
Verwaltung Problemen und Schwierigkeiten nachzugehen, welche der Mutter während der
Schwangerschaft erwachsen können. Ist die Mutter auf die Lebenshilfe des Vaters
angewiesen, hat sie diesem Umstand Rechnung zu tragen.125 Ist etwa die Mutter wegen einer
spastischen Lähmung auf Unterstützung sowohl der Lebensführung wie auch der Betreuung
der beiden gemeinsamen Kinder zwingend angewiesen, ist die Abschiebung des
Kindesvaters nach Art. 6 Abs. 1 GG und Art. 8 EMRK untersagt.126 Jedenfalls darf die
Abschiebung eines werdenden Vaters, dem nach der Geburt des Kindes ein Aufenthaltsrecht
zusteht, nur durchgeführt werden, wenn eine Rückkehr noch rechtzeitig vor der Geburt
sichergestellt werden kann127
cc)
Beibringung der Eheschließungsunterlagen
Besondere Probleme bereiten in der Verwaltungspraxis bei ungesichertem Aufenthaltsrecht
des ausländischen Verlobten die Hindernisse, welche einer Eheanmeldung entgegenstehen.
Da in der Verwaltungspraxis die aufenthaltsrechtliche Vorwirkung der grundrechtlich
gewährleisteten Eheschließungsfreiheit zeitlich extrem kurz bemessen wird, scheitern häufig
auch ernsthafte Bemühungen, die Ehe anzumelden. Verwaltungsgerichtlicher Rechtsschutz
wird bei zeitlich über einen Monat dauernden Verfahren in aller Regel nicht gewährt. Gegen
diese Praxis ergeben sich schwerwiegende Bedenken. Die Dauer des der Eheanmeldung
vorgeschalteten Verwaltungsverfahrens wird durch die Probleme beeinflusst, welche
insbesondere wegen der Beibringung der erforderlichen Eheschließungsunterlagen entstehen
können.
121
VGH BW, InfAuslR 2002, 228 (229 f.) = AuAS 2002, 28 (29 f.) = NVwZ-Beil. 2001, 55.
VG Bremen, InfAuslR 2005, 149.
123
Vgl. VG Berlin, InfAuslR 1995, 415 (417).
124
VG Saarlouis, B. v. 5. 10. 1999 – 1 F 61/99; VG Regensburg, InfAuslR 2002, 241 = AuAS 2002, 30;
VG Cottbus, AuAS 2000, 206.
125
Thür.OVG, InfAuslR 2003, 144 = AuAS 2003, 88; VG Berlin, NVwZ-Beil. 2000, 11; a. A.
Nieders.OVG, B. v. 11. 9. 2003 – 13 ME 331/03, BA, .S. 6.
126
VG Darmstadt, B. v. 27. 9. 2001 – 7 G 1529/01.
127
OVG Sachsen, InfAuslR 2006, 446 (447).
122
39
Auch insoweit gilt grundsätzlich, dass ein Aussetzungsanspruch besteht, wenn die
Eheschließung unmittelbar bevorsteht, der Eheschließungstermin mithin feststeht oder
jedenfalls verbindlich bestimmbar ist. Liegen alle erforderlichen Unterlagen vor und steht nur
noch die Entscheidung des OLG aus, ist grundsätzlich von einer unmittelbar bevorstehenden
Eheschließung auszugehen.128 Steht die Entscheidung des OLG nur noch aus, weil der
Verdacht einer Scheinehe angezeigt wurde, ist die Vermutung einer unmittelbar
bevorstehenden Eheschließung dann widerlegt, wenn das Vorliegen einer Scheinehe nach
dem Akteninhalt überwiegend wahrscheinlich ist.129
Teilt die deutsche Botschaft im Herkunftsland des oder der ausländischen Verlobten mit,
dass die für die beabsichtigte Eheschließung erforderlichen Unterlagen zwecks Legalisierung
eingereicht sind, dass die Legalisierung indes etwa drei Monate, eventuell aber auch etwas
längere Zeit in Anspruch nimmt, gebietet nach der Rechtsprechung die durch Art. 6 Abs. 1
GG geschützte Eheschließungsabsicht, von Abschiebungsmaßnahmen abzusehen.130 Für den
Fall, dass nach Auskunft der deutschen Botschaft eine Legalisierung der erforderlichen
Personenstandsurkunden überhaupt nicht mehr vorgenommen wird, folgt daraus nicht ohne
weiteres, dass Abschiebungsmaßnahmen zulässig wären. Vielmehr ist in einem derartigen
Fall Gelegenheit zu geben, eine Befreiung von der Beibringung des Ehefähigkeitszeugnisses
durch das zuständige OLG zu erwirken.131
Hat der Verlobte alle erforderlichen Unterlagen – ausgenommen Duldungs- und
Aufenthaltsbescheinigung – vorgelegt, ist davon auszugehen, dass er sich ernsthaft um eine
Eheschließung bemüht und seine Möglichkeiten ausgeschöpft hat, um in Kürze die Ehe
eingehen zu können. Befindet sich der Verlobte mithin in einer „ausweglosen“ Situation, die
dadurch gekennzeichnet ist, dass er eine Duldung nicht erhält, weil der Termin zur
Eheschließung nicht festgesetzt ist, dieser Termin aber deswegen nicht bestimmt wird, weil
keine Duldung vorliegt, ist ihm angesichts der Vorwirkungen von Art. 6 Abs. 1 GG eine
vorläufige Duldung zu erteilen.132
Ist für die Eheanmeldung die Herbeiführung der Anerkennung eines ausländischen
Scheidungsurteils und hierfür die Vorlage einer Duldungsbescheinigung Voraussetzung, ist
dem Verlobten diese zu erteilen.133 Jedenfalls greift die Festnahme zeitlich unmittelbar vor
der Eheschließung unmittelbar in die Eheschließungsfreiheit nach Art. 6 Abs. 1 GG ein.134
Klagt der Antragsteller gegen die Weigerung des Standesbeamten, die Ehe mit der Verlobten
zu schließen, und ist in wenigen Wochen mit seiner Anhörung vor dem Amtsgericht und
wiederum wenige Woche später mit dessen Entscheidung zu rechnen, erweist sich die
Abschiebung als unverhältnismäßig.135
dd)
Antrag auf Befreiung vom Nachweis des Ehefähigkeitszeugnisses
Nach der Verwaltungspraxis ist regelmäßig eine Duldung zu erteilen, wenn die für die
Eheschließung erforderlichen Unterlagen vorliegen und die Befreiung von der Beibringung
des Ehefähigkeitzeugnisses beantragt worden ist.136 Nach § 1309 Abs. 1 BGB soll, wer
128
129
130
131
132
133
134
135
136
OLG Sachsen, AuAS 2006, 242; OVG Sachsen, NVwZ-RR 2007, 62.
OVG Sachsen, NVwZ-RR 2007, 62.
VG Stuttgart, InfAuslR 2001, 216; VG Osnabrück, B. v. 5. 3. 2004 – 5 B 59/04.
VG Stuttgart, InfAuslR 2001, 216.
VG Dessau, B. v. 6. 10. 2003 – 3 B 135/03 - NVwZ-RR 2004, 299 = InfAuslR 200, 163.
VG Dessau, NVwZ-RR 2004, 299 = InfAuslR 200, 163 = InfAuslR 200, 163.
VG Frankfurt (Oder), B. v. 27. 10. 1998 – 3 L 883/98 - InfAuslR 1999, 33 = AuAS 1999, 14.
VG Münster, AuAS 2006, 40 (41).
OLG Sachsen, AuAS 2006, 242;VG Osnabrück, B. v. 5. 3. 2004 – 5 B 59/04.
40
hinsichtlich der Voraussetzungen der Eheschließung vorbehaltlich des Art. 13 Abs. 2
EGBGB ausländischem Recht unterliegt, eine Ehe nicht eingehen, bevor er ein Zeugnis der
inneren Behörde seines Heimatstaates beigebracht hat, dass der Eheschließung nach dem
Recht dieses Staates kein Ehehindernis entgegensteht. Nach § 1309 Abs. 2 Satz 1 BGB kann
der Präsident des OLG von diesem Erfordernis eine Befreiung erteilen. Diese Befreiung soll
nur Staatenlosen mit gewöhnlichem Aufenthalt im Ausland und Angehörigen solcher Staaten
erteilt werden, deren Behörden keine Ehefähigkeitszeugnisse im Sinne des § 1309 Abs. 1
BGB ausstellen. In besonderen Fällen darf sie auch Angehörigen anderer Staaten erteilt
werden (§ 1309 Abs. 2 Satz 3 BGB).
Ein Staatenloser muss nach der Neufassung des Eheschließungsrechts ein derartiges Zeugnis
nicht mehr beibringen, weil die Voraussetzungen seiner Ehefähigkeit gemäß Art. 13 Abs. 1
EGBGB in Verb. mit Art. 12 Abs. 1 StlÜb nach deutschem Recht richten und deshalb vom
Standesbeamten in eigener Zuständigkeit zu prüfen sind. Dabei kann der Erfüllung dieser
Verpflichtung nicht durch die Bezeichnung „Staatsangehörigkeit ungeklärt“ ausgewichen
werden. Eine Person hat entweder eine oder mehrere Staatsangehörigkeiten oder sie ist
staatenlos. Für die Zwecke des Befreiungsverfahrens kann bei ungeklärter
Staatsangehörigkeit deshalb von der Staatenlosigkeit ausgegangen werden. Andernfalls sind
Ermittlungen zur Staatsangehörigkeit des betroffenen Verlobten angezeigt. Werden
diejenigen Angaben des Antragstellers, die gerade die förmliche Befreiung vom Erfordernis
der Beibringung eines Ehefähigkeitszeugnisses erst entbehrlich machen, von dem
zuständigen Standesbeamten angezweifelt, so besteht in entsprechender Anwendung des §
1309 Abs. 2 Satz 2 BGB ebenfalls ein Anspruch auf ausdrückliche Befreiung von der
Vorlage des Ehefähigkeitszeugnisses.137
ee)
Nachweis eines gültigen Passes
Grundsätzlich wird für die Eheanmeldung die Vorlage eines gültigen Passes des oder der
ausländischen Verlobten verlangt. Das Bestehen materiellrechtlicher Hindernisse gegen die
Eheschließung nach dem Heimatrecht der Verlobten kann nur geprüft werden, wenn dessen
Staatsangehörigkeit nachgewiesen ist. Gemäß § 11 Abs. 2 PStV hat derjenige Verlobte, der
nicht Deutscher ist, seine Staatsangehörigkeit durch eine Bescheinigung seines
Heimatstaates, eines die Angabe der Staatsangehörigkeit enthaltenden Personalausweises
oder eines Passes nachzuweisen, wobei grundsätzlich die Vorlage eines gültigen Reisepasses
verlangt wird. An diesen Nachweis dürfen jedoch keine unzumutbaren Anforderungen
gestellt werden, so dass er im Einzelfall auch auf andere Weise geführt werden kann.138
Zum Nachweis der Identität und der Staatsangehörigkeit kann auch ein abgelaufener
Reiseausweis des Herkunftsstaates oder eine Fotokopie einer Identitätskarte in Verbindung
mit anderen beweiskräftigen Unterlagen ausreichen.139 Will ein Ausländer heiraten und
verbleibt sein Pass bei der Ausländerbehörde, hat er jederzeit einen Anspruch auf
Übersendung einer Passkopie an das Standesamt, ungeachtet dessen, in welchem Stadium
sich das Eheanmeldungsverfahren befindet und welche anderen zur Eheschließung etwa noch
erforderlichen Urkunden noch fehlen mögen, wenn das Eheanmeldungverfahren nicht
offenkundig aus anderen Gründen von vornherein aussichtslos erscheint und auch keine
greifbaren Anhaltspunkte für eine bloße Scheinehe vorliegen.140 Erachtet das Standesamt die
Vorlage des Orginals des Passes für erforderlich, hat die Ausländerbehörde das Orginal an
137
138
139
140
KG, InfAuslR 2000, 299 (301).
KG, InfAuslR 2002, 95 (96).
KG, InfAuslR 2002, 95 (96); KG, InfAuslR 2000, 299 (301).
VG Freiburg, InfAuslR 2006, 150 (152).
41
die Ausländerbehörde zu übersenden und kann dieser Rechtsanspruch gegebenenfalls mit
einem Eilrechtsschutzantrag nach § 123 VwGO durchgesetzt werden.141
In der Verwaltungspraxis sichern überwiegend ministerielle Erlasse, dass die Eheanmeldung
erst und nur dann in die Wege geleitet wird, wenn ein gültiger nationaler Reiseausweis
vorgelegt wird. Mit dem Zeitpunkt der Ausstellung des Reiseausweises entfällt die auf die
Passlosigkeit bezogene bisherige auflösende Bedingung der Duldungsbescheinigung. In der
Verwaltungspraxis ziehen die Standesämter häufig in Amtshilfe für die zuständige
Ausländerbehörde den im Rahmen des Eheanmeldungsverfahrens vorgelegten Pass ein. Die
Ausländerbehörde leitet daraufhin unverzüglich Vollzugsmaßnahmen ein, ohne die zeitlich
bestimmbare Eheanmeldung zu berücksichtigen. Dies führt in vielen Fällen dazu, dass die
Eheanmeldung nicht mehr vorgenommen oder nur unter besonders erschwerten Bedingungen
durchgesetzt werden. Eine derartige Verwaltungspraxis ist mit Art. 6 Abs. 1 GG kaum
vereinbar.142 Sind die erforderlichen Eheschließungsunterlagen abgegeben worden, kann der
Zeitpunkt der Eheanmeldung bestimmt werden. Lange Wartezeiten insbesondere bei stark
frequentierten großstädtischen Standesämtern dürfen nicht zu Lasten des ausländischen
Verlobten gehen. Er hat unter diesen Voraussetzung trotz des Eintritts der auslösenden
Bedingung der Duldung wegen Wegfall des Abschiebungshindernisses (Ausstellung eines
nationalen Passes) einen Anspruch auf Erteilung einer vorläufigen Duldung (§ 60a Abs. 2
AufenthG), der gegebenenfalls mit dem Antrag nach § 123 VwGO sicherzustellen ist. Nach
der Eheschließung ist über den Antrag auf Erteilung der Aufenthaltserlaubnis nach Maßgabe
von § 5 Abs. 2 Satz 2 AufenthG zu entscheiden.
2.
Aufenthaltsrecht des stammberechtigten Familienangehörigen
Der im Bundesgebiet lebende Ausländer muss im Zeitpunkt der Entscheidung über den
Nachzug sowie über die Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis im Besitz einer Aufenthaltsoder Niederlassungserlaubnis oder einer Erlaubnis zum Daueraufenthalt-EG sein (§§ 29
Abs. 1 Nr. 1, 32 Abs. 1 Nr. 1 und 2 AufenthG). Beim Nachzug zu deutschen
Staatsangehörigen tritt an die Stelle des Besitzes des Aufenthaltstitels dessen gewöhnlicher
Aufenthalt im Bundesgebiet (§ 28 Abs. 1 Satz 1 2. Hs. AufenthG). Die Geltungsdauer des
Aufenthaltstitels darf nicht abgelaufen oder wegen eines längeren Auslandsaufenthaltes
erloschen sein. Dem Besitz des Aufenthaltstitels steht es nicht gleich, wenn die Erteilung
eines derartigen Titels im maßgeblichen Zeitpunkt gerichtlich erstritten wird.143 Beruht das
Erlöschen auf einem Verwaltungsakt (Widerruf, Rücknahme, Ausweisung), kommt es auf
dessen Unanfechtbarkeit nicht an (§ 84 Abs. 2 Satz 1 AufenthG, § 72 Abs. 2 Satz 1 AuslG
1990). Die Vorschriften stehen einer gleichzeitigen Einreise des Ausländers und seines
Familienangehörigen nicht entgegen. Die Ausländerbehörde kann daher der Visumerteilung
an den Familienangehörigen unter der Bedingung zustimmen, dass dem Ausländer selbst ein
Visum erteilt wird.
Ganz allgemein ist es mit dem Schutzgebot von Art. 6 Abs. 1 und 2 GG grundsätzlich
vereinbar, die Ehegatten auf die Herstellung der ehelichen Lebensgemeinschaft im
gemeinsamen Heimatstaat zu verweisen, wenn sich der in Deutschland lebende Ehegatte hier
noch nicht längere Zeit aufhält und ihm deshalb die Wiedereingewöhnung in die Verhältnisse
seines Heimatstaates nicht besonders schwer fallen dürfte. Wird die verfestigte Integration
nicht gemäß § 30 Abs. 1 AufenthG vom Gesetz unterstellt, weil die Ehe noch nicht im
141
142
143
Vgl. VG Freiburg, InfAuslR 2006, 150 (151 f).
S. auch VG Dessau, NVwZ-RR 2004, 299 = InfAuslR 200, 163, zur vorläufigen Duldung.
BVerwG, NVwZ 1998, 185 (186) = InfAuslR 1997, 352; Richter, NVwZ 1998, 128 (130)
42
Zeitpunkt der Einreise des Ausländers bestanden hatte, entspricht eine den Anspruch
ermöglichende Ermessensausübung dem Zweck der Ermächtigung in § 30 Abs. 2 AufenthG,
wenn die vom Gesetz geforderte gefestigte Integration auf andere Weise nachgewiesen ist.144
In der Rechtsprechung wird allerdings unter dem Gesichtspunkt des „schleichenden
Familiennachzugs“ dessen Versagung für zulässig erachtet, um einen „planmäßigen,
schleichenden Nachzug“ zu verhindern. Dies sei der Fall, wenn Ausländer ihre im Ausland
geführte Ehe, aus der Kinder hervorgegangen seien, gezielt unterbrächen, damit einer der
Ehegatten nach Einreise in die Bundesrepublik mittels Eheschließung mit einem deutschen
Staatsangehörigen ein schließlich eheunabhängiges Aufenthaltsrecht im Bundesgebiet
erwerbe und nach Scheidung seinen noch im Heimatstaat verbliebenen Partner samt
gemeinsamer Kinder nach Deutschland nachholen kann, um im Bundesgebiet die Ehe
weiterführen zu können.145 Wie ausgeführt, kann in den Fällen des Rechtsanspruchs nach § 30
Abs. 1 AufenthG dieser Einwand nicht vorgebracht werden. Darüber hinaus ist ein von
Anfang an einvernehmliches Handeln beider Ehegatten nachzuweisen. Hieran fehlt es, wenn
mit dem deutschen Ehegatten tatsächlich eine Lebensgemeinschaft geführt wird und es nach
der Scheidung zur Versöhnung mit dem im Heimatstaat lebenden früheren Ehepartner kommt.
3.
Ausreichender Wohnraum (§ 29 Abs. 1 Nr. 2 in Verb. mit § 2 Abs. 4 AufenthG)
Nach § 29 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG wird für den Nachzug zu ausländischen Stammberechtigten
darüber hinaus vorausgesetzt, dass ausreichender Wohnraum zur Verfügung stehen muss. Der
unbestimmte Rechtsbegriff des ausreichenden Wohnraums wird durch die Legaldefinition des
§ 2 Abs. 4 Satz 1 und 2 AufenthG konkretisiert. Danach wird als ausreichender Wohnraum
nicht mehr gefordert, als für die Unterbringung eines Wohnungssuchenden in einer öffentlich
geförderten Sozialmietwohnung genügt. In der Verwaltungspraxis zum früheren Recht wie
auch zum geltenden Recht wird eine abgeschlossene Wohnung mit Küche, Bad und WC stets
als ausreichend angesehen, wenn für jede Person über sechs Jahre zwölf Quadratmeter und
für jede Person unter sechs Jahre zehn Quadratmeter zur Verfügung stehen (Nr. 2.4.3 VAH).
Eine Unterschreitung der maßgeblichen Wohnungsgröße um etwa 10% ist unschädlich (Nr.
2.4.3 VAH).
Der Wohnraum insgesamt ist maßgebend. Ob eine entsprechend große Wohnfläche für die
betreffenden Familienangehörigen tatsächlich zur Verfügung steht, ist unter diesen
Voraussetzungen unerheblich. Maßgebend ist nur die Wohnfläche insgesamt.146 Bei der
Ermittlung des Wohnraums sind auch Räume außerhalb der Wohnung und Nebenräume, etwa
Küche, Bad, Toilette, zu berücksichtigen, die die Familie aufgrund vertraglicher
Vereinbarungen oder sonstiger verlässlicher Zusicherung dauerhaft benutzen oder
mitbenutzen darf.147 Es muss sich nicht zwingend um eine abgeschlossene Wohnung
handeln.148
144
VG Berlin, NVwZ-RR 2003, 528 = AuAS 2003, 62.
145
VG Berlin, NVwZ-RR 2003, 528 (529) = AuAS 2003, 62.
Igstadt, in: GK- AuslR, II - § 17 AuslG Rdn. 107; Hailbronner, AuslR, § 29 AufenthG Rdn. 8.
Igstadt, in: GK- AuslR, II - § 17 AuslG Rdn. 100.
Fränkel, Einführende Hinweise zum neuen Ausländergesetz, S. 76.
146
147
148
43
Alle in der Wohnung dauerhaft in familiärer Lebensgemeinschaft lebenden Angehörigen sind
zu berücksichtigen. Wohnraum muss deshalb auch für die Familienangehörigen vorgehalten
werden, die vorübergehend oder zeitweise außerhalb der Familienwohnung leben. Als
Konsequenz der gesetzgeberischen Entscheidung, dass der Nachzug zu Deutschen nicht vom
Wohnraumerfordernis abhängig gemacht werden darf, dürfen bei der Berechnung des
Wohnraums deutsche Familienangehörige, die in der Familienwohnung leben, nicht
einbezogen werden. Kinder bis zur Vollendung des zweiten Lebensjahres werden bei der
Berechnung des ausreichenden Wohnraums nicht mitgezählt (§ 2 Abs. 4 Satz 3 AufenthG).
Bei der Verlängerung der im Rahmen des Kindernachzugs erteilten Aufenthaltserlaubnis (§
32, § 33 AufenthG) wird vom Wohnraumerfordernis abgesehen, solange ein
personensorgeberechtigter Elternteil eine Niederlassungserlaubnis oder Aufenthaltserlaubnis
besitzt und das Kind mit ihm in familiärer Lebensgemeinschaft lebt oder das Kind im Falle
seiner Ausreise ein Wiederkehrrecht gemäß § 37 AufenthG hätte (§ 34 Abs. 1 AufenthG). Der
Nachweis der familiären Lebensgemeinschaft setzt nicht zwingend die Führung einer
häuslichen Gemeinschaft voraus.
Bei der Verlängerung der im Rahmen des Ehegattennachzugs erteilten Aufenthaltserlaubnis
nach § 30 Abs. 1 und 2 AufenthG kann vom Erfordernis des Abs. 1 Nr. 1 abgesehen werden,
solange die eheliche Lebensgemeinschaft fortbesteht (§ 30 Abs. 3 AufenthG). Diese muss
nicht zwingend in Form der Hausgemeinschaft geführt werden. Bei der
Ermessensentscheidung sind insbesondere die grundrechtlichen Schutzwirkungen von Art. 6
Abs. 1 GG sowie die Grundsätze der Verhältnismäßigkeit sowie des Vertrauensschutzes zu
berücksichtigen.
Der
Nachweis
ausreichenden
Wohnraums
gehört
zu
den
grundlegenden
Nachzugsvoraussetzungen und ist Teil der Mitwirkungspflicht nach § 82 Abs. 1 AufenthG.
Zu diesem Zweck sind die erforderlichen Nachweise vorzulegen. Im Regelfall wird der
Nachweispflicht genügt, wenn der Mietvertrag vorgelegt und in diesem die Anzahl der in der
Wohnung lebenden Personen, die Größe des Wohnraums und der monatliche Mietzins
zuzüglich Nebenkosten bezeichnet sind. Fehlt es an einer dieser Angaben, ist eine vom
Vermieter ausgestellte Bescheinigung (Vermieterbescheinigung) vorzulegen, welche die
erwähnten Daten enthält. Angaben zum Mietzins sind insbesondere für die Überprüfung der
Unterhaltssicherung (§ 5 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG) erforderlich. Der Wohnraum kann auch
durch Untervermietung bereitgestellt werden, wenn dies vertraglich zugelassen ist und der
untervermietete Wohnraum den oben bezeichneten Voraussetzungen genügt.
Der Nachweispflicht muss spätestens im Zeitpunkt der behördlichen Entscheidung genügt
worden sein. Da die allgemeinen Nachzugsvoraussetzungen ohnehin durch die zuständige
Ausländerbehörde im Rahmen des internen Zustimmungsverfahrens nach § 31 Abs. 1
AufenthV geprüft werden, kann der entsprechende Visumantrag zunächst ohne Beifügung der
erforderlichen Nachweise bei der zuständigen Auslandsvertretung gestellt und können
anschließend nach Abgabe des Vorgangs an die zuständige Ausländerbehörde gegenüber
dieser die entsprechenden Nachweise vorgelegt werden. Dies entspricht der weithin geübten
Verwaltungspraxis.
Der Nachzug zu deutschen Staatsangehörigen darf nicht vom Nachweis ausreichenden
Wohnraums abhängig gemacht werden (vgl. § 28 AufenthG). Kinder bis zur Vollendung des
zweiten Lebensjahres werden bei der Berechnung des für die Familienunterbringung
ausreichenden Wohnraums nicht mitgerechnet (vgl. § 2 Abs. 4 Satz 3 AufenthG). Beim
44
Nachzug zu Asylberechtigten und Flüchtlingen ist vom Wohnraumerfordernis nach Maßgabe
der in § 29 Abs. 2 Satz 2 AufenthG enthaltenen Grundsätze abzusehen werden.
5.
Sicherung des Lebensunterhaltes (§ 5 Abs. 1 Nr. 1 in Verb. mit § 2 Abs. 3 AufenthG)
Beim Unterhaltserfordernis handelt sich um eine allgemeine Regelerteilungsvoraussetzung149:
Beim Nachzug zu Asylberechtigten und Flüchtlingen ist vom Erfordernis der Sicherung des
Lebensunterhaltes abzusehen, wenn der Antrag auf Erteilung des Aufenthaltstitels innerhalb
von drei Monaten nach unanfechtbarer Statusgewährung gestellt wird und die Herstellung der
familiären Lebensgemeinschaft in einem Drittstaat, zu dem der Stammberechtigte oder seine
Familienangehörigen eine besondere Bindung haben, nicht möglich ist (§ 29 Abs. 2 Satz 2
AufenthG). Damit setzt der Gesetzgeber Art. 12 Abs. 1 RL 2003/86/EG um. Die
Rechtsprechung erachtet es für zulässig, die Aufenthaltserlaubnis mit einer auflösenden
Bedingung „erlischt bei Sozialhilfebezug“ zu versehen und erkennt insoweit keinen
Suspensiveffekt des eingelegten Rechtsbehelfs an.150
6.
Versagungsgründe (§ 27 Abs. 3 AufenthG)
a)
Angewiesensein auf Sozialleistungen (§ 27 Abs. 3 Satz 1 AufenthG)
§ 27 Abs. 3 AufenthG räumt der Behörde Versagungsermessen ein, wenn einer der beiden
Tatbestände dieser Norm vorliegt. Durch § 27 Abs. 3 Satz 1 AufenthG soll sichergestellt
werden, dass durch den Zuzug die Sicherung des Lebensunterhaltes für die Personen nicht in
Frage gestellt wird, denen der Unterhaltsverpflichtete, zu dem der Nachzug stattfindet, bisher
Unterhalt geleistet hat. Nach § 27 Abs. 3 Satz 2 AufenthG ist beim Vorliegen von
Ausweisungsgründen in der Person des den Nachzug Begehrenden über die Erteilung der
Aufenthaltserlaubnis nach Ermessen zu entscheiden.
Durch § 27 Abs. 3 Satz 1 AufenthG soll sichergestellt werden, dass durch den Zuzug die
Sicherung des Lebensunterhaltes für die Personen nicht in Frage gestellt wird, denen der
Stammberechtigte bisher Unterhalt geleistet hat. Dies gilt z.B. soweit beim Nachzug von
Familienangehörigen aus einer späteren Ehe die aus einer früheren Ehe
unterhaltsberechtigten Personen nicht mehr ohne Inanspruchnahme von Leistungen nach dem
SGB II oder SGB XII mit ausreichendem Unterhalt rechnen können, weil der Unterhalt
vorrangig den hinzukommenden Familienangehörigen gewährt wird.151 Selbst wenn die
Voraussetzungen eines gesetzlichen Anspruchs auf Erteilung oder Verlängerung des
Aufenthaltstitels vorliegen, kann diese danach unter den Voraussetzungen des § 27 Abs. 3
Satz 1 AufenthG im Ermessenswege versagt werden.
Die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis zum Zwecke des Nachzugs kann nach § 27 Abs. 3
Satz 1 AufenthG versagt werden, wenn gegenüber dem Stammberechtigten
unterhaltsberechtigte Personen oder Haushaltsangehörige des Stammberechtigten auf
Leistungen nach dem SGB II oder SGB XII angewiesen sind. § 27 Abs. 3 Satz 1 1. Alt.
AufenthG ist danach zu beachten, wenn ein Stammberechtigter gegenüber
Familienangehörigen z. B. aus vorheriger Ehe unterhaltsverpflichtet ist. Dabei ist die
Unterhaltsverpflichtung des ausländischen Stammberechtigten nach dem Recht seines
149
150
151
Zum atypischen Ausnahmefall OVG Berlin-Brandenburg, AuAS 2008, 171 (172 f.).
OVG Berlin-Brandenburg, InfAuslR 2007, 451.
BT-Drs. 15/420, S. 81.
45
Heimatstaates zu bestimmen.152 § 27 Abs. 3 Satz 1 AufenthG findet damit auch auf den
Nachzug zu einem deutschen Staatsangehörigen Anwendung.
Der Kreis der in Betracht kommenden Personen im Blick auf die erste Alternative erfasst
damit gegenüber dem Stammberechtigten unterhaltsverpflichtete Personen, selbst wenn diese
nicht im Haushalt des Stammberechtigten leben. Jedoch liegt in den Fällen, in denen der
aufenthaltsrechtliche Status der unterhaltsberechtigten Familienangehörigen unabhängig vom
aufenthaltsrechtlichen Status des Stammberechtigten ist, kein Ausweisungsgrund bezogen
auf den Stammberechtigten vor. Unter diesen Umständen kann der Ausweisungsgrund des
Bezugs von Leistungen nach dem SGB II oder SGB XII in seiner Funktion als
Versagungsgrund keine Anwendung finden.153 Die zweite Alternative in § 27 Abs. 3 Satz 1
AufenthG umfasst unabhängig von deren Staatsangehörigkeit oder deren familienrechtlichen
Status Haushaltsangehörige des Stammberechtigten. Es werden damit Personen in den
Anwendungsbereich der Vorschrift einbezogen, die der Stammberechtigte ungeachtet einer
gesetzlichen oder vertraglichen Verpflichtung in seinen Haushalt aufgenommen hat und
tatsächlich unterhält. Lebt danach eine deutsche oder ausländische Person im Haushalt des
deutschen oder ausländischen Stammberechtigten und bezieht Leistungen nach dem SGB II
oder SGB XII, findet Abs. 3 Satz 1 Anwendung.
Während es nach dem Gesetzeswortlaut auf das Angewiesensein auf Leistungen nach dem
SGB II oder SGB XII ankommt, soll es nach der Gesetzesbegründung wie nach bisherigem
Recht nur auf das abstrakte Bestehen eines entsprechenden Anspruchs, nicht jedoch auf die
tatsächliche Inanspruchnahme ankommen.154 Eine gesetzessystematische Betrachtung legt
jedoch nahe, den Begriff des Angewiesenseins nach § 27 Abs. 3 Satz 1 AufenthG so
auszulegen und anzuwenden, dass er nicht in Widerspruch zu dem Begriff des „Vorliegens
eines Ausweisungsgrundes“ nach § 27 Abs. 3 Satz 2 in Verb. mit § 5 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG
gerät. Während nach früherem Recht bereits dann ein Ausweisungsgrund vorlag, wenn
Unterhaltsberechtigte oder Personen im Haushalt zwar keine Sozialhilfe in Anspruch
nahmen, aber wegen - unterhalb des Regelsatzes liegenden Einkommens des
Unterhaltsverpflichteten – (eigentlich) einen Anspruch auf Leistungsbezug hatten, diesen
aber nicht geltend machten (vgl. § 46 Nr. 6 AuslG 1990), liegt nach geltendem Recht ein
Ausweisungsgrund nur noch vor, wenn diese Personen tatsächlich Leistungen in Anspruch
nehmen (vgl. § 55 Abs. 2 Nr. 6 AufenthG). Besteht nur ein entsprechender Anspruch, wird
dieser aber nicht geltend gemacht, kann mithin nach geltendem Recht keine Ausweisung
mehr verfügt werden.
Der Wortlaut von § 27 Abs. 3 Satz 1 AufenthG erscheint insoweit offen. Wer sich in seiner
Lebensführung einschränkt und ihm zustehende Ansprüche nicht geltend macht, ist für seine
konkrete Lebensführung auf diese nicht angewiesen. Angewiesen ist er auf diese Ansprüche
erst, wenn er seinen Lebensunterhalt ohne deren Inanspruchnahme nicht sicherstellen kann.
Werden darüber hinaus die gesetzessystematischen Auslegungsgrundsätze, d.h. der
Zusammenhang der beiden Sätze von § 27 Abs. 3 AufenthG , bedacht, kann Abs. 3 Satz 1
erst Anwendung finden, wenn die in dieser Vorschrift bezeichneten Personen tatsächlich
gesetzliche Leistungen in Anspruch nehmen. Zwar soll nach Nr. 55.2.6.1 VAH der
Ausweisungsgrund des § 55 Abs. 2 Nr. 6 AufenthG auch die Sozialhilfebedürftigkeit
umfassen. Es komme jedoch grundsätzlich eine Ausweisung von Ausländern, die einen
Aufenthaltstitel besitzen, wegen bloßer Sozialhilfebedürftigkeit nicht in Betracht. Die
Einbeziehung der Sozialhilfebedürftigkeit in den Ausweisungsgrund erscheint ungereimt, ist
152
153
154
BVerwG, InfAuslR 2005, 139 (142) = AuAS 2005, 62 = NVwZ 2005, 460.
BVerwG, InfAuslR 2005, 139 (142 = AuAS 2005, 62 = NVwZ 2005, 460:
BT-Drs. 15/420, S. 81; ebenso Nr. 27.3.2 und 27.3.3 VAH; Storr u.a., Kommentar zum ZuwG, S. 179.
46
jedenfalls mit dem Wortlaut von § 55 Abs. 2 Nr. 6 AufenthG nicht vereinbar. Ein
Ausweisungsgrund kommt deshalb nur bei tatsächlicher Inanspruchnahme von Leistungen
nach dem SGB II oder SGB XII in Betracht. Nur wenn gegenüber dem Stammberechtigten
unterhaltsberechtigte Personen oder Haushaltsangehörige des Stammberechtigten tatsächlich
derartige Leistungen in Anspruch nehmen, nicht aber, wenn nur ein entsprechender Anspruch
besteht, aber nicht geltend gemacht wird, kann danach § 27 Abs. 3 Satz 1 AufenthG zur
Anwendung kommen.
Nach Nr. 27.3.2 VAH sind demgegenüber die Voraussetzungen von § 27 Abs. 3 Satz 1
AufenthG erfüllt, wenn infolge des Nachzugs ein Anspruch auf Leistungen nach dem SGB II
oder SGB XII entstehen würde, darüber hinaus aber auch dann, wenn ein solcher Anspruch
bereits ohne den Nachzug besteht. Diese Betrachtung ist nicht am Gesetzeswortlaut und der
Gesetzessystematik ausgerichtet. Vielmehr legt sie dem Begriff des Angewiesenseins eine
wertende Betrachtung zugrunde. Durch den Nachzug darf keine weitere Belastung des
Sozialhilfesystems eintreten.155 Diese vom Gesetzgeber nicht erwünschte Wirkung im
konkreten Nachzugsfall darf aber nicht durch eine Überdehnung des Wortlauts erstrebt
werden. Vielmehr ist bei der Anwendung von § 27 Abs. 3 Satz 1 AufenthG eine
Prognoseentscheidung gefordert. Wenn in der Vergangenheit trotz bestehender Ansprüche
diese nicht in Anspruch genommen wurden, ist die Familie nicht auf ihr zustehende
Ansprüche angewiesen. Wird im zeitlichen Zusammenhang mit dem konkreten
Nachzugsbegehren auf den weiteren Leistungsbezug verzichtet, spricht vieles dafür, dass die
Familie auf diesen Bezug angewiesen ist und auf diesen nach der Einreise des den Nachzug
begehrenden Familienangehörigen erneut zurück greifen wird.
In der Verwaltungspraxis dürfte der dargestellte Auslegungsstreit häufig im Sinne der
engeren Auffassung gelöst werden. Bestehen gegen den ausländischen Stammberechtigten
Unterhaltsansprüche von Familienangehörigen aus früherer Ehe oder von
Haushaltsangehörigen, wird die Ausländerbehörde bereits dann ihre Zustimmung (§ 31
AufenthV) versagen, wenn aufgrund dessen aus ihrer Sicht der Lebensunterhalt nicht
gesichert ist. Da der Nachzug zu Deutschen abweichend von § 5 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG
gewährt wird (§ 28 Abs. 1 1. Hs. AufenthG), darf der Nachzug zu Deutschen nicht von
bestehenden,
aber
nicht
durchgesetzten
Leistungsansprüchen
ausländischer
Familienangehöriger des Deutschen oder dessen Haushaltsangehörigen abhängig gemacht
werden (ebenso Nr. 27.3.7 VAH). Dies gilt ebenso in den anderen Fällen, in denen die
Anwendung von § 5 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG ausgeschlossen ist, also in den Fällen nach § 29
Abs. 2 und 4, § 33 und § 34 Abs. 1, auch in Verbindung mit § 36 AufenthG (Nr. 27.3.7
VAH, s. auch Nr. 55.2.6.3.1 VAH).
Die Ausländerbehörde hat nach § 27 Abs. 3 Satz 1 AufenthG zunächst die öffentlichen
Belange und das Gewicht der individuellen Interessen zu identifizieren und eine umfassende
Interessenabwägung insbesondere auch unter Berücksichtigung der in § 55 Abs. 3 und § 56
AufenthG genannten Gesichtspunkte mit Bezug auf den nachziehenden Ausländer zu
berücksichtigen (Nr. 27.3.9 VAH) vorzunehmen. Dabei hat sie insbesondere auf die Folgen
Bedacht zu nehmen, die zu Lasten von Dritten entstehen können, die der Stammberechtigte
in Erfüllung einer moralischen, nicht aber aufgrund einer gesetzlichen oder vertraglichen
Verpflichtung in seinen Haushalt aufgenommen hat. Sie muss in ihr Ermessen einbeziehen,
dass der Stammberechtigte die Haushaltsangehörigen zur Abwendung einer negativen
Entscheidung nicht weiter in seinem Haushalt belassen könnte und diese damit zusätzlich
öffentliche Kosten in Anspruch nehmen müssten.
155
Hailbronner, AuslR, A 1, § 27 AufenthG Rdn. 70.
47
b)
Vorliegen eines Ausweisungsgrundes (§ 27 Abs. 3 Satz 2 AufenthG)
Nach § 27 Abs. 3 Satz 2 AufenthG kann vom Vorliegen eines Ausweisungsgrundes (§ 5 Abs.
1 Nr. 2 AufenthG) abgesehen werden. Zunächst ist danach zu prüfen, ob in der Person des
den Nachzug begehrenden Familienangehörigen ein Ausweisungsgrund erfüllt ist. Liegt ein
Ausweisungsgrund vor, ist sowohl in den Anspruchs- wie auch in den Ermessensfällen über
den Nachzug nach Ermessen zu entscheiden (§ 27 Abs. 3 Satz 2 AufenthG). § 27 Abs. 3 Satz
2 AufenthG ist gegenüber der generellen Norm des § 5 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG Spezialnorm.
Ein Rückgriff auf die generelle Norm ist deshalb bei der Anwendung der
Nachzugsregelungen nicht zulässig. Vielmehr ist in allen Nachzugsfällen bei Vorliegen eines
Ausweisungsgrundes nach behördlichem Ermessen über die Erteilung und Verlängerung des
Aufenthaltstitels zu entscheiden. Da § 28 Abs. 1 1. Hs AufenthG nur von der Anwendung des
§ 5 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG, nicht aber von den Voraussetzungen des § 5 Abs. 1 Nr. 2
AufenthG befreit, ist der Versagungsgrund auch auf den ausländischen Familienangehörigen
anzuwenden, der zu einem deutschen Staatsangehörigen den Nachzug begehrt. Dies
entspricht der früheren Gesetzeslage.
Nach ständiger Rechtsprechung kommt es nicht darauf an, ob die Ausweisung im Einzelfall
fehlerfrei verfügt werden könnte oder ob die Ausländerbehörde die Erfüllung des
Ausweisungstatbestandes zum Anlass einer Ausweisung oder einer Verwarnung genommen
hat. Vielmehr reicht das bloße Vorliegen eines Ausweisungsgrundes für die Anwendung von
§ 27 Abs. 3 Satz 2 in Verb. mit § 5 Nr. 2 AufenthG aus. 156 Eine hypothetische
Ausweisungsprüfung entfällt damit. Jedoch ist den ausweisungsrechtlichen Schutznormen
bei der Ermessensausübung nach § 27 Abs. 3 Satz 2 AufenthG Rechnung zu tragen. Hat die
Auslandsvertretung in Kenntnis des Ausweisungsgrundes ein Visum zum Zwecke der
Familienzusammenführung erteilt, darf die Ausländerbehörde bei ihrer Entscheidung über
die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach der Einreise § 27 Abs. 3 Satz 2 AufenthG nicht
mehr anwenden.157
Zwar reicht für die Anwendung von § 5 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG grundsätzlich die Erfüllung
eines Ausweisungstatbestandes aus. Der Ausweisungsgrund darf indes nicht verbraucht
sein.158 In der überwiegenden Mehrzahl der Fälle wird § 27 Abs. 3 Satz 2 AufenthG bei der
Verlängerungsentscheidung relevant, weil vor der Einreise kaum Ausweisungstatbestände
vom nachziehenden Familienangehörigen erfüllt werden können. Der nachziehende
Angehörige kann sich indes vor seiner jetzt begehrten Einreise bereits im Bundesgebiet
aufgehalten haben und während dieses Aufenthaltes einen Ausweisungstatbestand erfüllt
haben. Wurde er ausgewiesen und hat er vor der Visumbeantragung die Aufhebung der
Sperrwirkung der Ausweisung beantragt und die zuständige Ausländerbehörde diese
antragsgemäß aufgehoben, ist der Rechtsversagungsgrund nach § 11Abs. 1 Satz 2 AufenthG
beseitigt. § 27 Abs. 3 Satz 2 AufenthG kommt gar nicht erst zur Anwendung, weil § 11 Abs.
1 Satz 2 AufenthG gegenüber § 27 Abs. 3 Satz 2 AufenthG lex spezialis ist. Es kann aber
sein, dass zwar während des früheren Aufenthaltes ein Ausweisungsgrund erfüllt wurde, die
Ausländerbehörde indes hieraus keine ausweisungsrechtlichen Konsequenzen gezogen hat.
156
BVerwG, Buchholz 402.24 § 24 AuslG 1990 Nr. 2; BVerwGE 116, 378 (385) = EZAR 024 Nr. 12 =
InfAuslR 2003, 50 = NVwZ 2003, 217; BVerwG, AuAS 2005, 62 (63); VGH BW, EZAR 017 Nr. 3 = DÖV
1992, 539:
157
VGH BW, NVwZ-RR 1997, 750, unter Verweis auf VGH BW, InfAuslR 1997, 111 (113).
158
Hess.VGH, EZAR 030 Nr. 5; VGH BW, InfAuslR 1993, 55 (57 ff.); VGH BW, InfAuslR 1997, 111
(113).
48
Für diese Fälle kommt dem Einwand des verbrauchten Ausweisungsgrundes maßgebende
Bedeutung zu.
Zwar begründet eine Verlängerung des Aufenthaltstitels trotz Vorliegens eines
Ausweisungsgrundes
im
Allgemeinen
kein
schutzwürdiges
Vertrauen.
Der
Ausweisungsgrund muss jedoch noch aktuell vorliegen, darf also nicht verbraucht sein.
Längere Zeit zurückliegende, abgeschlossene Ausweisungsgründe vermögen die Ablehnung
des Aufenthaltstitels nach § 27 Abs. 3 Satz 2 AufenthG nicht zu tragen, wenn es die
Ausländerbehörde trotz Kenntnis aller maßgeblichen Umstände unterlässt, den Aufenthalt
des Familienangehörigen zu beenden, insbesondere, wenn sie diesem in Kenntnis dieser
Umstände einen Aufenthaltstitel erteilt oder verlängert.159 Hat die Behörde etwa bei einem
Ausländer, der nach Art. 3 Abs. 3 ENA besonderen Ausweisungsschutz genießt, auf die
Ausweisung verzichtet, kann sie sich nicht auf § 5 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG berufen. Eine
zeitlich unbegrenzte Berücksichtigung des Ausweisungsgrundes würde zu einem
unauflösbaren Wertungskonflikt mit § 11 Abs. 1 Satz 2 AufenthG führen. Da nach dieser
Vorschrift die Ausweisung regelmäßig befristet wird, würde die auf das bloße Vorliegen
eines Ausweisungstatbestandes gestützte Versagung der Erteilung oder Verlängerung eines
Aufenthaltstitels weitergehende Folgen für den den Nachzug begehrenden
Familienangehörigen haben als die Ausweisung. Dies wäre mit dem Schutzgedanken des Art.
6 Abs. 1 und 2 GG schwerlich vereinbar.160
Bei der behördlichen Ermessensausübung ist das durch die Verwirklichung des
Ausweisungstatbestandes hervorgerufene öffentliche Interesse an einer Aufenthaltsversagung
mit dem individuellen, grundrechtlich geschützten Interesse des den Nachzug begehrenden
Angehörigen in Verbindung mit dem ebenfalls grundrechtlich geschützten Interesse des
Stammberechtigten abzuwägen. Die Behörde hat hierbei das besondere Gewicht, das Ehe
und Familie verfassungsrechtlich (Art. 6 Abs. 1 GG) wie auch konventionsrechtlich (Art. 8
Abs. 1 EMRK, Art. 23 IPbpR) beizumessen ist, zu beachten, und die Folgen der Versagung
des Aufenthaltes für den Nachziehenden, insbesondere aber für seine von ihm abhängigen
Familienangehörigen in die Ermessensabwägung einzustellen.161 Die Behörde hat bei der
Ermessensausübung insbesondere Fortschritte in der Heilung einer Psychose des
Familienangehörigen und in der Drogentherapie zu berücksichtigen. Diese vermindern die
Gefahr für die Allgemeinheit und sind geeignet, aufgrund einer Abwägung nach Maßgabe
des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit insbesondere in Verbindung mit der
Wiederherstellung der Ehe- und Familiengemeinschaft zu begründen.162
Die Behörde hat insbesondere die Frage der Zumutbarkeit der Herstellung der
Familieneinheit im Herkunftsland des Familienangehörigen zu beachten. Im Blick auf im
Bundesgebiet lebende deutsche Familienmitglieder ist dabei grundsätzlich das Ermessen
reduziert. Dies gilt auch für stammberechtigte Ausländer mit verfestigtem Aufenthaltsstatus.
Im Rahmen der Ermessensabwägung sind die Interessen der stammberechtigten
Familienangehörigen nicht erst zu berücksichtigen, wenn die Voraussetzungen des § 56
AufenthG erfüllt sind. In diesem Fall dürfte das Ermessen in aller Regel reduziert sein.
Vielmehr sprechen verfassungs- und völkerrechtliche Gründe dafür, bei stammberechtigten
Deutschen und stammberechtigten Ausländern mit verfestigtem Aufenthaltsstatus
grundsätzlich das nach § 27 Abs. 3 Satz 2 AufenthG eröffnete Ermessen zugunsten der den
Nachzug begehrenden Angehörigen auszuüben.
159
160
161
162
Hess.VGH, EZAR 030 Nr. 5; VGH BW, InfAuslR 1993, 55 (57 ff.).
Ähnlich VGH BW, InfAuslR 1993, 55 (57 ff.).
VGH BW, InfAuslR 1993, 55 (57 ff.).
BVerwG, InfAuslR 1997, 240 (242) = NVwZ-RR 1997, 567.
49
Zwar reicht grundsätzlich das bloße Vorliegen eines Ausweisungsgrundes für die Anwendung
von § 27 Abs. 3 Satz 2 AufenthG aus. Eine erhebliche Korrektur der tatbestandlichen
Voraussetzungen des Ermessens hat jedoch auf der Rechtsfolgenseite zu erfolgen. Danach ist
bei Rechtsansprüchen das Versagungsermessen unter Berücksichtigung der besonderen
aufenthaltsrechtlichen Stellung des den Nachzug begehrenden Ausländers auszuüben und
sind deshalb die für die Aufenthaltsbeendigung maßgebenden Schutzwirkungen auch bei der
Ausübung des Versagungsermessens nach § 27 Abs. 3 Satz 2 AufenthG zu
berücksichtigen.163 Die für die Aufenthaltsbeendigung maßgebenden Schutznormen enthält
nicht nur § 56 AufenthG, sondern insbesondere auch Art. 8 EMRK und Art. 3 Abs. 3 ENA.
Dadurch werden öffentliche Interessen nicht in unzulässiger Weise eingeschränkt. Wenn die
Behörde eine Gefahr für die Allgemeinheit erkennt, muss sie den Weg über die Ausweisung
gehen. Es ist ihr grundsätzlich verwehrt, die besonderen Schutzwirkungen des § 56 AufenthG
und anderer verfassungs- und völkerrechtlicher Normen dadurch zu unterlaufen, dass sie
anstelle einer Ausweisung die Verlängerung des Aufenthaltstitels ablehnt. Zwar kommt es
nach § 27 Abs. 3 Satz 2 AufenthG nur auf das bloße Vorliegen eines Ausweisungsgrundes
an. Greifen jedoch besondere ausweisungsrechtliche Schutznormen ein, ist ein
Wertungswiderspruch von Art. 3 Satz 2 in Verb. mit § 5 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG mit § 56
AufenthG dadurch zu vermeiden, dass bei der Ermessensausübung diese Schutznormen
zwingend zu berücksichtigen sind.
II.
Ehegattennachzug zu ausländischen Stammberechtigten (§ 30 AufenthG)
Der Gesetzgeber hält an der früher maßgeblichen Unterscheidung zwischen dem
Ehegattennachzug zu Angehörigen der ersten Generation (§ 18 Abs. 1 Nr. 1, 3 AuslG 1990)
einerseits und zu Angehörigen der zweiten Generation (§ 18 Abs. 1 Nr. 4 AuslG 1990)
andererseits nicht mehr fest, weil diese sich historisch überholt haben dürfte. Der
Rechtsanspruch nach § 30 Abs. 1 AufenthG greift nur durch, wenn sämtliche allgemeinen
Nachzugsvoraussetzungen vorliegen. Zugunsten der Ehegatten von Asylberechtigten und
Flüchtlingen werden von diesem Grundsatz allerdings Ausnahmen zugelassen. Ein
Rechtsanspruch auf Ehegattennachzug besteht, wenn
1.
2.
3.
beide Ehegatten das 18. Lebensjahr vollendet haben,
der Ehegatte sich zumindest auf einfache Art in deutscher Sprache verständigen
kann und
der hier lebende stammberechtigte Ausländer
a)
eine Niederlassungserlaubnis,
b)
eine Erlaubnis zum Daueraufenthalt-EG,
c)
eine Aufenthaltserlaubnis nach § 20 oder § 25 Abs. 1 oder Abs. 2
AufenthG besitzt,
d)
seit zwei Jahren eine Aufenthaltserlaubnis besitzt und diese nicht mit
einer Nebenbestimmung nach § 8 Abs. 2 AufenthG versehen oder die
spätere Erteilung einer Niederlassungserlaubnis ausgeschlossen ist.
163
BVerwGE 116, 378 (385 f.) = EZAR 024 Nr. 12 = InfAuslR 2003, 50 = NVwZ 2003, 217; VGH BW,
InfAuslR 1993, 55 (56 ff.).
50
e)
f)
eine Aufenthaltserlaubnis besitzt, die Ehe bei deren Erteilung bereits
bestand und die Dauer des Aufenthalts voraussichtlich über ein Jahr
betragen wird oder
eine Aufenthaltserlaubnis nach § 38a AufenthG besitzt und die eheliche
Lebensgemeinschaft bereits in dem Mitgliedstaat bestand, in dem der
stammberechtigte Ehegatte die Rechtsstellung eines langfristig
Aufenthaltsberechtigten innehat.
Die Altergrenze wie das Spracherfordernis164 entfallen, wenn der stammberechtigte Ehegatte
eine Aufenthaltserlaubnis nach § 19 bis § 21 AufenthG besitzt und die Ehe bereits in dem
Zeitpunkt bestand, in dem er seinen Lebensmittelpunkt in das Bundesgebiet verlegt hat (1.
Fall), der Stammberechtigte unmittelbar vor der Erteilung einer Niederlassungserlaubnis,
einer Erlaubnis zum Daueraufenhalt-EG oder Inhaber einer Aufenthaltserlaubnis nach § 20
AufenthG war (2. Fall) oder eine Aufenthaltserlaubnis nach § 38a AufenthG besitzt (§ 30
Abs. 1 Satz 2 AufenthG).
Das Spracherfordernis entfällt ferner, wenn der Stammberechtigte Asylberechtigter oder
Flüchtling ist und eine Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 1 oder 2 AufenthG oder eine
Niederlassungserlaubnis nach § 26 Abs. 3 AufenthG besitzt und die Ehe bereits bestand, als
der Stammberechtigte seinen Lebensmittelpunkt in das Bundesgebiet verlegt hat (§ 30 Abs. 1
Satz 3 Nr. 1 AufenthG). Ferner entfällt das Spracherfordernis, wenn der Ehegatte wegen einer
körperlichen, geistigen oder seelischen Krankheit oder Behinderung nicht in der Lage ist,
einfache Kenntnisse der deutschen Sprache nachzuweisen, bei dem nachziehenden Ehegatten
ein erkennbar geringer Integrationsbedarf besteht oder dieser aus anderen Gründen nach der
Einreise keinen Anspruch nach § 44 AufenthG auf Teilnahme am Integrationskurs hätte oder
der stammberechtigte Ehegatte wegen seiner Staatsangehörigkeit auch für einen längeren
Aufenthalt visumfrei in das Bundesgebiet einreisen darf (§ 30 Abs. 1 Satz 3 Nr. 3 und 4
AufenthG).
Bei der letzten Fallgruppe handelt es sich um stammberechtigte Ehegatten aus Mitgliedstaaten
der EU und aus den EWR-Staaten (§ 12 FreizügG/EU), aus der Schweiz, aus Australien,
Israel, Japan, Kanada, Südkorea, Neuseeland und Vereinigte Staaten (§ 41 Abs. 1 AufenthV)
sowie aus Andorra, Honduras, Monaco und San Marino (§ 41 Abs. 2 AufenthV). Der
nachziehende Ehegatte muss nicht die Staatsangehörigkeit des stammberechtigten Ehegatten
besitzen. In allen Ausnahmefällen muss allerdings der Altergrenze genügt werden, sofern
nicht besondere Härtegründe geltend gemacht werden (§ 30 Abs. 2 AufenthG). Im Blick auf
Flüchtlinge ist dies mit Art. 12 RL 2003/86/EG unvereinbar.
Art. 7 Abs. 2 RL 2003/86/EG (Familienzusammenführungsrichtlinie) eröffnet den
Mitgliedstaaten die Möglichkeit, nach ihrem nationalen Recht zu regeln, dass nachziehende
Ehegatten Integrationsmaßnahmen nachkommen müssen. Danach handelt es sich bei dieser
gemeinschaftsrechtlichen Norm um eine Freistellungsklausel, welche abweichend von
allgemeinen Regeln der Richtlinie den Mitgliedstaaten für ihr nationales Recht weitergehende
Befugnisse einräumt. Da es sich um Ausnahmen von allgemeinen Grundsätzen handelt, sind
diese restriktiv auszulegen. Art. 7 Abs. 2 RL 2003/896/EG lässt darüber hinaus nur allgemein
die Forderung nach zu erbringenden Integrationsleistungen zu, ist jedoch keine
Rechtsgrundlage dafür, diese als Einreisevoraussetzung zu gestalten. Vielmehr steht die
gebotene restriktive Auslegung der Freistellungsklausel einer Gestaltung des
Integrationserfordernisses als Einreisevoraussetzung eher entgegen.
164
Zu den Ausnahmen vom Spracherfordernis Weh, InfAuslR 2008, 381.
51
Es ist indes nicht nur eine Gemeinschaftsrechtswidrigkeit der deutschen Vorschriften über den
Ehegattennachzug zu besorgen, sondern darüber hinaus dürften in einer Vielzahl von Fällen
verfassungswidrige Folgen eintreten. Bereits jetzt kann prognostiziert werden, dass angesichts
der fehlenden strukturellen Voraussetzungen zum Erlernen auch lediglich einfacher deutscher
Sprachkenntnisse in den Herkunftsländern der Migranten in vielen Fällen der
Ehegattennachzug dauerhaft scheitern wird. Dieses Ergebnis wäre indes mit Art. 6 Abs. 1 und
2 GG unvereinbar. Art. 6 Abs. 1 GG enthält außer einer Institutsgarantie ein Grundrecht auf
Schutz vor staatlichen Eingriffen sowie eine wertentscheidende Grundsatznorm für das
gesamte Ehe und Familie betreffende Recht und verpflichtet den Staat, die Einheit und
Selbstverantwortung der Familie zu achten und zu fördern.165
Das BVerfG hat in seiner grundlegenden Entscheidung zum Familiennachzug das Recht der
Familienangehörigen auf Familienzusammenführung ausdrücklich aus Art. 6 Abs. 1 und 2
Satz 1 GG abgeleitet. Der Hinweis auf die Möglichkeit der Herstellung der Familieneinheit
im Herkunftsland des den Nachzug begehrenden Angehörigen bedeute, dass der hier lebende
Angehörige „sich aus den deutschen Lebensverhältnissen, etwa einer erreichten
wirtschaftlichen und sozialen Stellung sowie möglichen persönlichen Bindungen“ lösen
müsste. In rechtlicher Hinsicht habe ein derartiger Einwand zur Folge, dass ein bestehendes
Aufenthaltsrecht endgültig erloschen wäre. Ein den Familienangehörigen derart auferlegter
Zwang, für geraume Zeit eine räumliche Trennung von ihren Angehörigen hinzunehmen oder
ein bestehendes Aufenthaltsrecht endgültig aufzugeben, sei geeignet, Ehe- und Familienleben
zu beeinträchtigen und müsse sich daher an Art. 6 Abs. 1 GG messen lassen.166
Zwar habe der Gesetzgeber bei der Regelung dieser Frage einen weitreichenden
Handlungsspielraum. Eine Regelung etwa, die einem begrenzten Personenkreis für
„geraume, aber überschaubare Zeit“ die Verwirklichung des Wunsches auf familiäres
Zusammenleben im Bundesgebiet verwehre, „ohne ein solches Zusammenleben schlechthin
zu hindern“, vermöge die prägenden Elemente des Art. 6 Abs. 1 und 2 Satz 1 GG zugrunde
liegenden Bildes von Ehe und Familie jedoch nicht in Frage zu stellen.167 Daraus kann
geschlossen werden, dass der dauerhafte Ausschluss des Familiennachzugs zu Deutschen wie
zu Personen mit gesichertem Aufenthaltsrecht im Bundesgebiet verfassungsrechtlich kaum
gerechtfertigt werden kann.168
III.
Ehegattennachzug zu deutschen Staatsangehörigen (§ 28 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1
AufenthG)
Nach § 28 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AufenthG ist zum Zwecke der Herstellung und Wahrung der
ehelichen Lebensgemeinschaft (§ 27 Abs. 1 AufenthG) dem ausländischen Ehegatten eines
Deutschen eine Aufenthaltserlaubnis zu erteilen. Das Unterhaltserfordernis des § 5 Abs. 1
Nr. 1 AufenthG findet in den Fällen des § 28 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 und 3 AufenthG keine
Anwendung. In den Fällen des Ehegattennachzugs nach § 28 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AufenthG
soll die Aufenthaltserlaubnis abweichend vom Unterhaltserfordernis erteilt werden. Hingegen
kann dem nichtsorgeberechtigten Elternteil eines minderjährigen ledigen Deutschen die
165
BVerwGE 65, 188 <192> = EZAR 105 Nr. 11 = InfAuslR 1982, 122.
BVerfGE 76, 1 <42 f.> = NVwZ 1988, 242 = EZAR 105 Nr. 20 = InfAuslR 1988, 33 = EuGRZ 1987, 449.
167
BVerfGE 76, 1 <49> = NVwZ 1988, 242 = EZAR 105 Nr. 20 = InfAuslR 1988, 33 = EuGRZ 1987,449;
so auch Pirson, NVwZ 1985, 321 <323>; a. A. noch BVerwG, BVerwGE 70, 127 <138> = InfAuslR 1984, 297
= EZAR 105 Nr. 15 = NVwZ 1984, 799; BVerwG, InfAuslR 1984, 304 (305); BVerwG, InfAuslR 1986, 133.
168
Keine Bedenken VG Berlin, AuAS 2007, 50;
166
52
Aufenthaltserlaubnis abweichend vom Unterhaltserfordernis erteilt werden, wenn die
familiäre Gemeinschaft bereits im Bundesgebiet gelebt wird (§ 28 Abs. 1 Satz 2 AufenthG).
Der deutsche Staatsangehörige wie der nachziehende Ehegatte müssen im Zeitpunkt der
Entscheidung über den Antrag das 18. Lebensjahr vollendet haben. Der nachziehende
Ehegatte muss sich zumindest auf einfache Art in deutscher Sprache verständigen können (§
28 Abs. 1 Satz 4 in Verb. mit § 30 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 und 2 AufenthG). Die Ausnahmen vom
Spracherfordernis nach § 30 Abs. 1 Satz 3 AufenthG finden Anwendung. Zur Vermeidung
einer besonderen Härte kann der Ehegattennachzug auch abweichend von der Altergrenze
zugelassen werden (§ 28 Abs. 1 Satz 4 in Verb. mit § 30 Abs. 2 Satz 1 AufenthG). Der
Versagungsgrund nach § 5 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG ist zu beachten. Das Vorliegen eines
objektiven Ausweisungsgrundes hindert danach den Ehegattennachzug.
Das Erfordernis des § 30 Abs. 1 Nr. 3 AufenthG wird durch die Voraussetzung des
„gewöhnlichen Aufenthaltes“ des Deutschen (§ 28 Abs. 1 1. Hs. AufenthG) ersetzt. Der
deutsche Staatsangehörige muss daher einen auf Dauer angelegten Aufenthalt im Inland
begründet haben. Maßgebend sind die tatsächlichen Verhältnisse. Kurzfristige Urlaubs- oder
Geschäftsreisen sind unschädlich. Verlegt der deutsche Ehegatte nach Erteilung der
Aufenthaltserlaubnis für längere Zeit seinen Aufenthalt ins Ausland, kann dies den Bestand
der Aufenthaltserlaubnis des ausländischen Ehegatten berühren. Jedenfalls im Zeitpunkt der
Verlängerung des Aufenthaltstitels ist der gewöhnliche Aufenthalt des Deutschen im
Bundesgebiet glaubhaft zu machen (vgl. § 8 Abs. 1 AufenthG). Auf ein nach
Gemeinschaftsrecht unschädliches Getrenntleben kann sich der ausländische Ehegatte nur
dann berufen, wenn der deutsche Ehegatte von seinem Freizügigkeitsrecht Gebrauch gemacht
hat und anschließend mit dem Ehegatten zurückkehrt.169 Zwar findet § 5 Abs. 1 Nr. 2
AufenthG Anwendung.
Die Aufenthaltserlaubnis wird verlängert, solange die eheliche Lebensgemeinschaft
fortbesteht (§ 28 Abs. 2 Satz 2 AufenthG). Die Aufenthaltserlaubnis berechtigt kraft Gesetzes
zur Ausübung einer Erwerbstätigkeit (§ 28 Abs. 4 AufenthG). Es handelt sich damit um
einen Fall nach § 4 Abs. 2 Satz 1 1. Alt. AufenthG). Dem Angehörigen ist in der Regel nach
Ablauf von drei Jahren Besitz der Aufenthaltserlaubnis eine Niederlassungserlaubnis zu
erteilen, wenn die familiäre Lebensgemeinschaft fortbesteht, kein Ausweisungsgrund vorliegt
und er sich auf einfache Art in deutscher Sprache verständigen kann (§ 28 Abs. 2 Satz 1
AufenthG).
IV.
Familiennachzug zu Asylberechtigten und Flüchtlingen (§ 29 Abs. 2 AufenthG)
Beim Nachzug von Ehegatten und minderjährigen ledigen Kindern eines stammberechtigten
Asylberechtigten oder Flüchtlinge, der im Besitz der Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 1
oder Abs. 2 AufenthG oder einer Niederlassungserlaubnis nach § 26 Abs. 3 AufenthG ist,
kann vom Unterhalts- und Wohnraumerfordernis abgesehen werden (§ 29 Abs. 2 Satz 1
AufenthG). Von diesen Erfordernissen ist abzusehen, wenn der Antrag des Nachziehenden
auf Erteilung der Aufenthaltserlaubnis innerhalb von drei Monaten nach unanfechtbarer
Statusgewährung gestellt wird und die Herstellung der Lebensgemeinschaft in einem Staat,
der nicht Mitgliedstaat der EU ist und zu dem der stammberechtigte Asylberechtigte oder
Flüchtling oder deren Angehörige eine besondere Bindung haben, nicht möglich ist (§ 29
169
EuGH, EZAR 814 Nr. 3.
53
Abs. 2 Satz 2 AufenthG). Daneben bleibt die Ermessensregelung des § 29 Abs. 2 Satz 1
AufenthG bestehen.
§ 29 Abs. 2 Satz 2 AufenthG setzt Art. 9 bis 12 der Richtlinie 2003/86/EG um und macht
insbesondere von den einschränkenden Möglichkeiten des Art. 12 Abs. 1 Unterabs. 2 und 3
RL 2003/86/EG Gebrauch. Liegen die Voraussetzungen des § 29 Abs. 2 Satz 2 AufenthG
nicht vor, wird damit der Familiennachzug nicht ausgeschlossen. Vielmehr bleibt es in
diesem Fall bei der Ermessensregelung des § 29 Abs. 2 Satz 1 AufenthG. Nach (§ 29 Abs. 2
Satz 2 Nr. 1 AufenthG beginnt die Drei-Monats-Frist mit dem Eintritt der Unanfechtbarkeit.
Es kommt auf den Zeitpunkt der Kenntnisnahme des Eintritts der Unanfechtbarkeit an.
Maßgebend ist insoweit der Zeitpunkt der Zustellung der entsprechenden
Bestandskraftmitteilung durch das Bundesamt an den Stammberechtigten oder dessen
Verfahrensbevollmächtigten.
Die besonderen Bindungen im Sinne des § 29 Abs. 2 Satz 2 Nr. 2 AufenthG müssen dazu
führen, dass dem Stammberechtigten in dem Drittstaat der dauerhafte Aufenthalt und damit
dort eine Herstellung und Wahrung der familiären Lebensgemeinschaft ermöglicht werden
wird. Dies dürfte in aller Regel nur in Betracht kommen, wenn der Ehegatte und die
gemeinsamen Kinder die Staatsangehörigkeit des Drittstaates besitzen und nach dessen
innerstaatlichem Recht dem Stammberechtigten deshalb dort ein dauerhaftes
Zusammenleben mit seinen Familienangehörigen möglich. Wird diese Möglichkeit nicht
eingeräumt, kann nicht von besonderen Bindungen im Sinne des § 29 Abs. 2 Satz 2 Nr. 2
AufenthG ausgegangen werden.
V.
Familiennachzug zu subsidiär Schutzberechtigten (§ 29 Abs. 3 Satz 1 AufenthG)
Nach § 29 Abs. 3 Satz 1 AufenthG darf dem Ehegatten und dem minderjährigen ledigen
Kind eines Stammberechtigten, der eine Aufenthaltserlaubnis nach § 22, § 23 Abs. 1 oder §
25 Abs. 3 AufenthG besitzt, nur aus völkerrechtlichen oder humanitären Gründen oder zur
Wahrung politischer Interessen der Bundesrepublik erteilt werden. Der Begriff der
humanitären Gründe ist ein unbestimmter Rechtsbegriff und damit der vollen inhaltlichen
gerichtlichen Kontrolle in rechtlicher und tatsächlicher Hinsicht zugänglich. Liegen
humanitäre Gründe vor, wird über den Nachzug nach Ermessen entschieden. In aller Regel
dürfte durch die Bejahung humanitärer Gründe das Ermessen reduziert sein. Ist der
stammberechtigte Angehörige nach § 26 Abs. 4 AufenthG in den Besitz der
Niederlassungserlaubnis gelangt, hat er einen Rechtsanspruch auf Nachzug des Ehepartners
(vgl. § 30 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3a AufenthG).
Hinsichtlich der subsidiär Schutzberechtigten muss § 29 Abs. 3 Satz 1 AufenthG im Lichte
der Art. 23 Abs. 1, 2 und Art. 24 Abs. 2 RL 2004/83/EG ausgelegt und angewendet werden.
Danach wird Familienangehörigen subsidiär Schutzberechtigter eine Aufenthaltserlaubnis
erteilt (Art. 23 Abs. 2 Unterabs. 1 in Verb. mit Art. 24 Abs. 2 RL 2004/83/EG). Allerdings
können die Mitgliedstaaten nach Art. 23 Abs. 2 2. Unterabs. RL 2004/83/EG die
Bedingungen festlegen, unter denen Familienangehöriger subsidiär Schutzberechtigter eine
Aufenthaltserlaubnis erteilt wird. Da es sich insoweit um eine Freistellungsklausel handelt,
ist diese eng auszulegen. Darüber hinaus dürfen die Bedingungen nicht so gestaltet werden,
dass der Familiennachzug ausgeschlossen wird. Daraus wird ein Rechtsanspruch auf
Erteilung der Aufenthaltserlaubnis abgeleitet.170 Bereits die Erfüllung der allgemeinen
Nachzugsvoraussetzungen stellt für die Stammberechtigten eine hohe Hürde dar. Keinesfalls
170
VG Frankfurt am Main, NVwZ-RR 634 (635).
54
darf der Begriff der humanitären Gründe so ausgelegt und angewendet werden, dass der
Familiennachzug im Ergebnis über eine nicht lediglich vorübergehende Frist hinaus
ausgeschlossen wird.
VI.
Erteilung und Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis
Nach § 27 Abs.4 Satz 1 AufenthG darf die Geltungsdauer der einem Familienangehörigen
erteilten Aufenthaltserlaubnis nicht die Geltungsdauer der Aufenthaltserlaubnis des
stammberechtigten Ausländers überschreiten. Diese Regelung soll offensichtlich
gewährleisten, dass die Vorschrift über das eigenständige Aufenthaltsrecht nicht unterlaufen
wird. Sie ist für den Zeitraum der Geltungsdauer der Aufenthaltserlaubnis des
Stammberechtigten zu erteilen, wenn dieser eine Aufenthaltserlaubnis nach § 20 oder § 38a
AufenthG besitzt (§ 27 Abs. 4 Satz 2 AufenthG). Allerdings ist die Beifügung der
auflösenden Bedingung „erlischt bei Nichtmehrbestehen der ehelichen Lebensgemeinschaft“
nicht eindeutig bestimmbar und nimmt unzulässig bei einem Nichtbestehen der
Lebensgemeinschaft die dann zu treffende Ermessensentscheidung vorweg und führt darüber
hinaus in unzulässiger Weise zur Unterbrechung des für § 31 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AufenthG
geforderten ununterbrochenen rechtmäßigen Aufenthaltes.171
Die Aufenthaltserlaubnis darf nicht länger gelten als der Pass oder Passersatz des
nachziehenden Familienangehörigen (§ 27 Abs. 4 Satz 3 AufenthG). Sie ist erstmals
mindestens für ein Jahr zu erteilen (§ 27 Abs. 4 Satz 4 AufenthG) und wird anschließend
regelmäßig um jeweils zwei Jahre verlängert. Die Aufenthaltserlaubnis kann abweichend
vom Wohnraumerfordernis (§ 30 Abs. 3 i.V.m. § 29 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG) und vom
Unterhaltserfordernis (§ 30 Abs. 3 i.V.m. § 5 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG) verlängert werden. Der
nach Art. 6 Abs. 1 GG gebotene Schutz von Ehe und Familie ist bei der
Ermessensentscheidung
zu
berücksichtigen.
Wurde
bei
der
erstmaligen
Ermessensentscheidung eine Ausnahme vom Unterhaltserfordernis zugelassen, so bleibt die
Behörde hieran regelmäßig bei unveränderter oder im Wesentlichen gleicher Sachlage bei der
Verlängerungsentscheidung gebunden. Nach Aufhebung der ehelichen Lebensgemeinschaft
regelt § 31 Abs. 3 AufenthG die Erteilung der Niederlassungserlaubnis.
Die dem Angehörigen erteilte Aufenthaltserlaubnis berechtigt so weit zur Ausübung einer
Erwerbstätigkeit berechtigt, wie der Stammberechtigte zur Ausübung einer Erwerbstätigkeit
berechtigt ist (§ 29 Abs. 5 Nr. 1 AufenthG). Die akzessorische Beschäftigungserlaubnis
schließt danach auch die Erlaubnis zur selbständigen Erwerbstätigkeit ein, sofern der hier
lebende Ehegatte eine entsprechende Erlaubnis besitzt. Im Übrigen berechtigt die
Aufenthaltserlaubnis zur Ausübung einer Erwerbstätigkeit, wenn die eheliche
Lebensgemeinschaft seit mindestens zwei Jahren rechtmäßig im Bundesgebiet bestanden hat
und die Aufenthaltserlaubnis des Stammberechtigten nicht mit einer Nebenbestimmung nach
§ 8 Abs. 2 AufenthG versehen ist.
VII.
Eigenständiges Aufenthaltsrecht des Ehegatten (§ 31 AufenthG)
1.
Allgemeine Grundsätze
171
VG Augsburg, InfAuslR 2006, 11 (13 f.).
55
Eine eigenständige Verlängerung der akzessorischen Aufenthaltserlaubnis des Ehegatten
kommt nur nach § 31 AufenthG in Betracht. Ansonsten ist die Verlängerung der
Aufenthaltserlaubnis an die auch für die Ersterteilung der Aufenthaltserlaubnis geltenden
Kriterien gebunden (§ 8 Abs. 1 AufenthG). Bei der Verlängerungsentscheidung darf die
Behörde daher grundsätzlich nicht vom Fortbestand der ehelichen Lebensgemeinschaft
absehen (§ 27 Abs. 1 AufenthG). Sobald mithin die eheliche Lebensgemeinschaft aufgehoben
wird, darf die nach §§ 27, 28 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1, 30 AufenthG zweckgebundene
Aufenthaltserlaubnis nur unter den Voraussetzungen des § 31 AufenthG befristet verlängert
werden. Anders ist die Rechtslage bei Familienangehörigen von Gemeinschaftsbürgern, weil
das dem Angehörigen vermittelte Aufenthaltsrecht unabhängig vom Fortbestand der
Lebensgemeinschaft ist. Es bleibt auch dann erhalten, wenn der Angehörige die gemeinsame
Wohnung verlässt und auf Dauer getrennt lebt.172
Die Verlängerung eines Aufenthaltstitels ist mit Blick auf die Systematik des
Aufenthaltsrechts und in Ansehung des präzisen Sprachgebrauchs des Gesetzes zu
unterscheiden von einem Wechsel des Aufenthaltszwecks, wie er § 31 AufenthG zugrunde
liegt (s. auch § 81 Abs. 4 AufenthG). Diese Vorschrift ermöglicht im Rahmen der
Verlängerung einer Aufenthaltserlaubnis den Übergang von einem akzessorischen zu einem
eigenständigen Aufenthaltsrecht.173 Der Anspruch auf Gewährung eines eigenständigen
Aufenthaltsrechts setzt jedoch voraus, dass der Antragsteller im Zeitpunkt der Aufhebung der
ehelichen Lebensgemeinschaft tatsächlich ein ehebezogenes Aufenthaltsrecht innegehabt hat.
Es genügt nicht, lediglich für zurückliegende (abgeschlossene) Zeiträume möglicherweise
einen Anspruch auf Erteilung einer ehebezogenen Aufenthaltserlaubnis gehabt zu haben,174 es
sei denn, der Stammberechtigte konnte aus einem von ihm nicht zu vertretenden Grund nicht
rechtzeitig die Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis beantragen (§ 31 Abs. 1 Satz 1 2. Hs.
AufenthG). In Fällen verzögerter behördlicher Bearbeitung des Antrags kann aber eine andere
Betrachtung angezeigt sein.175
Die eheliche Lebensgemeinschaft ist aufgehoben, wenn die Ehe durch Tod oder Scheidung
beendet oder die Gemeinschaft tatsächlich durch Trennung auf Dauer beendet wird. Kehrt der
Ehemann aus berufsbedingten Gründen auf Dauer in den Herkunftsstaat zurück und verbleibt
die Ehefrau mit dem Willen zur Fortsetzung der ehelichen Lebensgemeinschaft nur deshalb
im Bundesgebiet, um eine Ausbildung der gemeinsamen Kinder in Deutschland
sicherzustellen, fehlt es an der die Umwandlung des akzessorischen in ein eigenständiges
Aufenthaltsrecht erforderlichen Aufhebung der ehelichen Lebensgemeinschaft.176 Zu
bedenken ist aber, dass durch die Einführung des Geburtsortprinzips nach § 4 Abs. 3 Satz 1
StAG der ausländische sorgeberechtigte Elternteil eines deutschen Kindes unmittelbar einen
Rechtsanspruch aus § 28 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 AufenthG erwirbt und deshalb ebenso wie der
türkische Assoziationsberechtigte auf § 31 AufenthG nicht angewiesen ist.
Die Behörde darf die Aufenthaltserlaubnis abweichend von § 5 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG
(Unterhaltserfordernis) und § 29 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG (Wohnraumerfordernis) nach
Ermessen verlängern, solange die eheliche Lebensgemeinschaft besteht. Die nachträglichen
Veränderungen der Wohn- und Einkommensverhältnisse stehen mithin beim
Ehegattennachzug abweichend von § 8 Abs. 1 AufenthG der Verlängerung der
172
BVerwGE 98, 298 (308) = InfAuslR 1995, 349 (351, 352).
OVG NW, NVwZ 2000, 1445 = InfAuslR 2000, 279 = EZAR 023 Nr. 17 = AuAS 2000, 146.
174
Hess. VGH, InfAuslR 2003, 278.
175
Hess. VGH, InfAuslR 2003, 278 (280), offen gelassen, mit Hinweis auf VG Hamburg, Beschl. v.
1.2.2001 – 17 VG 3425/00.
176
Hess. VGH, InfAuslR 2000, 370 (371).
173
56
Aufenthaltserlaubnis nicht entgegen. Ein Absehen vom Fortbestand der ehelichen
Lebensgemeinschaft (§ 27 Abs. 1 AufenthG) und dem qualifizierten Aufenthaltserfordernis
des § 29 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG ist hingegen bis zur Entstehung des eigenständigen
Aufenthaltsrechtes nach Maßgabe des § 31 AufenthG unzulässig. Mit der Erteilung der
Niederlassungserlaubnis an den Ehegatten wird der Aufenthaltstitel zu einem eigenständigen,
von § 27 Abs. 1 AufenthG unabhängigen Aufenthaltsrecht (§ 31 Abs. 4 Satz 2 AufenthG).
2.
Zweijähriger Ehebestand (§ 31 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AufenthG)
Die Aufenthaltserlaubnis wird unabhängig von dem in § 27 Abs. 1 AufenthG bezeichneten
Zweck nach einem zweijährigen rechtmäßigen Bestand der ehelichen Lebensgemeinschaft
befristet verlängert. Der Begriff „rechtmäßig“ bezieht sich nicht auf die Ehe, sondern knüpft
an die Rechtmäßigkeit des Aufenthaltes beider Ehepartner an.177 Zeiten der früher
maßgeblichen Duldung nach § 55 f. AuslG 1990 oder der Bescheinigung nach § 60a Abs. 4
AufenthG werden nicht mitgerechnet. Die Annahme des Ausländers, zur Wohnsitznahme in
einer Asylbewerberunterkunft verpflichtet zu sein, bildet indes einen Umstand, der es
rechtfertigt, eine knapp zweimonatige häusliche Trennung im Anschluss an die Eheschließung
auf die Ehebestandszeit anzurechnen.178 Jedoch reicht die Erlaubnisfiktion nach § 81 Abs. 3
Satz 1 oder 4 AufenthG aus.179 Während der Mindestbestandszeit muss der Aufenthalt beider
Ehepartner also durch eine Aufenthaltserlaubnis oder eine Erlaubnisfiktion nach § 81 Abs. 3
Satz 1 oder 4 AufenthG gesichert gewesen sein.
Da § 31 AufenthG an § 27 AufenthG anknüpft, muss der stammberechtigte Ehegatte bis zum
Ablauf
der
Mindestaufenthaltsdauer
im
Besitz
der
Aufenthaltserlaubnis,
Niederlassungserlaubnis (vgl. § 29 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG), der Erlaubnis zum
Daueraufenthalt-EG bzw. der Erlaubnisfiktion gewesen sein.180 Dies wird auch durch das
zusätzliche Erfordernis des § 31 Abs. 1 Satz 1 2. Hs. AufenthG bekräftigt. Konnte der
stammberechtigte Ehegatte die Verlängerung aus von ihm nicht zu vertretenden Gründen
nicht rechtzeitig beantragen, entsteht ebenfalls das eigenständige Aufenthaltsrecht.
Kurzfristige Unterbrechungen, die nicht auf ein Verschulden des stammberechtigten
Ehegatten zurückzuführen sind, bleiben nach dieser Vorschrift unberücksichtigt. Auf die
Mindestbestandszeit wird die Zeit einer Trennung im Sinne des § 1566 Abs. 1 BGB nicht
angerechnet.181 Demgegenüber braucht der deutsche Staatsangehörige nicht bis zum Ablauf
der Mindestbestandszeit seinen gewöhnlichen Aufenthaltsort im Bundesgebiet gehabt zu
haben. Denn § 31 Abs. 1 Satz 1 2. Hs. AufenthG knüpft nur an § 29 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG,
nicht indes an § 28 Abs. 1 Satz 1 AufenthG an. Erlischt die Aufenthaltserlaubnis,
Niederlassungserlaubnis oder Erlaubnis zum Daueraufenthalt-EG des stammberechtigten
Ehegatten vor Ablauf der Mindestdauer, kann kein eigenständiges Aufenthaltsrecht nach § 31
Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AufenthG entstehen.
Für die Bemessung der Ehebestandszeit ist nicht die formalrechtliche Dauer der Ehe, sondern
nur die Zeit der tatsächlichen Verbundenheit der Ehegatten maßgebend. Diese besteht
regelmäßig in der Pflege einer häuslichen Gemeinschaft. Es wird ein ununterbrochener
177
OVG NW, AuAS 2001, 67; VGH BW, InfAuslR 2002, 183 (185); OVG Sachsen, AuAS 2004, 108.
OVG Sachsen, AuAS 2004, 108.
179
OVG NW, NVwZ 2000, 1445 (1446) = InfAuslR 2000, 279; Igstadt, in: GK-AuslR, § 19 AuslG Rn 45.
180
Hess. VGH, AuAS 1998, 110 (111).
181
BVerwG, InfAuslR 1999, 72 (73); Richter, NVwZ 1999, 726 (727).
176VGH BW, InfAuslR 2002, 400 (401) = AuAS 2002, 192 (LS) = NVwZ-RR 2002, 892 (LS); OVG
Brandenburg, AuAS 2001, 218.
178
57
rechtmäßiger zweijähriger Aufenthalt gefordert.182 Auch wenn die eheliche
Lebensgemeinschaft etwa aus berufsbedingten Gründen nicht zwingend in einer dauerhaften
häuslichen Lebensgemeinschaft bestehen muss, muss sie doch erkennbar in Erscheinung
treten und ihre Ausgestaltung (häufige und regelmäßige Wochenendbesuche, gemeinsam
verbrachte Ferien, gemeinsam wahrgenommene Kontakte zu Freunden und Bekannten) den
Schluss auf eine eheliche Verbundenheit rechtfertigen.183 Vorübergehende Trennungen, die
den Fortbestand der ehelichen Lebensgemeinschaft nicht berühren, bleiben unberücksichtigt.
Die Ehegatten müssen sich mithin nach ihren subjektiven Vorstellungen dauerhaft
voneinander getrennt haben.184 Ziehen die Ehegatten nach einer auf Dauer angelegten
Trennung wieder zusammen, beginnt die Ehebestandsfrist von neuem. Die Dauer der
ehelichen Lebensgemeinschaft vor der Trennung kann unter diesen Voraussetzungen nicht auf
die Zweijahresfrist angerechnet werden.185 Ob die Trennung auf Dauer erfolgt oder nur
vorübergehend ist, ist nach den Umständen des Einzelfalls zu ermitteln.186 Ebenso wenig
können im Regelfall mehrere Ehen zusammengerechnet werden.
Längere, auch Monate dauernde Besuchsreisen im Herkunftsland unterbrechen nicht
automatisch die anrechnungsfähige Zeitdauer. Für einen solchen Aufenthalt mag es
unabhängig von seiner Dauer nachvollziehbare Motive und Gründe geben, wie z.B. der
Urlaubswunsch oder der Wunsch oder sogar das Erfordernis eines Aufsuchens im
Herkunftsland lebender Bekannter oder Verwandter, die es offensichtlich nicht rechtfertigen,
von einer Unterbrechung der familiären Gemeinschaft auszugehen. Andererseits können
längere Aufenthaltszeiten im Herkunftsland auch dann zur Unterbrechung führen, wenn an
der Ehe festgehalten wird. Die in diesem Spannungsfeld angesiedelten Konstellationen lassen
sich nicht abschließend abstrakt beschreiben und bedürfen einer näheren Würdigung anhand
der konkreten Umstände des Einzelfalls.187
Der Nachweis für das vorzeitige Ende der familiären Lebensgemeinschaft obliegt der
Ausländerbehörde.188 Demgegenüber trifft den Antragsteller die Darlegungslast für die
Führung einer ehelichen Lebensgemeinschaft.189 Bei unterschiedlichen Angaben über den
Trennungszeitpunkt im Scheidungsverfahren einerseits sowie im ausländerrechtlichen
Verfahren andererseits ist zu bedenken, dass in der familienrechtlichen Praxis
übereinstimmende Angaben der Eheleute zum Trennungszeitpunkt regelmäßig ungeprüft
übernommen werden. Dabei kommt es nicht selten vor, dass die Eheleute zur Erreichung
einer schnellen Ehescheidung falsche Angaben zum Trennungszeitpunkt machen. Den im
Ehescheidungsurteil enthaltenen Feststellungen zum Trennungszeitpunkt kommt daher keine
faktische Richtigkeitsgewähr zu. Es ist deshalb im ausländerrechtlichen Verfahren nicht
gerechtfertigt, unabhängig von den Umständen des jeweiligen Einzelfalls von der Richtigkeit
der im Scheidungsurteil getroffenen Feststellungen zum Trennungszeitpunkt auszugehen.190
182
183
Hess. VGH, AuAS 1998, 110; OVG NW, AuAS 2001, 67.
OVG Brandenburg, AuAS 2001, 218 (219).
184
BayVGH, NVwZ-Beil. 2000, 116 (117); VGH BW, InfAuslR 2002, 400 = AuAS 2002, 192 (LS) =
NVwZ-RR 2002, 892 (LS); Nr. 19.1.1 AuslG-VwV; Laubach, NVwZ 2000, 1388 (1389).
185
VGH BW, InfAuslR 2002, 400 (401) = AuAS 2002, 192 (LS) = NVwZ-RR 2002, 892 (LS).
186
VGH BW, InfAuslR 2002, 400 (401).
187
OVG Saarland, B. v. 21. 11. 2005 – 2 W 28/05
188
189
190
OVG MV, AuAS 2002, 98 (99).
OVG Brandenburg, AuAS 2001, 218.
OVG Hamburg, InfAuslR 2001, 125 (127) = NVwZ–RR 2001, 339.
58
Nach Ablauf von zwei Jahren der Führung der ehelichen Lebensgemeinschaft im
Bundesgebiet vermittelt § 31 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AufenthG eine eigenständige, allerdings
zunächst auf ein Jahr befristete Aufenthaltserlaubnis (§ 31 Abs. 1 Satz 1 1. Hs. AufenthG).191
Der Bezug von Sozialleistungen steht der Verlängerung nicht entgegen (§ 31 Abs. 4 Satz 1
AufenthG). Danach kann die Aufenthaltserlaubnis nach Ermessen verlängert werden (§ 31
Abs. 4 Satz 2 AufenthG). Über die Befreiung vom Erfordernis der Unterhaltssicherung wird
nach Ermessen entschieden. Mit Erteilung der Niederlassungserlaubnis nach § 9 AufenthG
wird ein eigenständiges Aufenthaltsrecht vermittelt (vgl. § 31 Abs. 4 Satz 2 AufenthG).
3.
Tod des Ehepartners (§ 31 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AufenthG)
Der nachgereiste Ehegatte erhält nach § 31 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AufenthG im Falle des Todes
des Ausländers ohne Rücksicht auf die Dauer und Rechtmäßigkeit des Aufenthaltes
unmittelbar ein eigenständiges, freilich zunächst nach Maßgabe des § 31 AufenthG befristetes
Aufenthaltsrecht, sofern der Tod während der Führung der ehelichen Lebensgemeinschaft im
Bundesgebiet eingetreten ist (§ 31 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AufenthG). Dies gilt entsprechend,
wenn der Tod des deutschen Ehepartners während der Führung der ehelichen
Lebensgemeinschaft eingetreten ist (§ 28 Abs. 3 i.V.m. § 31 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AufenthG).
Anders als nach § 31 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AufenthG wird in diesem Fall eine
Mindestbestandszeit der Ehe nicht vorausgesetzt. Der verstorbene Ehegatte muss allerdings
im Zeitpunkt seines Todes noch im Besitz der Aufenthaltserlaubnis oder
Niederlassungserlaubnis bzw. der Erlaubnisfiktion nach § 81 Abs. 3 Satz 1 oder Abs. 4
AufenthG gewesen sein, es sei denn, er konnte die Verlängerung aus von ihm nicht zu
vertretenden Gründen nicht rechtzeitig beantragen (§ 31 Abs. 1 Satz 1 1. Hs. i.V.m. § 29
Abs. 1 Nr. 1 AufenthG). Der nachgezogene Ehegatte muss allerdings im Zeitpunkt des Todes
noch im Besitz einer nach §§ 28, 30 AufenthG erteilten Aufenthaltserlaubnis sein. Auch
insoweit genügt die Erlaubnisfiktion nach § 81 Abs. 3 Satz 1 oder Abs. 4 AufenthG.
Demgegenüber muss der deutsche Ehegatte nicht im Zeitpunkt seines Todes seinen
gewöhnlichen Aufenthalt im Bundesgebiet gehabt haben. Denn § 31 Abs. 1 Satz 1 2. Hs.
AufenthG verweist erkennbar auf § 29 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG, nicht hingegen auf § 28 Abs. 1
2. Hs. AufenthG. Allerdings muss der ausländische Ehegatte einen rechtmäßigen Aufenthalts
im Bundesgebiet gehabt haben.
4.
Besondere Härte (§ 31 Abs. 2 AufenthG)
a)
Allgemeines
Der Ehegatte erhält nach § 31 Abs. 2 Satz 1 AufenthG im Falle der besonderen Härte ein
eigenständiges, freilich zunächst befristetes Aufenthaltsrecht. Nach § 31 Abs. 2 Satz 1 1. Hs.
AufenthG wird keine bestimmte Ehebestandszeit wie im Falle des § 31 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1
AufenthG vorausgesetzt. Bis 1997 galt eine dreijährige Mindestbestandszeit (vgl. § 19 Abs. 1
Nr. 2 AuslG a.F.).192 Allerdings folgen die Härtegründe aus der konkreten Führung der
Lebensgemeinschaft, setzen also regelmäßig rein tatsächlich eine gewisse
Mindestbestandszeit voraus und erfordern auch den Besitz der Aufenthaltserlaubnis oder
Niederlassungserlaubnis des stammberechtigten Ehregatten (§ 31 Abs. 1 Satz 1 2. Hs.
AufenthG). Liegen die Voraussetzungen des § 31 Abs. 1 AufenthG vor, ist wegen der
alternativen Fassung des § 31 Abs. 1 Satz 1 AufenthG eine Prüfung des Härtefalles
entbehrlich.
191
192
BVerwGE 94, 35 (42) = InfAuslR 1994, 3 = NVwZ 1994, 381.
OVG Berlin, AuAS 1998, 146 (147) zur entsprechenden gesetzgeberischen Intention.
59
b)
Begriff der besonderen Härte
Abzustellen ist auf die besonderen Schwierigkeiten und Nachteile, denen ein zurückkehrender
Ausländer im Vergleich zur „Normalsituation“ eines geschiedenen oder getrennt lebenden
Ausländers ausgesetzt ist, so zum Beispiel, wenn die Führung eines eigenständigen Lebens
unmöglich gemacht wird oder wenn im Blick auf die Vorgänge, die zur Auflösung der Ehe
geführt haben, fortwirkende Schikanen und Diskriminierungen durch die Familie zu
befürchten sind.193 Nach § 31 Abs. 2 Satz 2 AufenthG wird unabhängig von den anderen
Fallvarianten des § 31 Abs. 1 AufenthG die Aufenthaltserlaubnis zunächst befristet
verlängert, wenn eine besondere Härte vorliegt. Der Härtebegriff besteht aus zwei
Komponenten. Der Zusatz „insbesondere“ kann einerseits bei einer zielstaatsbezogenen Härte
(§ 31 Abs. 2 Satz 2 1. Hs. 1. Alt. AufenthG) und andererseits erfüllt sein, wenn wegen der
Beeinträchtigung der schutzwürdige Belange des Ehegatten oder eines Kindes das weitere
Festhalten an der ehelichen Lebensgemeinschaft nicht mehr zumutbar ist (§ 31 Abs. 2 Satz 2
1. Hs. 2. Alt. AufenthG).
Nach § 31 Abs. 2 Satz 2 1. Hs. 1. Alt. AufenthG liegt eine besondere Härte vor, wenn dem
Ehegatten wegen der Auflösung der ehelichen Lebensgemeinschaft im Zusammenhang mit der
bestehenden Rückkehrverpflichtung eine erhebliche Beeinträchtigung seiner schutzwürdigen
Belange droht und deshalb die Versagungsentscheidung unzumutbar ist. Der Begriff der
besonderen Härte nach § 31 Abs. 2 Satz 2 AufenthG umschreibt lediglich beispielhaft den
Härtebegriff.194 Aus dem Zusammenhang zwischen der Auflösung der ehelichen
Lebensgemeinschaft und der Rückkehrverpflichtung ergibt sich die gesetzgeberische
Intention, Härten zu begegnen, die daraus folgen können, dass Ausländern – besonders Frauen
– aus bestimmten Herkunftsstaaten bei der Rückkehr gerade wegen der Beendigung der
ehelichen Lebensgemeinschaft besondere Nachteile entstehen.195 Das Gesetz knüpft nur noch
an die Rückkehrverpflichtung selbst an und verlangt mithin insbesondere nicht mehr, dass die
außerhalb des Bundesgebietes drohenden erheblichen Beeinträchtigungen auf den Umstand
der Auflösung der ehelichen Lebensgemeinschaft zurückzuführen sein müssen.
Das Gesetz definiert den Härtebegriff nicht abschließend. Es stellt aber einerseits mit den
gesetzlich Typen des § 31 Abs. 1 AufenthG und andererseits mit der Legaldefinition des § 31
Abs. 2 Satz 2 AufenthG Auslegungskriterien zur Verfügung. Die Feststellung einer
besonderen Härte erfordert danach den Vergleich des konkreten Einzelfalls mit den gesetzlich
geregelten Typen. Bei dem erforderlichen Vergleich ist eine Gesamtbetrachtung der
Umstände des Einzelfalls vorzunehmen. Eine nur geringfügige Abweichung von einer oder
mehreren der in § 31 Abs. 1 AufenthG aufgeführten Voraussetzungen begründet eine
besondere Härte, wenn sich die Nichtgewährung des Bleiberechts nach den individuellen
Verhältnissen gemessen an der gesetzlichen Konzeption und unter Berücksichtigung der im
Gesetz enthaltenen Abwägungskriterien, als ungerecht oder gar unzumutbar darstellt. Dabei
soll nicht jede Härte genügen. Vielmehr muss eine Besonderheit hinzukommen, durch die
eine über die dem Gesetz immanente allgemeine Härte hinausgehende Härte deswegen
begründet wird, weil der Einzelfall vom gesetzlichen Regelungsziel her den ausdrücklich
erfassten Fällen annähernd gleicht. Dabei bezeichnen die Voraussetzungen des § 31 Abs. 2
Satz 2 AufenthG Kriterien, bei denen der Gesetzgeber vom Vorliegen einer besonderen Härte
ausgeht.196
193
194
195
196
VG Saarlouis, InfAuslR 2004, 116 (116 f.).
OVG NW, EZAR 023 Nr. 23 = NVwZ-Beil. 2001, 83; VGH BW, InfAuslR 2003, 190 (193).
BVerwG, InfAuslR 1998, 279 (280).
VG Darmstadt, NVwZ-Beil. 2001, 94.
60
Das Gesetz knüpft nur noch an die Rückkehrverpflichtung selbst an und verlangt damit nicht
mehr wie früher, dass die außerhalb der Bundesrepublik drohenden erheblichen
Beeinträchtigungen auf den Umstand der Auflösung der ehelichen Lebensgemeinschaft selbst
zurückgeführt werden können müssen. Eine Beschränkung auf unmittelbar auf die Auflösung
der ehelichen Lebensgemeinschaft rückführbare Beeinträchtigungen inlands- wie
auslandsbezogener Art ist mit dem geltenden Recht damit nicht mehr zu vereinbaren.197
Berücksichtigungsfähig sind damit alle Beeinträchtigungen, die durch die Ausreise aus
Deutschland infolge der Beendigung des ehebedingten Aufenthaltsrechts bedingt werden.
Eine gewisse Beschränkung der berücksichtigungsfähigen Beeinträchtigungen ergibt sich nur
noch aus der zusätzlich geforderten Erheblichkeit der drohenden Beeinträchtigung
schutzwürdiger Belange, deren inhaltliche Umgrenzung aus den in der Gesetzesbegründung
aufgelisteten Beispielsfällen der Unmöglichkeit der Führung eines eigenständigen Lebens
wegen gesellschaftlicher Diskriminierung, des Drohens einer Zwangsabtreibung, der
Erforderlichkeit eines weiteren Aufenthalts in Deutschland im Hinblick auf eine
Beeinträchtigung des Wohls des Kindes wegen der Verhältnisse im Herkunftsland sowie der
Gefahr einer willkürlichen Versagung des Umgangs mit dem Kind erhellt.198
b)
Zielstaatsbezogene Härtegründe (§ 31 Abs. 2 Satz 2 1. Hs. AufenthG)
Bei den zielstaatsbezogenen Härtegründen ist eine Gesamtbetrachtung aller Umstände
geboten. Nach der Rechtsprechung ist eine besondere Härte dann anzunehmen, wenn im
konkreten Einzelfall besondere Umstände vorliegen, aus denen sich ergibt, dass die
Ausreisepflicht den Ehegatten ungleich härter trifft als andere Ausländer in vergleichbarer
Lage. Danach genügt nicht schon jede Härte, sondern es muss eine Besonderheit
hinzukommen, durch die eine über die dem Gesetz immanente allgemeine Härte
hinausgehende Härte deswegen begründet wird, weil der Einzelfall vom gesetzlichen
Regelungsziel her den ausdrücklich erfassten Fällen annähernd gleicht. Dabei ist neben
gewachsenen Bindungen und Integrationsleistungen im Bundesgebiet auch zu
berücksichtigen, ob dem Ehegatten außerhalb des Bundesgebietes wegen der Auflösung der
ehelichen Lebensgemeinschaft erhebliche Nachteile drohen.
Alle Rückkehrer bzw. Rückkehrerinnen gleichermaßen treffende geringere wirtschaftliche
Lebensstandards werden insoweit nicht in die Gesamtbetrachtung eingestellt. Hieraus folgt,
dass andere Nachteile, die nicht wegen der Auflösung der ehelichen Lebensgemeinschaft,
sondern wegen der dortigen allgemeinen politischen und wirtschaftlichen Verhältnisse
drohen, nicht zur Begründung einer besonderen Härte herangezogen werden können, sondern
nur erhebliche rechtliche oder gesellschaftliche Diskriminierungen wegen der Auflösung der
Ehe.199 Es genügt danach die Gefahr, dass schutzwürdige Belange des Antragstellers erheblich beeinträchtigt werden können. Bei dieser Alternative müssen die Schwierigkeiten, die aus
der Auflösung der ehelichen Lebensgemeinschaft folgen, kausal auf die Trennung bezogen
sein,200 d.h. die Härte kann nur mit aktuell bestehenden oder nach Rückkehr zu erwartenden
197
OVG NW, EZAR 023 Nr. 23 = NVwZ-Beil. 2001, 83.
OVG NW, EZAR 023 Nr. 23 = NVwZ-Beil. 2001, 83.
198
OVG NW, EZAR 023 Nr. 23 = NVwZ-Beil. 2001, 83.
199
BVerwG, DÖV 1997, 835 = AuAS 1997, 206; BayVGH, InfAuslR 2001, 280 (281); OVG Saarland,
NVwZ-RR 2006, 357.
200
BVerwG, InfAuslR 1998, 279 (280).
198
61
Schwierigkeiten begründet werden, die gerade durch die Trennung bedingt sind.201
Unberücksichtigt bleiben daher Probleme, die unabhängig von der Trennung oder bereits in
der Vergangenheit entstanden sind und sowohl im Bundesgebiet wie im Heimatland in
gleicher Weise fortbestehen würden. Diese finden nach der 2. Alternative des § 31 Abs. 2
Satz 2 1. Hs. AufenthG Berücksichtigung.
Es sind einerseits gewachsene Bindungen und Integrationsleistungen im Bundesgebiet
maßgebend. Andererseits ist zu berücksichtigen, ob dem betroffenen Ehegatten wegen des
Scheiterns der Ehe gerade wegen der Beendigung der ehelichen Lebensgemeinschaft
besondere Nachteile drohen. Diese sind nach § 31 Abs. 2 Satz 2 1. Hs. 1. Alt. AufenthG
erheblich. Eine gewisse Beschränkung der berücksichtigungsfähigen Beeinträchtigungen
ergibt sich aus der geforderten Erheblichkeit der drohenden Beeinträchtigungen
schutzwürdiger Belange, deren inhaltliche Umgrenzung aus den in der Gesetzesbegründung
aufgelisteten Beispielsfällen der Unmöglichkeit eines eigenständigen Lebens wegen
gesellschaftlicher Diskriminierung, des Drohens einer Zwangsabtreibung, der Erforderlichkeit
eines weiteren Aufenthaltes in Deutschland im Hinblick auf eine Beeinträchtigung des Wohls
der Kinder wegen der Verhältnisse im Herkunftsland sowie der Gefahr einer willkürlichen
Untersagung des Umgangs mit dem Kind erhellt.202 Die gesellschaftlichen und sonstigen
Nachteile insbesondere für Frauen aus anderen Rechts- und Kulturkreisen können an
gesellschaftliche, religiöse oder sittliche Normen anknüpfen, etwa Bestrafung wegen
Ehescheidung, Ächtung wegen Verletzung der Familienehre, Ausgrenzung wegen
misslungener Ehe.203 Es wird keine staatliche Diskriminierung verlangt. Unerheblich ist
deshalb, dass die Rechtsordnung im Herkunftsland laizistisch ausgestaltet und das Institut der
Scheidung im Zivilrecht anerkannt ist.204
Danach liegt im Regelfall eine besondere Härte vor, wenn eine aus ländlichen türkischen
Gebieten stammende Frau aufgrund der dort vorherrschenden untergeordneten Rolle der Frau
nach der Auflösung der ehelichen Lebensgemeinschaft gravierenden gesellschaftlichen
Diskriminierungen ausgesetzt sein wird205 oder Bedrohungen oder Verfolgung durch
Verwandte drohen. Insoweit darf nicht auf den asylrechtlichen Begriff der „ausweglosen
Lage“, sondern muss darauf abgestellt werden, dass die einer geschiedenen oder getrennt
lebenden Ehefrau bevorstehende Diskriminierung in der Türkei diese jedenfalls härter trifft
als andere Ausländer, insbesondere Männer, die nach einem kurzen Aufenthalt in die Türkei
zurückkehren müssen.206
Dagegen vermag die Rechtsprechung für eine Rückkehrerin nach Thailand keine Gefahr der
Diskriminierung und des Abgleitens in die Prostitution festzustellen. Nach den amtlichen
Auskünften sei Thailand „ein wirtschaftlich aufstrebendes Land, in dem sich auch für eine
junge Frau allerhand Opportunitäten auftäten, die keine Gemeinsamkeiten mit Prostitution
hätten.“ Daher sei es der Betroffenen durchaus zuzumuten, nach Thailand zurückzukehren,
ohne dass sie damit dort „allgemeiner Verachtung oder finanzieller Flucht in die Prostitution
201
202
203
204
Hess. VGH, InfAuslR 1994, 313 (314).
VGH BW, InfAuslR 2003, 190 (193).
VGH BW, InfAuslR 2003, 190 (193).
VGH BW, InfAuslR 2003, 190 (194), zur Türkei.
205
Hess. VGH, InfAuslR 2000, 404 (405); VGH BW, InfAuslR 2003, 190 (193); VG Berlin, NVwZ-RR
1996, 295 (296); VG Karlsruhe, InfAuslR 1991, 245, für Marokko.
206
Hess. VGH, InfAuslR 2000, 404 (405); VGH BW, InfAuslR 2003, 190 (194)
62
ausgesetzt würde.“ Obwohl ein nicht geringer Teil der mit Deutschen verheirateten
Thailänderinnen aus dem Prostituiertenmilieu stammten, rechtfertige dies noch nicht die
Schlussfolgerung, dass deswegen alle Rückkehrerinnen aus Deutschland als Prostituierte
angesehen würden.207 Eine besondere Härte ist Aber dann anzunehmen, wenn nach den Sitten
und Moralvorstellungen in Thailand eine junge Frau, die nach Europa geht und dort einen
Europäer heiratet, deswegen als „Nutte“ angesehen wird, weil sie keinen Einheimischen
geehelicht hat, und die deshalb von ihrer Familie verstoßen wird und außerhalb der örtlichen
Gemeinschaft als alleinstehende junge Frau nicht leben kann.208
Eine chronische psychische Erkrankung der Antragstellerin, die mit mehreren
Suizidversuchen einhergegangen ist und zur Reiseunfähigkeit geführt hat, kann andererseits in
die Gesamtbetrachtung eingestellt werden. Hierdurch wird die Antragstellerin ungleich härter
getroffen als andere Ausländer in vergleichbarer Situation.209 Ein Verweis auf eine
Wohnsitzbegründung in türkischen Großstädten ist regelmäßig nicht gerechtfertigt. Zwar mag
es nach der Rechtsprechung Fälle geben, in denen es einer geschiedenen Türkin zugemutet
werden kann, sich in einer weniger von traditionellen Moralvorstellungen geprägten
Großstadt niederzulassen. Jedenfalls bei einer psychisch erkrankten Antragstellerin ist dies
indes unzumutbar.210 Darüber hinaus ist auch das Wohl eines in Deutschland aufgewachsenen
Kindes zu berücksichtigen. Dieses kann erheblich beeinträchtigt werden, wenn es mangels
eines anderweitigen Verbleibsrechts mit der psychisch kranken Mutter in das ihr völlig
fremde Herkunftsland der Mutter übersiedeln müsste.211
Ein besonderer Härtefall liegt auch dann vor, wenn die Betreffende durch eidesstattliche
Versicherung glaubhaft macht, dass ihr Vater und ihr Bruder sie für den Fall der Rückkehr in
den Herkunftsstaat mit dem Tode bedroht haben, weil sie aufgrund der Auflösung ihrer Ehe
die „Familienehre“ beschmutzt habe.212 Die Annahme eines besonderen Härtefalles ist jedoch
nicht zwingend von derart hohen Voraussetzungen abhängig. Insoweit kann auch von
Bedeutung sein, dass die Betroffene im Herkunftsland, weil sie sich mit dem Vater wegen der
Eheschließung überworfen hat, nicht auf den Beistand von Familienangehörigen hoffen kann,
während sie im Bundesgebiet durch Verwandte unterstützt wird.213 Ebenso entsteht eine
besondere Härte im Falle einer Entfremdung, etwa weil der Ehegatte im Herkunftsstaat nicht
aufgewachsen ist oder sich aus sonstigen besonderen Gründen dort nicht gesellschaftlich
integrieren kann.214
Alle aus der Ausreise aus der Bundesrepublik infolge der Beendigung der Ehe resultierenden
Beeinträchtigungen können relevant sein.215 Soweit gewachsene Bindungen und
Integrationsleistungen im Bundesgebiet zu berücksichtigen sind, müssen diese dergestalt sein,
dass die Rückkehrverpflichtung den Betroffenen im Vergleich zu anderen Ausländern
besonders hart treffen würde.216 Zu den schutzwürdigen Belangen gehören insoweit auch im
Inland geschaffene materielle und ideelle Werte, insbesondere auch erhebliche
OVG Saarland, B. v. 23. 11. 2005 – 2 W 31/05, BA, S.8, insoweit in NVwZ-RR 2006, 357 nicht
abgedruckt.
208
VG Saarlouis, InfAuslR 2004, 116 (117).
233
VG Saarlouis, InfAuslR 2004, 116 (117).
209
VG Saarlouis, InfAuslR 2004, 116 (117).
210
VGH BW, InfAuslR 2003, 190 (194).
211
VGH BW, InfAuslR 2003, 190 (194).
212
VG Gelsenkirchen, InfAuslR 2001, 214 (215).
213
VGH BW, InfAuslR 2003, 190 (193).
214
Vgl. Hess. VGH, InfAuslR 1993, 328 (330).
215
OVG Brandenburg, AuAS 2004, 38 (39).
216
OVG Brandenburg, AuAS 2004, 38 (39); Hess. VGH, InfAuslR 2004, 72 (73) = NVwZ-Beil. 2004, 17.
207
63
Vermögenswerte des Ausländers.217 Es werden indes nur die gewachsenen Bindungen und
geschützten Rechtspositionen berücksichtigt, die im Zeitpunkt der Auflösung der ehelichen
Lebensgemeinschaft bestanden hatten.218 Eine besondere Härte folgt daraus, dass der
Betroffene wegen der Rückkehrverpflichtung zur Betriebsaufgabe und damit zur Aufgabe
seiner Existenzgrundlage gezwungen würde.219 Allein der Verlust des Arbeitsplatzes im
Bundesgebiet in Verbindung mit bestehenden Kreditverpflichtungen begründet allerdings
keine mit der Rückkehrverpflichtung im Zusammenhang stehende besondere Härte.220
Vielmehr wird dieser als zwangsläufige Folge der Aufenthaltsbeendigung angesehen, der mit
der Auflösung der ehelichen Lebensgemeinschaft in keinem spezifischen Zusammenhang
stehe.
Zwar begründet allein der Umstand, dass sich der Betreffende zehn Jahre in Deutschland
aufhält und seine Eltern und Brüder hier leben, regelmäßig keine besondere Härte im Sinne
der Vorschrift.221 Gewachsene Bindungen und die bislang erreichte Integration können aber
erheblich sein.222 So kann sich aus den Beziehungen des Vaters zu seinem im Zeitpunkt der
Behördenentscheidung achteinhalb Jahre alten Sohn, der bereits im Alter von einem Jahr
eingereist ist, ein Härtefall ergeben.223 Denn die Lebensgemeinschaft des minderjährigen
Kindes mit dem sorgeberechtigten Elternteil ist besonders schutzwürdig. Diesen Härten wird
nunmehr durch § 31 Abs. 2 Satz 2 2. Hs. AufenthG Rechnung getragen.
c)
Inlandsbezogene Härtegründe (§ 31 Abs. 2 Satz 2 2. Hs. AufenthG)
Mit der 2. Alt. des § 31 Abs. 2 Satz 2 AufenthG erweitert der Gesetzgeber den Begriff der
besonderen Härte um solche bereits eingetretenen, in aller Regel inlandsbezogenen
Beeinträchtigungen schutzwürdiger Belange, die dem ausländischen Ehegatten ein weiteres
Festhalten an der ehelichen Lebensgemeinschaft unzumutbar machen. Das Gesetz will damit
besondere Umstände während der Ehe in Deutschland berücksichtigen, die es dem Ehegatten
unzumutbar machen, zur Erlangung eines eigenständigen Aufenthaltsrechts an der ehelichen
Lebensgemeinschaft festzuhalten. Solche Fälle liegen zum Beispiel vor, wenn der
nachgezogene Ehegatte wegen physischer oder psychischer Misshandlungen durch den
anderen Ehegatten die Lebensgemeinschaft aufgehoben hat oder der andere Ehegatte das in
der Ehe lebende Kind sexuell missbraucht oder misshandelt hat.
Die inlandsbezogenen Härtegründe erweitern den Begriff der besonderen Härte, indem sie –
anders als die erste Alternative – an eine bereits erfolgte, nicht erst drohende und im Übrigen
inlandsbezogene Beeinträchtigung schutzwürdiger Belange anknüpft. Unvereinbar hiermit
wäre eine Verwaltungspraxis, die forderte, von Misshandlungen einer Antragstellerin müssten
Folgewirkungen ausgehen, die eine Erfüllung der Rückkehrverpflichtung erheblich
erschwerten, weil sie einer Reintegration im Herkunftsland entgegenstünden. Damit würden
entgegen der Gesetzessystematik und dem gesetzgeberischen Willen tatbestandliche Elemente
der ersten Alternative zur Auslegung der eigenständigen Regelung der zweiten Alternative
herangezogen. Darüber hinaus setzt die zweite Alternative im Gegensatz zur ersten
217
Hess. VGH, InfAuslR 2004, 72 (73).
218
Hess. VGH, InfAuslR 2004, 72 (73).
219
Hess. VGH, InfAuslR 2004, 72 (73).
BayVGH, InfAuslR 2001, 280 (281); BayVGH, AuAS 2003, 19 (20); OVG Saarland, NVwZ-RR 2006,
357; VGH BW, InfAuslR 2002, 400 (402)
221
VGH BW, InfAuslR 2002, 400 (402) = AuAS 2002, 192 (LS).
222
VGH BW, InfAuslR 1999, 27; VG Berlin, NVwZ-RR 1996, 295 = AuAS 1995, 209.
223
OVG Berlin, AuAS 1998, 146 (147).
220
64
Alternative keine erhebliche Beeinträchtigung der schutzwürdigen Belange des Ehegatten
voraus.224
Über das Erfordernis der „Unzumutbarkeit“ setzt diese Alternative folglich einen
Zusammenhang zwischen der erlittenen Beeinträchtigung und der ehelichen
Lebensgemeinschaft voraus.225 Die Darlegungs- und Beweislast trifft insoweit die
Antragstellerin.226 Eine inlandsbezogene Härte kann aber auch vorliegen, wenn es dem
ausländischen Vater eines minderjährigen deutschen Kindes ohne Zubilligung eines
eigenständigen Aufenthaltsrechts nicht möglich wäre, einen hinreichenden Umgang mit
seinem Kind zu pflegen.227
Nicht jede Form der subjektiv empfundenen Unzumutbarkeit stellt allerdings zugleich eine
besondere Härte dar. Nicht in jedem Fall des Scheiterns einer ehelichen Lebensgemeinschaft,
zu dem es in aller Regel wegen der von einem oder beiden Ehegatten subjektiv empfundenen
Unzumutbarkeit des Festhaltens an der Lebensgemeinschaft kommt, sind die gesetzlichen
Voraussetzungen erfüllt.228 In der Rechtsprechung wird insoweit eine objektive Bewertung
vorgenommen. Danach komme es nicht allein entscheidend darauf an, ob der Ehegatte die
eheliche Lebensgemeinschaft wegen einer aus seiner Sicht bestehenden Unzumutbarkeit
aufgelöst hat. Der Rückgriff auf den maßgeblichen Begriff der besonderen Härte erfordere
vielmehr eine Gesamtabwägung aller Umstände, bei der die Schwierigkeiten einer Rückkehr
ein abwägungserheblicher Belang sein könnten, sie jedoch nicht ein selbständiges
Tatbestandsmerkmal wie bei der ersten Alternative des § 31 Abs. 2 Satz 2 AufenthG
darstellten.229
Die Störungen der ehelichen Lebensgemeinschaft müssen danach das Ausmaß einer
konkreten über allgemeine Differenzen und Kränkungen in einer gestörten ehelichen
Beziehung hinausgehenden psychischen Misshandlung erreicht haben.230 Die schutzwürdigen
Belange des ausländischen Ehegatten sind die körperliche Integrität, angstfreies Leben in
eigener Wohnung und Bewegungsfreiheit. Der besondere Härtefall ist nicht erst „bei
schwersten Eingriffen in die persönliche Freiheit des Ehepartners“ erfüllt. Nach der
Gesetzesintention lässt sich eine Beschränkung nur auf gravierende Misshandlungen nicht
rechtfertigen.231 Der Annahme eines Härtefalles steht nicht entgegen, dass nicht die
Antragstellerin, sondern der Ehemann die eheliche Lebensgemeinschaft aufgelöst hat, wenn
diese aufgrund des vom Ehemann ausgeübten „Psychoterrors“ nicht mehr zu einer freien Willensentscheidung in der Lage war.232
Die durch eidesstattliche Versicherung glaubhaft gemachten Angaben über Monate dauernde
erhebliche Schikanen verbunden mit Bedrohungen durch unkontrollierte Aggressionen des
Ehemannes infolge von Alkoholmissbrauch sind erheblich. Beeinträchtigt sind dadurch
224
225
226
227
228
229
VGH BW, NVwZ-RR 2003, 782.
OVG NW, EZAR 023 Nr. 23 = NVwZ-Beil. 2001, 83.
OVG NW, AuAS 2003, 170 (171) = NVwZ-RR 2003, 527 (LS).
VGH BW, NVwZ-Beil. 2003, 93.
OVG NW, AuAS 2003, 170 (171) = NVwZ-RR 2003, 527 (LS).
VG Neustadt, InfAuslR 2001, 441 (442).
230
OVG NW, AuAS 2003, 170 (171) = NVwZ-RR 2003, 527 (LS).
OVG Berlin, NVwZ-Beil. 2003, 33 (34); VGH BW, NVwZ-RR 2003, 782; Hess. VGH, InfAuslR 2002,
404 (405).
232
VGH BW, InfAuslR 2003, 232 (233) = NVwZ-RR 2003, 782 = AuAS 2003.
231
65
insbesondere das Recht auf sexuelle Selbstbestimmung und das Recht auf Eigentum.233
Ebenso liegt ein besonderer Härtefall vor, wenn die Antragstellerin seit dem ersten Tag ihrer
Ehe durch ihren Ehemann jeglicher freien Entfaltung ihrer Persönlichkeit beraubt und wie
eine Gefangene in der Wohnung gehalten wird und niemanden anrufen und ohne ihren
Ehemann nicht die Wohnungstür öffnen darf.234
Eine Beeinträchtigung schutzwürdiger Belange ist insbesondere auch bei Misshandlungen,
etwa durch Ausdrücken von Zigarettenkippen auf dem Rücken der Betroffenen, zu
unterstellen.235 Darüber hinaus ist eine besondere Härte auch anzunehmen, wenn es im
Rahmen von Ehestreitigkeiten wiederholt zu Erniedrigungen gekommen ist, hierbei nicht nur
verbale Entgleisungen, sondern auch etwa Schläge mit einer Plastikschüssel auf den Kopf der
Betreffenden glaubhaft gemacht werden. Auch wenn die Ehefrau mit Füßen aus dem Bett
getreten und gestoßen worden ist, weil sie den sexuellen Wünschen des Ehemannes nicht
nachgekommen ist, ist zu berücksichtigen.236 Die Tatsache, dass der Ehemann bei der
Eheschließung verschwiegen hat, dass er bereits in religiöser Ehe mit einer Frau
zusammenlebt und er diese Beziehung auch nach der Aufnahme der ehelichen
Lebensgemeinschaft fortsetzt, kommt für die soziokulturell auf die Einehe eingerichtete Frau
einer körperlichen Misshandlung gleich und ist deshalb erheblich.237
Von den Misshandlungen müssen wegen der Eigenständigkeit des Härtegrundes keine
Folgewirkungen ausgehen, die eine Erfüllung der Rückkehrverpflichtung erheblich
erschweren, weil sie einer Reintegration im Heimatland entgegenstehen. Damit würden
entgegen dem Gesetzeszweck und dem gesetzgeberischen Willen tatbestandliche Elemente
der ersten Alternative zur Auslegung der eigenständigen Regelung der zweiten Alternative
des § 31 Abs. 2 Satz 2 AufenthG herangezogen. Vorausgesetzt wird auch nicht eine
erhebliche Beeinträchtigung der schutzwürdigen Belange. Auch dies belegt die
Eigenständigkeit der zweiten Alternative, nach deren Sinn und Zweck der Ehegatte nicht
wegen der Gefahr der Beendigung seines akzessorischen Aufenthaltsrechts auf Gedeih und
Verderb zur Fortsetzung einer nicht tragbaren Lebensgemeinschaft gezwungen werden soll.238
Der Nachweis von Misshandlungen kann, muss aber nicht zwingend durch ein ärztliches,
aber auch nervenärztliches oder psychologisches Gutachten erbracht werden. So erfüllt die
Antragstellerin ihre Darlegungslast, wenn sie ein nervenärztliches Gutachten vorlegt, das
ausgeprägte psychische Störungen wie etwa Wahnstimmung mit Verfolgungsideen,
Wahrnehmungsstörungen und akustische Halluzinationen, feststellt, die nach ärztlicher
Einschätzung eindeutig als Auswirkung einer schweren anhaltenden psychischen Belastung
im ursächlichen Zusammenhang mit dem Verhalten des Ehemannes zu sehen sind.239
Zu den schutzwürdigen Belangen zählt darüber hinaus nach § 31 Abs. 2 Satz 2 2. Hs.
AufenthG „auch das Wohl eines mit dem Ehegatten in familiärer Lebensgemeinschaft
lebenden Kindes“. Nach der gesetzlichen Begründung soll damit insbesondere den Interessen
233
VG Neustadt, InfAuslR 2001, 441 (442).
VGH BW, InfAuslR 2003, 232 (233) = NVwZ-RR 2003, 782 = AuAS 2003, 14.
235
VG Aachen, Beschl. v. 8.3.2000 – 8 L 1320/99.
236
VG Würzburg, AuAS 2002, 220 (221).
237
VG Gelsenkirchen, InfAuslR 2001, 214 (215).
238
VGH BW, InfAuslR 2003, 232 (233) = NVwZ-RR 2003, 782 = AuAS 2003, 14; zweifelnd OVG
Berlin, NVwZ-Beil. 2003, 33 (34).
239
VGH BW, InfAuslR 2003, 232 (233) = NVwZ-RR 2003, 782 = AuAS 2003.
234
66
des nachgezogenen Ehegatten, der wegen physischer oder psychischer Misshandlungen durch
den anderen Ehegatten die Lebensgemeinschaft aufgehoben hat, Rechnung getragen
werden.240 Das Wohl des Kindes ist nicht nur bei Misshandlungen und Demütigungen
beeinträchtigt, sondern auch, wenn die weitgehende Integration in die deutsche Gesellschaft
sowie die schulische Integration eine Aufenthaltsbeendigung als unzumutbar erscheinen
lassen.
Der Gesetzeswortlaut stellt zwar auf das Wohl des mit dem ausländischen Ehegatten in
familiärer Lebensgemeinschaft lebenden Kindes ab. In der Rechtsprechung wird unter
Verweis auf das KindRG das Gesetz aber auch auf Fälle erstreckt, in denen der frühere
Ehegatte eines Elternteils, der mit dem Kind längere Zeit in häuslicher Gemeinschaft gelebt
hat, einen rechtlich geschützten Umgang mit dem Kind pflegt. Das Umgangsrecht von
Personen, die nicht die leiblichen Eltern des Kindes seien, sei zwar nicht im gleichen Umfang
wie das Recht der leiblichen Eltern ausgestaltet, gleichwohl jedoch bei der Entscheidung über
das Vorliegen einer besonderen Härte zu berücksichtigen. Eine Begegnungsgemeinschaft
zwischen einem Ausländer und einem Kind, das längere Zeit mit ihm in häuslicher
Gemeinschaft gelebt habe, sei jedenfalls dann einer familiären Lebensgemeinschaft im Sinne
des Gesetzes gleichzustellen, wenn der Betreffende im Rahmen des Umgangsrechts einen
Kontakt zu dem Kind pflege, der eine ähnliche Intensität habe wie das Zusammenleben in
einer familiären Lebensgemeinschaft oder die Ausübung der Personensorge durch einen
Elternteil.241
5. Charakter des eigenständigen Aufenthaltsrechts
Das eigenständige Aufenthaltsrecht entsteht zunächst als Anspruch auf befristete
Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis242 für ein Jahr (§ 31 Abs. 1 Satz 1 1. Hs. AufenthG; s.
aber § 31 Abs. 2 Satz 3 AufenthG). Für diesen Zeitraum ist der Bezug von Sozialleistungen
unschädlich (§ 31 Abs. 4 Satz 1 AufenthG). War dem Ehegatten bereits aufgrund der
Fiktionswirkung seines Verlängerungsantrags oder aufgrund der Anordnung der
aufschiebenden Wirkung seines Rechtsmittels für ein Jahr der Aufenthalt und die Aufnahme
einer Erwerbstätigkeit erlaubt worden, ist nach Ansicht des BVerwG der mit § 31 Abs. 1 Satz
1 AufenthG verfolgte Zweck erfüllt.243 Die Aufenthaltserlaubnis nach § 31 Abs. 1 Satz 1
AufenthG berechtigt kraft Gesetzes zur Ausübung einer Erwerbstätigkeit (§ 31 Abs. 1 Satz 2
AufenthG). Die Inanspruchnahme von Sozialhilfe während des ersten Jahres ist unschädlich
(§ 31 Abs. 4 Satz 1 AufenthG). Das eigenständige Aufenthaltsrecht entsteht unmittelbar als
Niederlassungserlaubnis, wenn der Lebensunterhalt des Anspruchsberechtigten nach
Auflösung der ehelichen Lebensgemeinschaft durch Unterhaltsleistungen aus eigenen Mitteln
des Ehegatten gesichert ist und dieser eine Niederlassungserlaubnis oder Erlaubnis zum
Daueraufenthalt-EG besitzt (§ 31 Abs. 3 1. Hs. AufenthG). Zwar müssen für den
Anspruchsberechtigten die Voraussetzungen des § 9 Abs. 2 Satz 1 AufenthG vorliegen. Vom
Erfordernis der Altersvorsorge, der Erlaubnis zur Ausübung einer Arbeitnehmerbeschäftigung
und vom Nachweis der Sprachkompetenz ist indes abzusehen (§ 31 Abs. 3 2. Hs. AufenthG).
240
BT-Drs. 14/2368, S. 3.
241
VG Darmstadt, NVwZ-Beil. 2001, 94
242
BVerwGE 94, 35 (42) = InfAuslR 1994, 3 = NVwZ 1994, 381.
BVerwGE 99, 313 (317) = InfAuslR 1995, 861; OVG NW, NVwZ 2000, 1445 (1446) = InfAuslR 2000,
279 = EZAR 023 Nr. 17 = AuAS 2000, 146; VGH BW, InfAuslR 2003, 190 (194).
243
67
Nach Ablauf der Jahresfrist wird die Aufenthaltserlaubnis nach Ermessen verlängert (§ 31
Abs. 4 Satz 2 AufenthG).244 Einwanderungspolitische Bedenken bleiben bei der
Ermessensentscheidung unberücksichtigt. Zugunsten des Betroffenen wird vielmehr von
Gesetzes wegen unterstellt, dass dem Verbleib im Bundesgebiet grundsätzlich nichts
entgegensteht, insbesondere die für den Daueraufenthalt geforderten Integrationsleistungen
entweder erbracht worden sind oder deren Erbringung aufgrund der besonderen Situation
noch ermöglicht werden soll.245 Darüber hinaus sind in die Ermessenserwägung der bisherige
Aufenthalt und hier geborene Kinder, für welche die Betroffene das alleinige
Personensorgerecht besitzt, einzubeziehen.246
Unter diesen Umständen darf dem Sozialhilfebezug kein unangemessen hohes Gewicht
beigemessen werden.247 Krankheitsgründe sowie Umstände, die dem Betroffenen ein
Bleiberecht nach § 31 Abs. 1 AufenthG verschaffen und im Einzelfall auch Ursache für den
Sozialhilfebezug (z.B. Betreuung eines behinderten Kindes, Arbeitsunfähigkeit wegen
psychischer Erkrankung) sind, sind zu berücksichtigen.248 Widmet sich die Mutter nach der
Geburt ihres Kindes dessen Betreuung und nimmt sie anschließend an einem Integrationskurs
teil, begründet dies einen Ausnahmefall nach § 5 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG. Denn das sinnvolle
und anzuerkennende Bemühen der Mutter, die deutsche Sprache als wesentliche Bedingung
für die Erlangung einer Arbeitsstelle zu erlernen, nachdem das Kind mit Vollendung des
dritten Lebensjahres den Kindergarten besuchen kann, bewirkt eine Ausnahme von der Regel
des Unterhaltserfordernisses.249 Aus § 31 Abs. 4 Satz 2 2. Hs. AufenthG kann abgeleitet
werden, dass grundsätzlich der Erwerb der Niederlassungserlaubnis ermöglicht werden soll
und deshalb im Regelfall ein Verlängerungsanspruch besteht.
VIII.
1.
Kindernachzug (§ 32 AufenthG)
Rechtsansprüche
§ 32 AufenthG regelt den Nachzug minderjähriger lediger Kinder. Auf die im Bundesgebiet
geborenen Kinder findet in erster Linie § 33 AufenthG Anwendung. Ist das Kind im Zeitpunkt
des erstrebten Nachzugs volljährig oder nicht mehr ledig, kann der Nachzug nur unter den
Voraussetzungen des § 36 AufenthG genehmigt werden. Beim Kindernachzug ist zwischen
einem Rechtsanspruch (§ 32 Abs. 1–3 AufenthG) und einem Ermessenstatbestand (§ 32
Abs. 4 AufenthG) unterschieden. Der EGMR hat aus Art. 8 Abs. 1 EMRK einen Anspruch
auf Kindernachzug hergeleitet, wenn die Eltern im Vertragsstaat ein gesichertes
Aufenthaltsrecht haben, wegen dort geborener Kinder und deren fehlender innerer Beziehung
zum Herkunftsland der Eltern nicht in den Herkunftsstaat zurückkehren können und das
betroffene Kind auf die Erziehungs- und Betreuungsgemeinschaft mit den Eltern angewiesen
ist.250
244
245
246
247
248
249
250
BVerwGE 94, 35 (42) = InfAuslR 1994, 3 = NVwZ 1994, 381.
OVG NW, NVwZ 2000, 1445 (1446) = InfAuslR 2000, 279 = AuAS 2000, 146 = EZAR 023 Nr. 17.
OVG NW, NVwZ 2000, 1445 (1446) = InfAuslR 2000, 279 = AuAS 2000, 146 = EZAR 023 Nr. 17.
OVG NW, NVwZ 2000, 1445 (1446) = InfAuslR 2000, 279 = AuAS 2000, 146 = EZAR 023 Nr. 17.
VGH BW, InfAuslR 2003, 190 (195); Nr. 19.2.2 AuslG-VwV.
Nieders.OVG, AuAS 2007, 62
EGMR, InfAuslR 2002, 334.
68
Maßgeblich für die Altersgrenze in allen Fallvarianten ist der Zeitpunkt der Antragstellung.251
Art. 4 Abs. 1 letzter Unterabsatz RL 2003/86/EG erlaubt den Mitgliedstaaten die Einführung
einer Altersbegrenzung für den Kindernachzug. Diese Regelung ist nach Auffassung des
EuGH vereinbar mit Art. 8 EMRK.252 Bei erlaubnisfreier Einreise kommt es auf den
Einreisezeitpunkt an.253 Ist der Antrag vor dem Erreichen der maßgeblichen Altersgrenze
gestellt worden, hat es die zuständige Behörde indes unterlassen, über diesen rechtzeitig zu
entscheiden, so kann nach Überschreiten der Altersgrenze der Anspruch auf Erteilung der
Aufenthaltserlaubnis aus dem Gesichtspunkt des Instituts der Folgenbeseitigung in Betracht
kommen.254 Sämtliche erforderlichen Voraussetzungen müssen im maßgeblichen Zeitpunkt
erfüllt sein, mit der Folge, dass die nachträgliche Erfüllung der Voraussetzungen – etwa die
nach §§ 5 Abs. 1, 29 Abs. 2 Nr. 1 AufenthG – nicht berücksichtigt wird.255 § 32 Abs. 3
AufenthG ist einer analogen Anwendung auf den Nachzug von Enkelkindern zu Großeltern
nicht zugänglich, auch wenn diesen die Vormundschaft übertragen worden ist. Dieser
Nachzug ist vielmehr in § 36 AufenthG geregelt. 256
Dr Kindernachzug steht unter dem gesetzlichen Erfordernis des § 27 Abs. 1 AufenthG, d.h. er
muss zur Herstellung und Wahrung der familiären Lebensgemeinschaft mit den Eltern bzw.
einem Elternteil erfolgen. Weisen die Eltern einer anderen Person als Vormund das
Aufenthaltsbestimmungsrecht über das Kind zu, fehlt es an dieser Voraussetzung. Nach der
Rechtsprechung hat der Gesetzgeber für den Nachzug eines Kindes und dessen weiteren
Verbleib im Bundesgebiet zwingend die Aufnahme bzw. das Fortbestehen einer familiären
Lebensgemeinschaft mit den Eltern bzw. einem Elternteil vorausgesetzt. Der Umstand, dass
die hier lebenden Eltern das Aufenthaltsbestimmungsrecht auf den Bruder übertragen haben,
vermittelt deshalb kein Nachzugsrecht.257
In § 32 AufenthG werden fünf Fallgruppen von Rechtsansprüchen geregelt. Bei drei Fallgruppen wird lediglich Minderjährigkeit und Ledigkeit des Kindes vorausgesetzt:
- ein Elternteil besitzt eine Aufenthaltserlaubnis als Asylberechtigter oder Flüchtling nach
§ 25 Abs. 1 oder 2 AufenthG oder eine Niederlassungserlaubnis nach § 26 Abs. 3
AufenthG (§ 32 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG),
- beide Eltern oder der allein personensorgeberechtigte Elternteil besitzen eine
Aufenthaltserlaubnis, Niederlassungserlaubnis oder Erlaubnis zum Daueraufenthalt-EG
und das Kind verlegt seinen Lebensmittelpunkt zusammen mit seinen Eltern oder dem
allein personensorgeberechtigten Elternteil in das Bundesgebiet (§ 32 Abs. 1 Nr. 2
AufenthG),
- dem minderjährigen ledigen Kind, welches das sechzehnte Lebensjahr vollendet hat, ist
eine Aufenthaltserlaubnis zu erteilen, wenn es die deutsche Sprache beherrscht oder
gewährleistet erscheint, dass es sich aufgrund seiner bisherigen Ausbildung und
Lebensverhältnisse in die Lebensverhältnisse der Bundesrepublik einfügen kann, und beide
Eltern oder der allein personensorgeberechtigte Elternteil eine Aufenthaltserlaubnis,
Niederlassungserlaubnis oder Erlaubnis zum Daueraufenthalt-EG besitzen (§ 32 Abs. 2
AufenthG),
251
BVerwG, InfAuslR 1998, 161 (162) = NVwVZ-RR 1998, 517; BVerwG, InfAuslR 1998, 382
EuGH, NVwZ 2006, 1033, § 62.
253
Hess. VGH, EZAR 622 Nr. 19; Hess. VGH, EZAR 022 Nr. 5; Hess. VGH, NVwZ-RR 1996, 236 (237);
VGH BW, NVwZ-RR 1993, 215; VGH BW, EZAR 024 Nr. 7; OVG Rh-Pf, NVwZ-RR 1994, 692 (693); a.A.
BVerwG, InfAuslR 1998, 161.
254
VG Stuttgart, InfAuslR 2000, 120.
255
OVG Rh-Pf, InfAuslR 2004, 156 (157) = AuAS 2004, 86; zur nach ausländischem Recht erfolgten
Adoption s. OVG Berlin, AuAS 2004, 158.
256
BVerwG, DÖV1997, 835 (836).
257
OVG Rh-Pf, InfAuslR 2004, 156 (157) = AuAS 2004, 86.
252
69
- dem minderjährigen ledigen Kind eines Ausländers, der eine Aufenthaltserlaubnis nach §
38a AufenthG besitzt, ist eine Aufenthaltserlaubnis zu erteilen, wenn die familiäre
Lebensgemeinschaft in dem Mitgliedstaat bestand, in dem dieser die Rechtsstellung eines
langfristig Aufenthaltsberechtigten besitzt. Dasselbe gilt, wenn der Ausländer unmittelbar
vor Erteilung einer Niederlassungserlaubnis oder einer Erlaubnis zum Daueraufenthalt-EG
eine Aufenthaltserlaubnis nach § 38a AufenthG besaß (§ 32 Abs. 2a AufenthG) oder
- dem minderjährigen ledigen Kind, welches das sechzehnte Lebensjahr noch nicht vollendet
hat, ist eine Aufenthaltserlaubnis zu erteilen, wenn beide Eltern oder der allein
personensorgeberechtigte Elternteil eine Aufenthaltserlaubnis oder Niederlassungserlaubnis
besitzen (§ 32 Abs. 3 AufenthG).
Während bei vier Fallgruppen auch ein späterer Nachzug des Kindes erlaubt wird, wird bei
der zweiten Fallgruppe die „gleichzeitige Verlegung des Lebensmittelpunktes“ vorausgesetzt.
Derartige Dispositionen werden regelmäßig nur von vornherein wirtschaftlich gesicherte
Zuwanderer treffen können. Eine gleichzeitige Einreise wird bei der zweiten Fallgruppe nicht
verlangt. Vielmehr bezeichnet die „gemeinsame Verlagerung des Lebensmittelpunktes“ ein
prozesshaftes Geschehen, dessen Dauer sich nach den Umständen des Einzelfalls richtet. Es
kann etwa sachgerecht sein, dem Kind vor dem Umzug die Beendigung des laufenden
Schuljahres zu ermöglichen.258
Bei der fünften Fallgruppe wird der Kindernachzug nur gestattet, wenn das Kind das
sechzehnte Lebensjahr noch nicht vollendet hat und beide Eltern oder der allein
personensorgeberechtigte Elternteil eine Aufenthaltserlaubnis oder Niederlassungserlaubnis
besitzen (§ 32 Abs. 3 AufenthG). Diese Regelung war im Gesetzgebungsverfahren wegen der
Herabsenkung der Altergrenze heftig umstritten. Allerdings erlaubt das Gemeinschaftsrecht
die Herabsenkung der Altergrenze auf zwölf Jahre (Erwägungsgrund Nr. 12, Art. 4 Abs. 1 3.
Unterabs. RL 2003/86/EG).
Wie früher (vgl. § 20 Abs. 4 Nr. 1 AuslG 1990) misst der Gesetzgeber der Beherrschung der
deutschen Sprache besonderes Gewicht bei und gestaltet den früheren Ermessenstatbestand
unter den Voraussetzungen des § 32 Abs. 2 AufenthG sogar zu einem Rechtsanspruch um. In
der Verwaltungspraxis wurde früher regelmäßig davon ausgegangen, dass Kinder aus
deutschsprachigen Ländern im Allgemeinen die deutsche Sprache beherrschen.
Demgegenüber wurde bei Kindern aus anderen Herkunftsländern diese Voraussetzung
regelmäßig unterstellt, wenn sie aus einem deutschsprachigen Elternhaus stammen oder im
Ausland eine deutschsprachige Schule besucht hatten. Diese Voraussetzungen können bei der
Auslegung und Anwendung von § 32 Abs. 2 AufenthG zwar weiterhin zugrunde gelegt
werden. Sie haben jedoch keine ausschließende Funktion gegenüber anderen
Nachweismöglichkeiten
der
Sprachbeherrschung
bzw.
der
entsprechenden
Gewährleistungskomponente.
Bei Kindern aus EU-Staaten oder aus Staaten des Abkommens über den Europäischen
Wirtschaftsraum oder aus einem sonstigen in § 9 AAV 1900 genannten Staat wurde
regelmäßig unterstellt, dass aufgrund der bisherigen Ausbildung und Lebensverhältnisse eine
258
BT-Drs. 15/420, S. 83; so schon BT-Drs. 14/7387, S. 77.
70
Einfügung in die deutschen Lebensverhältnisse gewährleistet erschien. Kinder aus anderen
Staaten waren indes nicht von vornherein ausgeschlossen, sofern deutsche Sprachkenntnisse
vorhanden waren. Unter diesen Voraussetzungen kamen auch türkische Kinder für die
Anwendung von § 20 Abs. 4 Nr. 1 AuslG 1990 in Betracht.259 Im Rahmen der
Ermessensausübung wurde berücksichtigt, ob die Deutschkenntnisse während eines illegalen
Aufenthaltes erworben worden waren. Dieser Umstand stand zwar nicht von vornherein dem
Kindernachzug entgegen. Für die Frage, ob das Kind über die erforderlichen
Deutschkenntnisse verfügte oder eine günstige Integrationsprognose bot, waren indes
Entwicklungen nach Eintritt der Volljährigkeit nicht zu berücksichtigen.260
Die Ansprüche nach § 32 Abs. 2, 3 und 4 AufenthG setzten voraus, dass beide Elternteile
oder der allein personensorgeberechtigte Elternteil261 im Besitz einer Aufenthaltserlaubnis,
Niederlassungserlaubnis oder Erlaubnis zum Daueraufenthalt-EG sind. Dies ist nicht der
Fall, wenn über den Antrag auf Erteilung des Aufenthaltstitels eines Elternteiles noch nicht
entschieden ist. Die Entscheidung über den Antrag des Kindes kann aber gleichzeitig mit dem
Antrag des Elternteiles erfolgen. Unschädlich ist es für den Rechtsanspruch des Kindes, wenn
ein Elternteil verstorben ist. Das ergibt sich aus dem Wortlaut der Vorschrift und war in der
Vorläufernorm ausdrücklich geregelt (vgl. § 20 Abs. 2 Nr. 1 AuslG 1990). Der verstorbene
Elternteil muss nicht zuvor im Bundesgebiet gelebt haben. Die Eltern müssen weder
miteinander verheiratet sein noch miteinander in ehelicher Lebensgemeinschaft
zusammenleben. Da der Nachzug an den Zweck des § 27 Abs. 1 AufenthG gebunden ist, ist
allerdings die familiäre Lebensgemeinschaft des Kindes mit zumindest dem allein
sorgeberechtigten Elternteil erforderlich (§ 32 Abs. 3 AufenthG).
Nach § 104 Abs. 4 Satz 1 AufenthG wird dem volljährigen ledigen Kind eines Flüchtlings, bei
dem bis zum 31. Dezember 2004 unanfechtbar das Vorliegen der Voraussetzungen des § 51
Abs. 1 AuslG 1990 festgestellt wurde, in entsprechender Anwendung des § 25 Abs. 2
AufenthG eine Aufenthaltserlaubnis erteilt, wenn das Kind im Zeitpunkt der
Asylantragstellung des Flüchtlings minderjährig war und sich mindestens seit der
Unanfechtbarkeit der Feststellung nach § 51 Abs. 1 AuslG 1990 im Bundesgebiet aufhält und
seine Integration zu erwarten ist. Volljährige ledige Kinder eines Asylberechtigten, die im
Zeitpunkt der Asylantragstellung des Asylberechtigten minderjährig und ledig waren,
bedürfen keiner Übergangsregelung. Sie genießen Asylrecht nach § 26 Abs. 2 AsylVfG.
Diese Übergangsregelung des § 104 Abs. 4 AufenthG ist dem Umstand geschuldet, dass der
Anspruch nach § 32 Abs. 1 Nr. 1 in Verb. mit § 25 Abs. 2 AufenthG voraussetzt, dass das
Kind minderjährig und ledig ist. Ist das Kind vor dem 1. Januar 2005 volljährig geworden,
kann es sich deshalb nicht auf § 32 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG berufen. Wird dem Flüchtling nach
dem 1. Januar 2005 die Rechtsstellung nach § 60 Abs. 1 AufenthG gewährt, wird dem im
Zeitpunkt der Asylantragstellung des Flüchtlings minderjährigen und ledigen Kinder der
Familienflüchtlingsschutz (§ 26 Abs. 4 AsylVfG) gewährt.
Das Gesetz verlangt, dass die Integration des Antragstellers zu erwarten ist. Deshalb ist eine
Prognoseentscheidung zu treffen, die als tatbestandliche Voraussetzung eines
259
Hess. VGH, EZAR 024 Nr. 6.
260
BVerwG, NVwZ-RR 1998, 517 (519) = EZAR 022 Nr. 7 = InfAuslR 1998, 161; Richter, NVwZ 1999,
726 (728)
261
Gegen eine analoge Anwendung BVerwG, InfAuslR 2009, 13 (14) = AuAS 2009, 5.
71
Rechtsanspruchs der vollen inhaltlichen Kontrolle durch das Verwaltungsgericht unterliegt.
Zwar werden in der Verwaltungspraxis mit zunehmender Dauer des Aufenthalts im
Bundesgebiet und dem damit verbundenen Schulbesuch die Anforderungen an die
Sprachkenntnisse erhöht. Da für den Fall, dass kein Anspruch auf Teilnahme am
Integrationskurs besteht, selbst für die Niederlassungserlaubnis der herabgesetzte Maßstab
Anwendung findet (vgl. § 9 Abs. 2 Satz 5 AufenthG), muss dies erst recht für die Erteilung
der Aufenthaltserlaubnis gelten. Die für die Anwendung des § 104 Abs. 4 AufenthG in
Betracht kommenden Kinder haben keinen Anspruch auf Teilnahme am Integrationskurs (vgl.
§ 44 Abs. 1 AufenthG). Es reicht deshalb aus, dass sie sich auf einfache Art in deutscher
Sprache verständigen können. Darüber hinaus müssen die bisherigen Ausbildungs- und
Lebensverhältnisse des jungen Ausländers und deren mögliche Entwicklung in die
Gesamtbetrachtung eingezogen werden.262
Strafrechtliche Verurteilungen sind nach § 104 Abs. 4 Satz 2 AufenthG zu beurteilen. Die
Vorschrift formuliert ein negatives Integrationsmerkmal. Die Rechtsprechung erachtet es für
zulässig, auch unabhängig von dem eigenständigen – nur im Ermessen stehenden –
Versagungsgrund auch andere Indizien für eine negative Entwicklung des jungen Ausländers,
z.B. Alkohol- und Drogenmissbrauch, Nichtsesshaftigkeit, zu berücksichtigen. Diese
Umstände könnten gegen die Annahme einer ansonsten grundsätzlich zu erwartenden
Integration sprechen. Auch könnten Straftaten, die unterhalb der Schwelle des § 104 Abs. 4
Satz 2 AufenthG liegen, bei der allgemeinen Integrationsprognose des § 104 Abs. 4 Satz 1
AufenthG eine Rolle spielen, wenn ihnen konkrete Anhaltspunkte für eine negative
Entwicklung des Ausländers zu entnehmen seien.263
Dem kann nicht gefolgt werden. § 104 Abs. 4 Satz 2 AufenthG enthält vielmehr hinsichtlich
berücksichtigungsfähiger Straftaten eine abschließende Regelung. Der Gesetzgeber geht
danach offensichtlich davon aus, dass Straftaten unterhalb der dort bezeichneten Schwelle
grundsätzlich der Erwartung einer Integration nicht entgegenstehen. Dafür spricht, dass
Jugendlichen mit erschwerten Integrationsvoraussetzungen, wie sie insbesondere für
Flüchtlingskinder vorherrschen, die Annahme einer Integrationserwartung nicht ohne Not
erschwert werden soll. Da es sich um eine Ermessensregelung handelt, stehen bei ansonsten
gelungener Integration auch über der Schwelle der § 104 Abs. 4 Satz 2 AufenthG liegende
Straftaten nicht zwingend der Erteilung der Aufenthaltserlaubnis entgegen.
Die Aufenthaltserlaubnis gilt als eine Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 2 AufenthG, ohne
dass die hierfür maßgeblichen Voraussetzungen vorliegen müssen (Nr. 104.4.1 VAH). Das
volljährige Kind gilt damit nicht als Flüchtling nach § 3 AsylVfG in Verb. mit der GFK, da §
104 Abs. 4 Satz 1 AufenthG ausschließlich auf § 25 Abs. 2 AufenthG und nicht zugleich auch
auf § 3 AsylVfG verweist. Das Kind braucht aber keinen nationalen Reiseausweis vorlegen,
weil ihm wegen der dem maßgeblichen Elternteil erteilten Rechtsstellung eines Flüchtlings
regelmäßig die Erlangung eines nationalen Reiseausweises unzumutbar ist. Es besteht deshalb
ein Anspruch auf Erteilung des Reiseausweises nach § 5 Abs. 1 AufenthV.
2.
Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis
Das mit Visum einreisende Kind stellt nach der Einreise keinen Erstantrag auf Erteilung der
Aufenthaltserlaubnis, sondern einen Verlängerungsantrag. Auf Altersgrenzen kommt es
deshalb bei der Verlängerungsentscheidung nicht an.264 Bei der Verlängerungsentscheidung
262
263
264
Nieders.OVG, InfAuslR 2006, 128 (130) = NVwZ-RR 2006, 424 =AuAS 2006, 98.
Nieders.OVG, InfAuslR 2006, 128 (130 f.) = NVwZ-RR 2006, 424 = AuAS 2006, 98.
Nieders.OVG, NVwZ-RR 2006, 726 (727) = InfAuslR 2008, 328.
72
sind abweichend von § 8 Abs. 1 AufenthG das Unterhaltserfordernis (§ 5 Abs. 1 Nr. 1
AufenthG) und das Wohnraumerfordernis (§ 29 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG) nicht zu
berücksichtigen (§ 34 Abs. 1 AufenthG). Hingegen kann von der Voraussetzung des Besitzes
der Aufenthaltserlaubnis, der Niederlassungserlaubnis oder der Erlaubnis zum
Daueraufenthalt-EG der Eltern oder des allein personensorgeberechtigten Elternteils sowie
vom Versagungsgrund des § 27 Abs. 2 AufenthG nicht abgesehen werden (vgl. § 34 Abs. 1
AufenthG).
Dem minderjährigen Ausländer, der eine Aufenthaltserlaubnis im Wege des Kindernachzugs
erhalten hat und besitzt, wird abweichend von § 9 Abs. 2 AufenthG eine
Niederlassungserlaubnis erteilt, wenn er im Zeitpunkt der Vollendung seines 16. Lebensjahres
seit fünf Jahren im Besitz der Aufenthaltserlaubnis (§ 35 Abs. 1 Satz 1 AufenthG) oder er
volljährig und seit fünf Jahren im Besitz der Aufenthaltserlaubnis ist, über ausreichende
Kenntnisse der deutschen Sprache verfügt und der Lebensunterhalt gesichert ist (§ 35 Abs. 1
Satz 2 AufenthG). Bis dahin muss die Aufenthaltserlaubnis nach §§ 27, 28 Abs. 1 Nr. 2
AufenthG erteilt und verlängert worden sein. Auf die Zeiten des Besitzes einer
Aufenthaltserlaubnis werden Zeiten der Erlaubnisfiktion nach § 81 Abs. 3 Satz 1 AufenthG,
der Fortgeltungsfiktion des § 81 Abs. 4 AufenthG, rechtmäßige Aufenthaltszeiten, sowie
nach § 84 Abs. 2 Satz 3 AufenthG berücksichtigungsfähige Aufenthaltszeiten angerechnet.
Zeiten eines Schulbesuchs im Ausland werden nur angerechnet, wenn in der Schule Deutsch
Umgangssprache war. Zeiten der Untersuchungs- und Strafhaft werden nicht berücksichtigt.
Unterbrechungen bleiben nach Maßgabe des § 85 AuslG außer Betracht
Wird das Kind im Bundesgebiet geboren und haben beide Elternteile oder der allein
personensorgeberechtigte Elternteil im Zeitpunkt der Geburt eine Aufenthaltserlaubnis,
Niederlassungserlaubnis oder Erlaubnis zum Daueraufenthalt-EG, so ist von Amts wegen die
Aufenthaltserlaubnis zu erteilen (§ 33 Satz 2 AufenthG). Mit der Einbeziehung auch des
Kindesvaters in diese Regelung zieht der Gesetzgeber die Konsequenz aus der
Rechtsprechung des BVerfG, welches die frühere - den Aufenthaltsanspruch des im
Bundesgebiet geborenen Kindes allein an den Aufenthaltsstatus der Mutter anknüpfende Regelung für verfassungswidrig erklärt hatte.265 Bereits vorher waren in der obergerichtlichen
Rechtsprechung verfassungsrechtliche Bedenken angemeldet worden.266 Dieser
Rechtsprechung trägt der Gesetzgeber mit § 33 Satz 2 AufenthG Rechnung. Der
Rechtsanspruch auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis an ein im Bundesgebiet geborenes
Kind wird nach geltendem Recht allein davon abhängig gemacht, dass zumindest ein
Elternteil – unabhängig von seiner Geschlechtszugehörigkeit – eine Aufenthaltserlaubnis,
Niederlassungserlaubnis oder Daueraufenthaltserlaubnis-EG besitzt.
§ 33 Satz 2 AufenthG gewährt einen Anspruch auf erstmalige Erteilung der
Aufenthaltserlaubnis und setzt keinen entsprechenden Antrag voraus (§ 33 Satz 1 AufenthG).
Diese ist vielmehr von Amts wegen zu erteilen und zu verlängern. Ziel des Gesetzes ist es,
das Kind am Aufenthaltsstatus seiner Eltern oder des allein personensorgeberechtigten
Elternteils teilhaben zu lassen. Die Regelerteilungsgründe (§ 5 Abs. 1 AufenthG) sowie § 29
Abs. 1 AufenthG finden keine Anwendung. Es kommt also nicht darauf an, ob der
Lebensunterhalt des Kindes durch Einkünfte der Eltern oder durch sonstige eigene Mittel
sichergestellt und ob ausreichender Wohnraum verfügbar ist. Die Aufenthaltserlaubnis ist
auch dann zu erteilen, wenn keine familiäre Lebensgemeinschaft mit den Eltern oder einem
Elternteil besteht, etwa wenn das Kind in einem Heim oder einer Pflegefamilie untergebracht
265
BVerfGE 114, 357 (363 ff.) = InfAuslR 2006, 53 = AuAS 2006, 2.
OVG Hamburg, AuAS 2002, 218; Hess.VGH, NVwZ-Beil. 2003, 3; VGH BW, InfAuslR 2001, 330 =
NVwZ 2001, 605; VG München, InfAuslR 2001, 436.
266
73
ist. § 33 Satz 2 AufenthG hat damit nicht nur verfahrensrechtliche (Absehen vom
Antragserfordernis), sondern auch erhebliche materiellrechtliche Bedeutung, indem er einen
nicht an weitere Voraussetzungen geknüpften Anspruch auf Erteilung einer
Aufenthaltserlaubnis anstelle der sonst zu treffenden Ermessensentscheidung gewährt.267
Nach § 33 Satz 1 AufenthG kann einem Kind, das im Bundesgebiet geboren wird,
abweichend von den allgemeinen Erteilungsvoraussetzungen des § 5 AufenthG und dem
Wohnraumerfordernis nach § 29 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG eine Aufenthaltserlaubnis erteilt
werden, wenn ein Elternteil eine Aufenthaltserlaubnis Niederlassungserlaubnis oder Erlaubnis
zum Daueraufenthalt-EG besitzt. Besitzt der allein personensorgeberechtigte Elternteil oder
besitzen beide Elternteile eine derartige Aufenthaltsposition, besteht der Rechtsanspruch nach
§ 33 Satz 2 AufenthG. Der Ermessenstatbestand erfasst danach die Fälle, in denen zwar der
allein personensorgeberechtigte Elternteil nicht den geforderten Aufenthaltsstatus hat, wohl
aber der nicht personensorgeberechtigte Elternteil.
Bei der Ermessensausübung soll der besonderen Beziehung zwischen den Eltern und dem
Kleinkind unmittelbar nach der Geburt im Interesse der Gewährung der Familieneinheit und
zur Aufrechterhaltung der nach Art. 6 Abs. 1 GG besonders geschützten familiären
Betreuungsgemeinschaft Rechnung getragen werden. Hinsichtlich des Vaters eines
nichtehelichen Kindes ist dabei insbesondere zu berücksichtigen, ob ihm ein Sorgerecht
zusteht oder er in familiärer Lebensgemeinschaft mit dem Kind lebt. § 33 Satz 1 AufenthG
regelt aber ausschließlich das Aufenthaltsrecht des Kindes. Demgegenüber wird das
Aufenthaltsrecht des Elternteils des nach § 33 Satz 1 AufenthG begünstigten Kindes, der
keinen Aufenthaltsstatus besitzt, nach § 36 AufenthG geregelt. Ist das Kind deutscher
Staatsangehöriger, richtet sich der Anspruch auf Erteilung der Aufenthaltserlaubnis des
sorgeberechtigten Elternteils nach § 28 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 AufenthG und das
Aufenthaltsrecht des nichtsorgeberechtigten Elternteils nach § 28 Abs. 1 Satz 3 AufenthG.
Der Aufenthalt eines im Bundesgebiet geborenen Kindes, das nicht die Voraussetzungen des
§ 33 Satz 1 und 2 AufenthG erfüllt, dessen Vater oder Mutter aber im Zeitpunkt der Geburt
im Besitz eines Visums ist oder sich visumfrei aufhalten darf, gilt bis zum Ablauf des Visums
oder des rechtmäßigen visumfreien Aufenthaltes als erlaubt (§ 33 Satz 3 AufenthG). Diese
Norm ist der früheren in § 33 Satz 2 AufenthG a.F. geregelten Erlaubnisfiktion nachgebildet,
die allerdings allein an den Aufenthaltsstatus der Mutter anknüpfte. Besitzt die Mutter oder
der Vater ein Visum oder darf sich der maßgebende Elternteil aufgrund einer Befreiung vom
Erfordernis des Aufenthaltstitels (§ 41 Abs. 3 Satz 1 AufenthV) oder aufgrund der Fiktion
nach § 81 Abs. 3 Satz 1 oder § 81 Abs. 4 AufenthG ohne Visum im Bundesgebiet aufhalten,
ist der Aufenthalt des Kindes für den entsprechenden Zeitraum erlaubt (Nr. 33.9 VAH).
3.
Eigenständiges Aufenthaltsrecht (§ 34 Abs. 2, § 35 AufenthG)
Mit Eintritt der Volljährigkeit wird die einem Kind im Rahmen des Kindernachzugs erteilte
Aufenthaltserlaubnis zu einem eigenständigen, vom Zweck des Kindernachzugs
unabhängigen Aufenthaltsrecht (§ 34 Abs. 2 Satz 1 AufenthG). Unter diesen Voraussetzungen
finden § 27 sowie § 28 bzw. § 32 AufenthG keine Anwendung mehr (Nr. 34.2.1 VAH). Eine
analoge Anwendung des § 31 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG ist vom Gesetzgeber nicht gewollt. Es
besteht insoweit auch keine planwidrige Unvollständigkeit des Gesetzes (Gesetzeslücke). Die
Vorschrift des § 34 Abs. 2 AufenthG gewährt keinen unmittelbaren Rechtsanspruch auf
Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis. Ergibt sich ein Anspruch auf Verlängerung der
267
BVerfGE 114, 357 (365) = InfAuslR 2006, 53 (54 ff.) = AuAS 2006, 2.
74
Aufenthaltserlaubnis nicht aus aus § 34 Abs. 1 in Verb. mit § 37 oder § 35 AufenthG, ist über
den Verlängerungsantrag gemäß § 34 Abs. 3 AufenthG nach Ermessen zu entscheiden.268
Wird die familiäre Lebensgemeinschaft mit den hier lebenden Eltern bzw. dem hier lebenden
allein personensorgeberechtigten Elternteil vor Erreichung der Volljährigkeit beendet, bevor
das Kind in den Genuss des eigenständigen Aufenthaltsrechts nach § 35 Abs. 1 Satz 1
AufenthG gelangt ist, kann diesem ein Aufenthaltstitel nach Maßgabe des § 36 AufenthG
erteilt werden.269 Ein eigenständiges Aufenthaltsrecht entsteht aber auch dann, wenn das Kind
im Falle seiner Ausreise ein Wiederkehrrecht gemäß § 37 AufenthG hätte, die
Aufenthaltserlaubnis in entsprechender Anwendung des § 37 AufenthG verlängert (§ 34
Abs. 2 Satz 2 AufenthG) oder dem Kind eine Niederlassungserlaubnis nach § 35 AufenthG
erteilt wird. Für die Niederlassungserlaubnis sieht § 35 Abs. 1 AufenthG Privilegierungen vor.
Nach § 35 Abs. 4 AufenthG ist von den Erfordernissen der deutschen Sprachkenntnisse, der
Unterhaltssicherung und der Unabhängigkeit von Sozialhilfe zwingend abzusehen, wenn
diese wegen einer Krankheit oder Behinderung des Antragstellers nicht erfüllt werden
können. Der Nachweis ist durch fachärztliche Stellungnahmen zu führen.
4.
Ausschluss der Niederlassungserlaubnis (§ 35 Abs. 3 AufenthG)
§ 35 Abs. 3 Satz 1 AufenthG regelt abschließend, in welchen Fällen die Erteilung der
Niederlassungserlaubnis versagt werden kann. Die Prüfung, ob Ausschlussgründe vorliegen,
kommt erst in Betracht, wenn die Voraussetzungen nach § 35 Abs. 1 AufenthG erfüllt sind.
Die in § 35 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 AufenthG genannten Delikte begrenzen indes nicht die
Annahme eines Regelfalles nach § 35 Abs. 3 Satz 3 AufenthG,270 d.h. der Regelfall kann auch
angenommen werden, wenn die strafrechtlichen Verfehlungen weit über den durch § 35
Abs. 3 Satz 1 AufenthG gezogenen Rahmen hinausgehen. Die Feststellung des Regelfalles
nach § 35 Abs. 3 Satz 3 AufenthG ist vielmehr an der Schranke von Art. 3 Abs. 3 ENA und
Art. 8 EMRK auszurichten.271 Das BVerwG hat im Fall Mehmet die Ermessensnorm des § 21
Abs. 1 Satz 2 i.V.m. § 17 Abs. 5 AuslG 1990 dahin ausgelegt, dass die gesetzgeberische
Entscheidung zugunsten eines besonderen Ausweisungsschutzes minderjähriger Ausländer
bei der Verlängerungsentscheidung zu berücksichtigen sei. Die in § 48 Abs. 2 Satz 1 AuslG
1990 (jetzt § 56 Abs. 2 Satz 2 AufenthG) getroffene gesetzgeberische Entscheidung sei bei
der im Ermessen stehenden Verlängerungsentscheidung zu beachten. Denn mit dem
Ausweisungsschutz für Minderjährige habe der Gesetzgeber den verfassungsrechtlichen
Auftrag zum Schutz der Familie, insbesondere der Beziehung zwischen Eltern und ihren
minderjährigen Kindern, konkretisiert.2723 Diese Rechtsprechung des BVerwG kann
jedenfalls dahin verstanden werden, dass unabhängig von der Auslegung des § 35 Abs. 3 Satz
3 AufenthG jedenfalls der Anspruch auf Verlängerung der befristeten Aufenthaltserlaubnis
nach § 35 Abs. 3 Satz 2 AufenthG am Maßstab des besonderen Ausweisungsschutzes nach
§ 56 Abs. 2 Satz 2 AufenthG zu beurteilen ist.
IX.
Aufenthaltserlaubnis für den sorge- oder umgangsberechtigten Elternteil eines
minderjährigen ledigen Kindes (§ 36, § 28 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 AufenthG)
268
OVG NW, InfAuslR 2006, 365 (366).
OVG Rh-Pf, InfAuslR 2004, 156 (158) = AuAS 2004, 86.
352OVG Rh-Pf, InfAuslR 2004, 156 (158) = AuAS 2004, 86.
270
BayVGH, InfAuslR 2003, 57.
271
Marx, InfAuslR 2000, 9 (10); VG Bremen, InfAuslR 1998, 450 für § 21 Abs. 4 AuslG 1990.
272
Marx, InfAuslR 2000, 9 (10); VG Bremen, InfAuslR 1998, 450 für § 21 Abs. 4 AuslG 1990.
269
75
1.
Allgemeines
Nach § 28 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 AufenthG ist dem ausländischen Elternteil eines
minderjährigen ledigen deutschen Kindes die Aufenthaltserlaubnis zur Ausübung der
Personensorge zu erteilen und zu verlängern. Anders als § 28 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AufenthG
setzt die Vorschrift voraus, dass die familiäre Lebensgemeinschaft zur Ausübung der
Personensorge hergestellt werden soll. Über den Antrag auf Erteilung der
Aufenthaltserlaubnis des nichtsorgeberechtigten Elternteils eines minderjährigen ledigen
Deutschen, ist hingegen gemäß § 28 Abs. 1 Satz 4 AufenthG nach Ermessen zu entscheiden,
wenn die familiäre Lebensgemeinschaft bereits im Bundesgebiet geführt wird. Im Blick auf
ein ausländisches minderjähriges lediges Kind, das über den anderen Elternteil ein
verfestigtes Aufenthaltsrecht besitzt, fehlt ein gleichwertiger korrespondierender gesetzlicher
Anspruch der Eltern oder eines Elternteils auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis. Das
BVerfG wendet seine Rechtsprechung aber auch auf diesen Fall an.273
Hier wird zumeist eine Lösung über § 36, § 25 Abs. 5 oder § 25 Abs. 4 Satz 2 AufenthG
gesucht. Nach § 36 wie auch nach § 25 Abs. 4 Satz 2 AufenthG wird die Aufenthaltserlaubnis
nur zur Vermeidung einer außergewöhnlichen Härte erteilt. Diese einfachgesetzlichen
Normen setzen für die Verwirklichung grundrechtlicher Ansprüche zu hohe Hürden. Daher
wird in der Verwaltungspraxis zumeist eine Lösung über § 25 Abs. 5 AufenthG gesucht.
Vorausgesetzt wird hierbei, dass das Kind über ein dauerhaftes Aufenthaltsrecht verfügt.274
Denn beim Bestehen einer familiären Lebensgemeinschaft zwischen dem
nichtsorgeberechtigten Elternteil und seinem minderjährigen ledigen Kind besteht ein
rechtliches Ausreisehindernis. Der Gesetzgeber hat es bislang vermieden, für
nichtsorgeberechtigte Elternteile ausländischer minderjähriger lediger Kinder den Regelungen
des § 28 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 und § 28 Abs. 1 Satz 2 AufenthG vergleichbare gesetzliche
Erteilungsgründe festzulegen. Angesichts dessen ist die Lösung über § 25 Abs. 5 AufenthG in
Anlehnung an § 28 Abs. 1 Satz 2 AufenthG nach Maßgabe verfassungsrechtlicher Grundsätze
zu suchen.
Die nachfolgenden Ausführungen betreffen sowohl den nichtsorgeberechtigten Elternteil
eines minderjährigen ledigen deutschen Kindes wie den eines minderjährigen ledigen
ausländischen Kindes. Für die erste Fallgruppe ist § 28 Abs. 1 Satz 2 AufenthG für die andere
§ 25 Abs. 5 AufenthG Rechtsgrundlage. Entscheidend ist das Kindeswohl, dessen Bedeutung
in der Rechtswirklichkeit nicht anhand der Staatsangehörigkeit des Kindes relativiert werden
kann. Während im Blick auf das deutsche Kind bereits die Staatsangehörigkeit die
Berücksichtigung der Zumutbarkeit des Aufenthaltes im Herkunftsland des sorgeberechtigten
Elternteils sperrt, steht beim ausländischen Kind der gefestigte Aufenthaltsanspruch des
Kindes einer derartigen Betrachtung entgegen. Beim im Bundesgebiet geborenen Kind folgt
dieser Anspruch aus § 33 AufenthG, im Übrigen aus dem auf Dauer angelegten
Aufenthaltsanspruch des anderen Elternteils (vgl. § 32 AufenthG). Der EGMR weist
ausdrücklich darauf hin, es stelle einen schwerwiegenden Eingriff in das durch Art. 8 EMRK
geschützte Recht dar, wenn einem ausländischen Kind mit verfestigtem Aufenthaltsrecht im
Gebiet eines Vertragsstaates zugemutet werde, dem anderen Elternteil in das gemeinsame
Herkunftsland zu folgen.275 Der Aufenthalt muss dem anderen ausländischen Elternteil und
dem Kind im Herkunftsland des Elternteils jedoch möglich sein.276
273
BVerfG (Kammer), InfAuslR 2008, 347.
Nieders.OVG, EZAR 45 Nr. 2; OVG Berlin-Brandenburg, InfAuslR 2007, 236, allgemein zum
gefestigten Aufenthaltsrecht des stammberechtigten Familienangehörigen; s. auch § 29 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG.
275
EGMR, InfAuslR 2006, 255 (266) – Sezen.
276
BVerfG (Kammer), InfAuslR 2008, 347 (348).
274
76
Eine Abschiebung, die mit Art. 6 Abs. 2 GG unvereinbar ist, ist deshalb rechtlich unmöglich
und begründet einen Duldungsanspruch nach § 60a Abs. 2 AufenthG. Das BVerfG weist
ausdrücklich darauf hin, dass der Verweis auf eine vorübergehende Trennung
verfassungsrechtlichen Bedenken begegnet.277 Da bei Kleinkindern die Entwicklung sehr
schnell voranschreitet, ist schon eine verhältnismäßig kurze Trennungszeit im Lichte von
Art. 6 Abs. 2 GG unzumutbar.278
2.
Vaterschaftsanerkennung oder -feststellung
a)
Aufenthaltsrechtliche Bedeutung der Vaterschaftsanerkennung
Bei nichtehelichen Beziehungen bedarf es beim Vater der Anerkennung der Vaterschaft, um
aus dem Verwandtschaftsverhältnis zum Kind Aufenthaltsansprüche ableiten zu können. In
der Verwaltungspraxis kommt insbesondere dem Erwerbsgrund nach § 4 Abs. 1 Satz 2, aber
Abs. 3 Satz 1 StAG Bedeutung zu. Ist nur der Vater deutscher Staatsangehöriger, bedarf es
zur Geltendmachung des Erwerbs der deutschen Staatsangehörigkeit des Kindes lediglich der
Vaterschaftsanerkennung oder –feststellung. Erkennt der deutsche Vater seine Vaterschaft an,
um dadurch der ausländischen Kindesmutter den Aufenthaltsanspruch nach § 28 Abs. 1 Satz 1
Nr. 3 AufenthG zu sichern, hat die Behörde dies hinzunehmen.
Zweifel am wirksam abgegebenen Vaterschaftsanerkenntnis können deren zivilrechtliche und
staatsangehörigkeitsrechtliche Wirkung nicht aufheben. Einwendungen gegen die inhaltliche
Richtigkeit einer nach den §§ 1594 ff. BGB wirksam abgegebenen Vaterschaftsanerkenntnis
außerhalb der Vaterschaftsanfechtungsklage sind daher auch bei erheblichen Zweifeln an der
Richtigkeit nicht zugelassen.279 Durch Vaterschaftsanerkenntnis ist der Erklärende, auch wenn
er nicht der biologische Vater ist, Vater im rechtlichen Sinne geworden. Er kann deshalb auch
keine unwahren Angaben im Sinne des StGB und des AufenthG gegenüber der
Ausländerbehörde machen.280 Allerdings können strafbare Handlungen durch den
Erklärenden und die Kindesmutter „im Kontext der Anerkennung der Vaterschaft“ selbst
begründet werden.281
b)
Nachträglicher Verlust der deutschen Staatsangehörigkeit des Kindes
Bei ehelichen wie nichtehelichen Kindern entfällt bei nachträglichem Verlust der deutschen
Staatsangehörigkeit des Kindes das Aufenthaltsrecht der Mutter. Verliert das von der
ausländischen Mutter während der Ehe mit einem Deutschen geborene Kind die deutsche
Staatsangehörigkeit, weil der Ehemann die Ehelichkeit (§ 1599 Abs. 1 BGB) erfolgreich
angefochten hat282 und deshalb der auf § 4 Abs. 1 Satz 2 StAG gestützte Erwerb der
deutschen Staatsangehörigkeit des Kindes rückwirkend entfällt, liegt darin nicht eine
unzulässige Entziehung oder der Verlust der deutschen Staatsangehörigkeit durch eine
staatliche Maßnahme im Sinne des Art. 16 Abs. 1 GG. Die Mutter kann in diesem Fall nicht
277
BVerfG (Kammer), InfAuslR 2000, 67 (69) = EZAR 622 Nr. 37 = NVwZ 2000, 59 = AuAS 2000, 43.
BVerfG (Kammer), InfAuslR 2000, 67 (69) = EZAR 622 Nr. 37 = NVwZ 2000, 59 = AuAS 2000, 43;
OVG Hamburg, B. v. 18. 10. 2000 – 2 Bs 237/00; OVG Saarland, InfAuslR 2003, 328 = NVwZ-RR 2003, 783;
a. A. Nieders.OVG, InfAuslR 2003, 332 (333).
279
OVG SA, InfAuslR 2006, 56 (58); OVG Berlin-Brandenburg, NVwZ-RR 2008, 826 (827), m.w.Hs.
280
AG Nienburg/Weser, AuAS 2006, 128; a. A. LG Hildesheim, NStZ 2006, 360?
281
OLG Celle, AuAS 2006, 81.
282
VGH BW, ZAR 2007, 289
278
77
als ausländischer
beanspruchen.283
Elternteil
eines
deutschen
Kindes
eine
Aufenthaltserlaubnis
Erhebt der deutsche Kindesvater nicht die Anfechtungsklage, blieb es bislang bei der
deutschen Staatsangehörigkeit des Kindes. Seit dem 1. Juni 2008 ist jedoch durch Änderung
des § 1600 Abs. 1 Nr. 5, Abs. 6 BGB den zuständigen Landesbehörden ein Anfechtungsrecht
eingeräumt worden, um bei kollusiven Zusammenwirken der Eltern die Ehelichkeit des
Kindes und „missbräuchliche Vaterschaftsanerkennungen zu bekämpfen.“284
Mit dem Verlust der deutschen Staatsangehörigkeit entfällt auch für das Kind das weitere
Aufenthaltsrecht.285 Vielmehr teilt es sein weiteres ausländerrechtliches Schicksal mit dem
der Mutter. Offenbart die Mutter allerdings nachträglich den tatsächlichen Vater und erkennt
dieser die Vaterschaft an, so kann je nach dem Status des Vaters ein Aufenthaltsrecht von
Kind und Mutter in Betracht kommen. In der Verwaltungspraxis ist eine derartige
nachträgliche Offenbarung allerdings sehr selten. Tatsächliche Schwierigkeiten werden bei
einer Täuschung über die Vaterschaft die Glaubhaftmachung einer familiären Gemeinschaft
des Kindes mit seinem tatsächlichen Vater bereiten. Dem Aufenthaltsrecht der Mutter wird
häufig ein Ausweisungsgrund wegen eines Personenstandsdeliktes entgegenstehen. Von
vornherein ausgeschlossen ist eine derartige Fallkonstellation allerdings nicht.286
3.
Ausstellung der Geburtsurkunde
Nach der Geburt des Kindes ist die Ausstellung einer Geburtsurkunde zu beantragen.
Üblicherweise wird die Staatsangehörigkeit des Kindes nicht in die Geburtsurkunde
eingetragen, es sei denn, die deutsche Staatsangehörigkeit wird nach § 4 Abs. 3 Satz 1 StAG
erworben (vgl. § 4 Abs. 3 Satz 2 StAG). Gerade im aufenthaltsrechtlichen Verfahren bedarf es
jedoch des Nachweises der deutschen Staatsangehörigkeit des Kindes. Dieser Nachweis ist
gegebenenfalls bei der zuständigen Staatsangehörigkeitsbehörde zu beantragen. Diese
wiederum wird auf Vorlage der Geburtsurkunde durch das Standesamt bestehen. Häufig ist
die Identität der Kindesmutter nicht geklärt, sodass die Standesämter in der
Verwaltungspraxis sich weigern, eine Geburtsurkunde auszustellen.
Nach der Geburt des Kindes muss diese beim zuständigen Standesbeamten angezeigt und eine
Geburtsurkunde beantragt werden. Die Beurkundung der Geburt ist grundsätzlich
unverzüglich einzutragen und darf nicht auf unbegrenzte Zeit zurück gestellt werden, wenn
Zweifel an der Identität der Eltern bestehen oder diese erst nach längeren Ermittlungen
behoben werden können.287 Bei der Beurkundung der Geburt müssen Angaben zu den in § 21
PStG vorgeschriebenen Umständen gemacht werden. Gewöhnlicherweise bilden die nach §
68a PStG, § 25 PStV vorzulegenden Personenstandsurkunden nach § 60 PStG eine
verlässliche Eintragungsgrundlage, sodass der Standesbeamte nur auftretenden
Unstimmigkeiten nachzugehen hat, etwa wegen inhaltlicher Abweichungen zwischen den
Angaben in der Anzeige und den vorgelegten Urkunden. Hat er hingegen durchgreifende
283
BVerfG (Kammer), InfAuslR 2007, 79 (80); VGH BW, AuAS 2001, 256; OVG SA, InfAuslR 2006, 56
(57); VG Düsseldorf, NJW 1986, 676 (677), Marx, in: GK-StAR, IV-2 § 4 StAG Rdn. 27; Reinhard Marx, in:
GK-AufenthG, IV-2 § 28 AufenthG Rdn. 74 ff.; Hailbronner, AuslR, A 1, § 28 AufenthG Rdn. 8.
284
So BR-Drs. 52406, S. 15 f.; BT-Drs. 16/2433).
285
Demgegenüber ist offen, welche verfassungsrechtlichen Grenzen sich für die Rückgängigmachung des
Staatssangehörigkeitserwerbs des Kindes durch rückwirkende Aufhebung des Aufenthaltstitels der Eltern (vgl. §
4 Abs. 3 Satz 1 StAG) ergeben (BVerwG, NVwZ 2007, 470 (471).
286
So der Fall in OVG SA, InfAuslR 2006, 56.
287
OLG Köln, B. v. 10. 11. 2006 – 16 Wx 213/06.
78
Zweifel an der Richtigkeit der ihm von den Beteiligten vorgelegten Unterlagen, so sind diese
für ihn keine geeigneten Nachweise im Sinne von § 266 Abs. 1 Satz 1 DA.
Bei nicht verheirateten Eltern genügt zunächst die Vorlage der Geburtsurkunde der Mutter.
Sind die Zweifel dadurch nicht ausgeräumt, kann der Standesbeamte die Vorlage weiterer
Urkunden verlangen (§ 25 Satz 3 PStV). Bei wirksamer Vaterschaftsanerkennung bzw.
gerichtlicher Vaterschaftsfeststellung sollen darüber hinaus die entsprechende Urkunde und
die Geburtsurkunde des Vaters vorgelegt werden. Es kommt allein auf die wirksame
Vaterschaftsanerkennung an. Zweifel an der Identität der Erklärenden sind unerheblich.
Entscheidend ist ausschließlich, dass der Vater höchstpersönlich die Erklärung über die
Vaterschaft abgegeben hat.288
Allgemein ist ein Pass wegen des Lichtbildes, der Registrierung bei der Passbehörde und
seiner durch die zeitliche Begrenzung seiner Gültigkeit erzwungenen regelmäßigen
Überprüfung ein besonders geeignetes Mittel zum Nachweis der Identität. Seine Vorlage ist
erforderlich, wenn Zweifel des Standesbeamten nicht anders behoben werden können.
Allerdings kann nicht stets ein gültiger oder erst kürzlich abgelaufener Reisepass vorgelegt
werden. Steht die Identität bereits anderweitig fest, ist die Vorlage eines Reisepasses
entbehrlich.289 Eine anderweitige Feststellung stellt das von der Ausländerbehörde
ausgestellte Ausweisersatzdokument gegebenenfalls in Verbindung mit anderen
Identitätsnachweisen, etwa eine vorgelegte Identitätskarte für palästinensische Flüchtlinge,
dar.290 Ausreichend ist auch die ausländerbehördliche Fiktionsbescheinigung. Auch dieses
Dokument kann in einem Fall, in dem keine anderen Ausweisdokumente vorhanden sind, zur
Feststellung der Identität einer Person geeignet sein.291
Wenn Unsicherheit darüber besteht, ob die von den Beteiligten angegebenen Personalien
richtig sind, ändert dies nichts daran, diese jeweils für sich persönlich die Erklärungen
abgegeben haben. Die jeweilige Identität kann selbst dann, wenn auch Aliasnamen verwendet
sein sollten, anhand der ausländerbehördlichen Akte festgestellt werden.292 Können danach
die in den Geburtseintrag nach § 21 Abs. 1 PStG aufzunehmenden Tatsachen nicht
vollständig festgestellt werden, kommt für den Standesbeamten als Handlungsalternative in
Betracht, entweder den Geburtseintrag zurückzustellen und eine Eintragung in das
Verzeichnis der angezeigten, aber noch nicht in das Geburtenbuch eingetragenen Geburten
vorzunehmen (§ 266 Abs. 1 DA) oder einen Geburteneintrag unter Hinnahme seiner
Unvollständigkeit zu vollziehen.
Weigert sich der Standesbeamte, das Vaterschaftsanerkenntnis aufgrund der ungeklärten
Identität des Vaters dem Geburtenbuch beizuschreiben, kann beim zuständigen Amtsgericht
der Antrag gestellt werden, den zuständigen Standesbeamten gemäß § 45 PStG anzuweisen,
den Beteiligten als Kindesvater dem Geburtenbuch des Standesbeamten beizuschreiben.
Gegen den Beschluss des Amtsgerichtes ist gemäß § 49 Abs. 1 Satz 2 PStG die Beschwerde
beim Landgericht zulässig. Gegen dessen Beschluss ist die weitere Beschwerde gemäß §§ 48
Abs. 1, 49 Abs. 1 Satz 2 PStG, § 27 Abs. 1 Satz 1 FGG zulässig.
Muster: Antrag auf gerichtliche Verpflichtung an
Vaterschaftsanerkenntnis dem Geburtenbuch beizuschreiben
288
289
290
291
292
das
Standesamt,
die
AG Essen. B. 13. 12. 2006 – 78 III 25/06.
KG, InfAuslR 2006, 31 (32).
KG, InfAuslR 2006, 31 (32).
AG Essen. B. 13. 12. 2006 – 78 III 25/06.
AG Essen. B. 13. 12. 2006 – 78 III 25/06.
79
An das
Amtsgericht
Unter Vollmachtsvorlage wird beantragt,
den Standesbeamten des Standesamtes … anzuweisen, dem Geburtenbuch des
Standesamtes … den nachstehenden Vermerk beizuschreiben:
Vater des Kindes ist …, wohnhaft …. Dieser hat seine Vaterschaft am … vor dem
Notar … anerkannt (Urkundenrolle Nr….). Die Angaben über den Vater sind dem ihm
erteilten Ausweisersatz entnommen. Die Richtigkeit der Angaben ist urkundlich nicht
nachgewiesen.
4.
Vorwirkung der bevorstehenden Geburt
Die nichteheliche Vaterschaft eines Ausländers hinsichtlich des ungeborenen Kindes einer
deutschen Staatsangehörigen kann ebenso wie eine unmittelbar bevorstehende Ehe einen
Umstand darstellen, der unter dem Gesichtspunkt des Schutzes der Familie nach Art. 6 Abs.
1 in Verb. mit Art. 6 Abs. 2 GG und der Pflicht des Staates, sich gemäß Art. 2 Abs. 2 Satz 1
in Verb. mit Art. 1 Abs. 1 GG schützend und fördernd vor den nasciturus zu stellen,
aufenthaltsrechtliche Vorwirkungen entfaltet.293 Nach der Rechtsprechung führen die
grundrechtlichen Vorwirkungen zwar nicht generell zu einem Aufenthaltsrecht des
werdenden Vaters, wohl aber zu der Verpflichtung der Ausländerbehörde, bei
aufenthaltsrechtlichen Entscheidungen die vorfamiliäre Bindung und den Schutz der
Leibesfrucht angemessen, entsprechend dem Gewicht dieser Belange in ihren Erwägungen
zum Ausdruck zu bringen. Da der schwangeren deutschen Mutter das Verlassen des
Bundesgebietes nicht zuzumuten ist, drängt die Pflicht des Staates, die Familie und die
Leibesfrucht zu schützen, jedoch regelmäßig einwanderungspolitische Belange zurück. 294 Es
muss eine gemeinsame Erziehung und Betreuung des Kindes sicher erwartet werden
können.295
Derartige Vorwirkungen sind im Falle der bevorstehenden Familiengründung – hier in Form
des Zusammenlebens der nicht verheirateten Eltern mit ihrem gemeinsamen Kind –
regelmäßig dann anzunehmen, wenn der nichteheliche Vater durch die vorgeburtliche
Anerkennung der Vaterschaft und des gemeinsamen Sorgerechts zu erkennen gegeben hat,
dass er die elterliche Verantwortung übernehmen wird, und darüber hinaus der
Entbindungstermin so nahe bevorsteht, dass bis zur Geburt ein Familiennachzug unter
Einhaltung der Einreisevorschriften nach behördlicher Erfahrung oder – in Ermangelung
einer solchen – nach dem Ergebnis behördlicher Ermittlung bei der zuständigen
Ausländerbehörde nicht mehr in Betracht kommt.296 Stößt die Vaterschaftsanerkennung
wegen der angeordneten Abschiebungshaft auf Probleme, bedarf die Prüfung, ob der
Betroffene nach der Geburt mit dem Kind eine familiäre Gemeinschaft führen wird, einer
Gesamtbewertung der vorgetragenen und sonst erkennbaren Umstände. 297 Zur
Glaubhaftmachung empfiehlt sich die Vorlage einer eidesstattlichen Versicherung.
293
OVG Sachsen, NVwZ 2006, 613 = InfAuslR 2006, 279 = AuAS 2006, 77; gegen OVG Saarland, B. v.
25. 3. 1993 – 3 W 9/93, juris; bestätigt OVG Sachsen, InfAuslR 2006, 446; ebenfalls für Duldungsanspruch bei
bevorstehender Geburt VGH BW, NVwZ 2008, 233 (234); OVG Hamburg, NVwZ-RR 2009, 133 (134) =
InfAuslR 2009, 16; Hess.VGH, AuAS 2009, 40 (41).
294
OVG Sachsen, NVwZ 2006, 613 (614) = InfAuslR 2006, 279 = AuAS 2006, 77; OVG Sachsen,
InfAuslR 2006, 446 (447).
295
OVG Hamburg, NVwZ-RR 2009, 133 (134) = InfAuslR 2009, 16; Hess.VGH, AuAS 2009, 40 (41).
296
OVG Sachsen, NVwZ 2006, 613 = InfAuslR 2006, 279 = AuAS 2006, 77.
297
OVG Sachsen, InfAuslR 2006, 446 (447).
80
Dabei knüpft der vorwirkende Schutz durch Art. 6 Abs. 1 und 2 GG deshalb an die Geburt
als Grenze des für einen geordneten Familiennachzug ausreichenden Zeitraums an, weil der
spezifische Betreuungsbeitrag des Vaters nicht durch die Betreuung durch die Mutter
entbehrlich wird, der Aufbau und die Kontinuität emotionaler Bindungen zu Vater und
Mutter in aller Regel der Persönlichkeitsentwicklung des Kindes dient und das Kind beide
Eltern braucht.298 Klarstellend wird in der Rechtsprechung darauf hingewiesen, dass die
Ausländerbehörde die Abschiebung des Vaters eines ungeborenen Kindes allenfalls solange
vornehmen könne, wie eine Rückkehr noch rechtzeitig vor der Geburt sichergestellt werden
könne. Dies setze auch voraus, dass sie zu erkennen gebe, die Wirkungen der Abschiebung
gemäß § 11 Abs. 1 AufenthG auf Antrag auf den Zeitpunkt der errechneten Geburt zu
befristen.299 In der Praxis läuft eine derartige Verfahrensweise darauf hinaus, dass auf nicht
absehbare Zeit die Wiederkehr des Vaters gefährdet ist. Deshalb kann der Verweis auf das
Visumverfahren wenn überhaupt, nur bei Abgabe einer Vorabzustimmung (§ 31 Abs. 3
AufenthV) verantwortet werden. Verweigert die deutsche Auslandsvertretung in diesem Fall
die Erteilung des Visums, ist der Erlass einer einstweiligen Anordnung gemäß § 123 VwGO
beim VG Berlin zu beantragen.
In besonders gelagerten Ausnahmefällen können die verfassungsrechtlichen
Schutzverpflichtungen (Art. 6 Abs. 1 und 2, Art. 2 Abs. 2 Satz 1 in Verb. mit Art. 1 Abs. 1
GG) auch bereits zu einem früheren Zeitpunkt aufenthaltsrechtliche Vorwirkungen auslösen.
Eine Ausnahme wird insbesondere dann in Betracht kommen, wenn eine
Risikoschwangerschaft und die Unterstützung der Mutter durch den von Abschiebung
bedrohten Vater regelmäßig durch eidesstattliche Versicherungen beider Elternteile glaubhaft
gemacht werden. Denn die Wahrscheinlichkeit, dass die werdende Mutter unter diesen
Umständen durch eine abschiebungsbedingte Trennung Belastungen ausgesetzt ist, welche
die Leibesfrucht gefährden, ist ungleich höher als bei vorübergehender Trennung während
einer normal verlaufenden Schwangerschaft.300
5.
Bestehen einer familiären Gemeinschaft mit dem Kind
a)
Allgemeines
Für den Nachzugsanspruch nach § 28 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 AufenthG kommt es auf die
Ausübung des Personensorgerechts an, für den Verbleibsanspruch nach § 28 Abs. 1 Satz 4
und § 36 AufenthG auf das Bestehen einer familiären Gemeinschaft. Aber auch die Berufung
auf die Ausübung der Personensorge wird nur anerkannt, wenn eine familiäre Gemeinschaft
geführt wird. Gleichwohl lassen sich aufenthaltsrechtliche Ansprüche besser im Falle der
Personensorge als beim Umgangsrecht durchsetzen. Letztlich entscheidend ist aber nicht die
zivilrechtliche Rechtsform, sondern das tatsächliche Zusammenleben mit dem Kind.
b)
Ausländischer Elternteil mit Personensorge
Dem Anspruch des ausländischen Personensorgeberechtigten steht nicht entgegen, dass auch
der andere Elternteil das Sorgerecht ausübt.301 Beruht das Personensorgerecht auf der
Entscheidung eines ausländischen Gerichts, ist vorauszusetzen, dass sie im Bundesgebiet etwa
nach dem MSA oder nach § 16a FGG anzuerkennen ist (Nr. 28.1.5 VAH). Der Begriff der
298
OVG Sachsen, NVwZ 2006, 613 (614) = InfAuslR 2006, 279 = AuAS 2006, 77.
OVG Sachsen, InfAuslR 2006, 446 (448).
300
OVG Sachsen, NVwZ 2006, 613 (614) = InfAuslR 2006, 279 = AuAS 2006, 77.
301
BVerfG, InfAuslR 2002, 171 (173) = NVwZ 2002, 849, Hess.VGH, AuAS 2003. 86; Nieders.OVG,
NVwZ-RR 2006, 356; Nr. 28.1.5 VAH.
299
81
Personensorge ist mit dem in § 1626 Abs. 1 Satz 2 BGB geregelten Begriff der Personensorge
identisch. Maßgeblich ist, ob dem ausländischen Elternteil nach §§ 1626 ff. BGB das Recht
zur Ausübung der Personensorge in dem durch § 1631 Abs. 1 BGB bestimmten Umfang
zusteht. Eine hiervon abweichende Begriffsbestimmung, die es ermöglichen würde, unter der
Ausübung der Personensorge auch die tatsächliche Beteiligung des Elternteils an der
Betreuung des Kindes ohne Innehabung oder Übertragung des Personensorgerechts zu
verstehen, kommt wegen der ausdrücklichen Anknüpfung an den familienrechtlichen Begriff
der Personensorge in § 28 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 AufenthG aus rechtssystematischen Gründen
nicht in Betracht.302 In diesem Fall kann sich der ausländische Elternteil jedoch auf § 28 Abs.
1 Satz 4 AufenthG berufen.
Das Tatbestandsmerkmal „zur Ausübung der Personensorge" greift die familienrechtliche
Begriffsbildung auf. § 1626 Abs. 1 BGB enthält drei Legaldefinitionen. Nach Satz 1 dieser
Vorschrift haben der Vater und die Mutter das Recht und die Pflicht, für das minderjährige
Kind zu sorgen (elterliche Sorge). Die elterliche Sorge umfasst nach § 1626 Abs. 1 Satz 2
BGB die Sorge für die Person des Kindes (Personensorge) und das Vermögen des Kindes
(Vermögenssorge). § 1627 Satz 1 BGB regelt, wie die Eltern die elterliche Sorge „auszuüben"
haben. Demnach spricht bereits der Wortlaut von § 28 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 AufenthG dafür,
dass der Gesetzgeber keinen vom Familienrecht abweichenden Begriff der Personensorge
einführen wollte.303
Ausschlaggebend ist jedoch der Umstand, dass die Aufenthaltserlaubnis unter dem Vorbehalt
des § 27 Abs. 1 AufenthG steht und deshalb zum Zwecke des nach Art. 6 GG gebotenen
Schutzes von Ehe und Familie für die Herstellung und Wahrung der familiären
Lebensgemeinschaft erteilt wird.304 Das Tatbestandsmerkmal „zur Ausübung der
Personensorge" wäre daneben überflüssig, wenn mit ihm lediglich der tatsächliche Umgang
zwischen dem ausländischen Elternteil und dem deutschen Kind gemeint wäre. Dieser ist
bereits in qualifizierter Weise durch die Vorschrift des § 27 Abs. 1 AufenthG erfasst. Der
Anspruch nach § 28 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 AufenthG ist deshalb den personensorgeberechtigten
ausländischen Eltern minderjähriger lediger Deutscher vorbehalten.305
Bedeutsam für die Anwendung des § 28 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 AufenthG ist die Ausweitung des
Personensorgerechts durch das KindRG mit Wirkung zum 1. Juli 1998 auf den Vater des
Kindes, das nicht aus einer ehelichen Verbindung stammt. Aufgrund des KindRG wurde die
Unterscheidung zwischen ehelichen und nichtehelichen Kindern aufgegeben. Das in § 1626a
Abs. 1 Nr. 2 BGB vorgesehene gemeinsame Sorgerecht setzt deshalb nicht mehr voraus, dass
die Eltern miteinander verheiratet sind oder waren, sondern sieht gänzlich von dem
Erfordernis der ehelichen Verbindung zwischen den Elternteilen ab. Für den Regelfall können
daher beide Elternteile unabhängig davon, ob sie zusammenleben oder verheiratet sind oder
nicht, das gemeinsame Sorgerecht nach einer gemeinsamen Sorgeerklärung ausüben. Die
Erklärung bedarf freilich der Übereinstimmung des Willens beider Elternteile und lässt sich
gegen den Widerstand eines Elternteiles nicht erzwingen. In diesem Fall kann sich der
nichtsorgeberechtigte Elternteil auf § 28 Abs. 1 Satz 4 AufenthG berufen.
Der Anspruch nach § 28 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 AufenthG setzt voraus, dass der ausländische
302
BVerwG, InfAuslR 1997, 303 = NVwZ-RR 1997, 657 = EZAR 020 Nr. 6; BVerwG. InfAuslR 1997,
303 = EZAR 020 Nr. 6 = NVwZ-RR 1997, 657.
303
BVerwG, InfAuslR 1997. 303 (304) = EZAR 020 Nr. 6 = NVwZ-RR 1997, 657.
304
BVerwG, InfAuslR 1997, 303 (304) = EZAR 020 Nr. 6 = NVwZ-RR 1997, 657; Hess.VGH, AuAS
2003, 86; VGH BW, NVwZ-RR 2003,15 1.
305
BVerwG, InfAuslR 1997, 303 (304) = EZAR 020 Nr. 6 = NVwZ-RR 1997, 657.
82
Elternteil das Sorgerecht auch tatsächlich in einer familiären Gemeinschaft mit dem Kind (§
27 Abs. 1 AufenthG) ausübt. Mit der verfassungsrechtlichen Pflicht, familiäre Bindungen
entsprechend ihrem Gewicht bei ausländerrechtlichen Entscheidungen zur Geltung zu
bringen, lässt sich eine schematische Unterscheidung zwischen Beistands- und
Begegnungsgemeinschaft und damit auch nicht die Anwendung von Regel-AusnahmeKategorien in dem Fall, in dem keine häusliche Lebensgemeinschaft geführt wird, nicht
vereinbaren.
c)
Ausländischer Elternteil ohne Personensorge
aa)
Allgemeines
Die Beziehung zwischen dem nichtsorgeberechtigten Elternteil und seinem Kind steht unter
dem Schutz von Art. 6 Abs. 2 GG.306 Darüber hinaus trifft die Vertragsstaaten der EMRK
nach der Rechtsprechung des EGMR aufgrund von Art. 8 EMRK die Verpflichtung, auf die
Zusammenführung eines leiblichen Elternteils mit seinem Kind hinzuwirken. Es dient
grundsätzlich dem Wohl des Kindes, seine Familienbindungen aufrechtzuerhalten. Diese zu
zerreißen bedeutet, ein Kind von seinen Wurzeln abzuschneiden. Ein derartiger Eingriff kann
nur unter „sehr gewichtigen Umständen“ gerechtfertigt werden. Dies gilt auch für den
Ausschluss des Umgangsrechts für einen Vater.307
Der Gesetzgeber und dementsprechend die Rechtsprechung haben bislang zwar vorrangig die
Beziehung des sorgeberechtigten Vaters zu seinem deutschen Kind behandelt. Das BVerfG
hat diese durch die Staatsangehörigkeit des Kindes besonders geschützte Beziehung indes
nur als einen Beispielsfall bezeichnet. Bestehe eine schützenswerte Beistandsgemeinschaft
und könne diese Gemeinschaft nur im Bundesgebiet verwirklicht werden, „etwa“ weil das
Kind deutscher Staatsangehörigkeit und ihm wegen der Beziehungen zu seiner Mutter das
Verlassen der Bundesrepublik nicht zumutbar sei, dränge die Pflicht des Staates, die Familie
zu schützen, regelmäßig einwanderungspolitische Interessen zurück.308
Maßgebend ist damit stets die auf das Kind bezogene Unzumutbarkeit, das Bundesgebiet zu
verlassen. Daraus ergibt sich, dass immer dann, wenn die Mutter oder auch das Kind über ein
gefestigtes Aufenthaltsrecht verfügt, das Kind nicht auf den Aufenthalt im Herkunftsstaat der
Eltern oder eines Elternteils verwiesen werden kann. Damit liegt auch in diesem Fall eine
durch das Ausländerrecht anzuerkennende schützenswerte Beistandsgemeinschaft vor.309
Aber auch dann, wenn das Asylverfahren der Kindesmutter noch nicht abgeschlossen und
eine Verfahrensbeendigung nicht absehbar ist, ist es bei einem Kleinkind dem Vater nicht
zuzumuten, vorzeitig auszureisen.310 Sofern kein Teil einer familiären Lebensgemeinschaft
ein dauerhaftes Aufenthaltsrecht im Bundesgebiet hat, ist grundsätzlich kein hinreichender
Anknüpfungspunkt dafür vorhanden, eine familiäre Lebensgemeinschaft im Bundesgebiet zu
führen. Regelmäßig ist in solchen Fällen darauf zu verweisen, die familiäre
306
BVerfG (Kammer), NVwZ 1990, 455; BVerfG (Kammer), AuAS 2006, 26; VGH BW, InfAuslR 1993,
366 (367); s. auch § 28 Abs. 1 Satz 2 AufenthG.
307
EGMR, NJW 2004, 3397 = NVwZ 2005, 1165 (LS) – Görgülü.
308
BVerfG (Kammer), InfAuslR 2002, 171 (173) = NVwZ 2002, 849 = EZAR 020 Nr. 18; BVerfG
(Kammer), NVwZ 2004, 606; BVerfG (Kammer), AuAS 2006, 26.
309
VG Koblenz, U. v. 9. 9. 2002 – 3 K 1123/02.KO; VG Aachen, InfAuslR 2003, 93; Mees-Asadollah,
InfAuslR 2001, 178 (181).
310
VG Potsdam, InfAusl 2004, 113 (115).
83
Lebensgemeinschaft im gemeinsamen Herkunftsstaat oder – wenn die Familienangehörigen
unterschiedliche Staatsangehörigkeiten haben – in einem der Herkunftsländer zu führen.311
bb)
Subjektives Recht des Kindes auf Umgang mit dem nichtsorgeberechtigten Elternteil
(§ 1684 Abs. 1 BGB)
Der Aufenthaltsanspruch des nichtsorgeberechtigten Elternteils setzt das Bestehen einer
familiären Lebensgemeinschaft zwischen diesem und dem Kind voraus. Es kommt hierfür auf
das Bestehen einer Betreuungs- und Erziehungsgemeinschaft an, die nicht notwendigerweise
in Form der Hausgemeinschaft mit dem Kind geführt werden muss. Häufig will der andere
Elternteil, regelmäßig die Mutter, nicht das Zusammenleben mit dem anderen Elternteil und
hat bereits aus diesem Grunde in die Abgabe der gemeinsamen Sorgeerklärung nach § 1626a
Abs. 1 Nr.1 BGB nicht eingewilligt. Das Kind hat jedoch als Bestandteil des Kindeswohls ein
Recht auf Umgang mit jedem Elternteil (§ 1684 Abs. 1 1. Hs. BGB).
Das BVerfG hat ausdrücklich darauf hingewiesen, dass die leibliche und seelische
Entwicklung der Kinder in der Familie und der elterlichen Erziehung eine wesentliche
Grundlage findet. Danach wird Familie als verantwortliche Elternschaft von der prinzipiellen
Schutzbedürftigkeit des heranwachsenden Kindes bestimmt. Besteht eine solche Lebens- und
Erziehungsgemeinschaft zwischen dem ausländischen Elternteil und seinem Kind und kann
diese Gemeinschaft nur im Bundesgebiet geführt werden, etwa weil das Kind deutscher
Staatsangehörigkeit und ihm wegen der Beziehungen zum anderen Elternteil das Verlassen
des Bundesgebietes nicht zumutbar ist, drängt die Pflicht des Staates, die Familie zu schützen,
einwanderungspolitische Belange regelmäßig zurück.312
Neben den allgemeinen, sich aus der Elternverantwortung des nichtsorgeberechtigten
Elternteils ergebenden Gründen für einen fortdauernden Kontakt mit dem Kind kann sich
umgekehrt die Verhinderung einer Beziehung des Kindes zum nichtsorgeberechtigten
Elternteil schädlich auf dessen Entwicklung auswirken.313 Die gefühlsmäßigen Bindungen des
Kindes an Mutter und Vater bestehen unabhängig von der Form der konkret geführten
Gemeinschaft mit dem Kind. Die Ausübung des Umgangsrechts dient einer vom Kind
gewünschten Aufrechterhaltung der Beziehung zu beiden Elternteilen.314 Daraus ergibt sich,
dass der Einwand, dem Wohle des Kindes werden bereits durch die Ausübung des
Sorgerechts durch den anderen Elternteil genügt, verfassungsrechtlich nicht tragfähig und
auch mit dem Gesetz nicht vereinbar ist.315
Umgekehrt ist jeder Elternteil als Ausfluss des verfassungsrechtlich geschützten Elternrechts
zum Umgang mit dem Kind verpflichtet und berechtigt (§ 1684 Abs. 1 2. Hs. BGB). Das
BVerfG hat dementsprechend ausdrücklich auch auf die Umgangsverpflichtung des
nichtsorgeberechtigten Elternteils hingewiesen.316 Dem Recht des Kindes auf Umgang
korrespondiert mithin eine Verpflichtung der Eltern auf Umgang mit dem Kind. Diese
gegenseitige Rechte- und Pflichtengemeinschaft hat Auswirkungen auf die inhaltliche
311
BVerwG, EZAR 123 Nr. 1 = Buchholz 402.24 § 10 AuslG Nr. 53; s. auch BVerwG, InfAuslR 1999,
330 (331).
312
BVerfG (Kammer), AuAS 2006, 26.
313
BVerfGE 31, 194 (209) = FamRZ 1971, 421.
314
BVerfGE 64, 180 (188) - FamRZ 1983, 872.
315
BVerfG (Kammer), InfAuslR 2000. 67 (68) = AuAS 2000, 43; BVerfG (Kammer), InfAuslR 2002, 171
(173) = NVwZ 2002, 849; Hess.VGH, AuAS 2003. 86 (87); OVG Sachsen, NVwZ 2006, 613 (614) = InfAuslR
2006, 279 = AuAS 2006, 77; Nr. 28.1.5 VAH.
316
BVerfG, InfAuslR 2005, 48 (49).
84
Begriffsbestimmung der familiären Gemeinschaft zwischen dem nichtsorgeberechtigten
ausländischen Elternteil und dem minderjährigen ledigen Kind. Daher kann sich bei
bestehender familiärer Gemeinschaft die Ausweisung des ausländischen Elternteils als
unverhältnismäßig darstellen.317
cc)
Umgangsrecht und familiäre Gemeinschaft
Von dem nichtsorgeberechtigten ausländischen Elternteil wird mehr als die lediglich bloße
Ausübung des Umgangsrechts gefordert. Vielmehr muss dieser mit dem Kind in familiärer
Gemeinschaft leben. Die aufenthaltsrechtliche Folgen knüpfen also an das Umgangsrecht an,
erfordern darüber hinaus aber auch die Führung einer familiären Gemeinschaft mit dem Kind
(vgl. auch § 27 Abs. 1 AufenthG). Der aufenthaltsrechtliche Regelungsgehalt der Beziehung
zwischen Kind und ausländischem Elternteil ist damit auf den ersten Blick nicht
deckungsgleich mit den familienrechtlichen Begriffen. Das BVerfG hat in diesem
Zusammenhang aber ausdrücklich auf die durch das KindRG „gewachsene Einsicht in die
Bedeutung des Umgangsrechts eines Kindes mit beiden Elternteilen, wie sie in § 1626 Abs. 3
Satz 1 und § 1684 Abs. 1 BGB n.F. zum Ausdruck kommt,“ hingewiesen. Dies könne auf die
Auslegung und Anwendung des Begriffs der „familiären Gemeinschaft“ nicht ohne
Bedeutung bleiben.318 Bei aufenthaltsrechtlichen Entscheidungen, die den Umgang mit einem
Kind berührten, sei deshalb maßgeblich auf die Sicht des Kindes abzustellen und im Einzelfall
zu untersuchen, ob tatsächlich eine persönliche Verbundenheit bestehe, auf deren
Aufrechterhaltung das Kind zu seinem Wohl angewiesen sei. Dabei seien die Belange des
Elternteils und des Kindes im Einzelfall umfassend zu berücksichtigen.319
Das Umgangsrecht ist subjektives Recht, seinem Inhalt nach nicht darauf gerichtet, das Kind
zu erziehen. Dieses Recht hat der sorgeberechtigte Elternteil (§ 1631 Abs. 1 BGB). Art. 6
Abs. 2 Satz 1 GG garantiert den Eltern das Recht auf Pflege und Erziehung. Die Erziehung
des Kindes ist damit primär in die Verantwortung der Eltern gelegt, wobei dieses „natürliche
Recht" den Eltern nicht vom Staat verliehen worden ist, sondern von diesem als vorgegebenes
Recht anerkannt wird. Das Elternrecht unterscheidet sich von den anderen Grundrechten
wesentlich dadurch, dass es keine Freiheit im Sinne der Selbstbestimmung der Eltern, sondern
zum Schutze des Kindes gewährt. Das Elternrecht ist Freiheitsrecht im Verhältnis zum Staat.
In der Beziehung der Eltern zum Kind muss das Kindeswohl oberste Richtschnur der
elterlichen Pflege und Erziehung sein. Elternrecht ist ,fiduziarisches Recht ", also ein
dienendes Grundrecht, eine im echten Sinne anvertraute „ treuhänderische Freiheit".320
Dabei hat das Sorgerecht, wo es um die Erziehung oder Sicherheit des Kindes geht, Vorrang,
sodass der sorgeberechtigte Elternteil dem Kind zu diesem Zweck bestimmte Anweisungen
erteilen kann, die der umgangsberechtigte Elternteil zu beachten hat. Grundsätzlich muss
indes das Wohl des Kindes für die Ausübung beider Rechte bestimmend sein. Die mit der
Reduzierung auf das Verkehrsrecht für das Kind verbundenen Nachteile sind durch ein
verständiges Zusammenwirken der Eltern möglichst gering zu halten. Es liegt deshalb
grundsätzlich im Interesse des Kindes, auch die Beziehungen zu dem nichtsorgeberechtigten
Elternteil durch den persönlichen Verkehr zu pflegen und dass eine Einschränkung oder ein
Ausschluss des Verkehrs nur veranlasst ist, wenn nach den Umständen des Einzelfalls der
Schutz des Kindes dies erfordert, um eine Gefährdung seiner körperlichen oder seelischen
317
318
319
320
OVG Hamburg, InfAuslR 2008, 389 (390).
BVerfG (Kammer), AuAS 2006, 26 (27).
BVerfG (Kammer), AuAS 2006, 26 (27 f.).
BVerfGE 59, 360 (376 f.) = FamRZ 1982, 463).
85
Entwicklung abzuwehren.321 Der Handlungsspielraum des Gesetzgebers, der bedenken muss,
dass durch aufenthaltsbeendende Maßnahmen das Verkehrsrecht eines Elternteils
unterbunden wird, ist damit erheblich eingeschränkt.
Die Zielvorgaben des Aufenthaltsrechts einerseits und des Familienrechts andererseits dürfen
unter dem Gesichtspunkt der Einheit der Rechtsordnung322 nicht auseinander fallen und
müssen miteinander zum Ausgleich gebracht werden. Dies hat zur Folge, dass bei der
tatsächlichen Bewertung, ob der nichtsorgeberechtigte Elternteil mit dem Kind in familiärer
Gemeinschaft lebt, der rechtliche Vorrang des sorgeberechtigten Elternteils berücksichtigt
werden muss. Der nichtsorgeberechtigte Elternteil kann danach nur in dem Umfang und nach
den Maßgaben, die der sorgeberechtigte Elternteil zum Wohle des Kindes trifft, die familiäre
Gemeinschaft mit diesem aufrechterhalten. Zwar trifft beide Elternteile eine Verpflichtung zu
wechselseitigem loyalen Verhalten zum Wohle des Kindes (§ 1684 Abs. 2 Satz 1 BGB). Die
familiäre Gemeinschaft des lediglich umgangsberechtigten ausländischen Elternteils mit dem
Kind kann ungeachtet dieser Verpflichtung jedoch nur unter Berücksichtigung des
übergeordneten alleinigen Sorgerechts des anderen Elternteils konkret gestaltet werden.
Diese Besonderheiten der dreifach gestalteten Beziehungen jeweils zwischen den Elternteilen
sowie zwischen dem Kind und dem ausländischen Elternteil einerseits sowie zwischen den
Elternteilen andererseits weisen darauf hin, dass die Beziehungen zwischen den Eltern trotz
ihrer Loyalitätsverpflichtungen gegenüber dem Kind (§ 1684 Abs. 2 BGB) häufig
spannungsgeladen sind und dies Auswirkungen auf die Möglichkeiten des ausländischen
nichtsorgeberechtigten Elternteils hat, die familiäre Gemeinschaft mit dem Kind zu führen.
Man wird dem Gesetzgeber keine Weltferne unterstellen, sondern davon ausgehen können,
dass ihm die komplexen und häufig von Spannung und Störungen geprägten Besonderheiten
dieser Beziehungen bei der Festlegung des Begriffs „familiäre Gemeinschaft" etwa in § 28
Abs. 1 Satz 2 AufenthG bewusst waren, der nach der Rechtsprechung auch für die
Aufenthaltsgewährung des nichtsorgeberechtigten Elternteil eines ausländischen Kindes mit
verfestigter Aufenthaltsposition maßgebend ist.
dd)
Kein Gebot der Führung einer häuslichen Gemeinschaft mit dem Kind
Aus dem Anspruch des Kindes auf Umgang mit jedem Elternteil und der Berechtigung sowie
auch Verpflichtung ebenfalls jedes Elternteils zum Umgang mit dem Kind und der insoweit
durch das KindRG geschaffenen erheblichen Veränderung der Rechtswirklichkeit für die
Eltern-Kind-Beziehung kann unmittelbar und unter Berücksichtigung der tatsächlichen
Ausgestaltung
der
Beziehungen
der
Familienmitglieder
untereinander
ein
aufenthaltsrechtlicher Status des nichtsorgeberechtigten Elternteils geltend gemacht werden.
Es verbietet sich für die inhaltliche Begriffsbestimmung der familiären Gemeinschaft eine
schematische Einordnung und Qualifizierung der familiären Beziehung zwischen dem
ausländischen nichtsorgeberechtigten Elternteil und dem Kind als entweder
aufenthaltsrechtlich schützenswerte Lebens- und Erziehungsgemeinschaft oder aber als bloße
Begegnungsgemeinschaft ohne aufenthaltsrechtliche Schutzwirkungen,323 zumal auch der
persönliche Kontakt mit dem Kind in Ausübung eines Umgangsrechts unabhängig vom
Sorgerecht Ausdruck und Folge des natürlichen Elternrechts und der damit verbundenen
321
BVerfGE 31. 194 (209) = FamRZ 1971. 421.
BVerfG (Kammer), AuAS 2006, 26 (27).
323
BVerfG (Kammer), InfAuslR 2002, 171 (173) = NVwZ 2002, 849; VGH BW, NVwZ-RR 2003, 151
(152); BVerfG (Kammer), AuAS 2006, 26 (27); Hess.VGH, AuAS 2003, 86 (87); OVG NW, NVwZ 2006, 717
= InfAuslR 2006, 126; OVG SH, InfAuslR 2005, 35; OVG Sachsen, InfAuslR 2005, 35; s. auch OVG Hamburg,
InfAuslR 2006, 361.
322
86
Elternverantwortung ist und daher unter dem Schutz des Art. 6 Abs. 2 steht.324
Es kommt in diesem Zusammenhang auch nicht darauf an, ob eine Hausgemeinschaft vorliegt
und ob die von einem Familienmitglied tatsächlich erbrachte Lebenshilfe auch von anderen
Personen erbracht werden könnte. Dabei ist auch in Rechnung zu stellen, dass der spezifische
Erziehungsbeitrag des Vaters nicht durch die Betreuung des Kindes durch die Mutter oder
durch andere Personen oder durch soziale bzw. kirchliche Einrichtungen entbehrlich wird.325
Vielmehr kommt es auf eine konkrete Gesamtbewertung der tatsächlichen Gestaltung der
Beziehung zwischen dem nichtsorgeberechtigten Elternteil und dem Kind an. Dabei erfordert
die Gesamtbewertung der tatsächlich geführten Gemeinschaft stets auch die Berücksichtigung
der konkreten Einschränkungen und Einwirkungen auf diese familiäre Gemeinschaft, die
aufgrund der vorrangigen Ausübung des Sorgerechts des anderen Elternteils bestehen.
Nach der klarstellenden Rechtsprechung des BVerfG kann die bisherige, zumeist durch starre,
schematische Erwägungen geprägte obergerichtliche Rechtsprechung kaum aufrechterhalten
werden. Danach wurde eine familiäre Gemeinschaft angenommen, wenn der
nichtsorgeberechtigte Elternteil die ihm zustehenden Elternfunktionen auch tatsächlich
wahrnehme und regelmäßig bestimmte, nicht unbeträchtliche Zeiten mit dem Kind zusammen
verbringe.326 Werde keine Hausgemeinschaft geführt, müsse danach zwischen dem
nichtsorgeberechtigten Elternteil und dem Kind eine enge, insbesondere durch aktive
Wahrnehmung von Betreuungsaufgaben und des Umgangsrechts geprägte Beziehung
bestehen. Soweit hierfür auch die Übernahme von Erziehungsaufgaben für erforderlich
erachtet wird,327 ist einzuwenden, dass das Umgangsrecht seinem Inhalt nach nicht darauf
gerichtet ist, das Kind zu erziehen, weil dieses Recht dem sorgeberechtigten Elternteil zusteht
(§ 1631 Abs. 1 BGB). Bloße Besuche und sonstige Kontakte wurden in der obergerichtlichen
Rechtsprechung im Allgemeinen als Indizien auf eine nicht geschützte
Begegnungsgemeinschaft angesehen.
Dem hält das BVerfG entgegen, dass sich eine verantwortlich gelebte und dem Schutzzweck
des Art. 6 GG entsprechende Eltern-Kind-Beziehung „nicht allein quantitativ etwa nach
Daten und Uhrzeiten des persönlichen Kontaktes oder genauem Inhalt der einzelnen
Betreuungshandlungen bestimmen“ ließen. Die Entwicklung eines Kindes werde nicht durch
quantifizierbare Betreuungsbeiträge der Eltern, sondern auch durch die geistige und
emotionale Auseinandersetzung geprägt.328 Dementsprechend sei im Einzelfall zu würdigen,
in welcher Form die Elternverantwortung ausgeübt werde und welche Folgen eine endgültige
oder vorübergehende Trennung für die gelebte Eltern-Kind-Beziehung und das Kindeswohl
hätte. In diesem Zusammenhang sei davon auszugehen, dass der persönliche Kontakt des
Kindes zum getrennt lebenden Elternteil und der damit verbundene Aufbau und die
Kontinuität emotionaler Bindungen zu Vater und Mutter in aller Regel der
Persönlichkeitsentwicklung des Kindes diene und das Kind beide Eltern brauche.329
Die familiäre Gemeinschaft zwischen einem Elternteil und dem minderjährigen Kind sei
getragen von tatsächlicher Anteilnahme am Leben und Aufwachsen des Kindes. Im Falle
eines regelmäßigen Umgangs des ausländischen Elternteils, der dem auch sonst Üblichen
324
BVerfG (Kammer), AuAS 2006, 26 (26 f.).
BVerfG (Kammer), AuAS 2006, 26 (27); BVerfG (Kammer), NVwZ 2006, 682 (683); OVG Hamburg,
InfAuslR 2006, 463 (464); OVG NW, NVwZ 2006, 717 = InfAuslR 2006, 126; VG Magdeburg, InfAuslR 2005,
315 (316).
326
VGH BW, NVwZ-RR 2003. 151 (152).
327
Igstadt, in: GKAuslR, II - § 23 Rdn. 69.
328
BVerfG (Kammer), AuAS 2006, 26 (27).
329
BVerfG (Kammer), AuAS 2006, 26 (27).
325
87
entspreche, werde in der Regel von einer familiären Gemeinschaft auszugehen sein. Auch
Unterhaltsleistungen seien in diesem Zusammenhang ein Zeichen für die Wahrnehmung
elterlicher Verantwortung.330 Diese Grundsätze finden nicht nur Anwendung, wenn die
häusliche Gemeinschaft aufgegeben wird, sondern auch dann, wenn sie zu keinem Zeitpunkt
geführt worden ist.
Haben die Eltern zuvor zusammen gelebt, ist regelmäßig davon auszugehen, dass nach der
Aufhebung der häuslichen Gemeinschaft zwischen einem Kind und dem Elternteil, der
ausgezogen ist, eine gegenseitige Verbundenheit fortbesteht.331 Das BVerfG weist darauf hin,
dass der Gesetzgeber mit dem KindRG deutlich gemacht habe, dass sich auch außerhalb der
persönlichen Begegnung Umgang ereignen könne und solle, etwa durch Brief- und
Telefonkontakte. Auch Telefonate seien somit Teil der Wahrnehmung des Umgangs und
insoweit – zumal bei getrennten Wohnsitzen – auch Element familiärer Gemeinschaft. Dies
müsse in die ausländerrechtliche Würdigung angemessen einfließen. Entsprechend abgefasste
eidesstattliche Versicherungen erfüllten dabei grundsätzlich die Darlegungsanforderungen an
eine Glaubhaftmachung im Eilrechtsschutzverfahren und belegten mehr als nur lose und
seltene Besuchskontakte.
Im konkreten Beschwerdeverfahren waren zahlreiche gemeinsame Unternehmungen und
regelmäßige Telefongespräche des Beschwerdeführers mit seiner noch kleinen Tochter,
getragen von emotionalen Bindungen auf beiden Seiten in Form einer eidesstattlichen
Versicherung dargelegt worden. Das BVerfG weist in diesem Zusammenhang auch
ausdrücklich darauf hin, es sei im Rahmen verfassungskonformer Sachverhaltswürdigung
angemessen zu berücksichtigen, dass im Falle einer Rückkehr des ausländischen Elternteils in
sein Herkunftsland ein Abbruch des persönlichen Kontaktes zu seinem Kind drohe und auch
dessen finanzielle Versorgung in Frage stehe.332 Im Hauptsacheverfahren ist zur tatsächlich
gelebten Gemeinschaft zwischen dem Kind und dem nichtsorgeberechtigten Elternteil
gegebenenfalls die Einholung einer sachverständigen Stellungnahme des Jugendamtes zu
erwägen.333
ee)
Recht des nichtsorgeberechtigten Elternteils auf Prozessführung
Können sich die Eltern nicht über die Ausübung des Umgangsrechts einigen, ist der Staat
berufen, durch die Gerichte über die widerstreitenden Interessen der Eltern unter
Berücksichtigung ihrer beiderseitigen Grundrechtspositionen zu entscheiden.334 Das BVerfG
hat ausdrücklich anerkannt, dass sich in der konkreten Lebenswirklichkeit häufig Probleme
daraus ergeben, dass sich die Eltern unvernünftig verhalten und ihre gegenseitigen
Differenzen auf dem Rücken des Kindes austragen.335 Es besteht daher eine aus dem
staatlichen Wächteramt folgende Verpflichtung, den in seinen Rechten benachteiligten
Elternteil im Interesse des Kindeswohls mit gerichtlicher Hilfe dazu zu verhelfen, seine
Rechte und Pflichten gegenüber dem Kind wahrnehmen zu können. In diese
verfassungsrechtlich geschützte Position des nichtsorgeberechtigten Elternteils darf die
Ausländerbehörde grundsätzlich nicht mit aufenthaltsbeendenden Maßnahmen eingreifen.
Unvereinbar hiermit ist die obergerichtliche Auffassung, dass Art. 6 Abs. 1 und 2 Satz 1 GG
330
331
332
333
334
BVerfG (Kammer), AuAS 2006, 26 (28)
OVG NW, NVwZ 2006, 717 (718) = InfAuslR 2006, 126
BVerfG (Kammer), AuAS 2006, 26 (28).
OVG NW, NVwZ 2006, 717 (718) = InfAuslR 2006, 126.
BVerfGE 64, 180 (188) = FamRZ 1983, 872; s. auch BVerfG, BVerfGE 55, 171 (181) = FamRZ 1981,
124.
335
BVerfGE 31, 194 (207) = FamRZ 1971, 421; BVerfGE 64, 180 (189) = FamRZ 1983, 872.
88
nicht die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis gebiete, um dem Umstand zu begegnen, dass
die Herstellung der familiären Lebensgemeinschaft von einem Elternteil erschwert oder
verhindert werde.336
Diese staatliche Verpflichtung folgt auch aus Art. 8 Abs. 1 EMRK. Die Rechtsprechung leitet
hieraus ein Recht auf Prozessführung im Familienrechtsstreit ab, das ein Recht auf Aufenthalt
zur Wahrnehmung prozessualer Recht im umgangsrechtlichen Rechtsstreit nach § 1684 BGB
unabhängig von der Frage begründet, ob der Kindesvater wegen der fehlenden Kooperation
der Kindesmutter eine familiäre Beziehung zu seinem Kind herstellen kann337. Der EGMR
bejaht einerseits eine aus Art. 8 Abs. 1 EMRK folgende staatliche positive Verpflichtung, die
Fortführung des Familienlebens zu sichern, und andererseits eine negative Verpflichtung.
keine Maßnahmen zu ergreifen, welche Familienbande zerreißen. Kommt der Staat der ihn
treffenden positiven Verpflichtung nach, indem er gerichtliche Verfahren zur Einräumung des
Umgangsrechts zur Verfügung stellt, verletzt er seine negative Verpflichtung, wenn die
Ausländerbehörde dem betreffenden Elternteil während des gerichtlichen Prozesses den
Aufenthalt nicht erlaubt. Unter diesen Voraussetzungen liegt ein Eingriff in Art. 8 Abs. 1
EMRK vor.338
Macht der nichtsorgeberechtigte ausländische Elternteil glaubhaft, dass er sich gegenüber dem
das Umgangsrecht vereitelnden anderen Elternteil nachhaltig und ernsthaft um die Ausübung
des Umgangsrecht mit dem Kind, etwa durch Einschaltung des zuständigen Jugendamtes und
nach Scheitern der behördlichen Vermittlungsbemühungen durch entsprechende gerichtliche
Anträge, bemüht hat, kann sein verfassungsrechtlich (Art. 6 Abs. 1 und 2 GG) und
einfachgesetzlich geschütztes Recht (§ 1684 Abs. 1 2. Hs. BGB) auf Herstellung der
familiären Gemeinschaft nicht bezweifelt werden und kommt ihm hinsichtlich des
Erfordernisses der Führung einer familiären Gemeinschaft mit dem Kind eine Vorwirkung zu.
Umgekehrt kann der Wille zur Herstellung und Führung der familiären Gemeinschaft nicht
erkannt werden, wenn es der ausländische nichtsorgeberechtigte Elternteil an jeglichen
Bemühungen fehlen lässt, seiner Verpflichtung zum Umgang mit dem Kind nach § 1684 Abs.
1 2. Hs. BGB nachzukommen.
C.
Aufenthaltsbeendigung
I.
Erlöschensgründe
Der Aufenthaltstitel erlischt nach § 51 Abs. 1 AufenthG im Falle
des Ablaufs seiner Geltungsdauer (§ 7 Abs. 2 Satz 1 AufenthG) einschließlich der
nachträglichen Befristung (§ 7 Abs. 2 Satz 2 AufenthG),
des Eintritts einer auflösenden Bedingung (§ 51 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG),
der Rücknahme des Aufenthaltstitels (§ 51 Abs. 1 Nr. 3 AufenthG),
des Widerrufs des Aufenthaltstitels (§ 52 AufenthG),
der Ausweisung (§§ 53–56 AufenthG),
der Bekanntgabe einer Abschiebungsanordnung (§ 58a AufenthG),
der nicht nur vorübergehenden Ausreise (§ 51 Abs. 1 Nr. 6 und 7 AufenthG) und
336
OVG NW, EZAR 34 Nr. 2, S. 3 f.
VG Hamburg, InfAuslR 2003, 91 (92), mit Verweis auf EGMR, NVwZ 2001, 547 (548) = EZAR 935
Nr. 10 = InfAuslR 2000, 473 - Ciliz; VG München, AuAS 2000, 122 MeesAsadollah, InfAuslR 2001, 178 (184).
338
EGMR, NVwZ 2001, 547 (548) = EZAR 935 Nr. 10 = InfAuslR 2000, 473 – Ciliz.
337
89
wenn nach Erteilung eines Aufenthaltstitels nach §§ 22, 23 oder 25 Abs. 3–6
AufenthG ein Asylantrag gestellt wird (§ 51 Abs. 1 Nr. 8 AufenthG).
II.
Auflösende Bedingung (§ 51 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG)
Nach § 51 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG erlischt der Aufenthaltstitel im Falle des Eintritts einer
auflösenden Bedingung. Es handelt sich um eine auflösende Bedingung im Sinne des § 36
Abs. 2 Nr. 2 VwVfG. § 51 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG bekräftigt lediglich einen allgemeinen
Grundsatz. Danach wird der Verwaltungsakt unwirksam, wenn die auflösende Bedingung
eintritt (vgl. § 158 Abs. 2 BGB). Der Verwaltungsakt kann später auch nicht infolge eines
Rechtsbehelfes wieder aufleben.339 Darin unterscheidet sich die auflösende Bedingung von
dem Verwaltungsakt, mit dem die Geltungsdauer eines Aufenthaltstitels beendet wird. In
diesem Fall tritt eine Unterbrechung der Rechtmäßigkeit des Aufenthaltes nicht ein, wenn der
Verwaltungsakt durch eine behördliche oder unanfechtbare gerichtliche Entscheidung
aufgehoben wird (vgl. § 84 Abs. 2 Satz 3 AufenthG).
Die auflösende Bedingung muss dem Bestimmtheitserfordernis genügen. So wird es zwar für
zulässig erachtet, als auflösende Bedingung die Einreichung einer Klage auf Scheidung oder
die Auflösung oder den Eintritt der Ungültigkeit der Ehe zu bestimmen. Nicht hinreichend
bestimmt ist jedoch die auflösende Bedingung, dass einer der Ehegatten gegenüber der
Ausländerbehörde eine Erklärung darüber abgibt, dass die häusliche Gemeinschaft der
Eheleute aufgehoben wurde, weil eine derartige Auflösung auch lediglich vorübergehender
Natur sein kann und häufig auch ist.340 Darüber hinaus darf die auflösende Bedingung nicht
verfügt werden, wenn dies auf eine unzulässige Umgehung einer in der konkreten Situation
vom Gesetz angeordneten künftigen Ermessensausübung hinausläuft. Das ist etwa bei einer
Eheauflösung der Fall, weil hier nach Ermessen über die nachträgliche Befristung zu
entscheiden ist.341 Ebenso stellt die auflösende Bedingung „Aufenthaltstitel erlischt bei
Sozialhilfebezug“ eine Umgehung des § 12 Abs. 2 AufenthG dar, weil diese Regelung die
Sicherung des Lebensunterhaltes sicherstellen will und deshalb als Spezialregelung gegenüber
einer auflösenden Bedingung zu verstehen ist.342
Der Erlass der auflösenden Bedingung ist anfechtbar.343 Da die Anordnung zumeist nicht in
Form eines schriftlichen Verwaltungsaktes mit Rechtsbehelfsbelehrung erfolgt, können
Rechtsbehelfe innerhalb der Jahresfrist (§ 58 Abs. 2 VwGO) eingelegt werden. Bei der
Verknüpfung einer statusbegründenden Verfügung (Aufenthaltstitel) mit einer auflösenden
Bedingung entspricht allein die Zulassung einer Anfechtung der Nebenbestimmung
verbunden mit der Wirkung der aufschiebenden Wirkung nach § 80 Abs. 1 Satz 1 VwGO den
Interessen der Beteiligten und der Rechtslage.344 Die Anfechtbarkeit der Nebenbestimmung
hat mithin keinen Einfluss auf den Bestand des von der Behörde mit sofortiger Wirkung
verfügten Bescheides. Demgegenüber entfällt wegen des unmittelbaren Eintritts der
Unterbrechung der Rechtmäßigkeit der Rechtsschutz, wenn die auflösende Bedingung
339
340
341
342
343
344
BVerwGE 89, 357 (359) = NVwZ 1992, 570.
VG Stuttgart, InfAuslR 2002, 123 (125); so auch Hess. VGH, InfAuslR 2003, 418 (419).
VG Stuttgart, InfAuslR 2002, 123 (126).
Hess. VGH, InfAuslR 2003, 418 (419).
VG Stuttgart, InfAuslR 2002, 123 (124).
VG Stuttgart, InfAuslR 2002, 123 (124).
90
eintritt.345 Trotz Ablaufs des Aufenthaltstitels kann die Anordnung einer auflösenden
Bedingung nichtig sein mit der Folge, dass der frühere Antrag auf Erteilung des
Aufenthaltstitels und damit die Fiktionswirkung nach § 81 Abs. 4 AufenthG wieder auflebt.
Greift der Beteiligte die Beifügung der auflösenden Bedingung an, so ist deren Wirksamkeit
ausgesetzt. Deshalb ist es unschädlich, wenn während des anhängigen
Rechtsbehelfsverfahrens die auflösende Bedingung eintritt.346
III.
Nachträgliche Befristung (§ 7 Abs. 2 Satz 2 AufenthG)
Der Aufenthaltstitel erlischt, wenn seine Geltungsdauer abgelaufen ist (§ 51 Abs. 1 Nr. 1
i.V.m. § 7 Abs. 2 Satz 2 AufenthG). Dadurch entsteht die Ausreisepflicht nach § 50 Abs. 1
AufenthG. Die Behörde kann diese Wirkung auch durch einen Verwaltungsakt, die
nachträgliche Befristung nach § 7 Abs. 2 Satz 2 AufenthG, herbeiführen, wenn eine für die
Erteilung oder Verlängerung des Aufenthaltstitels wesentliche Voraussetzung nachträglich
entfallen ist. Die Entscheidung liegt im behördlichen Ermessen. Die Wirksamkeit der den
rechtmäßigen Aufenthalt beendenden nachträglichen Befristung des Aufenthaltstitels wird
unbeschadet der aufschiebenden Wirkung von Widerspruch und Klage nicht berührt (vgl. § 84
Abs. 2 Satz 1 AufenthG). Der Aufenthaltstitel wird demnach durch die Verfügung zeitlich
beschränkt. Dadurch wird zugleich die Ausreisepflicht begründet (§ 50 Abs. 1 AufenthG).
Diese ist ohne die Anordnung der sofortigen Vollziehung der Verfügung allerdings nicht
vollziehbar (vgl. § 50 Abs. 1 Satz 2 AufenthG). Anders als die Ausweisung begründet die
nachträgliche Befristung ebenso wenig wie der Ablauf der Geltungsdauer eines
Aufenthaltstitels eine Sperrwirkung für die Einreise.347
Wird die nachträgliche Befristung durch eine behördliche oder eine unanfechtbare
gerichtliche Entscheidung aufgehoben, so ist eine Unterbrechung des rechtmäßigen
Aufenthaltes nicht eingetreten (§ 84 Abs. 2 Satz 3 AufenthG). § 7 Abs. 2 Satz 2 AufenthG gilt
lediglich für befristete Aufenthaltstitel. Die Niederlassungserlaubnis kann nicht nachträglich
befristet werden (§ 9 Abs. 1 Satz 2 2. Hs. AufenthG). Liegen von Anfang an die für die
Erteilung oder Verlängerung des Aufenthaltstitels maßgebenden Voraussetzungen nicht vor,
kommt nicht die nachträgliche Befristung, sondern die Rücknahme nach § 51 Abs. 1 Nr. 3
AufenthG i.V.m. § 48 VwVfG in Betracht. Die nachträgliche Befristung ist unzulässig, wenn
der Betroffenen aus einem anderen Grund ein Anspruch auf Erteilung eines Aufenthaltstitels
erwachsen ist.348
Widerspruch und Klage gegen die nachträgliche Befristung haben aufschiebende Wirkung
nach § 80 Abs. 1 VwGO. Der Eintritt des Suspensiveffektes hemmt lediglich die Vollziehung,
beseitigt indes nicht die Ausreisepflicht (§§ 50 Abs. 1, 84 Abs. 2 Satz 1 AufenthG). § 84
Abs. 1 AufenthG ordnet den Wegfall der aufschiebenden Wirkung des Rechtsbehelfs gegen
die Versagung der Erteilung oder Verlängerung des Aufenthaltstitels an und ist deshalb auf
Rechtsbehelfe gegen die nachträgliche Befristung nach § 7 Abs. 2 Satz 2 AufenthG nicht
anwendbar.349 Auch wenn der Betroffene sich im Ausland aufhält, ist der Erlass der
345
VG Minden, InfAuslR 1999, 352.
VG Stuttgart, InfAuslR 2002, 123 (124).
347
BVerwGE 106, 302 (305) = EZAR 030 Nr. 6 = NVwZ 1998, 740 = InfAuslR 1998, 285.
12BVerwGE 106, 302 (305) = EZAR 030 Nr. 6 = NVwZ 1998, 740 = InfAuslR 1998, 285.
346
348
BayVGH, InfAuslR 2003, 2.
349
Hess. VGH, AuAS 1997, 134 = EZAR 622 Nr. 29; OVG Hamburg, InfAuslR 1999, 122 (123 f.); OVG
NW, AuAS 2004, 242 VGH BW, InfAuslR 1997, 358 (359) = EZAR 622 Nr. 30 = VBlBW 1997, 434.
91
Abschiebungsandrohung
zulässig,
sofern
nicht
eine
auf
Dauer
Aufenthaltsbeendigung seitens des Betroffenen unterstellt werden kann.350
gerichtete
Da die nachträgliche Befristung in eine bestehende Rechtsposition eingreift, sind Widerspruch
und Anfechtungsklage zu erheben. Die unter Vorbehalt der Aufhebung der Ausweisung bzw.
der Zurückweisung des ausweisungsrechtlichen Eilrechtsschutzantrags angeordnete sofortige
Vollziehung der nachträglichen Befristung wird für zulässig erachtet. Es sei nicht zu
beanstanden, wenn die Behörde durch die nachträgliche Befristung der Aufenthaltserlaubnis
unabhängig vom Ausgang des Ausweisungsverfahrens eine sofortige Aufenthaltsbeendigung
erreichen wolle.351
Maßgebend für die Beurteilung der Rechtmäßigkeit der nachträglichen Befristung ist nach
überwiegender Ansicht die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der letzten
verwaltungsbehördlichen Entscheidung.352 Das gilt auch dann, wenn die Behörde den
Aufenthaltstitel nicht zu einem bestimmten Datum, sondern bis zum Eintritt der
Unanfechtbarkeit der Verfügung nachträglich befristet. Auch in diesem Fall wird die
Befristung als rechtsgestaltende Maßnahme mit Bekanntgabe der Verfügung sofort wirksam
mit der Folge, dass nach Erlass der Widerspruchsentscheidung eintretende Umstände
unberücksichtigt bleiben. Demgegenüber wird vertreten, dass – sofern die Beschränkung zu
einem früheren Zeitpunkt wirksam werden soll – für diesen Zeitpunkt festzustellen sei, ob
eine wesentliche Voraussetzung im Sinne des § 7 Abs. 2 Satz 2 AufenthG entfallen sei. 353
Überwiegend wird indes die rückwirkende nachträgliche Befristung für unzulässig angesehen.
Die Behörde kann die sofortige Vollziehung der nachträglichen Befristung des
Aufenthaltstitels nach § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 4 VwGO anordnen. Unter ausdrücklicher
Bezugnahme auf die gefestigte Rechtsprechung des BVerfG, derzufolge mit Rücksicht auf
den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit „stets ein besonderes, über die Voraussetzungen für
die Ausweisung selbst hinausgehendes Erfordernis vorliegen muss“,354 fordert die
obergerichtliche Rechtsprechung in diesem Fall, dass die Behörde ein besonderes, über die
355
Voraussetzungen für die Befristung hinausgehendes öffentliches Interesse darzulegen hat.
Gegen die Anordnung der sofortigen Vollziehung ist Eilrechtsschutz nach § 80 Abs. 5 VwGO
zu beantragen. Der Antrag muss einen rechtlichen Vorteil schaffen können. Das ist nicht der
Fall, wenn bereits aus anderen Gründen die Vollziehbarkeit der Ausreisepflicht eingetreten
ist. Dies führt insbesondere bei Inhabern befristeter Aufenthaltstitel häufig zu Problemen.
Selbst wenn die nachträgliche Befristung aufgehoben wird und deshalb nach § 84 Abs. 2 Satz
3 AufenthG keine Unterbrechung des rechtmäßigen Aufenthaltes eingetreten ist, erlischt bei
einem befristeten Aufenthaltstitel wegen des Eintritts der Unwirksamkeit des Aufenthaltstitels
durch den Ablauf der Geltungsdauer das Aufenthaltsrecht (§ 51 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG)356
und entsteht damit eine vollziehbare Ausreisepflicht. Daher ist im Falle der nachträglichen
Befristung eines befristeten Aufenthaltstitels stets vor dem Ablauf der Geltungsdauer der
350
OVG Bremen, NVwZ-RR 2006, 643 (646).
OVG Bremen, NVwZ-RR 2006, 643 (645).
352
BVerwG, NVwZ 1992, 177 = InfAuslR 1991, 268 = EZAR 103 Nr. 16; Hess. VGH, EZAR 103 Nr. 17; VGH
BW, NVwZ-RR 2003, 385, .
353
OVG NW, AuAS 2004, 242.
354
BVerfG (Kammer), NVwZ 1996, 58 (59).
355
BayVGH, AuAS 1999, 170 (171); Hess. VGH, AuAS 1997, 134 (135) = EZAR 622 Nr. 29; OVG
Hamburg, InfAuslR 1999, 122; VGH BW, InfAuslR 1997, 358 (359 f.) = EZAR 622 Nr. 30.
356
VG Frankfurt/M., Urt. v. 4.11.1999 – 1 E 2175/98; bestätigt durch Hess. VGH, Beschl. v. 13.1.2000 –
12 UZ 97/00.
351
92
Verlängerungsantrag zu stellen. Da nach dem Erlöschen des Aufenthaltstitels wegen der
nachträglichen Befristung die Erlaubnisfiktion nach § 81 Abs. 4 AuslG nicht Anwendung
findet, ist das weitere Aufenthaltsrecht durch einen einstweiligen Anordnungsantrag nach
§ 123 VwGO sicherzustellen. In diesem auf den Verlängerungsanspruch zielenden Verfahren
wird im Grunde genommen ein Prüfungsdurchgriff auf die Verfügung nach § 7 Abs. 2 Satz 2
AufenthG vorgenommen werden müssen.
Muster:
Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung gemäß § 123 VwGO zur
Sicherstellung des weiteren Aufenthaltes bei Ablauf der befristeten
Aufenthaltserlaubnis bei nachträglicher Befristung nach § 7 Abs. 2 Satz 2
AufenthG
An das
Verwaltungsgericht
Antrag nach § 123 VwGO
der marokkanischen Staatsangehörigen
– Antragstellerin –
gegen
das Land Hessen, vertreten durch den Landrat des Kreises
– Antragsgegner –
Unter Vollmachtsvorlage stelle ich den Antrag,
im Wege der einstweiligen Anordnung gemäß § 123 VwGO den Antragsgegner zu
verpflichten, die Abschiebung bis zur unanfechtbaren Entscheidung im Verfahren gegen
die nachträgliche Befristung auszusetzen.
IV.
Widerruf (§ 52 AufenthG)
Die Vorschrift des § 52 AufenthG regelt die Widerrufsgründe abschließend. Die allgemeinen
Verfahrensvorschriften über den Widerruf sind damit nicht ergänzend anwendbar. Über den
Widerruf ist nach Ermessen zu entscheiden. Wird hiervon abgesehen, ist dies in den Akten zu
vermerken. Eine erneute Prüfung von Widerrufsgründen ist danach nur zulässig, wenn neue
Umstände aufgetreten sind. Ist es dem Betroffenen unmöglich, in zumutbarer Weise einen
Pass zu erlangen (vgl. § 52 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG), wird über den Widerruf unter
Berücksichtigung des aufenthaltsrechtlichen Status entschieden. Sofern die Behörde vom
Widerruf absieht, hat sie eine Bescheinigung über den Aufenthaltstitel nach § 48 Abs. 2
AufenthG zu erteilen.
In Fällen von Asylberechtigten und Flüchtlingen setzt der Widerruf des Aufenthaltstitels (§ 52
Abs. 1 Nr. 4 AufenthG) den wirksamen Widerruf des Asylrechts bzw. des Status nach § 60
Abs. 1 AufenthG i.V.m. § 3 AsylVfG voraus.357 Die Rechtsprechung erachtet allerdings den
Ausspruch des Widerrufs des Aufenthaltstitels mit Wirkung für die Vergangenheit, und zwar
bezogen auf den Zeitpunkt des Eintritts der Unanfechtbarkeit des asylrechtlichen Widerrufs
für zulässig.358 Derartige Akrobatik hat sich mit § 75 Satz 2 und 3 AsylVfG erledigt. Denn die
Behörde kann die sofortige Vollziehung des Widerrufs einer Aufenthaltserlaubnis anordnen.
Grundsätzlich haben Rechtsmittel gegen den Widerruf aufschiebende Wirkung (vgl. § 84 Abs.
357
358
VG Sigmaringen, InfAuslR 1999, 47.
OVG NW, InfAuslR 2006, 427 (428).
93
1 AufenthG). Der Widerruf begründet wegen der Erlöschenswirkung zwar die Ausreisepflicht
des Betroffenen. Diese ist jedoch erst vollziehbar (vgl. § 58 Abs. 2 Satz 2 AufenthG), wenn
der Widerruf vollziehbar ist. Die Behörde muss bei der Anordnung der sofortigen
Vollziehung des Widerrufs besondere Gründe bezeichnen können. Die Begründung hat den
selben Grundsätzen zu genügen, wie sie für die nachträgliche Befristung maßgebend sind.359
V.
Rücknahme (§ 51 Abs. 1 Nr. 3 AufenthG in Verb. mit § 48 VwVfG)
Nach der Rechtsprechung kann der Aufenthaltstitel nach § 48 VwVfG zurückgenommen
werden, wenn von Anfang an die für seine Erteilung maßgebenden Voraussetzungen nicht
vorgelegen haben.360 Eine Rücknahme kommt hingegen nicht in Betracht, wenn der
ursprüngliche Verwaltungsakt rechtswidrig erteilt worden ist und später zusätzlich eine
Voraussetzung entfällt. Die Rückname kommt etwa in Betracht, wenn der Aufenthaltstitel
aufgrund falscher Angaben oder Urkunden erlangt worden ist. Die Rücknahmevorschriften
werden insbesondere bei sog. Scheinehen angewendet, weil hier von Anfang an die
Erteilungsvoraussetzungen nicht vorgelegen haben. Die Rücknahme eines Aufenthaltstitels ist
nur bei einem von Anfang an rechtswidrigen Aufenthaltstitel zulässig.
Hat der Betreffende die Rechtswidrigkeit zu vertreten, kann die Rücknahme auf den Zeitpunkt
der Erteilung des Aufenthaltstitels angeordnet werden, im Übrigen mit Wirkung für die
Zukunft. Enthält die Verfügung insoweit keine ausdrückliche Regelung, ist grundsätzlich von
der Rückwirkung auszugehen.361 Bei nachträglich eintretender Rechtswidrigkeit kommt nicht
die Rücknahme, sondern wegen der abschließenden Regelung in § 7 Abs. 2 Satz 2 AufenthG
nur die nachträgliche Befristung in Betracht. Eine Änderung der Sach- und Rechtslage nach
Erlass des Verwaltungsaktes kann zwar dazu führen, dass die Regelung in Widerspruch zum
geltenden Recht gerät. Sie führt indes nicht zur Rechtswidrigkeit und Rücknehmbarkeit des
Verwaltungsaktes.362
Will die Behörde eine rechtswidrig erteilte Aufenthaltserlaubnis zurücknehmen, hat sie bei
der Ausübung des Rücknahmeermessens die für und gegen die Maßnahme sprechenden
Gesichtspunkte zu identifizieren und gegeneinander abzuwägen. Die Rücknahme kann nur
Bestand haben, wenn die Behörde die erforderliche Abwägung öffentlicher Interessen und
schutzwürdiger privater Belange vorgenommen und dabei die wesentlichen Gesichtspunkte
des Einzelfalles berücksichtigt hat.363 Hat die Behörde die Rücknahme mit einer
Ausweisungsverfügung verbunden, kann der Mangel des Rücknahnmeermessens wegen der
unterschiedlichen Maßnahmen nicht mit Hinweis auf das Ausweisungsermessen geheilt
werden.364 § 114 Satz 2 VwGO erlaubt nur die Nachholung defizitärer Ermessenserwägung
im Prozess, nicht hingegen die erstmalige Ausübung des Rücknahmeermessens.365
359
VGH BW, EZAR 94 Nr. 2.
BVerwGE 98, 298 (305) = EZAR 019 Nr. 10 = NVwZ 1995, 1119; BayVGH, InfAuslR 2003, 54 (55);
Hess. VGH, EZAR 033 Nr. 9; VG München, NVwZ-RR 2000, 722 (723); VG Wiesbaden, HessVGRspr. 1999,
781 (782); Hailbronner, AuslR, § 12 AuslG Rn 24; Nr. 12.2.2.0 AuslG-VwV; a.A. noch Hess. VGH, EZAR 103
Nr. 17, S. 7; VGH BW, InfAuslR 1989, 159 zur Rücknahme nach altem Recht.
361
BVerwG, NVwZ 2007, 470 (471) = AuAS 2007, 3 (4) = ZAR 2007, 6.
362
BayVGH, InfAuslR 2002, 54 (55); a.A. VG München, NVwZ-RR 2000, 722 (723).
360
363
364
365
BVerwG, AuAS 2007, 3 (4).
BVerwG, AuAS 2007, 3 (4).
BVerwG, AuAS 2007, 3 (5).
94
Die Behörde hat im Rahmen des Rücknahmeermessens die in § 55 Abs. 3 AufenthG
aufgeführten Gesichtspunkte, die Grundrechte sowie die rechtsstaatlichen Grundsätze der
Verhältnismäßigkeit und des Vertrauensschutzes zu berücksichtigen: Der Umstand, dass die
Aufenthaltserlaubnis durch falsche Angaben und Vorlage einer unrichtigen Geburtsurkunde
erschlichen wurde, schließt zwar eine Berufung auf Vertrauensschutz aus, ändert aber nichts
am Erfordernis der Ausübung des Rücknahmeermessens.366 Dabei ist insbesondere auf die
Folgen für die familiäre Lebensgemeinschaft Bedacht zu nehmen. Insbesondere hat die
Behörde zu berücksichtigen, dass durch eine rückwirkende Rücknahme Auswirkungen auf
staatsangehörigkeitsrechtlichen Erwerbstatbestand eines Kindes (vgl. § 4 Abs. 3 Satz 1
AufenthG) eintreten können.367 Die Rechtsprechung des BVerwG kann aber nicht auf diesen
Fall beschränkt werden. Vielmehr ist sie so zu verstehen, dass immer dann, wenn durch die
Rücknahme das akzessorische Aufenthaltsrecht von Familienangehörigen gefährdet wäre,
eine besonders sorgfältige Ermessensausübung angezeigt ist. Dabei ist insbesondere dem aus
Art. 8 EMRK fließenden Verwurzelungsanspruch Rechnung zu tragen.
Keine Anwendung auf die Rücknahme finden die Grundsätze des intendierten Ermessens, bei
der das Ermessen bereits vom Gesetz vorgezeichnet ist und deshalb ein bestimmtes Ergebnis
dem Gesetz mit der Folge näher steht, dass nur ausnahmsweise eine Abwägung zwischen den
öffentlichen und privaten Interessen erfolgt. Daher bedarf es bei der Rücknahme eines
Aufenthaltstitels regelmäßig einer umfassenden Abwägung aller für und gegen die
Rücknahme sprechenden Umstände, ohne dass ein Ergebnis für den Regelfall vorgezeichnet
ist.368 Maßgeblicher Zeitpunkt für die Rechtwidrigkeit im Sinne von § 48 VwVfG ist der
Zeitpunkt des Erlasses der ursprünglichen Verfügung in Gestalt des Widerspruchsbescheides.
Hat der Antragsteller vor der Rücknahme des Aufenthaltstitels einen Antrag auf Verlängerung
des Aufenthaltstitels gestellt, kann allein die Rücknahme die Rechtmäßigkeit des Aufenthaltes
nicht beenden. Dadurch wird die durch den Verlängerungsantrag ausgelöste Erlaubnisfiktion
nicht beseitigt. Vorläufiger Rechtsschutz ist in diesem Fall nach § 80 Abs. 5 VwGO zu
erlangen. Hinsichtlich der Versagungsverfügung ist die Anordnung der aufschiebenden
Wirkung des Rechtsbehelfs zu beantragen. Vorläufiger Rechtsschutz gegen die Rücknahme
als solche richtet sich nach § 80 Abs. 5 VwGO. Denn gegen die Rücknahme ist
Anfechtungsklage zu erheben. Maßgeblicher Zeitpunkt für die Beurteilung der Sach- und
Rechtslage ist bei der gebotenen Anfechtungsklage der Zeitpunkt der letzten behördlichen
Entscheidung. Soweit nach Landesrecht ein Widerspruchverfahren vorgesehen und ein
Widerspruch noch nicht ergangen ist, ist dies im Eilrechtsschutzverfahren der Zeitpunkt der
Entscheidung der gerichtlichen Tatsacheninstanz.369
VI.
Nicht nur vorübergehende Ausreise (§ 51 Abs. 1 Nr. 6 und 7, Abs. 2 und 9
AufenthG)
Kraft Gesetzes erlischt der Aufenthaltstitel im Falle der nicht nur vorübergehenden Ausreise.
Ist die Geltungsdauer des Aufenthaltstitels bereits vorher abgelaufen, erlischt dieser nicht
nach § 51 Abs. 1 Nr. 7 AufenthG, sondern nach § 51 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG. 370 Im Falle des
§ 51 Abs. 1 Nr. 6 AufenthG tritt die Erlöschenswirkung im Zeitpunkt der Ausreise, im Falle
des § 51 Abs. 1 Nr. 7 AufenthG erst nach Ablauf von sechs Monaten ein. Die Wirkung tritt
366
367
368
369
370
BVerwG, AuAS 2007, 3 (4).
BVerwG, AuAS 2007, 3 (4).
VGH BW, AuAS 2006, 149 (150 f.), bekräftigt durch BVerwG, AuAS 2007, 3 (4).
VGH BW, AuAS 2006, 149.
VG Köln, InfAuslR 2006, 20.
95
nur ein, wenn objektiv feststeht, dass der Betroffene nicht nur vorübergehend das
Bundesgebiet freiwillig verlassen hat. Auf die subjektiven Vorstellungen beim
Ausreiseentschluss kommt es nicht an. Die Ausreise setzt indes den freien Entschluss zur
Ausreise voraus. Daran fehlt es, wenn der Betroffene zur Strafverfolgung an ein anderes Land
ausgeliefert wird, ohne dass es dabei auf seinen eigenen Willen ankommt.371 § 51 Abs. 1 Nr. 6
und 7 AufenthG ist nicht auf Asylberechtigte372 und wegen der rechtlichen Gleichstellung der
Konventionsflüchtlinge mit den Asylberechtigten anders als nach früherem Recht auch nicht
auf Flüchtlinge anwendbar (vgl. auch § 51 Abs. 7 AufenthG).
Der Beginn der Frist nach § 51 Abs. 1 Nr. 7 AufenthG wird durch wiederholte Einreisen
innerhalb der Sechs-Monats-Frist unterbrochen, wenn diese wiederholten Kurzaufenthalte im
Bundesgebiet die Schlussfolgerung rechtfertigen, dass der Lebensmittelpunkt im
Bundesgebiet bestehen bleibt.373 Vertreten wird aber, dass eine längere als sechs Monate
dauernde Ausreise mit zwischenzeitlichen kurzfristigen Einreisen ohne Überschreitung der
Sechs-Monats-Frist, nicht zu Unterbrechung führt, wenn keine dauerhafte Ausreiseabsicht
besteht.374
Die Entscheidung über den Antrag nach § 51 Abs. 1 Nr. 7 AufenthG steht im behördlichen
Ermessen. Im Hinblick auf Antragsteller mit einem befristeten Aufenthaltstitel wird dem
Antrag stattgegeben, wenn ein gesetzlicher Verlängerungsanspruch besteht oder der
Auslandsaufenthalt aus Ausbildungs-, Berufsausbildungsgründen oder dringenden
persönlichen Gründen erforderlich ist. Dem Antrag eines Antragstellers, der im Besitz einer
Niederlassungserlaubnis ist, soll regelmäßig stattgegeben werden (§ 51 Abs. 4 AufenthG). In
der Rechtsprechung ist umstritten, ob trotz Ablaufs der Sechs-Monats-Frist dem Betroffenen
die Nachweismöglichkeit des lediglich vorübergehenden Auslandsaufenthalts verbleibt. Zwar
kann eine längere Frist nach § 51 Abs. 1 Nr. 7 AufenthG grundsätzlich nicht nachträglich
bestimmt werden, um das Erlöschen des Aufenthaltstitels rückgängig zu machen.375
Die Niederlassungserlaubnis eines Ausländers, der sich als Arbeitnehmer oder Selbständiger
mindestens 15 Jahre rechtmäßig im Bundesgebiet aufgehalten hat, sowie die
Niederlassungserlaubnis des Ehegatten erlöschen im Falle eines längeren
Auslandsaufenthaltes nicht, wenn deren Lebensunterhalt gesichert ist und kein
Ausweisungsgrund nach § 54 Nr. 5 bis 7 oder § 55 Abs. 2 Nr. 8 bis 11 AufenthG vorliegt
(§ 51 Abs. 2 Satz 1 AufenthG). Die Sicherung des Lebensunterhaltes kann durch eine
Verpflichtungserklärung nach § 68 AufenthG nachgewiesen werden und muss dem Umfang
nach den gesamten weiteren ins Auge gefassten Aufenthalt im Bundesgebiet sichern.376
Ebenso wenig erlischt die Niederlassungserlaubnis eines mit einem Deutschen in ehelicher
Lebensgemeinschaft lebenden Ausländers nicht nach § 51 Abs. 1 Nr. 6 und 7 AufenthG, wenn
kein Ausweisungsgrund nach § 54 Nr. 5 bis 7 oder § 55 Abs. 2 Nr. 8 bis 11 AufenthG vorliegt
(§ 51 Abs. 2 Satz 2 AufenthG). Dies gilt auch für den ausländischen Partner einer
lebenspartnerschaftlichen Gemeinschaft mit einem Deutschen (§ 27 Abs. 2 in Verb. mit § 51
Abs. 2 Satz 2 AufenthG). § 51 Abs. 3 AufenthG fordert die Erfüllung der gesetzlichen
Wehrpflicht, sodass die vorübergehende Ausreiseverweigerung allein wegen der bestehenden
Wehrpflicht das Aufenthaltsrecht nicht zum Erlöschen bringt.377 Sonstige negative Folgen der
371
372
373
374
375
376
377
VG Hannover, NVwZ-Beil. 2003, 103 (104).
Hess. VGH, NVwZ-RR 1996, 114..
OVG Rh-Pf, NVwZ-RR 2004, 73 (74) = AuAS 2003, 16.
OVG Berlin-Brandenburg, InfAuslR 2007, 449
Hess. VGH, InfAuslR 1999, 454 (455) = EZAR 019 Nr. 12; a.A. VG Stuttgart, InfAuslR 1998, 30
OVG NW, AuAS 2002, 86 (87).
OVG NW, AuAS 2002, 86 (87).
96
Wehrpflicht werden danach nicht berücksichtigt. Der Betroffene hat gegebenenfalls
nachzuweisen, dass er sich wegen der Erfüllung der gesetzlichen Wehrpflicht länger als sechs
Monate im Ausland aufgehalten hat und rechtzeitig wieder eingereist ist.
Rechtsschutz ist durch die Feststellungsklage zu erreichen. Gegenstand des Verfahrens ist ein
konkretes Rechtsverhältnis zwischen dem Betroffenen und der Behörde aufgrund einer
ausländerrechtlichen Norm. Es geht mithin um eine konkrete Rechtsbeziehung und damit um
mehr als das allgemeine Verhältnis zwischen Bürger und Staat.378 Mit der
Verpflichtungsklage kann das Klageziel nicht erreicht werden. Denn die Behörde beschränkt
sich auf den Hinweis auf die Gesetzeslage nach § 51 Abs. 1 AufenthG. Durch den Antrag auf
Erlass eines Verwaltungsaktes kann das klägerische Ziel ebenfalls nicht erreicht werden.
Denn im Streit steht ja gerade, ob ein einmal erteilter Verwaltungsakt und das darauf
beruhende konkrete Rechtsverhältnis fortbestehen. Einstweiliger Rechtsschutz ist über § 123
VwGO zu erlangen. Verbindet die Behörde den Hinweis auf die Gesetzeslage mit einer
Abschiebungsandrohung oder erfolgt der Hinweis im Rahmen einer Versagungsverfügung, ist
der Rechtsschutz im Rahmen der jeweiligen Verfügung anzustreben.
Muster:
Feststellungsklage und Eilrechtsschutzantrag nach § 123 VwGO bei Streit um die
Beendigung des Aufenthaltstitels wegen nicht nur vorübergehender Ausreise
An das
Verwaltungsgericht
Klage/ Antrag nach § 123 VwGO
der brasilianischen Staatsangehörigen
– Klägerin/Antragstellerin –
gegen
das Land Hessen, vertreten durch den Landrat des Kreises
– Beklagter/Antragsgegner –
Unter Vollmachtsvorlage erhebe ich Klage und beantrage:
Es wird festgestellt, dass die Niederlassungserlaubnis der Klägerin weiter fortbesteht.
Zugleich wird beantragt,
im Wege der einstweiligen Anordnung nach § 123 VwGO den Antragsgegner zu
verpflichten, die Abschiebung bis zur unanfechtbaren Entscheidung im Feststellungsverfahren auszusetzen.
VII.
Ausweisung (§ 53 bis 56 AufenthG)
1.
Funktion der Ausweisung
Die Ausweisung hat ordnungsrechtlichen Charakter und soll einer künftigen Störung
vorbeugen, nicht aber ein bestimmtes Verhalten ahnden. Sie stellt weder eine Strafe noch
eine strafähnliche Maßnahme dar, sondern ist an ordnungsrechtlich orientiert.379
Rechtsgrundlage für die Ausweisung sind die Vorschriften der § 53 bis § 56 AufenthG in
Verbindung mit völkerrechtlichen Schutznormen sowie unabhängig von den nationalen
Vorschriften gemeinschaftsrechtliche Normen. Ausweisungsverfügungen, die vor dem 1.
378
VG Bremen, InfAuslR 2006, 198 (201 f.).
379
BVerfG (Kammer), NVwZ-Beil. 2001, 58.
97
Januar 2005 auf der Grundlage von § 45 bis 48 AuslG 1990 ergangen sind, werden nach § 53
bis 56 AufenthG beurteilt, wenn bis zum 1. Januar 2005 noch nicht über den Widerspruch
entschieden worden ist.380 Eine rechtswidrige bestandskräftige Ausweisung führt regelmäßig
nicht zu einem Rücknahmeanspruch, sondern nur zu einem Anspruch auf
ermessensfehlerfreie Bescheidung des Rücknahmeantrags.381 Nur wenn die Aufrechterhaltung
der Verfügung „schlechthin unerträglich“ wäre, ist die Rücknahme geboten.382
Die Ausweisung ordnet verbindlich an, dass der Betroffene das Bundesgebiet zu verlassen hat
(§§ 50 Abs. 1, 51 Abs. 1 Nr. 5 AufenthG), und begründet eine Sperrwirkung (§ 11 Abs. 1 Satz
2 AufenthG) für die Aufenthaltnahme.383 Im Hinblick auf ihre weiteren Rechtswirkungen
erledigt sich die Ausweisung nicht mit der Rückkehr des Ausländers in sein Heimatland.384
Die Ausweisung setzt einen erlaubten Aufenthalt nicht voraus, hat andererseits aber das
Erlöschen des Aufenthaltstitels zur Folge (§ 51 Abs. 1 Nr. 5 AufenthG). Das wirksame
Erlöschen des Aufenthaltstitels setzt keine Unanfechtbarkeit der Ausweisungsverfügung
voraus. Der Aufenthaltstitel erlischt danach nicht bereits mit Erfüllung des objektiven
Ausweisungstatbestandes, sondern erst mit Erlass der Ausweisungsverfügung. In diesem
Zeitpunkt wird der Aufenthalt unrechtmäßig, ohne dass es darauf ankommt, ob die Verfügung
vollziehbar ist. Anders verhält es sich bei der aufschiebend bedingten Ausweisung eines
Asylbewerbers (vgl. § 56 Abs. 4 Satz 1 AufenthG). Diese entfaltet ihre Rechtswirkung erst
mit dem unanfechtbaren Abschluss des Asylverfahrens.
Die behördliche Bekanntgabe der Ausweisungsverfügung führt zum
wirksamen Erlöschen des Aufenthaltstitels (§ 51 Abs. 1 Nr. 5 AufenthG), ohne dass es auf
die Unanfechtbarkeit der Verfügung ankommt;
Wegfall der Erlaubnisfreiheit nach § 51 Abs. 5 Satz 1 AufenthG;
Wegfall der Fiktionswirkung (§ 81 Abs. 3 und 4 AufenthG);
Eintritt der Sperrwirkung (§ 11 Abs. 1 Satz 2 AufenthG) und begründet die
Zurückweisungsbefugnis (§ 15 Abs. 1 AufenthG).
Das BVerwG hat festgestellt, dass der Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach dem 5.
Abschnitt nicht die Sperrwirkung der Ausweisung entgegensteht385 und bezieht dies nicht
lediglich auf § 25 Abs. 5 AufenthG. Im Übrigen besteht im Verfahren auf Befristung der
Ausweisung ein Anspruch, eine Obergrenze für die Ausübung pflichtgemäßen Ermessens
festzulegen.386
2.
Systematik des Ausweisungsrechts
Das Ausländerrecht unterscheidet zwischen der zwingenden Ausweisung (§ 53 AufenthG), der
Regelausweisung (§ 54 AufenthG) und der Ermessensausweisung (§ 55 AufenthG). Die
Ausweisung hat einen ordnungsrechtlichen Zweck, sodass der Gesetzgeber typisierende
380
OVG NW, NVwZ 2005, 968.
BVerwG, NVwZ 2008, 1024.
382
BVerwG, NVwZ 2007, 709.
383
BVerwGE 106, 302 (305) = NVwZ 1998, 740 = EZAR 030 Nr. 6 = InfAuslR 1998, 285.
80BVerwGE 106, 302 (305) = NVwZ 1998, 740 = EZAR 030 Nr. 6 = InfAuslR 1998, 285.
384
BVerwGE 106, 302 (305) = NVwZ 1998, 740 = EZAR 030 Nr. 6 = InfAuslR 1998, 285.
381
385
BVerwGE 129, 226 (239 f.) = InfAuslR 2008, 71 = AuAS 2008, 26; so auch VG Freiburg, InfAuslR
2008, 222 (223), unter Hinweis auf Art-. 8 EMRK.
386
Hess.VGH 2008, 7 (8).
98
Ausweisungstatbestände festlegen darf.387 Bei den Personen, die besonderen
Ausweisungsschutz nach § 56 AufenthG genießen, werden die zwingende und
Regelausweisung auf die jeweils nachfolgende Ausweisungsebene heruntergestuft (§ 56
Abs. 1 Satz 4 und 5 AufenthG). Nach der Rechtsprechung trägt damit bereits das Gesetz dem
Verhältnismäßigkeitsgrundsatz Rechnung. Weitere Härten können und müssen nach dem
BVerwG gegebenenfalls im Wege der Duldung oder der Befristung gemildert werden.388
Die Abweichung von der Regelausweisung setzt einen „atypischen Geschehensablauf“
voraus, der so bedeutsam ist, dass er jedenfalls das sonst ausschlaggebende Gewicht der
gesetzlichen Regel beseitigt.389 Ob die tatsächlichen und rechtlichen Voraussetzungen eines
Regelfalles vorliegen, unterliegt der vollen gerichtlichen Kontrolle, da es sich hierbei um
einen unbestimmten Rechtsbegriff handelt.390 Nur wenn die Prüfung ergibt, dass ein
atypisches Ausnahmegeschehen vorliegt, wird das Ausweisungsermessen nach § 55 Abs. 3
AufenthG eröffnet.391 Wird dies verneint, bleibt es bei der Regelausweisung. Ein Ermessen
wird nicht eröffnet. Liegt ein Ausnahmetatbestand vor, steht die Ausweisung danach im
behördlichen Ermessen und erfolgt nach Maßgabe des § 55 Abs. 3 AufenthG. Dabei ist auch
der Ausweisungstatbestand nach § 54 AufenthG mit dem ihm zukommenden Gewicht in die
Güter- und Interessenabwägung einzubeziehen. Es kommt ihm indes nicht von vornherein ein
ausschlaggebendes Gewicht zu. Die Behörde kann jedoch auch die Entscheidung, ob ein
Ausnahmefall vorliegt, offen lassen und unmittelbar – negativ – nach Ermessen
entscheiden.392
3.
Besonderer Ausweisungsschutz
Das starre System des Ausweisungsrechts führt in der Verwaltungspraxis dazu, dass nur ganz
ausnahmsweise ein atypischer Regelfall angenommen wird. Um das Mandat erfolgreich
bearbeiten zu können, ist daher nach besonderen Schutznormen zu forschen. Diese enthält das
Gemeinschaftsrecht für Unionsbürger sowie langfristig Aufenthaltsberechtigte und damit
auch das Assoziationsrecht für türkische Arbeitnehmer und deren Angehörige sowie sowie
Art. 8 EMRK für faktische Inländer. Damit wird für die Zukunft das rigide und
menschenrechtsfeindliche deutsche Ausweisungssystem signifikant in seiner Bedeutung
verlieren.
a)
Ausweisungsschutz für Unionsbürger und drittstaatsangehörige Familienmitglieder
aa)
Allgemeine Grundsätze
§ 6 FreizügG/EU hat das Recht zur Aufenthaltsbeendigung im Blick auf Gemeinschaftsbürger
grundlegend verändert. An die Stelle der Ausweisung tritt nach § 6 FreizügG/EU die
Feststellung des Verlustes des Freizügigkeitsrechts. Das FreizügG/EU gilt für alle
Unionsbürger und diesen rechtlich gleichgestellte Personen. Es erfasst auch Unionsbürger, die
387
BVerwG, InfAuslR 2000, 105 (106) = NVwZ-RR 2000, 320 = EZAR 031 Nr. 6.
BVerwG, InfAuslR 2000, 105 (106) = NVwZ-RR 2000, 320 = EZAR 031 Nr. 6.
389
BVerwG, InfAuslR 1995, 5 (6); 1996, 54; OVG NW, NVwZ-Beil. 1998, 57 (58); VGH BW, InfAuslR
1995, 232 (233)
390
BVerwG, InfAuslR 1995, 5 (6); 1996, 54; Hess. VGH, EZAR 032 Nr. 3; 032 Nr. 6; OVG Bremen,
EZAR 032 Nr. 8; a.A. Hailbronner, JZ 1995, 127 (128).
391
BVerwGE 101, 247 (257); OVG NW, NVwZ-RR 1996, 173.
392
BVerwGE 101, 247 (257); OVG NW, NVwZ-RR 1996, 173.
388
99
nicht freizügigkeitsberechtigt sind. Die Vorschriften des FreizügG/EU sind zur Durchführung
der aufenthaltsrechtlichen Bestimmungen des Gemeinschaftsrechts erlassen worden,
insbesondere zur Durchführung von Art. 39 Abs. 3 EGV. Sie sind folglich im Sinne der
entsprechenden gemeinschaftsrechtlichen Bestimmungen und der dazu ergangenen
Rechtsprechung des EuGH auszulegen. Danach sind Ausnahmen von dem Grundsatz der
Freizügigkeit eng zu verstehen.393 Ebenso folgt dies aus dem Umkehrschluss aus § 11 Abs. 2
FreizügG/EU.394
Die entgegenstehende Rechtsprechung des BVerwG, die allerdings auf der Grundlage zu § 1,
§ 12 AufenthG/EWG erging und nach der zu prüfen war, ob der von einer Ausweisung
Betroffene auch die Voraussetzung des Freizügigkeitsrechts erfüllte, 395 ist damit nicht mehr
anwendbar. Der EuGH hatte bereits im Blick auf § 12 AufenthG/EWG festgestellt, dass
ausschließlich das persönliche Verhalten des Betroffenen Grundlage für eine
Ausweisungsverfügung ist.396
Das FreizügG/EU setzt die Richtlinie 2004/38/EG (Freizügigkeitsrichtlinie) um. Maßgebend
für die Auslegung und Anwendung deutschen Rechts sind die Vorschriften der Art. 27 ff. der
Richtlinie. Diese führt einen dreistufigen Ausweisungsschutz ein. Zunächst bestimmt Art. 27
RL 2004/38/EG, unter welchen Voraussetzungen ein freizügigkeitsberechtigter Unionsbürger
und seine Familienangehörigen sein Aufenthaltsrecht aus Gründen der öffentlichen Sicherheit
und Ordnung verlieren kann. Diese Vorschrift nimmt die Vorgaben der Rechtsprechung des
EuGH auf. Mit der zunehmenden Verfestigung des Aufenthaltsrechts steigen die materiellen
Anforderungen. Nach Erwerb des Daueraufenthaltsrechts, also nach einem rechtmäßigen fünf
Jahre dauernden Aufenthalt (Art. 16 Abs. 1 RL 2004/38/EG) ist eine Ausweisung nur noch
aus „schwerwiegenden Gründen der öffentlichen Sicherheit oder Ordnung“ zulässig (Art. 28
Abs. 2 RL 2004/38/EG, § 6 Abs. 4 FreizügG/EU). Nach einem zehnjährigen Aufenthalt darf
die Ausweisung nur noch aus zwingenden Gründen der öffentlichen Sicherheit verfügt werden
(Art. 28 Abs. 3 RL 2004/38/EG, § 6 Abs. 5 FreizügG/EU).
bb)
Ausweisungsschutz nach Art. 27 RL 2004/38/EG, § 6 Abs. 1 bis 3 FreizügG/EU
Für den gemeinschaftsrechtlichen Ausweisungsschutz gilt, dass die Tatsache einer
strafrechtlichen Verurteilung für sich allein den Verlust der Freizügigkeit nicht rechtfertigt
(Art. 27 Abs. 1 RL 2004/38/EG § 6 Abs. 2 Satz 2 2. Hs. FreizügG/EU). Vielmehr darf diese
nur ausschließlich auf das persönliche Verhalten des betroffenen Unionsbürgers gestützt
werden.397 Der rechtmäßige Verlust der Rechtsstellung eines freizügigkeitsberechtigten
Unionsbürgers setzt damit zunächst voraus, dass aufgrund des persönlichen Verhaltens des
Betroffenen außer der Störung der öffentlichen Ordnung, die jede Gesetzesverletzung
darstellt, eine tatsächlich und hinreichend schwere Gefährdung vorliegt, die ein
Grundinteresse der Gesellschaft berührt (§ 6 Abs. 2 Satz 3 FreizügG/EU).398 Dieser Maßstab
verweist anders als der polizeirechtliche Gefahrenbegriff nicht auf die Gesamtheit aller
EuGH, InfAuslR 2004, 268 (272) = NVwZ 2004, 1099 – Orfanopolous und Oliveri.
Hess.VGH, InfAuslR 2005, 130OLG Hamburg, InfAuslR 2006, 118 (119).
395
BVerwGE 121, 296 (311) = EZAR 034 Nr. 17 = NVwZ 2005, 220 = InfAuslR 2005, 18.
396
EuGH, InfAuslR 2006, 299 (301)= NVwZ 2006, 1151 = EZAR 10 Nr. 4 – Kommission gegen
Bundesrepublik Deutschland.
397
BVerwGE 121, 296 (304) = EZAR 034 Nr. 17 = NVwZ 2005, 220 = InfAuslR 2005, 18, mit Hinweis
auf EuGH, NVwZ 2004, 1099.
398
EuGH, NVwZ 2004, 1099 (1101); EuGH, EZAR 810 Nr. 1 = NJW 1983, 1250; BVerwGE 57, 61 (64) =
EZAR 126 Nr. 1; VGH BW, EZAR 124 Nr. 12.
393
394
100
Rechtsnormen, sondern auf einen spezifischen Rechtsgüterschutz, nämlich ein Grundinteresse
der Gesellschaft, das berührt sein muss.399
Eine strafrechtliche Verurteilung kann den Verlust des Freizügkeitsrechts nur insoweit
rechtfertigen, als die ihr zugrunde liegenden Umstände ein persönliches Verhalten erkennen
lassen, das eine gegenwärtige Gefährdung der öffentlichen Ordnung darstellt (§ 6 Abs. 2 Satz
2 2. Hs. FreizügG/EU).400 Die Gefährdung kann sich im Einzelfall auch allein aufgrund des
abgeurteilten Verhaltens ergeben. Es besteht aber keine dahin gehende Regel, dass bei
schwerwiegenden Taten das abgeurteilte Verhalten die hinreichende Besorgnis neuer
Verfehlungen begründet. Eine vom Einzelfall losgelöste oder auf generealpräventive
Gesichtspunkte gestützte Begründung der Ausweisung ist in jedem Fall unzulässig.401
Ein Mitgliedstaat kann etwa den Verbrauch von Betäubungsmitteln als eine Gefährdung der
Gesellschaft ansehen, die besondere Maßnahmen zum Schutze der öffentlichen Ordnung
gegen Ausländer rechtfertigt. Auch insoweit hängt aber die Zulässigkeit der Ausweisung von
den konkreten Umständen des Einzelfalls, insbesondere von dem persönlichen Verhalten des
Betroffenen ab.402 Soweit die Rechtsprechung früher bei den gefährlichen und schwer zu
bekämpfenden Rauschgiftdelikten pauschal einen Vorrang des Interesses am Schutz der
Bevölkerung bejahte und deshalb insbesondere gegenüber Drogenhändlern die
Anforderungen an einen spezialpräventiven Ansatz für die Ausweisung nicht hoch ansetzen
wollte,403 ist diese überholt. Formelhafte behördliche Ausführungen zur Wiederholungsgefahr
genügen nicht den Anforderungen an individualisierbare Feststellungen.404 Eine vom
Einzelfall losgelöste Begründung der Ausweisung ist in jedem Fall unzulässig.405
Ob die Begehung der Straftat nach Art und Schwere ein persönliches Verhalten erkennen
lässt, das ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt, lässt sich ebenfalls nur aufgrund der
Umstände des Einzelfalls beurteilen. Anhaltspunkte hierfür können sich insbesondere auch
aus einer Verurteilung wegen der in § 53, § 54 AufenthG bezeichneten Straftaten ergeben.
Dies ist indes nicht im Sinne einer Regelvermutung zu verstehen. Erforderlich und
ausschlaggebend ist vielmehr in jedem Fall die unter Berücksichtigung der konkreten
Umstände des Einzelfalls vorzunehmende Bewertung des persönlichen Verhaltens des
Unionsbürgers und die insoweit anzustellende Gefährdungsprognose. Das Erfordernis der
gegenwärtigen Gefährdung der öffentlichen Ordnung nach Art. 27 Abs. 2 2. Unterabs. RL
2004/38/EG, § 6 Abs. 2 Satz 2 FreizügG/EU besagt nicht, dass eine „gegenwärtige Gefahr“
im Sinne des deutschen Polizeirechts vorliegen müsste, die voraussetzt, dass der Eintritt des
Schadens sofort und nahezu mit Gewissheit zu erwarten ist. Es verlangt vielmehr eine
hinreichende unter Berücksichtigung der Verhältnismäßigkeit nach dem Ausmaß des
möglichen Schadens und dem Grad der Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts
399
BVerwGE 121, 296 (304 f.) = EZAR 034 Nr. 17 = NVwZ 2005, 220 = InfAuslR 2005, 18.
EuGH, NVwZ 2004, 1099 (1101).
401
BVerwGE 121, 296 (304) = EZAR 034 Nr. 17 = NVwZ 2005, 220 = InfAuslR 2005, 18, mit Verweis
auf EuGH, Slg. 1975; 297 = NJW 1975, 1096; so bereits BVerwGE 49, 60 = NJW 1976, 494; BVerwG,
InfAuslR 1988.
402
BVerwGE 121, 296 (305) = EZAR 034 Nr. 17 = NVwZ 2005, 220 = InfAuslR 2005, 18
403
VGH BW, InfAuslR 2001, 206 (207); OVG NW, InfAuslR 2004, 224 (227 f.); s. aber VG Stuttgart,
InfAuslR 2002, 66.
404
VG Hamburg, InfAuslR 2002, 188 (189).
405
BVerwGE 121, 296 (304) = EZAR 034 Nr. 17 = NVwZ 2005, 220 = InfAuslR 2005, 18, mit Verweis
auf EuGH, Slg. 1975; 297 = NJW 1975, 1096; so bereits BVerwGE 49, 60 = NJW 1976, 494; BVerwG,
InfAuslR 1988.
400
101
differenzierende Wahrscheinlichkeit, dass der Betroffene künftig die öffentliche Ordnung im
Sinne von Art. 39 Abs. 3 EGV beeinträchtigen wird.406
Ob eine Wiederholungsgefahr in diesem Sinne besteht, kann nicht gleichsam automatisch –
bereits aus der Tatsache einer strafrechtlichen Verurteilung – geschlossen, sondern nur
aufgrund einer individuellen Würdigung der Umstände des Einzelfalls beurteilt werden. Dabei
sind insbesondere die einschlägigen strafrichterlichen Entscheidungen heranzuziehen, soweit
sie für die Prüfung der Wiederholungsgefahr bedeutsam sind. Zu prüfen ist u.a., ob eine
etwaige Verbüßung der Strafe erwarten lässt, dass der Unionsbürger künftig keine die
öffentliche Ordnung gefährdende Straftaten mehr begehen wird, und was gegebenenfalls aus
einer Strafaussetzung zur Bewährung (§ 56 StGB) folgt. Fehlt es danach bereits an einer
gegenwärtigen und schwerwiegenden Gefahr für wichtige Rechtsgüter, so darf die
Feststellung des Verlustes der Rechtsstellung nicht verfügt und aufrechterhalten werden.407
Nach der Rechtsprechung kann eine auf konkreten Prognosetatsachen beruhende
Wiederholungsgefahr bei schwerwiegender Kriminalität auch dann nicht ohne weiteres
unterstellt werden, wenn sich der Betroffene nach der Begehung der letzten Straftat etwa über
mehrere Jahre straffrei verhalten und jedenfalls für diesen Zeitraum die Prognose widerlegt
hat, er könne rückfällig werden. Selbst wenn der geltend gemachten Stabilisierung auch
während der Haftzeit keine besondere Bedeutung zuzumessen wäre, so fehlt es doch in
Ansehung des mehrjährigen straffreien Aufenthalts an brauchbaren Anhaltspunkten für die
Annahme, der Betroffene werde nach Haftentlassung erneut versuchen, seinen
Lebensunterhalt ganz oder teilweise durch Straftaten zu finanzieren.408 Die gebotene Prognose
erfordert daher stets zureichende individualisierbare Feststellungen,409 wozu insbesondere
auch eine persönliche Anhörung des Betroffenen gehört.410
Die Strafaussetzung zur Bewährung (§ 56 StGB) steht einer spezialpräventiv begründeten
Ausweisung grundsätzlich entgegen.411 Für die Strafaussetzung der Reststrafe (§ 57 StGB)
gilt dies indes nicht.412 Sie kann jedoch gegen die Annahme einer Wiederholungsgefahr
sprechen.413 Die Gefahrenprognose der Ausländerbehörde darf sich im Hinblick auf die vom
Strafgericht oder vom Bewährungshelfer festgestellte günstige Sozialprognose insbesondere
nicht als unzutreffend erweisen.414
cc)
Ausweisungsschutz für Daueraufenthaltsberechtigte (Art. 28 Abs. 2 RL 2004/38/EG, §
6 Abs. 4 FreizügG/EU)
Nach Art. 28 Abs. 2 RL 2004/38/EG dürfen gegen daueraufenthaltsberechtigte Unionsbürger
und ihre Familienangehörigen eine Ausweisung nur aus „schwerwiegenden Gründen der
öffentlichen Ordnung oder Sicherheit“ verfügen. § 6 Abs. 4 FreizügG/EU setzt diese Norm
um. Nach § 4a Abs. 1 FreizügG/EU erwerben Unionsbürger und deren Familienangehörigen
bzw. Lebenspartner das Daueraufenthaltsrecht, wenn sie sich seit fünf Jahren ständig
406
BVerwGE 121, 296 (305 f.) = EZAR 034 Nr. 17 = NVwZ 2005, 220 = InfAuslR 2005, 18.
BVerwGE 121, 296 (306) = EZAR 034 Nr. 17 = NVwZ 2005, 220 = InfAuslR 2005, 18.
408
Hess. VGH, InfAuslR 2004, 144 (146).
409
VG Hamburg, InfAuslR 2000, 432.
410
VG Hamburg, InfAuslR 2002, 188 (189), gegen OVG Hamburg, InfAuslR 2001, 420 (421) = EZAR
034 Nr. 10.
411
BVerwGE, 57, 61 (66 f.); BVerwG, NVwZ 1997, 1119 (1120); VGH BW, InfAuslR 2001, 206 (207):
412
BVerwG, InfAuslR 1988, 1; VGH BW, InfAuslR 1992, 158 (159); OVG NW, InfAuslR 2004, 195
(196).
413
BVerwG, InfAuslR 1988, 1 (2).
414
Hess.VGH, EZAR 034 Nr. 1; a.A. OVG NW, InfAiuslR 2004, 195 (196).
407
102
rechtmäßig im Bundesgebiet aufgehalten haben. Die Gesetzesbegründung enthält allerdings
keine Hinweise darauf, wie dieser Auseisungsschutz inhaltlich konkretisiert werden kann.
Aus der Entstehungsgeschichte wird indes deutlich, dass es sich um einen besonders starken
Ausweisungsschutz
handelt.
Zwar
wollte
die
Kommission
für
die
Daueraufenthaltsberechtigten die Ausweisung völlig ausschließen. Mit dieser Auffassung
konnte sie sich jedoch nicht durchsetzen.415 Es muss aber davon ausgegangen werden, dass
Daueraufenthaltsberechtigte nur noch unter ganz besonders strengen Voraussetzungen
ausgewiesen werden können. Die Ausweisungsschwelle liegt zwischen der erheblichen
Gefahr (Art. 27 Abs. 2 2. Unterabs. RL 2004/38/EG) und den zwingenden Gründen des Art.
28 Abs. 3 RL 2004/38/EG.
dd)
Zwingende Gründe nach Art. 28 Abs. 3 RL 2004/38/EG, § 6 Abs. 5 FreizügG/EU
Nach Art. 28 Abs. 3 RL 2004/38/EG darf eine Ausweisung gegen Unionsbürger, die ihren
Aufenthalt in den letzten zehn Jahren im Aufnahmemitgliedstaat gehabt haben, sowie gegen
minderjähjrige Unionsbürger nur noch aus zwingenden Gründen verfügt werden. Art. 28 Abs.
3 Buchst. a) RL 2004/38/EG verlangt keinen ununterbrochenen rechtmäßigen AufenthG.416
Auch ist kein Durchlaufen der vorangegangenen Stufen und damit das Daueraufenthaltsrecht
erforderlich.417 Anders als die beiden vorhergehenden Ausweisungsstufen erfasst die dritte
Stufe nicht die drittstaatsangehörigen Familienangehörigen. Im Blick auf Minderjährige wird
demgegenüber kein rechtmäßiger Mindestaufenthalt vorausgesetzt. Die zwingenden Gründe
müssen durch die Mitgliedstaaten festgelegt werden. In Abgrenzung zu den beiden ersten
Stufen muss es sich um außergewöhnlich schwere Straftaten handeln, etwa besondere
Deliktsgruppen, wie terroristische Straftaten oder Straftaten, die sich auf bestimmte
Schutzgüter wie die Staatssicherheit beziehen.418 Die Rechtsprechung schränkt damit § 6 Abs.
5 Satz 3 FreizügG/EU insoweit ein, dass Strafvorschriften, die dem privaten
Rechtsgüterschutz dienen, nicht „zwingende Gründe“ darstellen.419
Nach § 6 Abs. 5 Satz 3 FreizügG/EU können zwingende Gründe nur dann vorliegen, wenn
der Betroffene wegen einer oder mehrerer vorsätzlicher Straftaten rechtskräftig zu einer
Freiheits- oder Jugendstrafe von mindestens fünf Jahren verurteilt oder bei der letzten
rechtkräftigen Verurteilung Sicherungsverwahrung angeordnet wurde, wenn die Sicherheit
der Bundesrepublik betroffen ist oder wenn vom Betroffenen eine terroristische Gefahr
ausgeht. Die erste, abstrakt auf den Strafrahmen abstellende Fallgruppe dürfte kaum mit
Gemeinschaftsrecht vereinbar sein. Denn es muss sich um zwingende Gründe der öffentlichen
Sicherheit handeln (Art. 28 Abs. 3 RL 2004/38/EG). Dabei ist unter der Sicherheit der
Bundesrepublik nicht der – weitere – Begriff der öffentlichen Sicherheit im Sinne des
allgemeinen Polizeirechts zu verstehen, sondern die innere und äußere Sicherheit des Staates.
Diese umfasst den Bestand und die Funktionstüchtigkeit des Staates und seiner Einrichtungen.
Das schließt den Schutz vor Einwirkungen durch Gewalt oder Drohung mit Gewalt auf die
Wahrnehmung staatlicher Funktionen ein.420 Strafnormen, welche dem Schutz der Bürger als
Privatpersonen gegenüber gemeinkriminellen Akten zum Ziel haben und dem Begriff der
415
Hailbronner, ZAR 2004, 299 (303).
VG Düsseldorf, InfAuslR 2006, 356 (357).
417
VG Düsseldorf, InfAuslR 2006, 356 (357).
418
VGH BW, InfAuslR 2008, 439; Groß, ZAR 2006, 61 (64).
419
So ausdrücklich VGH BW, InfAuslR 2008, 439.
420
BVerwGE 109, 1 (4) = EZAR 200 Nr. 35 = NVwZ 1999, 1346 = InfAuslR 1999, 470;so schon
BVerwGE 62, 36 (38) = EZAR 121 Nr. 3; BVerwG, InfAuslR 1981, 173 (174); BVerwGE 96, 86 (91) = NVwZ
1995, 1127 = InfAuslR 1994, 405; BVerwG, NVwZ 1995, 587.
416
103
öffentlichen Ordnung unterfallen können, dürfen nicht herangezogen werden.421 Soweit mit
dem präventiven Sicherheitsbegriff „terroristischen“ Bedrohungen vorgebeugt werden soll,
müssen diese auf Bestand und Funktionsfähigkeit der Institutionen der Bundesrepublik zielen.
ee)
Verbot der Anwendung der Ausweisungssystematik nach § 53 bis 56 AufenthG
Nach der Rechtsprechung des EuGH stehen Art. 39 EGV und Art. 3 der Richtlinie
64/221/EWG innerstaatlichen Rechtsvorschriften oder einer innerstaatlichen Praxis entgegen,
wonach die Ausweisung eines Gemeinschaftsangehörigen, der wegen bestimmter Delikte zu
einer bestimmten Strafe verurteilt worden ist, trotz der Berücksichtigung familiärer Umstände
auf der Grundlage der Vermutung verfügt wird, dass dieser auszuweisen ist, ohne dass sein
persönliches Verhalten oder die Gefahr, die er für die öffentliche Ordnung darstellt,
gebührend berücksichtigt werden. Da nach Art. 27 Abs. 2 Unterabs. 2 RL 2004/38/EG allein
das persönliche Verhalten maßgebend und eine vom Einzelfall losgelöste oder auf
Generalprävention verweisende Begründungen unzulässig sind, wird diese Rechtslage durch
die nunmehr geltende Freizügkeitsrichtlinie bestätigt.
Mit diesen Grundsätzen ist die zwingende Ausweisung nicht vereinbar. Vielmehr haben die
Behörden in jedem Einzelfall einen angemessenen Ausgleich zwischen den betroffenen
berechtigten Interessen unter Beachtung der allgemeinen Grundsätze des Gemeinschaftsrechts
und insbesondere unter Wahrung der Grundrechte wie desjenigen auf Schutz des
Familienlebens vorzunehmen.422 Das BVerwG hat bereits wenig Monate nach Orfanopolous
und Oliveri seine frühere Rechtsprechung geändert und dies damit begründet, dass das System
der Regelausweisung für den Gerichtshof den Anschein erwecke, dass bei der Erfüllung der
gesetzlichen Regeltatbestände ein gewisser Automatismus oder jedenfalls eine „Vermutung“
bestehe, den Betroffenen trotz Berücksichtigung familiärer Umstände auszuweisen. Hieraus
folge, dass § 47 AuslG 1990, jetzt § 53, § 54 AufenthG als Rechtsgrundlage für die
Ausweisung freizügigkeitsberechtigter Unionsbürger ausscheide. Diese dürften nur noch nach
§ 12 AufenthG/EWG, jetzt § 6 FreizügG/EU in Verbindung mit § 45, § 46 AuslG 1990, jetzt
§ 55 AufenthG auf der Grundlage einer Ermessensentscheidung ausgewiesen werden. § 12
AufenthG/EWG sei dabei vorrangig und nicht lediglich ergänzend zu § 45, § 46 AuslG 1990
zu prüfen.423
ff)
Maßgeblicher Zeitpunkt für die Beurteilung der Sach- und Rechtslage
Nach der Rechtsprechung des EuGH ist bei der Ausweisung von Gemeinschaftsangehörigen
in Abweichung vom deutschen Recht für die Beurteilung der Sach- und Rechtslage auf den
Tag der letzten mündlichen Verhandlung des Verwaltungsgerichtes abzustellen. Begründet
wird dies damit, dass Art. 3 RL 64/221/EWG einer innerstaatlichen Praxis entgegenstehe,
wonach die innerstaatlichen Gerichte nicht verpflichtet seien, bei der Prüfung der
Rechtmäßigkeit der gegen einen Gemeinschaftsangehörigen verfügten Ausweisung ein
Sachvorbringen zu berücksichtigen, das nach der letzten Behördenentscheidung erfolgt sei
und das den Wegfall oder eine nicht unerhebliche Verminderung der gegenwärtigen
Gefährdung mit sich bringen könne, die das Verhalten des Betroffenen für die öffentliche
Ordnung darstellen würde. Dies sei vor allem der Fall, wenn ein längerer Zeitraum zwischen
dem Erlass der Ausweisungsverfügung und der Beurteilung durch das zuständige Gericht
421
VG Düsseldorf, InfAuslR 2006, 356 (358).
EuGH, InfAuslR 2004, 268 (275 f.) = NVwZ 2004, 1099 – Orfanopolous und Oliveri.
423
BVerwGE 121, 296 (302 f.) = EZAR 034 Nr. 17 = NVwZ 2005, 220 = InfAuslR 2005, 18; BVerwGE
121, 315 (321) = EZAR 037 Nr. 10 = NVwZ 2005, 224 = InfAuslR 2005, 26; bekräftigt BVerwG, NVwZ 2006,
475 (476) = InfAuslR 2006, 114 = AuAS 2006, 38; so auch OLG Karlsruhe, InfAuslR 2007, 118.
422
104
liege.424 Da Art. 27 Abs. 2 Unterabs. 2 RL 2004/38/EG eine gegenwärtige Gefahr voraussetzt,
bleibt es bei der bisherigen Rechtslage.
Für die gerichtliche Überprüfung der Rechtmäßigkeit von Feststellungen über den Verlust des
Freizügigkeitsrechts in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht ist danach nunmehr der
Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung oder Entscheidung des Tatsachengerichts
maßgeblich. Aus dem Erfordernis, dass eine gegenwärtige Gefährdung der öffentlichen
Ordnung grundsätzlich in dem Zeitpunkt bestehen muss, in dem die Ausweisung erfolgt, folgt
darüber hinaus, dass entscheidungserhebliche neue Tatsachen umfassend zu berücksichtigen
sind. Das gilt auch für Tatsachen, die für die an den Grundrechten und am Grundsatz der
Verhältnismäßigkeit zu orientierende Interessenabwägung von Bedeutung sind. Es kommt
mithin nicht darauf an, ob die Änderung der Sachlage die Gefahrenprognose betrifft. Die
Tatsachengerichte sind danach nicht nur befugt, sondern im Rahmen der ihnen gemäß § 86
VwGO obliegenden Aufklärungspflicht auch verpflichtet zu prüfen, ob die behördliche und
die Ermessensentscheidung bezogen auf den Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung im
Ergebnis auf einer zutreffenden tatsächlichen Grundlage beruhen.425
Liegen neue Tatsachen vor, die sich auf die Ausweisungsvoraussetzungen und die
Ermessensentscheidung für eine Verlustfeststellung auswirken können, hat das Gericht der
Ausländerbehörde in gemeinschaftsrechtskonformer Anwendung von § 114 Satz 2 VwGO
Gelegenheit zur Anpassung ihrer Entscheidung und insbesondere auch zu aktuellen
Ermessenserwägungen zu geben. Insoweit trifft die Ausländerbehörden eine Pflicht zur
ständigen verfahrenbegleitenden Kontrolle der Rechtmäßigkeit ihrer Entscheidung.
Entscheidet sich die Behörde für die Aufrechterhaltung ihrer Entscheidung, hat das Gericht
abschließend über deren Rechtmäßigkeit zu entscheiden. Hebt die Behörde ihre Verfügung
auf, ändert sie dies ab oder schiebt sie aktuelle Ermessenserwägungen nach, so kann der
Betroffene seinerseits auf die geänderte Sach- und Prozesslage reagieren. Er kann entweder
die behördliche Entscheidung in ihrer geänderten Gestalt akzeptieren und den Rechtsstreit in
der Hauptsache für erledigt erklären oder, sofern er noch ein Rechtsschutzinteresse geltend
machen kann, das Verfahren mit dem Ziel einer gerichtlichen Überprüfung fortführen.426
b)
Ausweisungsschutz
2003/109/EG)
aa)
für
langfristig
Daueraufenthaltsberechtigte
(Art.
12
RL
Konstituive oder deklaratorische Charakter der Rechtsstellung?
Seit dem 23. Januar 2006 ist die Richtlinie 2003/109/EG (Daueraufenthaltsrichtlinie)
unmittelbar anwendbar (Art. 26 Abs. 1 RL 2003/109/EG. Nach Art. 12 Abs. 1 RL
2003/109/EG können die Mitgliedstaaten eine Ausweisung gegen einen langfristig
aufenthaltsberechtigten Drittstaatsangehörigen nur verfügen, wenn er „eine gegenwärtige,
424
EuGH, InfAuslR 2004, 268 (275 f.) = NVwZ 2004, 1099 – Orfanopolous und Oliveri.
425
BVerwGE 121, 296 (309) = EZAR 034 Nr. 17 = NVwZ 2005, 220 = InfAuslR 2005, 18; BVerwGE
121, 315 (319) = EZAR 037 Nr. 10 = NVwZ 2005, 224 = InfAuslR 2005, 26; OLG Karlsruhe, InfAuslR 2007,
118.
426
BVerwGE 121, 296 (309 f.) = EZAR 034 Nr. 17 = NVwZ 2005, 220 = InfAuslR 2005, 18.
105
hinreichend schwere Gefahr für die öffentliche Ordnung oder der öffentlichen Sicherheit“
darstellt. § 9a bis § 9c AufenthG regelt den Erwerb der Rechtsstellung
Zwar setzt die Erlangung der Rechtsstellung eines langfristig Aufenthaltsberechtigten einen
Antrag voraus (vgl. Art. 7 Abs. 1 RL 203/109/EG): Die Mitgliedstaaten haben aber bei
Vorliegen der Voraussetzungen diese Rechtsstellung zu erteilen (Art. 4 Abs. 1 RL
203/109/EG). Ist der Antrag gestellt und liegen im Zeitpunkt der Ausweisung die
Voraussetzungen für
die Gewährung der
Rechtsstellung
eines langfristig
Aufenthaltsberechtigten vor, sind diese bei der Ausweisungsentscheidung auch dann zu
beachten, wenn über den Antrag noch nicht entschieden ist. Hierfür spricht bereits die für das
nationale Recht ergangende Rechtsprechung des BVerwG zur Schutzwirkung der
unbefristeten Aufenthaltserlaubnis427 wie auch der Schutzgedanke des Gemeinschaftsrechts,
der nicht von bloßen Förmlichkeiten abhängig ist.
Bereits vor Inkrafttreten des § 9a AufenthG hatte die obergerichtliche Rechtsprechung für den
gemeinschaftsrechtlichen Ausweisungsschutz nach Art. 2 Buchst. b) in Verb. mit Art. 4 Abs.
1 RL 2003/109/EG den Nachweis der Rechtsstellung nach § 9a AufenthG durch eine
besondere Bescheinigung gefordert428 und damit insoweit einen konstitutiven Verwaltungsakt
angenommen. Dem kann in dieser Pauschalität nicht gefolgt werden.
Der Gesetzgeber hat diese Frage nicht geregelt. Ein Indiz für die lediglich deklaratorische
Wirkung der Bescheinigung enthält Art. 9 Abs. 6 RL 2003/109/EG, wonach der Ablauf der
Geltungsdauer der Bescheinigung nicht den Entzug oder Verlust der Rechtsstellung eines
langfristig Aufenthaltsberechtigten zur Folge hat. Daraus folgt, dass diese Rechtsstellung
anders als ein nationaler Aufenthaltstitel nicht durch bloßen Zeitablauf der Geltungsdauer
(vgl. § 51 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG) erlischt und damit jedenfalls die einmal zuerkannte
Rechtsstellung eines langfristig Aufenthaltsberechtigten in seinem Fortbestand nicht von einer
behördlichen Entscheidung abhängig ist. Ob die Rechtsstellung
Die Bescheinigung hat entsprechend der Rechtsprechung des EuGH429 zur Freizügigkeit von
Unionsbürgern deklaratorischen Charakter. Diese Rechtsprechung ist deswegen auf
langfristig Daueraufenthaltsberechtigte anwendbar, weil nach Erwägungsgrund Nr. 2 der RL
2003/109/EG die Rechtsstellung langfristig Aufenthaltsberechtigter an diejenige der
Unionsbürger angenähert werden soll und nach Art. 11 RL 2003/109/EG langfristig
Aufenthaltsberechtigte auf einer Reihe von Gebieten wie eigene Staatsangehörige behandelt
werden. Ein Indiz für die lediglich deklaratorische Wirkung der Bescheinigung enthält Art. 9
Abs. 6 RL 2003/109/EG, wonach der Ablauf der Geltungsdauer der Bescheinigung nicht den
Entzug oder Verlust der Rechtsstellung eines langfristig Aufenthaltsberechtigten zur Folge
hat.
bb)
Richtlinienkonforme Anwendung des Ausweisungsschutzes
Der Gesetzgeber hat die langfristig Aufenthaltsberechtigten in das rigide Korsett des
deutschen Ausweisungsrechts gesteckt (vgl. § 56 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1a AufenthG). Hiergegen
ist nach dem Grundsatz der richtlinienkonformen Anwendung nationalen Rechts unmittelbar
427
Vgl. BVerwG, NVwZ 1996, 1225 (1226) = EZAR 017 Nr. 9; BVerwG, NVwZ 1998, 191 (192) =
EZAR 015 Nr. 15; BVerwG, NVwZ 1999, 306 = InfAuslR 1999, 69 = AuAS 1999, 26; VGH BW, InfAuslR
1998, 485; ebenso Richter, NVwZ 1999, 726 (727); dagegen Renner, NVwZ 1993, 729 (733).
428
OVG NW, InfAuslR 2005, 407.
429
EuGHE 1976, 497; EuGHE 1980, 2171:
106
auf Art. 12 RL 2003/109/EG zurückzugreifen. Zutreffend ist zwar, dass der dreistufige
Ausweisungsschutz nach Art. 27 bis 28 RL 2004/38/EG nicht auf den Ausweisungsschutz
nach der Daueraufenthaltsrichtlinie übertragen werden kann. Zur Bestimmung der
gegenwärtigen, hinreichend schweren Gefahr für die öffentliche Ordnung oder Sicherheit sind
jedoch dieselben Grundsätze heranzuziehen, wie sie der EuGH und im Anschluss daran das
BVerwG für den Ausweisungsschutz der Unionsbürger entwickelt haben.
Endgültige Klärung wird jedoch erst durch den EuGH erfolgen können, wobei für die
Daueraufenthaltsrichtlinie Art. 68 Abs. 1 Satz 1 EGV bestimmt, dass unterinstanzliche
Gerichte nicht befugt sind, dem EuGH im Wege des Vorabentscheidungsverfahrens eine
Frage der Gültigkeit oder Auslegung von auf Titel IV EGV gestützten Rechtsakten
vorzulegen.430Nach Inkrafttreten der Richtlinie hat der EuGH aus dem Erfordernis einer
gegenwärtigen Gefährdung der öffentlichen Sicherheit oder Ordnung abgeleitet, dass eine
Ausweisung nur auf das persönliche Verhalten des Betroffenen gestützt werden könne und
nationale Regelungen, die automatisch aufgrund einer strafrechtlichen Verurteilung eine
Ausweisung verfügten, mit Gemeinschaftsrecht unvereinbar seien.431
Art. 12 Abs. 1 RL 2003/109/EG setzt eine konkrete Einzelfallentscheidung voraus. Die
Ausweisung eines langfristig Aufenthaltsberechtigten ist nur zulässig, wenn er eine
gegenwärtige, hinreichend schwere Gefahr für die öffentliche Ordnung oder Sicherheit
darstellt. Bereits der Wortlaut gebietet damit eine Berücksichtigung des persönlichen
Verhaltens und ist mit dem Automatismus des deutschen Ausweisungsrechtes unvereinbar.432
Verstärkt wird dies auch durch die Aufzählung der Ermessensbelange in Art. 12 Abs. 3 RL
2003/109/EG, die nur dahin verstanden werden können, dass in jedem konkreten Einzelfall
eine Ermessensentscheidung nach Maßgabe der in Art. 12 Abs. 3 RL 2003/109/EG
bezeichneten Vorgaben zu treffen ist.
c)
Ausweisungsschutz für assoziationsrechtlich privilegierte türkische Arbeitnehme
a)
Allgemeine Grundsätze
Das BVerwG hat festgestellt, dass wegen Orfanopolous und Oliveri auch bei türkischen
Staatsangehörigen, die sich auf ein Aufenthaltsrecht nach dem ARB 1/80 berufen können, von
veränderten gemeinschaftsrechtlichen Anforderungen an eine Ausweisung auszugehen sei.
Zwar beziehe sich Orfanopolous und Oliveri auf freizügigkeitsberechtigte Unionsbürger.
Diese Entscheidung sei jedoch hinsichtlich ihrer materiell-rechtlichen Grundsätze auf
türkische Staatsangehörige, die ein assoziationsrechtliches Aufenthaltsrecht nach dem ARB
1/80 besitzen, zu übertragen.433 Ausdrücklich stellt das BVerwG fest, dass im Blick auf
assoziationsrechtlich privilegierte türkische Arbeitnehmer die zwingende und
Regelausweisung unzulässig sei. Das deutsche Ausweisungsrecht darf danach auch nicht
ergänzend angewendet werden. Vielmehr finden für die Gefährdungsprognose wie für die
Ermessensgrundsätze sowie für den maßgeblichen Beurteilungszeitpunkt die für
Unionsbürger maßgeblichen Grundsätze Anwendung.434
430
S. hierzu ter Steeg, ZAR 2006, 268.
EuGH, InfAuslR 2004, 268 (272) = NVwZ 2004, 1099– Orfanopoulos und Oliveri.
432
EuGH, InfAuslR 2004, 268 (275) = NVwZ 2004, 1099– Orfanopoulos und Oliveri
433
BVerwGE 121, 315 (318 f.) = EZAR 037 Nr. 10 = NVwZ 2005, 225 = InfAuslR 2005, 26; so auch
Hess.VGH, InfAuslR 2005, 184 (185 f.); a.A. OVG NW, EZAR 19 Nr. 7.
434
BVerwGE 121, 315 (319 f.) = EZAR 037 Nr. 10 = NVwZ 2005, 225 = InfAuslR 2005, 26; BVerwG,
NVwZ 2006, 475 (476) = InfAuslR 2006, 114 = AuAs 2006, 38.
431
107
bb)
Gebot der Spezialprävention
Aus der Übertragung der für Unionsbürger geltenden Grundsätze auf assziationsrechtlich
privilegierte türkische Arbeitbehmer ergibt sich, dass eine Ausweisung in diesen Fällen nicht
nach dem System der zwingenden und Regelausweisung, sondern ausschließlich nur aus
spezialpräventiv motivierten Erwägungen zulässig ist.435 Diese Grundsätze waren allerdings
bereits vor der Klarstellung durch das BVerwG anerkannt. Nach Art. 14 Abs. 1 ARB 1/80
gelten die Rechte aus dem ARB 1/80 vorbehaltlich der Beschränkungen, die aus Gründen der
öffentlichen Ordnung, Sicherheit und Gesundheit gerechtfertigt sind. Die Ausweisung
türkischer Staatsangehöriger, die ein Aufenthaltsrecht nach Art. 6 oder 7 ARB 1/80 besitzen,
beurteilt sich folglich wegen Art. 14 Abs. 1 ARB 1/80 nach Gemeinschaftsrecht.436
Zwar kann die Verwendung von Betäubungsmitteln als eine Gefährdung der öffentlichen
Ordnung angesehen werden. Doch ist die Ausnahme der öffentlichen Ordnung eng
auszulegen, sodass eine strafrechtliche Verurteilung nur insoweit eine Ausweisung
rechtfertigen kann, als die ihr zugrunde liegenden Umstände ein persönliches Verhalten
erkennen lassen, das eine gegenwärtige Störung der öffentlichen Ordnung darstellt. Die auf
generalpräventive Gesichtspunkte gestützte Ausweisung ist daher unzulässig.437 Eine – nach
deutschem Recht – verfügte Regelausweisung, die aufgrund einer strafrechtlichen
Verurteilung für eine bestimmte Straftat zum Zwecke der Generalprävention verfügt werde,
ist deshalb mit Art. 14 Abs. 1 ARB 1/80 unvereinbar.438.
Mit gemeinschaftsrechtlichen Grundsätzen ist es deshalb unvereinbar, die Ausweisung
tragend oder auch nur mittragend auf andere als in der persönlichen Gefährlichkeit des
Betroffenen liegende generalpräventive Erwägungen zu stützen. Die Annahme, die
Ausweisung könne neben primär spezial- auch aus hilfsweise und ergänzend vorgebrachten
generalpräventiven Gründen verfügt werden, ist mit Gemeinschaftsrecht unvereinbar.
Generalpräventive Erwägungen sind nur zulässig, wenn und soweit die Ausweisung
ausschließlich – etwa bei den nicht durch Gemeinschaftsrecht privilegierten türkischen
Staatsangehörigen ohne Aufenthaltsrecht nach dem ARB 1/80 – auf nationales Recht gestützt
werden kann.439
cc)
Anwendbarkeit der Freizügigkeitsrichtlinie auf türkische Arbeitnehmer
Derzeit ist umstritten, ob Art. 28 RL 2004/38/EG auch auf assoziationsrechtlich privilegierte
türkische Arbeitnehmer Anwendung findet. Es liegen dem EuGH hierzu Vorabersuchen
deutscher Verwaltungsgerichte vor. Für die Anwendbarkeit der Richtlinie spricht, dass der
435
BVerwGE 121, 315 (319) = EZAR 037 Nr. 10 = NVwZ 2005, 225 = InfAuslR 2005, 26; BVerwG,
NVwZ 2006, 475 (476) = InfAuslR 2006, 114 = AuAs 2006, 38; OVG NW, AuAS 2006, 125 )(126); Harald
Dörig, DVBl. 2005, 1221 (1226).
436
BVerwGE 101, 247 (263) = EZAR 035 Nr. 16 = InfAuslR 1997, 8 = NVwZ 1997, 297; BVerwG,
NVwZ 1997, 1119 (1123) = EZAR 035 Nr. 20 = InfAuslR 1997, 296; BVerwG, NVwZ 1999, 303 (305) =
EZAR 037 Nr. 1; BayVGH, NVwZ-RR 2002, 696 (697) = InfAuslR 2002, 348; VGH, EZAR 033 Nr. 9; OVG
NW, NVwZ-Beil. 1998, 58 (59); VGH BW, EZAR 035 Nr. 28; VGH BW, NVwZ-RR 2001, 134 (137) = EZAR
029 Nr. 13; VGH BW, InfAuslR 2002, 375 (378); Vormeier, in: GK-AuslR, § 45 AuslG Rn 191; Renner,
Ausländerrecht in Deutschland, S. 571 m.Hw.; VGH BW, InfAuslR 1999, 59 (66 f.); OVG Hamburg, InfAuslR
1999, 169 (172); a.A. OVG Bremen, EZAR 032 Nr. 8; Dörig, DVBl. 2005, 1221 (1226).
437
EuGH, InfAuslR 2000, 161 (164) = NVwZ 2000, 1029 - Nazli; Hess. VGH, InfAuslR 2000, 428 =
EZAR 029 Nr. 12.
438
EuGH, InfAuslR 2000, 161 (164) = NVwZ 2000, 1029 – Nazli.
439
BVerwG, NVwZ 2006, 475 (476) = InfAuslR 2006, 114 = AuAS 2006, 38.
108
EuGH in ständiger Rechtsprechung entschieden hat, dass die im EG-Vertrag verankerten
Freizügigkeitsrechte soweit wie möglich auf Assoziationsberechtigte übertragen werden
müssen. Bei der Bestimmung des Umfangs von Art. 14 Abs. 1 ARB 1/80 stellt der EuGH
darauf ab, wie die gleiche Beschränkung der Rechte von Unionsbürgern ausgelegt wird. Es
kommt danach darauf an, dass außer der Störung der öffentlichen Ordnung eine „tatsächliche
und hinreichend schwere Gefährdung“ vorliegen muss, die ein Grundinteresse der
Gesellschaft berührt.440
Nach dem Zweck der Richtlinie 2003/38/EG und bei Zugrundelegung der Rechtsprechung des
EuGH und diesem folgend des BVerwG stellt diese eine weitere Konkretisierung und
Ausgestaltung des Art. 39 Abs. 3 EGV dar. Der EuGH hat die Ausgestaltungen und
Konkretisierungen der Freizügigkeitsgewährleistungen auf Assoziationsberechtigte
übertragen. Es sind keine Anhaltspunkte dafür erkennbar, dass dies bei der Richtlinie
2004/38/EG anders zu sehen sein könnte. Vielmehr erscheint die „Stufenfolge“ der
Ausweisungseinschränkungen nach Art. 28 RL 2004/38/EG, also das Erfordernis von
schwerwiegenden
Gründen
der
öffentlichen
Ordnung
und
Sicherheit
bei
Daueraufenthaltsberechtigten und das grundsätzliche Ausweisungsverbot nach zehnjährigem
Aufenthalt als Ausprägung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes und ist deshalb eine
Anwendung auf Assoziationsberechtigte geboten.441 Demgegenüber verweist die
Gegenmeinung allein darauf, dass die Freizügigkeitsrichtlinie nach ihrem Wortlaut nur auf
Unionsbürger Anwendung finde.442 Inzwischen liegt diese Frage aufgrund eines deutschen
Vorabersuchens443 dem EuGH zur Klärung vor.
dd)
Besitz der Rechtsstellung nach Art. 7 Satz 1 ARB 1/80 für Familienangehörige
Neben den nach Art. 6 ARB 1/80444 erworbenen Rechten kommt für den
gemeinschaftsrechtlichen Ausweisungsschutz insbesondere Art. 7 Satz 1 zweiter Spiegelstrich
ARB 1/80 eine besondere Bedeutung zu. Danach haben die Familienangehörigen eines dem
regulären Arbeitsmarkt angehörigen türkischen Arbeitnehmers, die die Genehmigung erhalten
haben, zu ihm zu ziehen, freien Zugang zu jeder von ihnen gewählten Beschäftigung im
Lohn- oder Gehaltsverhältnis, wenn sie dort seit mindestens fünf Jahren
ihren
ordnungsgemäßen Wohnsitz haben. Die praktische Wirksamkeit dieses Rechts setzt
zwangsläufig die Existenz eines entsprechenden Aufenthaltsrechts voraus, das ebenfalls auf
Gemeinschaftsrecht beruht. Die Voraussetzung eines fünfjährigen Aufenthaltes ist auch
erfüllt, wenn der Familienangehörige in Deutschland geboren ist und stets dort gelebt hat.445
Die Vorschrift bezweckt, die Beschäftigung und den Aufenthalt des türkischen Arbeitnehmers
dadurch zu fördern, dass ihm in diesem Staat die Aufrechterhaltung seiner familiären Bande
garantiert wird.446 Art. 7 Satz 1 ARB 1/80 setzt ein nach nationalen Vorschriften gewährtes
Aufenthaltsrecht voraus und knüpft daran bestimmte Rechtsfolgen. Das Aufenthaltsrecht nach
dieser Vorschrift ist nicht von den inneren Absichten der Betroffenen abhängig. Liegt objektiv
EuGH, InfAuslR 2000, 161 (164) – Nazli; EuGH, InfAuslR 2005, 13 (15) – Cetinkaya; EuGH,
InfAuslR 2005, 252 (354) – Aydinlik.
441
Hess.VGH, InfAuslR 2006, 393 = AuAS 2006, 231 = NVwZ 2006, 1311 (LS); Hess.VGH, InfAuslR
2007, 98; VG Karlsruhe, U. v. 9. 11. 2006 – 2 K 1559/06; a.A. Nieders.OVG, NVwZ-RR 2006, 287 (288) =
InfAuslR 2005, 453; Nieders.OVG, NVwZ 2006, 1304; Nieders.OVG, B. v. 5. 10. 2005 – 11 ME 247/05; OVG
NW, InfAuslR 2006, 257 (258) = AuAS 2006, 124 (125).
442
Nieders.OVG, NVwZ-RR 2005, 654 (655)
443
VGH BW, InfAuslR 2008, 439 (nur LS); VG Berlin, AuAS 2009, 5.
444
S. hierzu § … Rdn…
445
BVerwG, NVwZ 2006, 475 = InfAuslR 2006, 114 = AuAS 2006, 38.
446
EuGH, InfAuslR 1997, 281 (282) = NVwZ 1997, 1104 = EZAR 811 Nr. 30 – Kadiman.
440
109
ein genehmigter Familiennachzug vor, findet Art. 7 Satz 1 ARB 1/80 Anwendung. Darüber
hinaus stehen die Rechte aus Art. 7 Satz 1 ARB 1/80 den Familienangehörigen unabhängig
davon zu, ob die Behörden des Mitgliedstaates ein bestimmtes Verwaltungsdokument wie
eine Aufenthaltserlaubnis erteilen.447
Der gemeinschaftsrechtliche Anspruch aus Art. 7 Satz 1 ARB 1/80 berechtigt Ehegatten und
Kinder türkischer Arbeitnehmer, hat aber in der Verwaltungspraxis insbesondere für die im
Wege des Nachzugs eingereisten Kinder erhebliche Bedeutung. Unabhängig von den
nationalen Vorschriften der §§ 32 ff. AufenthG wächst den Kindern ein unmittelbares
eigenständiges Aufenthaltsrecht aus Art. 7 Satz 1 ARB 1/80 zu und genießen sie den
gemeinschaftsrechtlichen Ausweisungsschutz (Art. 14 ARB 1/80). Die Vorschrift erfasst auch
die Situation einer volljährigen Person, die Kind eines türkischen Arbeitnehmers ist, welcher
dem regulären Arbeitsmarkt angehört oder angehört hat, auch wenn der Betroffene im
Bundesgebiet geboren ist und stets fort gewohnt hat und nicht etwa – wie es dem bloßen
Wortlaut von Art. 7 Satz 1 ARB 1/80 entsprechen würde – als Familienangehöriger erst die
Genehmigung erhalten hat, zu dem türkischen Arbeitnehmer zu ziehen.448 Auch der Stiefsohn
eines türkischen Arbeitnehmers ist begünstigt.449
Darüber hinaus scheidet der Vater als Vermittler eines assoziationsrechtlichen
Aufenthaltsrechts nicht etwa deswegen aus, weil er seinerseits als Asylsuchender und nicht als
Wanderarbeitnehmer in das Bundesgebiet eingereist ist. Für die Anwendung der
assoziationsrechtlichen Bestimmungen ist es vielmehr unerheblich, ob der türkische
Arbeitnehmer als „Arbeitnehmer“ oder als „Familienangehöriger“ eines Arbeitnehmers in das
Bundesgebiet eingereist ist oder diese Eigenschaft erst nach seiner Einreise begründet hat. 450
Auch ein Enkel des türkischen Arbeitnehmers ist Angehöriger im Sinne des Art. 7 Satz 1
ARB 1/80, da für diese Vorschrift der Familienbegriff von Art. 10 Abs. 1 VO 1612/68/EWG
zugrunde zu legen ist. Dazu gehören auch Verwandte in absteigender Linie, die noch nicht 21
Jahre alt sind oder denen Unterhalt gewährt wird. Allerdings setzt Art. 7 Satz 1 ARB 1/80 die
behördliche Genehmigung des Nachzugs des Enkels zu seinem Großvater voraus. Für das
Recht der Bundesrepublik muss daher ein Nachzug nach § 36 AufenthG vorliegen. 451 Ist dies
der Fall, entstehen allerdings die Rechte aus Art. 7 Satz 1 ARB 1/80.
Der Familienangehörige muss bei dem dem regulären Arbeitsmarkt angehörigen türkischen
Arbeitnehmer nach seiner Geburt bzw. Einreise während des Zeitraums von drei Jahren, in
dem er selbst nicht die Voraussetzungen für einen Zugang zum Arbeitsmarkt erfüllt, eine
tatsächliche Lebensgemeinschaft führen.452 Er muss jedoch, um sich auf den
ausweisungsrechtlichen Schutz nach Art. 14 ARB 1/80 berufen zu können, im Zeitpunkt der
Ausweisungsentscheidung nicht mehr mit diesem zusammenleben. Die Rechte aus Art. 7
ARB 1/80 stehen dem Betroffenen nach Ablauf der fünf Jahre unabhängig davon zu, ob die
Voraussetzungen für den Zugang zu diesen Rechten fortbestehen.453 Der EuGH weist
ausdrücklich darauf hin, dass die einmal nach Art. 7 Satz 1 ARB 1/80 erworbene
EuGH, InfAuslR 1997, 281 (283) = NVwZ 1997, 1104 = EZAR 811 Nr. 30 – Kadiman.
EuGH, InfAuslR 2005, 13 (14) – Cetinkaya; Hess.VGH, InfAuslR 2005, 132 = NVwZ-RR 2005, 571 =
AuAS 2005, 87; OVG Rh-Pf, InfAuslR 2005, 238; Nieders.OVG, InfAuslR 2006, 314 = NVwZ-RR 2007, 201;
so schon BayVGH, InfAuslR 2001, 494 = NVwZ-Beil. 2002, 1 = EZAR 029 Nr. 17.
449
EuGH, NVwZ 2005, 73 (§ 45, 48….) – Ayas.
450
VGH BW, InfAuslR 2005, 408 (411 f.).
451
OVG Rh-Pf, InfAuslR 2005, 238 (239).
452
EuGH, InfAuslR 2005, 352 (353) – Aydinlik.
453
BVerwG, NVwZ 2006, 475 = InfAuslR 2006, 114 = AuAS 2006, 38, mit zahlreichen Hinweisen auf die
EuGH-Rechtsprechung; zu Art. 7 Satz 1 ARB 1(80 s. auch BVerwGE 121, 315 (322 f.) = EZAR 037 Nr. 10 =
NVwZ 2005, 225 = InfAuslR 2005, 26.
447
448
110
Rechtsposition in seinen beiden Varianten auch dann bestehen bleibt, wenn der Betroffene im
Entscheidungszeitpunkt nicht mehr in tatsächlicher Lebensgemeinschaft mit dem türkischen
Arbeitnehmer zusammen lebt und inzwischen volljährig geworden ist. Die Mitgliedstaaten
sind nicht befugt, den Aufenthalt eines Familienangehörigen eines türkischen Arbeitnehmers
auch noch nach Ablauf des Dreijahreszeitraums von Voraussetzungen abhängig zu machen.454
Auch dauerhaft aus dem Arbeitsleben ausgeschiedene türkische Arbeitnehmer können nach
Art. 7 Satz 1 ARB 1/80 ihren Familienangehörigen im Unterschied zur Regelung in Art. 7
Satz 2 ARB 1/80 ein Aufenthaltsrecht vermitteln.455 Vorausgesetzt wird jedoch, dass die
Rechte aus Art. 7 Satz 1 ARB 1/80 vorher entstanden sind, d.h. während des Zeitraums von
drei bzw. fünf Jahren der Arbeitnehmer dem Arbeitsmarkt zu Verfügung gestanden hat.
Scheidet der Arbeitnehmer nachträglich aus dem Arbeitsleben aus, führt dies nicht zum
Erlöschen der Rechte des Angehörigen.456 Vor diesem Zeitpunkt erlöschen Rechtspositionen
des Familienangehörigen aus Art. 7 Satz 1 ARB 1/80, wenn der türkische Arbeitnehmer dem
regulären Arbeitsmark endgültig nicht mehr angehört, weil er objektiv keine Möglichkeit
mehr hat, sich in den Arbeitsmarkt wieder einzugliedern oder er den Zeitraum überschritten
hat, der angemessen ist, um nach der Beendigung eines vorangegangenen Arbeitsverhältnisses
eine neue Beschäftigung im Lohn- oder Gehaltsverhältnis zu finden. Dabei wird allerdings die
Überschreitung einer Frist von drei oder sechs Monaten noch nicht als unangemessen lange
Suche nach einer neuen Beschäftigung gewertet, wenn der Arbeitnehmer der
Arbeitsverwaltung als Arbeitssuchender zur Verfügung steht.457 Die Dauer von sechs
Monaten vergeblicher Arbeitssuche ist lediglich eine „allgemeine Richtschnur“.458
Nach der Rechtsprechung des EuGH verliert der Betroffene das Recht aus Art. 7 Satz 1 ARB
1/80 nur, wenn die Voraussetzungen für eine Ausweisung nach Art. 14 ARB 1/80 vorliegen
oder wenn er das Hoheitsgebiet des Mitgliedstaates für einen nicht unerheblichen Zeitraum
ohne berechtigte Gründe verlässt.459 Aus dieser Rechtsprechung wird in der
Kommentarliteratur geschlossen, dass Art. 7 Satz 1 ARB 1/80 keine anspruchsvernichtende
Regelung entsprechend Art. 6 Abs. 2 ARB 1/80 enthalte. Freiwillige oder unfreiwillige
Arbeitslosigkeit sei deshalb für die Ausübung der Rechte aus Art. 7 Satz 1 ARB 1/80
unschädlich. Der assoziationsrechtliche Anspruch aus Art. 7 Satz 1 ARB 1/80 diene gerade
nicht der Verwirklichung des Zugangs zum Arbeitsmarkt, sondern der sozialen Integration der
Familie.460
Aus dieser Rechtsprechung des EuGH folgt, dass Art. 7 Satz 1 ARB 1/80 den
Familienangehörigen zwar Zugang zu einer Beschäftigung gewährt, ihnen aber keine
Verpflichtung auferlegt, eine solche auszuüben.461 Damit wird Art. 7 Satz 1 ARB 1/80 in der
Praxis zum zentralen Anknüpfungspunkt für das assoziationsrechtliche Aufenthaltsrecht und
verliert Art. 6 ARB 1/80 damit an Bedeutung.462 Die Nichtaufnahme einer Beschäftigung
führt ebenso wenig zum Verlust der Rechtsstellung aus Art. 7 Satz 1 ARB 1/80 wie eine
längere Abwesenheit vom Arbeitsmarkt wegen einer mehrjährigen Inhaftierung mit
anschließender Drogentherapie. Vielmehr unterliegt nach der Rechtsprechung des EuGH das
EuGH, InfAuslR 2005, 352 (353) – Aydinlik; so auch Hess.VGH, InfAuslR 2005, 184 (185
Hess.VGH, InfAuslR 2005, 132 = NVwZ-RR 2005, 571; a. A. wohl VGH BW, InfAuslR 2005, 408
(411); VG Berlin, InfAuslR 2006, 18 (19).
456
OVG Rh-Pf, InfAuslR 2005, 238 (241).
457
VG Berlin, InfAuslR 2006, 18 (19).
458
OVG Rh-Pf, InfAuslR 2005, 238 (240).
459
EuGH, InfAuslR 2005, 13 (15 f.) – Cetinkaya.
460
Gutmann, in: GK AufenthG, IX – Art. 7 Rdn. 87.
461
EuGH, NVwZ 2007, 1393 (1395), § 35 = ZAR 2007, 365 – Derin; Nieders.OVG, InfAuslR 2006, 314.
462
Mallmann, ZAR 2006, 50 (54).
454
455
111
Aufenthaltsrecht des Art. 7 Satz 1 ARB 1/80 lediglich zweierlei Beschränkungen: Einerseits
ermöglicht es Art. 14 Abs. 1 ARB 1/80, das Aufenthaltsrecht unter den dort genannten
Voraussetzungen zu beschränken. Zum anderen verliert der Familienangehörige bei
dauerhafter Ausreise ohne berechtigte Gründe die Rechte aus Art. 7 Satz 1 ARB 1/80.463
Ungeklärt ist, ob die Verbüßung einer Freiheitsstrafe in der Türkei zum Verlust der
Rechtsstellung führt.464Die Vorschrift lässt es deshalb nicht zu, dass die hieraus folgenden
Rechte wegen einer Verurteilung zu einer Freiheitsstrafe, der sich eine Drogentherapie
anschließt, wegen längerer Abwesenheit vom Arbeitsmarkt beschränkt werden.465
d)
Ausweisungsschutz nach Art. 8 EMRK für „faktische Inländer“
Wer sich auf den besonderen Ausweisungsschutz des Europarechts nicht berufen kann, kann
nach den Grundsätzen, die in der Rechtsprechung in Anlehnung an die Rechtsprechung des
EGMR466 für „faktische Inländer“ entwickelt worden sind, besonderen Ausweisungsschutz
genießen, der allerdings im Rahmen der §§ 53 ff. AufenthG materialisiert wird, deren
Rigidität indes mildert.
Das BVerwG hatte zunächst vorsichtig angedeutet, dass bei „faktischen Inländern“ die
Ausweisung mit dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit kollidieren könne.467 In der
obergerichtlichen Rechtsprechung wird darauf hingewiesen, dass der Gesetzgeber durch die
Regelung der zwingenden Ausweisung nicht die Schutznorm von Art. 8 EMRK habe
aufheben wollen.468 Die Rechtsprechung bleibt jedoch ungeachtet des abstrakten
Bekenntnisses zu Art. 8 EMRK in der konkreten Umsetzung rigide. So bringt sie Art. 8
EMRK z.B. erst bei einem ledigen und kinderlosen Angehörigen der zweiten Generation zur
Anwendung, wen, wenn keinerlei Bindungen zum Heimatstaat mehr bestehen. Die
Rechtsprechung geht jedoch davon aus, dass solche über die Familie vermittelte Bindungen
im Regelfall vorhanden sind.469
Es geht hier um lebensgeschichtlich an das Bundesgebiet gebundene Delinquenz und soziale
Fehlentwicklungen, auf die deshalb auch ausschließlich im Bundesgebiet mit den
herkömmlichen, auf Straftaten und abweichendes Verhalten reagierenden strafrechtlichen und
individualpsychologischen Maßnahmen, insbesondere aber mit erzieherischen und
sozialpolitischen Mitteln, geantwortet werden sollte. Gegen die restriktive Rechtsprechung
bilden sich gegenläufige Tendenzen heraus.
So wird darauf hingewiesen, es sei einem Ehepartner nicht zuzumuten, dem ausgewiesenen
Ehegatten in dessen Herkunftsland oder in ein anderes Land zu folgen. Stelle der Betroffene
EuGH, NVwZ 2007, 1393 (1395), § 35 = ZAR 2007, 365 – Derin, mit Hw. Auf EuGH-Rspr.
So Nieders.OVG, InfAuslR 2009, 54 (56).
465
EuGH, InfAuslR 2005, 13 (16) – Cetinkaya; Hess.VGH, InfAuslR 2005, 132 = NNVwZ-RR 2005, 571;
OVG Rh-Pf, InfAuslR 2005, 238 (241); VGH BW, InfAuslR 2007, 49 (50); Otto Mallmann, ZAR 2006, 50 (52).
466
Zur aktuellen Rechtsprechung s. EGMR, InfAuslR 2008, 333 – Maslow I; EGMR, InfAuslR 2008, 333
– Maslow II; EGMR, InfAuslR 2008, 336 – Emre; EGMR, InfAuslR 2008, 333 – Chair; EGMR, NVwZ 2008,
59 = InfAuslR 2007, 425 – Polat;EGMR, NVwZ 2007, 1279 – Üner; s. auch Truchseß, InfAuslR 2007, 332.
467
BVerwG, NVwZ 1999, 303 (305) = InfAuslR 1999, 54; ebenso BayVGH, InfAuslR 2001, 123 (124);
VGH BW, InfAuslR 2001, 119 (121) = NVwZ-Beil. 2001, 17 = EZAR 032 Nr. 16; VG Berlin, InfAuslR 2003,
313 (320); VG Oldenburg, InfAuslR 2003, 433 (435) = AuAS 2003, 21; weniger kritisch BerlVerfGH, NVwZRR 2001, 61 (62); VG München, InfAuslR 2002, 365 (366) = AuAS 2002, 150.
468
VGH BW, InfAuslR 2001, 286 (288) = NVwZ-Beil. 2001, 81 = EZAR 031 Nr. 7; VGH BW, NVwZBeil. 2001, 51 = InfAuslR 2002, 2; VGH BW, AuAS 2003, 64 (66); s. auch BayVGH, AuAS 2003, 5.
469
VGH BW, AuAS 2003, 75 (78) = NVwZ-RR 2003, 307.
463
464
112
eine vergleichweise geringe Gefahr für die öffentliche Sicherheit dar, könne die Ausweisung
nach Art. 8 EMRK unverhältnismäßig sein. Seien die Interessen des Ehepartners
schutzwürdig und ihm eine Begleitung des Ehegatten nicht zuzumutbar, sei eine Ausweisung
nur zulässig, wenn hinreichend gewichtige spezialpräventive Gründe vorliegen würden.
Fehlten derartige Gründe, sei die Ausweisung unverhältnismäßig.470 Daraus ist zu schließen,
dass eine generalpräventiv begründete Ausweisung mit Art. 8 EMRK unvereinbar ist.
Ausdrücklich wird darauf hingewiesen, dass Art. 8 EMRK inhaltlich einen über das deutsche
Ausweisungsrecht hinausgehenden Schutz gewähre. Der EGMR verlange in jedem Einzelfall
eine umfassende Abwägung, bei der je nach dem Gewicht der Belange des Ehegatten
generalpräventive Gründe als Rechtfertigung für die Ausweisung ausscheiden können.471
Inzwischen werden auch in der deutschen Rechtsprechung erhebliche Bedenken gegen eine
generalpräventiv begründete Ausweisung gegenüber faktischen Inländern angemeldet.472 Die
Rechtsprechung des EGMR räumt den öffentlichen Interessen nicht von vornherein über die
Kategorie des Regelfalles ein zunächst die individuellen Interessen überragendes Gewicht bei.
Darüber
hinaus
wird
bei
der
Prüfung
des
Regelfalles
anhand
des
Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes nur eine „Grobabwägung“ vorgenommen.473 Die vom
EGMR geforderte Herstellung eines „ausgewogenen Gleichgewichtes zwischen den
betroffenen
Interessen“
bedarf
jedoch
einer
Feinabwägung,
d. h.
einer
Ermessensentscheidung nach Maßgabe des § 55 Abs. 3 AufenthG474 und erlaubt erst recht
keine generalpräventiv begründete Ausweisung. Eine sachgerechte dogmatische Verarbeitung
des vom EGMR entwickelten konventionsrechtlichen Ausweisungsschutzes hat daher zur
Folge, dass zunächst – losgelöst von der Regel-Ausnahme-Typik des deutschen
Ausweisungssystems – die betroffenen Interessen ermittelt und in ihrem jeweiligen Gewicht
bestimmt werden müssen. Auch die obergerichtliche Rechtsprechung muss einräumen, dass
das deutsche Ausweisungssystem den Anforderungen des Art. 8 EMRK nicht vollständig
gerecht werde.475 Konturen wegen der Unverhältnismäßigkeit der Ausweisung anhand des
Maßstabs des Art. 8 Abs. 2 EMRK seien aber nur in „außergewöhnlichen Fällen“ denkbar.
Diese müssten entweder hinsichtlich des gesteigerten Gewichts der Schutzgüter (Privat- und
Familienleben) oder hinsichtlich der geminderten Bedeutung der öffentlichen
Ausweisungszwecke signifikante Besonderheiten aufweisen.476
4.
Ausweisungsrechtlicher Rechtsschutz
a)
Zweck und Funktion des Eilrechtsschutzverfahrens
Der Aufenthaltstitel erlischt mit Bekanntgabe der Ausweisungsverfügung (§ 51 Abs. 1 Nr. 5
AufenthG; § 44 Abs. 1 Nr. 1 AuslG 1990). Der Aufenthalt wird also mit Bekanntgabe der
Verfügung unrechtmäßig und es entsteht die Ausreisepflicht (§ 50 Abs. 1 AufenthG), der
unverzüglich nach Ablauf der Ausreisefrist Folge zu leisten ist (§ 50 Abs. 2 AufenthG).
Rechtsmittel gegen die Ausweisungsverfügung entfalten aufschiebende Wirkung (§ 80 Abs. 1
470
OVG Bremen, InfAuslR 2004, 328 (331).
OVG Bremen, InfAuslR 2004, 328 (331).
472
BVerfG (Kammer), NVwZ 2007, 1300; BVerfG (Kammer), NVwZ 2007, 946; OVG Bremen,
InfAuslR 2008, 163; OVG NW, NVwZ 2008, 450; VG Schleswig, InfAuslR 2009, 114; s. auch VerGH Wien,
InfAuslR 2008, 30.
473
Barth, NVwZ 1998, 1031 (1035).
474
A.A. wohl OVG Rh-Pf, NVwZ-RR 1999, 205 = InfAuslR 1998, 496.
475
VGH BW, AuAS 2003, 64 (66) = NVwZ-RR 2003, 304.
476
VGH BW, AuAS 2003, 64 (66) = NVwZ-RR 2003, 304.
471
113
VwGO). Die Behörde kann aber die sofortige Vollziehung der Ausweisungsverfügung
anordnen (§ 80 Abs. 2 Nr. 4 VwGO). Hiergegen kann Eilrechtsschutz beim zuständigen
Verwaltungsgericht nach § 80 Abs. 5 VwGO beantragt werden. Mit der Stattgabe des
Eilrechtsschutzantrags entfällt die Vollziehbarkeit der Ausweisungsverfügung. Die
Ausreisefrist wird bis zur unanfechtbaren Entscheidung über die Ausweisungsverfügung
unterbrochen (§ 50 Abs. 3 AufenthG). Wird der Antrag unanfechtbar zurück gewiesen, hat
der Betroffene für die spätere mündliche Verhandlung im ausweisungsrechtlichen
Hauptsacheverfahren aus Art. 6 EMRK ein Recht auf Teilnahme und dementsprechend einen
inhaltlich derart beschränkten Anspruch auf Erteilung eines Visums.477
Für Zwecke der Aufnahme oder Ausübung einer Erwerbstätigkeit gilt der Aufenthalt
ungeachtet der Unterbrechung der Rechtmäßigkeit als fortbestehend (§ 84 Abs. 2 Satz 2
AufenthG). Der Betroffene darf also während des Schwebezustandes zwischen der
Antragstellung und der Entscheidung des Verwaltungsgerichts sowie des Beschwerdegerichts
ein bestehendes Arbeitsverhältnis fortsetzen und darüber hinaus auch eine neue
Erwerbstätigkeit aufnehmen. § 84 Abs. 2 Satz 2 AufenthG modifiziert also aus pragmatischen
Gründen den Berechtigungsinhalt nach § 4 Abs. 2 Satz 1 AufenthG, erlaubt mit anderen
Worten die Ausübung einer Erwerbstätigkeit ohne Aufenthaltstitel. Der Betroffene hat einen
Anspruch auf eine behördliche Bescheinigung seiner Beschäftigungserlaubnis.478
Ziel des ausweisungsrechtlichen Eilrechtsschutzantrags ist die Wiederherstellung der
aufschiebenden Wirkung des Rechtsmittels. Widerspruch und Klage lassen unbeschadet ihrer
aufschiebenden Wirkung die (innere) Wirksamkeit der Ausweisungsverfügung, also die
Unterbrechung der Rechtmäßigkeit des Aufenthaltes (vgl. § 51 Abs. 1 Nr. 5 AufenthG),
unberührt (§ 84 Abs. 2 Satz 1 AufenthG, § 72 Abs. 2 Satz 1 AuslG 1990). Ziel des
Eilrechtsschutzantrags ist also nicht die Erhaltung der inneren Wirksamkeit, sondern die
Hemmung der Vollziehung (Vollziehbarkeitshemmnis). Wird die Ausweisungsverfügung
durch das Gericht oder die Behörde aufgehoben, tritt eine Unterbrechung der Rechtmäßigkeit
des Aufenthaltes nicht ein (§ 84 Abs. 2 Satz 3 AufenthG), die innere Wirksamkeit der
Ausweisungsverfügung wird mithin rückwirkend beseitigt.
b)
Stillhalteabkommen
Der Eilrechtsschutzantrag entfaltet ebenso wenig wie die Beschwerde aufschiebende
Wirkung. Es ist indes allgemein anerkannt, dass die Behörde ungeachtet dessen allgemein die
verfassungsrechtliche Obliegenheit trifft, während eines Gerichtsverfahrens um vorläufigen
Rechtsschutz grundsätzlich von Maßnahmen des Verwaltungszwangs abzusehen.479 Deshalb
nimmt die Verwaltung üblicherweise auf Anfrage oder Empfehlung des Gerichts von einem
Vollzug während des Eilverfahrens Abstand („Stillhalteabkommen“). Hierauf besteht indes
kein ausdrücklich geregelter Anspruch.480 Für das Gemeinschaftsrecht enthält Art. 31 Abs. 2
RL 2004/38/EG (§ 7 Abs. 1 Satz 5 FreizügG/EU) ein zwingendes Abschiebungsverbot
während des anhängigen Eilrechtschutzverfahrens.
Andererseits wird die Behörde auch unabhängig von einer richterlichen Aufforderung im
allgemeinen Verwaltungsprozessrecht für verpflichtet gehalten, den Abschluss des Verfahrens
EGMR, InfAuslR 2006, 349 – Kaya.
OVG Hamburg, InfAuslR 2006, 60 (62); Nr. 4.3.1 VAH.
479
Hess. VGH, NVwZ 2000, 1318 = EZAR 622 Nr. 38 = AuAS 2000, 162; OVG Berlin, NVwZ 2001,
1424; VG Berlin, InfAuslR 2001, 253 = AuAS 2001, 158; s. hierzu auch Andreas Fichser-Lescano, InfAuslR
2006, 317.
480
Hess. VGH, NVwZ 2000, 1318 = EZAR 622 Nr. 38 = AuAS 2000, 162.
477
478
114
abzuwarten.481 Es wird darüber hinaus vertreten, dass die Behörde unmittelbar aus
Verfassungsrecht verpflichtet ist, dem Bürger zumindest eine erstinstanzliche Überprüfung
des Behördenbescheids im Eilrechtsschutzverfahren zu ermöglichen und bis zu diesem
Zeitpunkt – auch ohne einen ausdrücklichen Hängebeschluss – keine vollendeten Tatsachen
zu schaffen.482 Im Allgemeinen halten die Behörden die Stillhalteabkommen ein. Es empfiehlt
sich allerdings, im Eilrechtsschutzantrag unmittelbar nach dem Hauptantrag und erneut im
Beschwerdeverfahren ausdrücklich eine entsprechende gerichtliche Empfehlung an die
Ausländerbehörde zu beantragen.
In der Rechtsprechung ist darüber hinaus anerkannt, dass auch während des
Beschwerdeverfahrens
eine
behördliche
Obliegenheit
besteht,
vom
Vollzug
483
aufenthaltsbeendender Maßnahmen Abstand zu nehmen.
Im Bundesland Hessen besteht
seit 1990 die allgemein eingehaltene Übung, dass die Ausländerbehörden auch während eines
Eilrechtsschutzverfahrens in der zweiten Instanz vom Vollzug aufenthaltsbeendender
Maßnahmen absehen. Falls dennoch im Einzelfall Vollzugsmaßnahmen geplant sind, werden
diese dem Beschwerdegericht mindestens zwei Wochen vorher angekündigt und entscheidet
dieses unverzüglich vor dem vorgesehenen Vollzugstermin.484 Anders als im erstinstanzlichen
Eilrechtsschutzverfahren kann bei drohender Verletzung des Stillhalteabkommens keine
Vorsitzendenentscheidung (vgl. § 80 Abs. 8 VwGO) getroffen werden, da § 80 Abs. 8 VwGO
im Beschwerdeverfahren nicht entsprechend anwendbar ist.485 In diesem Fall kann aber der
Erlass eines Hängebeschlusses beantragt werden.
c)
Hängebeschluss
Es ist in Rechtsprechung und Literatur allgemein anerkannt, dass im Eilrechtsschutzverfahren
eine Zwischenentscheidung mit dem Ziel beantragt werden kann, bis zur endgültigen
Eilrechtsentscheidung eine befristete vorläufige Aussetzung des angefochtenen
Verwaltungsaktes zu erlassen.486 Im Ausländerrecht kann daher der Antrag gestellt werden,
der Behörde aufzugeben, bis zur gerichtlichen Entscheidung von aufenthaltsbeendenden
Maßnahmen abzusehen. Die Rechtsgrundlage für den Erlass des Hängebeschlusses ist Art. 19
Abs. 4 GG. In dringenden Fällen kann im erstinstanzlichen Eilrechtsschutzverfahren der
Vorsitzende den Hängebeschluss erlassen. Der Beschluss kann auf einen entsprechenden
Antrag hin, aber auch von Amts wegen ergehen. Es handelt sich lediglich um eine
Zwischenentscheidung. Der Beschluss wird als prozessleitende Verfügung eingestuft, gegen
die Rechtsmittel nicht eingelegt werden können.487
481
482
Hess. VGH, NVwZ-RR 1992, 34 (35); Andreas Fichser-Lescano, InfAuslR 2006, 317.
VG Berlin, InfAusl 2001, 253 (254) = AuAS 2002, 158 (159).
483
Hess. VGH, NVwZ 2000, 1318 = EZAR 622 Nr. 38 = AuAS 2000, 162; s. hierzu auch FischerLescano, InfAuslR 2006, 317 (318).
484
485
Hess. VGH, NVwZ 2000, 1318.
Hess. VGH, NVwZ 2000, 1318.
486
OVG Hamburg, NVwZ 1989, 479; OVG Saarland, NVwZ-RR 1993, 391; OVG Sachsen-Anhalt,
InfAuslR 1999, 344; Hess. VGH, NVwZ 2000, 1318; Schoch, in: Schoch u.a., VwGO-Kommentar, § 80 Rn 242
ff.; Redeker/v. Oertzen, VwGO-Kommentar, § 80 Rn 54; Guckelberger, NVwZ 2001, 275
487
OVG Hamburg, NVwZ 1989, 479; OVG Saarland, NVwZ-RR 1993, 391; OVG Sachsen-Anhalt,
InfAuslR 1999, 344; Hess. VGH, NVwZ 2000, 1318; Schoch, in: Schoch u.a., VwGO-Kommentar, § 80 Rn 242
115
Der Antrag auf Erlass des Hängebeschlusses ist zulässig, wenn die Gefahr der Vollziehung
des angefochtenen Verwaltungsaktes unmittelbar bevorsteht und ohne diesen kein effektiver
Rechtsschutz gewährleistet ist. Das Sicherungsbedürfnis ist also zu bejahen, wenn zu
befürchten ist, dass die Behörde vor dem gerichtlichen Eilrechtsbeschluss vollendete
Tatsachen schaffen wird. Das Gericht darf einen Hängebeschluss indes nicht allein deshalb
erlassen, um sich zeitliche Dispositionsmöglichkeiten zu verschaffen. Ist ein
Rechtsschutzbegehren entscheidungsreif, ist über dieses eine Entscheidung zu treffen.488
Materielle Voraussetzung für den Erlass des Hängebeschlusses ist, dass nicht eine
offensichtliche Aussichtslosigkeit des Eilrechtsschutzantrags zu bejahen ist und dem
Antragsteller ein Sicherungsbedürfnis zur Seite steht.489 Bei der Beurteilung wird sich das
Gericht regelmäßig am Vortrag des Antragstellers orientieren. Ist dieser nicht plausibel,
besteht Entscheidungsreife und ist in der Sache zu entscheiden. Daher ist dringend anzuraten,
den Antrag auf Erlass eines Hängebeschlusses inhaltlich so umfassend wie den Antrag auf
Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung zu begründen.
Ein Hängebeschluss kommt danach in Betracht, wenn – wie häufig – wichtige Akten noch
nicht vorliegen. Im Ausweisungsverfahren gehören dazu auch die Strafakten. Lassen sich die
Erfolgsaussichten
des
Eilrechtsschutzantrags
ohne
nähere
Aufklärung
des
Gesundheitszustandes des Antragstellers nicht beurteilen und ist wegen Überlastung der
Gesundheitsämter die Durchführung eines Untersuchungstermins nicht absehbar, bedarf es
keines Hängebeschlusses. Vielmehr hat das Verwaltungsgericht in diesem Fall in der Sache
zu entscheiden.490 Hat der Antragsteller ärztliche Atteste vorgelegt, die seine Reiseunfähigkeit
bescheinigen oder eine schwerwiegende gesundheitliche Erkrankung belegen, ist dem Antrag
daher auch ohne amtsärztliche Bestätigung stattzugeben.
d)
Zulässigkeit des Eilrechtsschutzantrags
aa)
Form des Antrags
Da die Ausweisung ein belastender Verwaltungsakt ist, ist Eilrechtsschutz nach § 80 Abs. 5
VwGO zu beantragen. Die Sperrwirkung greift nicht, wenn die Ausweisung bereits im
Rahmen summarischer Kontrolle ernstlichen Zweifel begegnet.491 In der Hauptsache ist
Anfechtungswiderspruch bzw. Anfechtungsklage zu erheben. Will der Betroffene zugleich
Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 2 bis 5, 7 AufenthG geltend machen und hat er zuvor
kein Asylverfahren betrieben, kann eine isolierte Feststellung eines derartigen Verbotes im
Ausweisungsverfahren nicht beantragt werden. Dieses Ziel muss der Betroffene in einem
gesonderten Verfahren verfolgen.492 Dem kann nicht zugestimmt werden. Vielmehr ist im
Ausweisungsverfahren inzidenter zu prüfen, ob derartige Abschiebungshindernisse bestehen.
bb)
Rechtsschutzbedürfnis
ff.; Redeker/v. Oertzen, VwGO-Kommentar, § 80 Rn 54; Guckelberger, NVwZ 2001, 275; a.A. OVG BerlinBrandenburg, EZAR 98 Nr. 23 = AuAS 2007, 144.
488
OVG Saarland, NVwZ-RR 1993, 391.
489
OVG Saarland, NVwZ-RR 1993, 391; OVG Hamburg, NVwZ 1989, 479; OVG Berlin, NVwZ-RR
1999, 212.
490
OVG Hamburg, NVwZ 1989, 479.
491
OVG SA, AuAS 2008, 5 (6).
492
VG Köln, B. v. 28. 12. 2005 – 12 K 6395/05.
116
Die Hauptsache (Widerspruch oder Anfechtungsklage) muss noch anhängig sein. Der
Eilrechtsschutzantrag ist nicht fristgebunden, kann also jederzeit gestellt werden. Nach
unanfechtbarer Zurückweisung des Antrags kann allerdings nur noch beim Gericht der
Hauptsache ein Abänderungsantrag nach § 80 Abs. 7 Satz 2 VwGO gestellt werden.
Entsprechend den Grundsätzen des allgemeinen Verwaltungsprozessrechts ist der
Eilrechtsschutzantrag nicht fristgebunden (s. aber § 58a Abs. 4 Satz 2 AufenthG, § 36 Abs. 3
Satz 1 AsylVfG), sondern kann während der Anhängigkeit der Hauptsache jederzeit gestellt
werden. Die Gefahr des Vollzugs der Ausweisungsverfügung wird aber regelmäßig Anlass
geben, den Eilrechtsschutzantrag unverzüglich zu stellen.
Nach der obergerichtlichen Rechtsprechung ist dem untergetauchten Antragsteller ein
Rechtsschutzbedürfnis nicht zuzubilligen. Dieses bestehe solange nicht, wie er sich im
Rahmen der ihm in seinem ausländerrechtlichen Belangen obliegenden Mitwirkungspflicht
(vgl. § 82 Abs. 1 AufenthG) nicht wieder der ausländerbehördlichen Kontrolle unterstelle.
Dafür genüge es regelmäßig nicht, dass ein „untergetauchter“ Ausländer durch seinen
Prozessbevollmächtigten und/oder Dritte, zu denen auch nahe Familienangehörige zu zählen
seien, gegenüber dem Gericht und/oder der Ausländerbehörde eine neue Anschrift mitteile,
unter der er nunmehr tatsächlich wieder erreichbar sei, ohne vorher weder persönlich bei der
Ausländerbehörde vorzusprechen noch persönlich die notwendige melderechtliche
Neuerfassung zu beantragen. Soweit der Betroffene befürchte, weiterhin Gefahr zu laufen,
von der Behörde abgeschoben zu werden, bleibe es ihm unbenommen, erneut um
Eilrechtsschutz nachzusuchen.493
Eines der zentralen Probleme im ausweisungsrechtlichen Eilrechtsschutzverfahren wird
dadurch aufgeworfen, dass der Antrag an der bereits aus anderen ausländerrechtlichen
Gründen bestehenden Ausreisepflicht des Antragstellers scheitern kann. Bei inhaftierten
Ausländern bedeutet die Verhaftung häufig einen derart gravierenden Einschnitt in die
konkreten Lebensverhältnisse, dass die Verteidigung gegen den Strafvorwurf im Zentrum des
individuellen Interesses steht. Antragsteller mit einem befristeten Aufenthaltstitel vergessen
darüber häufig, dass sie rechtzeitig die Verlängerung des Aufenthaltstitels beantragen müssen.
Haben sie den Antrag nicht vor Ablauf der Geltungsdauer des Aufenthaltstitels gestellt, tritt
nach Fristablauf Ausreisepflicht ein (vgl. § 50 Abs. 1 AufenthG). In diesem Fall fehlt dem
ausweisungsrechtlichen Eilrechtsschutzantrag das Rechtsschutzbedürfnis, weil bereits aus
anderen als ausweisungsrechtlichen Gründen Ausreisepflicht besteht. Nach der
Rechtsprechung muss nämlich die Anordnung der aufschiebenden Wirkung des Rechtsbehelfs
im ausweisungsrechtlichen Eilrechtsschutzverfahren einen rechtlichen oder tatsächlichen
Vorteil erbringen können.494
Eine Ausnahme wird in Betracht gezogen, wenn mit der Ausweisung zugleich ein Antrag auf
Erteilung eines Aufenthaltstitels abgelehnt worden oder mit der Ausweisung eine
Abschiebungsandrohung verbunden ist.495
Einschränkend wird eingewandt, es komme darauf an, ob dem Betroffenen aus der jeweiligen
Ausreiseverpflichtung ausländerbehördliche Vollstreckungsmaßnahmen drohten. Dabei sei
von dem Grundsatz auszugehen, dass es zwischen den auf verschiedenen Verwaltungsakten
oder sonstigen Grundlagen beruhenden Ausreiseverpflichtungen und deren sofortiger
493
OVG NW, InfAuslR 2005, 146 (147).
Hess. VGH, NVwZ-Beil. 1997, 57; Hess. VGH, AuAS 1999, 161 (162); 2002, 125 (126); OVG NW,
NVwZ-RR 1996, 173; OVG NW, InfAuslR 2000, 113 (114); OVG NW, InfAuslR 2001, 502; OVG NW,
InfAuslR 2000, 113; OVG Bremen, NVwZ-RR 1999, 204; OVG Bremen, NVwZ-RR 2006, 643; VGH BW,
NVwZ 1992, 702.; OVG SA, AuAS 2008, 5 (6).
495
OVG SA, AuAS 2008, 5 (7).
494
117
Vollziehbarkeit keinen logischen oder anderweitigen inhaltlichen Vorrang oder ein sonstiges
Prioritätsverhältnis gebe. Vielmehr habe die Ausländerbehörde beim Zusammentreffen
mehrerer Ausreiseverpflichtungen zu entscheiden, welche Verpflichtung sie nach
Vollziehbarkeit zwangsweise durchsetze.496 Hat die Behörde etwa vor dem Erlass der
Ausweisungsverfügung die bereits bestehende Ausreiseverpflichtung nicht durchgesetzt, ist
davon auszugehen, dass Vollzugsmaßnahmen, die im Zusammenhang mit einer
Ausweisungsverfügung geplant werden, sich auf die aufgrund der Ausweisung begründete
Ausreiseverpflichtung beziehen. In diesem Fall kann trotz anderweitig bereits bestehender,
behördlich indes nicht durchgesetzter
Ausreiseverpflichtung dem
auf die
Ausweisungsverfügung bezogenen Eilrechtsschutzantrag das Rechtsschutzbedürfnis nicht
abgesprochen werden.497
Gegen jede ausländerrechtliche Maßnahme, d.h. gegen die Versagungs- wie die
Ausweisungsverfügung, ist einstweiliger Rechtsschutz zu beantragen.498 Auch wenn die
Behörde nicht die sofortige Vollziehung der Ausweisungsverfügung angeordnet hat, muss
gegen die mit dieser Verfügung zugleich erfolgte Versagung der begehrten Verlängerung des
Aufenthaltstitels Eilrechtsschutz beantragt werden.499 Zwar beschränkt sich die
Rechtswirkung des Sofortvollzugs der Versagungsverfügung auf die Durchsetzung der
Ausreisepflicht. Denn § 84 Abs. 2 Satz 1 AufenthG lässt auch bei Anordnung der
aufschiebenden Wirkung des Widerspruchs die innere Wirksamkeit der Ausweisung
unberührt und bewirkt die kraft Gesetzes nach § 84 Abs. 1 AufenthG sofort vollziehbare
Versagung der beantragten Verlängerung des Aufenthaltstitels ohnehin, dass der Betroffene
zur Ausreise verpflichtet ist. Der Betroffene hat aber jedenfalls einen rechtlichen Vorteil, weil
die Vollziehbarkeit der Ausreisepflicht vorläufig suspendiert wird, wenn der auf die
Versagungsverfügung bezogene Eilrechtsschutzantrag Erfolg hat.500
Darüber hinaus hat das Verwaltungsgericht zu prüfen, ob der auf § 80 Abs. 5 VwGO zielende
ausweisungsrechtliche Eilrechtsschutzantrag in einen einstweiligen Antrag nach § 123 VwGO
umgedeutet werden kann.501 Eine derartige Umdeutung kommt insbesondere dann in
Betracht, wenn nach dem Sachvortrag Abschiebungshindernisse, inlandsbezogene
Vollstreckungshemmnisse oder andere mit ausländerrechtlichen Verteidigungsmitteln
durchsetzbare Ansprüche in Betracht kommen.
cc)
Antragsbefugnis des Ehegatten
Auch der deutsche oder ausländische Ehegatte wird durch die sofortige Vollziehung der
gegen den anderen Ehegatten gerichteten Ausweisung in seinem persönlichen Schutzbereich
betroffen und hat deshalb aus eigenem Recht eine Antragsbefugnis im
ausweisungsrechtlichen Eilrechtsschutzverfahren.502 Die obergerichtliche Rechtsprechung
beruft sich auf die Rechtsprechung des BVerwG, der zufolge der Ehegatte aus eigenem Recht
aufgrund von Art. 6 Abs. 1 GG durch die gegen den anderen Ehegatten gerichtete
496
Hess. VGH, AuAS 2002, 215 (126).
Hess. VGH, AuAS 2002, 215 (126).
498
VGH BW, NVwZ-RR 1995, 295 (296).
499
Hess.VGH, NVwZ-RR 2004, 900 (901).
500
Thür. OVG, InfAuslR 2003, 383 (384) = NVwZ-Beil. 2003, 90.
501
Hess. VGH, AuAS 1999, 161 (162).
502
VGH BW, InfAuslR 1999, 419; VGH BW, EZAR 44 Nr. 2; Hess. VGH, EZAR 622 Nr. 8; Hess. VGH,
InfAuslR 2002, 362; Hess.VGH, NVwZ-RR 2004, 900 (901); VG Wiesbaden, AuAS 2004, 50.
497
118
Versagungsverfügung belastet wird.503 Versäumt danach die Ausländerbehörde die
Bekanntgabe der Ausweisungsverfügung gegenüber dem deutschen oder ausländischen
Ehegatten, gilt für diesen ungeachtet des Eintritts der Bestandskraft der Verfügung wegen
Fristversäumnis im Hinblick auf den durch die Ausweisung belasteten Ehegatten nicht die
Monatsfrist des § 70 Abs. 1 VwGO.
Der Rechtsbehelf des Ehegatten gegen die ihm gegenüber bekannt gegebene
Ausweisungsverfügung begründet aufschiebende Wirkung. Will die Behörde die Ausweisung
durchsetzen, muss sie auch gegenüber dem Ehegatten die sofortige Vollziehung unter besonderer Abwägung der Belange des Ehegatten im öffentlichen Interesse anordnen. 504 Wird der
Antrag auf Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung des Rechtsmittels gegen die
Ausweisung gestellt, obwohl die Behörde keine auf diese Verfügung bezogene sofortige
Vollziehung
angeordnet hat, fehlt dem Antrag der Ehefrau zwar insoweit das
Rechtsschutzbedürfnis. Hat die Behörde in der Ausweisungsverfügung indes zugleich einen
Verlängerungsantrag abgelehnt, entfaltet das Rechtsmittel bezogen auf die
Versagungsverfügung keine aufschiebende Wirkung (§ 84 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG). In diesem
Fall fehlt dem Eilrechtsschutzantrag der Ehefrau insoweit nicht das Rechtsschutzbedürfnis.505
e)
Begründetheit des Eilrechtsschutzantrags
aa)
Maßgebender Beurteilungszeitpunkt
Maßgebend für die Beurteilung der SachAusweisungsverfahren ist der Zeitpunkt der
das BVerwG entschieden, dass es in allen
letzten mündlichen Verhandlung ankommt
Rechtsprechung des EGMR.507
bb)
und Rechtslage war bislang im allgemeinen
letzten Behördenentscheidung.506 Nunmehr hat
Ausweisungsverfahren auf den Zeitpunkt der
und begründet dies mit der entsprechenden
Prüfkriterien
Das Verwaltungsgericht hat anhand der üblichen verwaltungsprozessualen Grundsätze die
Begründetheit des Eilrechtsschutzantrags zu prüfen. Ist die Ausweisungsverfügung
offensichtlich rechtswidrig, entfällt danach das öffentliche Vollzugsinteresse. Ist hingegen die
angefochtene Verfügung offensichtlich rechtmäßig, fällt dies bei der anschließenden
Interessenabwägung zwischen den öffentlichen Vollzugsinteressen und den individuellen
Interessen zu Lasten des Antragstellers ins Gewicht.
Das Verwaltungsgericht hat im summarischen Eilrechtsschutzverfahren insbesondere zu
prüfen, ob die Ausländerbehörde die Umstände der Straftat und die persönlichen Verhältnisse
des Betroffenen von Amts wegen sorgfältig ermittelt und eingehend gewürdigt, insbesondere
503
BVerwGE 102, 12 (15) = InfAuslR 1997, 16 (17) = EZAR 023 Nr. 8; Hess. VGH, InfAuslR 2002, 362;
VGH BW, EZAR 44 Nr. 2.
504
Hess. VGH, EZAR 622 Nr. 8.
505
Hess.VGH, NVwZ-RR 2004, 900 (901).
506
BVerwGE 101, 247 (250) = EZAR 035 Nr. 16 = InfAuslR 1997, 8 = NVwZ 1997, 297; BVerwGE 102,
63 (64) = EZAR 035 Nr. 18 = NVwZ 1997, 1123 = InfAuslR 1997, 63; BVerwGE 102, 249 (251) = EZAR 033
Nr. 10 = NVwZ 1997, 685 = InfAuslR 1997, 193; BVerwG, InfAuslR 1995, 150 (151); BVerwG, NVwZ 1997,
1119 (1120); OVG NW, EZAR 34 Nr. 2.
507
BVerwGE 130, 20 (22) = NVwZ 2008, 434 = InfAuslR 2008, 156 = AuAS 2007, 40.
119
auch Einsicht in die Strafakten genommen hat.508 Nach Erlass der Ausgangsverfügung
eingetretene Umstände bleiben, werden berücksichtigt.
cc)
Beachtung der behördlichen Zuständigkeitsvorschriften
Die Verletzung der behördlichen Zuständigkeitsvorschriften führt zur Rechtswidrigkeit der
Ausweisung, da Zuständigkeitsfehler nicht heilbar sind,509 sodass allein deshalb ein
öffentliches Vollzugsinteresse nicht begründet werden kann. Die Ausweisungsentscheidung
trifft die nach § 71 Abs. 1 Satz 1 AufenthG (§ 63 Abs. 1 Satz 1 AuslG 1990) zuständige
Ausländerbehörde. Da das geltende Ausländerrecht ebenso wie das AuslG 1990 anders als
§ 20 Abs. 2 AuslG 1965 keine Regelungen mehr über die örtliche und funktionelle
Zuständigkeit der Ausländerbehörde trifft, richtet sich die örtliche Zuständigkeit nach dem
Verfahrensrecht der Länder.510 Da mithin das geltende Ausländerrecht die Bestimmung der
örtlichen Zuständigkeit der Ausländerbehörde weitgehend dem Landesrecht überlässt, kann in
einzelnen Fällen die Zuständigkeit mehrerer Behörden gegeben sein.
dd)
Ermessensfehler
Die angefochtene Ausweisungsverfügung kann an einem Ermessensfehler leiden und deshalb
rechtswidrig sein. In diesem Fall entfällt das öffentliche Vollzugsinteresse. Daher muss die
Rechtmäßigkeitsprüfung sich nicht nur auf die behördliche Zuständigkeit, sondern auch auf
Ermessensfehler richten. Die fehlerhafte Tatsachenfeststellung hat einen Ermessensfehler zur
Folge. Beruht die behördliche Entscheidung auf fehlerhaft festgestellten tatsächlichen
Voraussetzungen, sind die Voraussetzungen der Rechtsfolge fehlerhaft. In diesem Fall kann
die gerichtliche Ermessenskontrolle (vgl. § 114 VwGO) nicht durchgeführt werden.
Ein Ermessensfehler kann auftreten, weil der Ausweisungstatbestand unzutreffend rechtlich
bewertet worden ist. Werden etwa die Voraussetzungen der zwingenden Ausweisung
festgestellt, obwohl die Regelausweisung Anwendung findet, liegt dem Ausweisungsbescheid
ein anderer Sachverhalt zugrunde, sodass die Verfügung sich ihrem Wesen nach verändert.511
Hinzu kommt, dass bei der Regelausweisung ein atypischer Ausnahmefall zur
Ermessensausweisung führt und die unzutreffende Annahme der Regelausweisung den
Zugang zur Ermessensausweisung versperrt. Verkennt die Behörde bei einer
Ermessensausweisung den besonderen Ausweisungsschutz, so ist die Verfügung auf jeden Fall
rechtswidrig.512 Denn § 114 Satz 2 VwGO erlaubt zwar die Nachholung defizitärer
Ermessenserwägungen,
nicht
jedoch
die
erstmalige
Ermessensausübung
im
513
Verwaltungsstreitverfahren.
Stellt die Behörde fest, dass zwar die Voraussetzungen der Ermessensausweisung (§ 55 Abs.
2 Nr. 8b AufenthG), nicht aber die der Regelausweisung (§ 55 Nr. 5a AufenthG) vorliegen
und hat sie Ermessenserwägungen auch nicht hilfsweise angestellt, ist die Verfügung
rechtswidrig.514 Ein Nachholen der Ermessensausübung im Verwaltungsstreitverfahren ist
508
509
510
511
512
513
514
BVerfGE 51, 386 (399).
BVerwGE 71, 63 (65); a.A. OVG NW, InfAuslR 2004, 195.
Hess. VGH, InfAuslR 2004, 144.
Hess. VGH, EZAR 033 Nr. 6
BayVGH, AuAS 1999, 172 (174)
BVerwG, NVwZ 2007, 470 (471) = ZAR 2007, 66.
OVG Bremen, NVwZ-RR 2006, 643 (645) - Hassprediger.
120
unzulässig. § 114 Satz 2 VwGO erlaubt nur die Ergänzung defizitärer Ermessenserwägungen,
nicht aber die erstmalige Ausübung des Ermessens nach Abschluss des
Verwaltungsverfahrens.515 Die Verkennung des atypischen Ausnahmefalls führt zum
Ermessensausfall. Denn liegt ein derartiges Ausnahmegeschehen vor, darf die Ausweisung
nur nach Ermessen erfolgen. Deshalb hat die Verkennung des atypischen
Ausnahmegeschehens einen Ermessensausfall zur Folge.
Wurde im Verwaltungsverfahren das Ermessen nicht ausgeübt, kann es im gerichtlichen
Verfahren nicht nachgeholt werden.516 Die richtige Gewichtung des Abwägungsmaterials
setzt voraus, dass die Behörde erkennt, aufgrund welcher Norm sie entscheidet. Daher lässt
sich zumindest nicht ausschließen, dass eine Behörde, die von einer Regelausweisung
ausgeht, die Fallelemente anders gewichtet als bei einer Ermessensausweisung. 517 Nach
Gemeinschaftsrecht ist nur eine spezialpräventive Ausweisung erlaubt. Wird daher die
Ausweisungsverfügung generalpräventiv begründet, ist sie rechtswidrig.
Das Nachschieben von Ermessenserwägungen im Verwaltungsprozess ist zwar grundsätzlich
zulässig (vgl. § 114 Satz 2 VwGO). Der Verwaltungsbescheid darf dadurch indes nicht in
seinem Wesen verändert und der Betroffene dadurch nicht in seiner Rechtsverteidigung
beeinträchtigt werden.518 Nach § 114 Satz 2 VwGO ist nur die Ergänzung der
Ermessenserwägungen, indes nicht die vollständige Nachholung oder Auswechselung der die
Ermessensentscheidung tragenden Gründe zulässig. Damit ist bei einem vollständigen
Begründungsdefizit das Nachschieben einer Begründung nicht zulässig. Eine Änderung des
Ausweisungszwecks oder auch nur die Hinzufügung eines neuen Ausweisungszwecks
verändert die Ausweisungsverfügung wesentlich.519
ee)
Rechtlicher Bezugsrahmen der Rechtmäßigkeitskontrolle im Eilrechtsschutzverfahren
Unverändert gilt die frühere Rechtsprechung des BVerfG fort, der zufolge für die sofortige
Vollziehung ein besonderes öffentliches Interesse erforderlich ist, das über jenes Interesse
hinausgeht, das die Verfügung selbst trägt.520 Dies hat das BVerfG in einer
Kammerentscheidung später bestätigt: Die Ausweisung ist in jedem Fall eine schwerwiegende
Maßnahme, die nicht selten tief in das Schicksal des Ausländers und seiner
Familienangehörigen eingreift. Ihr Gewicht wird durch die Anordnung der sofortigen
Vollziehung erheblich verschärft. Für die Verbindung der Ausweisung mit der Anordnung des
Sofortvollzugs muss danach wegen des mit ihr verbundenen schwerwiegenden Eingriffs und
mit Rücksicht auf den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit „stets ein besonderes, über die
Voraussetzungen für die Ausweisung selbst hinausgehendes Erfordernis vorliegen“.521
Es muss mithin die begründete Besorgnis bestehen, die von dem Betroffenen ausgehende, mit
der Ausweisung bekämpfte Gefahr werde sich schon vor Abschluss der Hauptsache
realisieren. Der allgemeine Verdacht einer Belangbeeinträchtigung genügt nicht. Ein
unbestimmter Verdacht oder die abstrakte Möglichkeit einer Gefährdung reichen nicht aus,
515
OVG Bremen, NVwZ-RR 2006, 643 (645).
516
VG Augsburg, InfAuslR 2006, 226.
BVerwG, NVwZ-RR 1997, 565 (567)
518
Hess. VGH, EZAR 033 Nr. 6; BayVGH, InfAuslR 1999, 403 (405); BayVGH, AuAS 1999, 172 (174).
519
BayVGH, InfAuslR 1999, 403 (405).
520
BVerfGE 35, 382 (402); 38, 52 (58); 69, 220 (228); BayVGH, InfAuslR 2004, 244; s. hierzu auch
ausführlich Strieder, InfAuslR 2006, 211 (213 ff.).
521
BVerfG (Kammer), NVwZ 1996, 58 (59); zu den Anforderungen an die Begründung s. auch Strieder,
InfAuslR 2006, 211.
517
121
das besondere Vollzugsinteresse zu begründen.522 Durch § 80b Abs. 1 Satz 1 VwGO hat sich
jedoch der maßgebende Zeitraum erheblich verkürzt. Die aufschiebende Wirkung des
Rechtsmittels endet nach geltender Rechtslage nicht mit dem rechtskräftigen Abschluss des
Hauptsacheverfahrens. Vielmehr endet die aufschiebende Wirkung bzw. tritt infolgedessen
die Vollziehbarkeit der Ausreisepflicht des ausgewiesenen Ausländers ein, wenn die
Anfechtungsklage im ersten Rechtszug abgewiesen worden ist und drei Monate nach Ablauf
der gesetzlichen Begründungspflicht des gegen die ablehnende Entscheidung gegebenen
Rechtsmittels verstrichen sind, also fünf Monate nach Zustellung des klageabweisenden
Urteils.523
Allerdings hat das BVerfG in einer neueren Entscheidung keine Bedenken dagegen
angemeldet, dass ein „einmaliges Rauschgiftdelikt, namentlich Beteiligung am
Heroinhandel“, im Hinblick auf den spezialpräventiven Ausweisungszweck einen
schwerwiegenden Ausweisungszweck darstellen könne und es deshalb von Verfassungs
wegen grundsätzlich nicht zu beanstanden sei, wenn die zur Verfügung einer Ausweisung
sowie des angeordneten Sofortvollzugs berechtigende Wiederholungsgefahr bereits bei einer
einmaligen Bestrafung wegen unerlaubten Handeltreibens mit Heroin in nicht geringer Menge
angenommen werde.524
In der obergerichtlichen Rechtsprechung wird zwar ebenfalls bei schwerwiegenden Straftaten
im Allgemeinen allein aufgrund des abgeurteilten Verhaltens eine hinreichende Besorgnis
neuer Verfehlungen bejaht. Dies gelte aber zunächst nur für die Frage, ob sich die
Ausweisung selbst als rechtmäßig erweise, nicht hingegen zugleich auch ohne weiteres für die
davon zu trennende Frage der Rechtmäßigkeit der angeordneten sofortigen Vollziehung. Auch
wenn ein Ausländer Straftaten von nicht unerheblichem Gewicht, teilweise während des
Laufs der Bewährungszeit, begangen habe, bestünden bei einem in Strafhaft befindlichen
Ausländer, der in absehbarer Zeit zur Entlassung anstehe, etwa dann keine begründeten
Anhaltspunkte für einen Rückfall nach der Haftentlassung, wenn dieser bereits während der
Zeit der Inhaftierung regelmäßig Kontakt zum externen Suchtberater gehalten und sich im
Anschluss an die Aussetzung der Vollstreckung der Freiheitsstrafe einer stationären
Suchtentwöhnungsbehandlung unterzogen habe und beabsichtige, nach der Entlassung in eine
externe Wohngruppe der Einrichtung zu ziehen, bei der er sich der Behandlung unterzogen
hatte.525
Darüber hinaus ist zu bedenken, dass die Anordnung der sofortigen Vollziehung der
Ausweisungsverfügung nur dann eine besonders generalpräventive Wirkung aufweist, wenn
sie der strafrechtlichen Verurteilung auf dem Fuße folgt.526 Zu bedenken ist, dass in den
Fällen des Sofortvollzugs für Behörde und Gericht die Pflicht besteht, das
Hauptsacheverfahren mit schnellstmöglicher Beschleunigung zu betreiben und abzuschließen.
Deshalb müssen die Verwaltungsgerichte bei der Entscheidung über die sofortige Vollziehung
nach § 80 Abs. 5 VwGO davon ausgehen, dass das Hauptsacheverfahren mit der gebotenen
Eile gefördert wird und dementsprechend prüfen, ob die sofortige Vollziehung in der sich
daraus ergebenden Zeitspanne notwendig ist. Die für diesen Zeitraum festzustellenden
Gefahren für die Belange der Bundesrepublik müssen von solchem Gewicht sein, dass sie die
522
BVerfGE 35, 382 (404); 38, 52 (58); s. hierzu auch OVG Hambueg, InfAuslR 2005, 198 (199); VG
Stuttgart, InfAuslR 1999, 79.
523
OVG Hamburg, InfAuslR 2005, 198 (199)
524
BVerfG (Kammer), NVwZ 1996, 58 (69); BVerfG (Kammer), DVBl. 2000, 697 (698) = InfAuslR
2001, 113 = NVwZ 2001, 67 = EZAR 032 Nr. 14, diesem Verfahren lag eine mehrmalige Tatbegehung und eine
außerordentlich große Menge gelieferten Heroins, zweimal 0,5 kg und einmal ca. 5 kg Heroingemisch, zugrunde
525
BayVGH, AuAS 2004, 8
526
VG Hamburg, InfAuslR 1999, 194 (195).
122
schutzwürdigen Belange des Ausländers an der Erhaltung des Suspensiveffekts überwiegen.
Hierbei müssen die Gerichte berücksichtigen, dass eine erhebliche Verzögerung durch die
Ausländerbehörde regelmäßig erkennen lässt, dass ein zwingendes öffentliches Interesse an
einer sofortigen Entfernung des Ausländers aus der Bundesrepublik nicht besteht.527
Muster:
Vorläufiger Rechtsschutz gegen Ausweisungs- und Versagungsverfügung nach
§ 80 Abs. 5 VwGO
An das
Verwaltungsgericht
Antrag
des russischen Staatsangehörigen
– Antragsteller –
gegen
Stadt, vertreten durch die Oberbürgermeisterin
– Antragsgegnerin –
wegen Ausländerrecht
Unter Vollmachtsvorlage wird beantragt:
1. Die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs vom gegen die Ausweisungsverfügung des
Landrates des Kreises vom , zugestellt am , wird angeordnet.
2. Die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs vom gegen die Verfügung des Landrates
des Kreises vom , zugestellt am , wird wiederhergestellt.
Es wird gebeten der Antragsgegnerin mitzuteilen,
dass das Verwaltungsgericht davon ausgeht, dass bis zu einer Entscheidung des Gerichts
die Abschiebung nicht vollzogen wird
f)
Abänderungsantrag nach § 80 Abs. 7 Satz 2 VwGO
Auch im ausweisungsrechtlichen Eilrechtsschutzverfahren kann nach unanfechtbarer
Zurückweisung des Eilrechtsschutzantrags ein Abänderungsantrag gemäß § 80 Abs. 7 Satz 2
VwGO gestellt werden. Das Abänderungsverfahren ist kein Rechtsmittelverfahren, sondern
ein gegenüber dem Ausgangsverfahren nach § 80 Abs. 5 VwGO selbständiges und neues
Eilrechtsschutzverfahren. Es setzt voraus, dass ein Verfahren nach § 80 Abs. 5 VwGO formell
unanfechtbar abgeschlossen worden ist und hat als Verfahrensgegenstand die Frage, ob die
ergangene rechtskräftige Entscheidung für die Zukunft aufrechterhalten bleiben soll. Deshalb
kann die Entscheidung auch nur geändert und nicht etwa aufgehoben werden. Allenfalls in
Ausnahmefällen wird in der Rechtsprechung eine rückwirkende Aufhebung erwogen, etwa
dann, wenn die frühere Entscheidung auf einem schweren Verfahrensfehler oder auf einer in
jeder Hinsicht unzutreffenden Tatsachengrundlage beruht.528
Voraussetzung ist aber, dass das Rechtsmittel in der Hauptsache nicht verfristet ist. Denn ein
verfristeter Rechtsbehelf vermag mangels Anfechtbarkeit des bestandskräftig gewordenen
Bescheides von vornherein keine aufschiebende Wirkung nach § 80 Abs. 1 VwGO auslösen.
Die aufschiebende Wirkung solle die Schaffung irreparabler Tatsachen verhindern, die sich
aus der sofortigen Vollziehung des angefochtenen Verwaltungsaktes ergeben könnten.
Komme hingegen die Gewährung von Eilrechtsschutz wegen eindeutiger Verfristung des an
sich statthaften Rechtsmittels nicht mehr in Betracht, bestehe auch für den Eintritt der
527
528
BVerfG (Kammer), NVwZ 1996, 58 (59).
VGH BW, InfAuslR 2005, 313 (314 f.) = AuAS 2005, 170.
123
aufschiebenden Wirkung kein hinreichender Anlass mehr.529 Sofern das Rechtsmittel
fristgemäß eingelegt worden war, kann jedoch auch nach unanfechtbarer Zurückweisung des
Eilrechtsschutzbeschluss erneut Eilrechtsschutz im Wege des Abänderungsverfahrens
beantrag werden.
Legt der Antragsteller nach unanfechtbarer Zurückweisung seines Eilrechtsschutzantrags
ärztliche Stellungnahmen vor, aus denen sich infolge der Unterbringung zur Therapie gemäß
§ 64 StGB eine positive Entwicklung im Hinblick auf die Bewältigung seiner
Drogenabhängigkeit ergibt, haben sich gegenüber dem vorangegangenen Verfahren die
Gewichte deutlich verschoben, sodass dem Eilrechtsschutz im Abänderungsverfahren –
bezogen auf die Versagungsverfügung – der Erfolg nicht versagt werden kann.530
D.
Asyl- und Flüchtlingsrecht
I.
Rechtsschutz im asylrechtlichen Hauptsacheverfahren
1.
Klageerhebung
§ 74 Abs. 1 AsylVfG ordnet für die Klageerhebung im Asylprozess kürzere Fristen als nach
allgemeinem Verwaltungsprozessrecht an. Besondere Vorschriften über die Klageerhebung
selbst sind dem Gesetz nicht zu entnehmen. Insofern gelten die allgemeinen Vorschriften.
Darüber hinaus enthält das Gesetz besondere Begründungsfristen mit Präklusionswirkungen
(vgl. § 74 Abs. 2 AsylVfG).
2.
Örtlich zuständiges Verwaltungsgericht
a)
Gerichtsstand nach § 52 Nr. 2 Satz 3 VwGO
Die Klage muss bei dem örtlich zuständigen Verwaltungsgericht erhoben werden. Bei der
örtlichen Zuständigkeit handelt es sich um eine von Amts wegen zu beachtende
Prozessvoraussetzung.531 Insbesondere in den Fällen, in denen während der Klagefrist eine
Zuweisungsentscheidung (§§ 50 f. AsylVfG) erlassen wird, ist zu prüfen, welches
Verwaltungsgericht zuständig ist. Nach § 52 Nr. 2 Satz 3 VwGO ist in Streitigkeiten nach
dem AsylVfG und wegen Verwaltungsakten der Ausländerbehörde gegen Asylsuchende das
Verwaltungsgericht örtlich zuständig, in dessen Bezirk der Asylantragsteller mit Zustimmung
der zuständigen Ausländerbehörde entweder seinen Wohnsitz oder in Ermangelung dessen
seinen Aufenthalt hat oder seinen letzten Wohnsitz oder Aufenthalt hatte.532
Maßgebend für die Beurteilung der örtlichen Zuständigkeit des Gerichts ist der Zeitpunkt der
Rechtshängigkeit, d. h. der Zeitpunkt des Eingangs der Klage beim Gericht. 533 Die
nachträgliche länderübergreifende Verteilung bewirkt wegen des Grundsatzes perpetuatio
fori keine Änderung in der gerichtlichen Zuständigkeit.534 Entscheidend für die Bestimmung
des Gerichtsstandes ist ausschließlich die Zustimmung der Ausländerbehörde, die in dem der
529
530
531
532
533
534
VGH BW, NJW 2004, 2690.
OVG SH, AuAS 2001, 87.
BVerwG, NVwZ-RR 1995, 300 (301).
BVerwG, InfAuslR 1983, 76.
BVerwG, InfAuslR 1985, 149 (150) = EZAR 611 Nr. 7.
Thür. OVG, AuAS 1997, 24.
124
Klageerhebung vorangegangenen Verteilungsverfahren im Hinblick auf den Kläger örtlich
zuständige Ausländerbehörde geworden ist. Maßgebend für das Vorliegen der die
Gerichtszuständigkeit begründenden behördlichen Zustimmung ist im Übrigen der Zeitpunkt
der Erhebung der Klage 535. Es ist also für die den Gerichtsstand begründende behördliche
Zustimmung die Bescheinigung über die Aufenthaltsgestattung nach § 63 AsylVfG
maßgebend.536
Wird ein Asylsuchender im Bezirk einer Ausländerbehörde aufgegriffen und in
Untersuchungshaft genommen bzw. zum Zwecke der Haft in den Bezirk einer anderen
Ausländerbehörde überstellt, ist regelmäßig davon auszugehen, dass dies mit Einverständnis
der Ausländerbehörde erfolge, als die für den Haftort zuständige Behörde zuständig ist.537
Hat der Asylsuchende indes unerlaubt den ihm zugewiesenen Aufenthaltsbereich verlassen
und wird er in einem anderen Bundesland aufgegriffen und zwecks Rückführung
festgenommen, ist das Verwaltungsgericht örtlich zuständig, in dessen Bezirk der
Asylsuchende mit Zustimmung der Ausländerbehörde seinen Aufenthalt zu nehmen hat.538
Liegen bei einem Asylfolgeantrag die Voraussetzungen des § 71 Abs. 7 Satz 1 AsylVfG vor,
wonach eine räumliche Beschränkung im Folgeantragsverfahren fortgilt, ist das
Verwaltungsgericht örtlich zuständig, in dessen Bezirk der Antragsteller gemäß § 71 Abs. 7
Satz 1 AsylVfG seinen Aufenthalt zu nehmen hatte.539
b)
Verweisungsantrag
Ist der Rechtsbehelf trotz ordnungsgemäßer Rechtsbehelfsbelehrung beim örtlich nicht
zuständigen Verwaltungsgericht erhoben worden, ist gemäß § 17 Abs. 2 GVG Antrag auf
Verweisung an das zuständige Verwaltungsgericht zu stellen. Dies gilt auch im
Eilrechtsschutzverfahren.540 Die Verweisung erhält, auch wenn sie erst nach Ablauf der
Rechtsbehelfsfrist erfolgt, die Rechtshängigkeit der Sache (vgl. § 83 VwGO i.V.m. § 17b
Abs. 1 Satz 2 GVG).541 Dies gilt jedoch nicht für die schuldhaft bei einem unzuständigen
Gericht erhobenen Rechtsbehelfe.542 Ebenso wenig erhält die Einreichung einer an das
zuständige Gericht adressierten Klage bei einem unzuständigen Gericht die
Rechtshängigkeit.543 In diesem Fall ist das Gericht, bei dem das Schriftstück eingeht, obwohl
es dort nicht eingehen sollte, zu einer prozessualen Behandlung weder verpflichtet noch
überhaupt berechtigt, sondern allenfalls nur gehalten, die Eingabe zurückzusenden oder
weiterzuleiten. Die versehentliche Zuleitung an ein anderes als das angesprochene Gericht
unterscheidet sich damit nicht vom sonstigen Irrläufer des Schriftstückes an einen beliebigen
Dritten. Im Gegensatz zum Rechtsirrtum, der zur Anrufung des falschen Gerichts führt und
535
BVerwG, BayVBl. 1986, 504.
BVerwG, BayVBl. 1986, 504; OVG Hamburg, EZAR 611 Nr. 5.
Hess. VGH, EZAR 611 Nr. 9.
536
537
538
VG Berlin, InfAuslR 1994, 379 (380).
VG Schleswig, AuAS 1993, 228.
539
540
BayVGH, NVwZ-RR 1993, 668; VG Berlin, InfAuslR 1994, 379.
BGH, NJW 1986, 2255; OVG Rh-Pf, NVwZ-RR 1996, 181; OVG NW, NJW 1996, 334 = AuAS 1995,
541
251.
542
543
OVG Rh-Pf, NJW 1981, 1005; OVG Rh-Pf, NVwZ-RR 1996, 181 f.; VGH BW, NJW 1988, 222.
OVG NW, NJW 1996, 334 = AuAS 1995, 251 f.
125
den der Gesetzgeber nachsichtig behandelt hat, ist sie daher ebenso wenig fristunschädlich
wie eine sonstige Nachlässigkeit bei der Übermittlung fristgebundener Schriftstücke.544
Der Beschluss, mit dem sich das Verwaltungsgericht für unzuständig erklärt sowie das
Verwaltungsstreitverfahren an das nach seiner Auffassung zuständige Verwaltungsgericht
verweist, ist für dieses analog § 17a Abs. 2 Satz 3 GVG bindend.. Im Rahmen des § 83 Satz 1
VwGO bedeutet dies, dass das Berufungsgericht bei der Überprüfung des erstinstanzlichen
Urteils von einer in dem Urteil ausdrücklich oder stillschweigend bejahten örtlichen
Zuständigkeit des betreffenden Verwaltungsgerichts ohne weiteres auszugehen hat. 545 Auch
wenn sich erst im Antragsverfahren nach § 78 Abs. 4 AsylVfG herausstellen sollte, dass das
erstinstanzliche Verwaltungsgericht örtlich unzuständig ist, darf daher das Berufungsgericht
die Sache nicht an das örtlich zuständige Berufungsgericht verweisen.
4.
Klagefrist (§ 74 AsylVfG)
Abweichend von der allgemeinen Klagefrist von einem Monat für Anfechtungs- und
Verpflichtungsklagen (§ 74 VwGO) ist nach § 74 Abs. 1 1. Hs. AsylVfG die Klage gegen alle
Entscheidungen nach dem AsylVfG innerhalb von zwei Wochen nach Zustellung der
Entscheidung zu erheben. Die verkürzte Klagefrist gilt damit für alle Rechtsstreitigkeiten
nach dem AsylVfG, seien sie verfahrens-, aufenthalts- oder verteilungsrechtlicher Art.
Eine zusätzliche Verschärfung erfolgt durch § 74 Abs. 1 2. Hs. AsylVfG. Danach wird die
Klagefrist auf eine Woche nach Zustellung verkürzt, wenn der Antrag nach § 80 Abs. 5
VwGO innerhalb einer Woche zu stellen ist. Mit dem Verweis auf § 36 Abs. 3 Satz 1
AsylVfG in dieser Vorschrift ist klargestellt, dass in allen asylverfahrensrechtlichen
Eilrechtsschutzverfahren die Klagefrist mit der Frist für den Eilrechtsschutzantrag
zusammenfällt. Ordnet das Gesetz an, dass zur Gewährleistung des Abschiebungsschutzes der
vorläufige Rechtsschutzantrag binnen einer Woche nach Bekanntgabe der
Abschiebungsandrohung zu stellen ist (§ 36 Abs. 3 Satz 1 AsylVfG), ist abweichend von § 74
Abs. 1 1. Hs. AsylVfG auch die Klage binnen einer Woche zu erheben. Die verkürzte
Klagefrist ist bei unbeachtlichen (§ 29 Abs. 1 AsylVfG) und bei offensichtlich unbegründeten
oder als solche geltenden Asylbegehren (§§ 29a, 30 AsylVfG) zu beachten.
Überdies verweisen die Vorschriften über den Folgeantrag (§ 71 Abs. 4 1. Hs. AsylVfG)
sowie über den Zweitantrag (§ 71a Abs. 4 AsylVfG) auf die Bestimmungen des § 36
AsylVfG, so dass in diesen Fällen ebenfalls die einwöchige Klagefrist zu beachten ist (§ 74
Abs. 1 2. Hs. i.V.m. §§ 36 Abs. 3 Satz 1, 71 Abs. 4 1. Hs. oder 71a Abs. 4 AsylVfG). Für das
Asylfolgeantragsverfahren gilt dies indes nur, wenn das Bundesamt nach § 71 Abs. 4
AsylVfG eine erneute Abschiebungsandrohung erlässt. Geht es nach § 71 Abs. 5 AsylVfG
vor, bleibt es bei der Klagefrist nach § 74 Abs. 1 1. Hs. AsylVfG. Eilrechtsschutz ist in
diesem Fall nach § 123 VwGO zu beantragen.
4.
Formelle Voraussetzungen der Klageerhebung
a)
Formerfordernisse der Klageschrift
544
545
OVG NW, NJW 1996, 334 = AuAS 1995, 251 f.
BVerwG, NVwZ-RR 1995, 300 (301); offen gelassen Thür. OVG, AuAS 1997, 24.
126
Die Klage ist schriftlich oder zur Niederschrift des Urkundsbeamten der Geschäftsstelle bei
dem Verwaltungsgericht zu erheben (§ 81 Abs. 1 VwGO). Der Urkundsbeamte hat den
anwaltlich nicht vertretenen Asylkläger sachgerecht zu belehren und insbesondere auch auf
die Notwendigkeit mehrerer Klageerhebungen sowie gegebenenfalls auf die Erforderlichkeit
der Stellung eines Eilantrags nach § 36 Abs. 3 Satz 1 AsylVfG hinzuweisen. Die Klage muss
den Kläger, den Beklagten und den Gegenstand des Klagebegehrens bezeichnen (§ 82 Abs. 1
Satz 1 VwGO). Sie soll einen bestimmten Antrag enthalten (§ 82 Abs. 1 Satz 2 VwGO). Die
schriftliche Klage ist in deutscher Sprache abzufassen (§ 55 VwGO, § 184 GVG). Das gilt
auch für den der deutschen Sprache nicht mächtigen Asylsuchenden.546
Die Klageschrift muss vom Kläger oder dessen Verfahrensbevollmächtigten eigenhändig
unterschrieben sein. Ist die Unterschrift nicht einmal andeutungsweise erkennbar, wie z.B.
durch ein Handzeichen, ist das Erfordernis der Schriftform nicht gewahrt.547 Dem
Schriftformerfordernis genügt eine Unterschrift mittels Faksimile-Stempel nicht.548 Dem
Erfordernis der Schriftlichkeit kann jedoch auch ohne eigenhändige Namenszeichnung genügt
sein, wenn sich aus anderen Anhaltspunkten eine der Unterschrift vergleichbare Gewähr für
die Urheberschaft und den Rechtsverkehrswillen ergibt.549 Insoweit ist ein Handzeichen
ausreichend.550 Eine Heilung des Mangels der Unterschrift durch Vollziehung nach Ablauf
der Rechtsbehelfsfrist ist nicht möglich.551
Die Klage muss Kläger, Beklagten und Gegenstand des Klagebegehrens bezeichnen (§ 82
Abs. 1 Satz 1 VwGO). Zur ordnungsgemäßen Klageerhebung und zur Bezeichnung des
Klägers gehört grundsätzlich auch die Angabe der ladungsfähigen Adresse des Klägers.552
Demgegenüber ist anerkannt, dass die Berufungsschrift lediglich die Angabe enthalten muss,
für wen und gegen wen das Rechtsmittel eingelegt wird.553 Der Kläger muss jedoch nicht
ausdrücklich benannt werden. Es genügt, wenn sich aus der Berufungsschrift oder aus
anderen dem Berufungsgericht innerhalb der Rechtsmittelfrist vorgelegten Unterlagen eine
hinreichende Bestimmung des Klägers ergibt. Die Person des Berufungsführers muss mithin
innerhalb der Rechtsmittelfrist für das Gericht erkennbar werden.554
Die Klage soll einen bestimmten Antrag enthalten (§ 82 Abs. 1 Satz 2 VwGO). Beantragt der
Kläger die uneingeschränkte Aufhebung des angefochtenen Bescheides, stellt er indes
schriftsätzlich mit der Klageerhebung lediglich einen auf die Asylanerkennung gerichteten
Antrag und erst in der mündlichen Verhandlung den Verpflichtungsantrag nach § 60 Abs. 1
und § 60 Abs. 2 bis 7 AufenthG, so ist die Klage in Ansehung der in der mündlichen
Verhandlung gestellten Anträge nicht als verfristet anzusehen.555
b)
Anwaltliche Sorgfaltspflichten bei Klageerhebung durch Fax
546
BVerwG, NVwZ-RR 1995, 300 (301); offen gelassen Thür. OVG, AuAS 1997, 24.
EGH Hamm, BRAK-Mitt. 4/1990, 249.
548
VG Darmstadt, HessVGRspr. 1994, 6; 1994, 71; VG Wiesbaden, HessVGRspr. 1994, 7; 1995, 31 (32).
549
BVerwG, NVwZ 1989, 555 = NJW 1989, 1175; VGH BW, ESVGH 39, 320.
550
EGH Hamm, BRAK-Mitt. 4/1990, 249.
551
OVG NW, NVwZ 1991, 582.
552
Hess. VGH, NVwZ-RR 1996, 179 (180); OVG NW, NVwZ-RR 1994, 124 (125); 1997, 390; OVG
NW, AuAS 1998, 236 (237).
553
BGH, NJW 1994, 1879.
554
BGH, NJW 1994, 1879.
555
OVG Hamburg, NVwZ-Beil. 1998, 44 (45) = AuAS 1998, 115; zur Auslegung von Klageanträgen in
einem ähnlich gelagerten Fall s. BFH, NVwZ-RR 1998, 408.
547
127
Wird von der technischen Möglichkeit der Übermittlung durch Telefax Gebrauch gemacht
und der Originalschriftsatz als Briefsendung nachgesandt, begründet dies kein neues
selbständiges Verfahren, mit dem die gleiche Sache anderweitig anhängig wird. 556 Die
Zusendung des Originalschriftsatzes als Briefsendung mit den erforderlichen Ausfertigungen
ist vielmehr geboten. Darüber hinaus kann die durch Telefax übermittelte Klageschrift
unleserlich sein. Dies beeinträchtigt indes nicht die Wirksamkeit der Klageerhebung. Die
durch Telefax übermittelte Klageschrift kann durch Handzeichen unterzeichnet sein. Eine
Unterzeichnung mittels Faksimilestempel genügt nicht. Die mit einer vervielfältigten –
ursprünglich eigenhändigen – Unterschrift versehene Klageschrift eröffnet eine verlässliche
Überprüfung der Urheberschaft des Schriftstückes. Demgegenüber ermöglicht ein
Faksimilestempel Missbrauchsmöglichkeiten, so dass dies dem Erfordernis der Schriftlichkeit
nicht gerecht wird.557
Bedient sich der Rechtsanwalt zur Einlegung eines Rechtsbehelfs eines Telefaxgerätes, so
muss er die Möglichkeit einer Störung seines Gerätes bedenken. Notfalls hat er auf andere
Weise, etwa durch Benutzung des Telefaxgerätes eines anderen Rechtsanwaltes oder durch
Blitztelegramm, für den rechtzeitigen Eingang des Schriftsatzes Sorge zu tragen. Begründet
wird dies damit, dass den Absender die volle Beweislast dafür treffe, dass der Schriftsatz den
Empfänger erreiche.558 Demgegenüber beruft sich der BGH auf die Rechtsprechung des
BVerfG, wonach für die Rechtzeitigkeit des Eingangs bei Gericht allein entscheidend ist, dass
das Schriftstück innerhalb der Frist tatsächlich in die Verfügungsgewalt des Gerichts gelangt.
Etwaige Fristversäumnisse, die auf Verzögerungen der Entgegennahme der Sendung durch
das Gericht beruhen, dürfen danach dem Bürger nicht angelastet werden. Die Grenze des
Zumutbaren ist nach Ansicht des BVerfG überschritten, wenn die Verantwortung für Risiken
und Unsicherheiten bei der Entgegennahme rechtzeitig in den Gewahrsam des Gerichts
gelangter fristwahrender Schriftstücke auf den Bürger abgewälzt wird und die Ursache hierfür
allein in der Sphäre des Gerichts zu finden ist.559
Deshalb ist nach Ansicht des BGH von einem rechtzeitigen Eingang eines fristgebundenen
Schriftsatzes bei Gericht auszugehen, wenn dieser vollständig durch elektronische Signale
vom Sendegerät des Absenders zum Empfangsgerät des Gerichts übermittelt worden ist, dort
aber lediglich infolge technischer Störungen – etwa eines Papierstaus – nicht vollständig
fehlerfrei und unverstümmelt ausgedruckt worden ist, vorausgesetzt, sein Inhalt ist
einwandfrei ermittelbar, was durch Nachsendung des Originals des Schriftsatzes ermöglicht
wird. Etwas anders gilt nur, wenn ein Papierstau am Empfangsgerät dazu führt, dass die
Verbindung während der Übermittlung abbricht, sodass auch die vollständige
Signalübermittlung nicht stattfinden kann.560 Da von einem rechtzeitigen Eingang des
fristgebundenen Schriftsatzes für den Fall auszugehen ist, dass der Fehler in der Übermittlung
ausschließlich in der Sphäre des Gerichts liegt, bedarf es keiner Wiedereinsetzung. 561 Nur
wenn der technische Fehler während des Übermittlungsvorgangs auftritt und die Verbindung
abbricht, besteht Anlass, etwa durch Aufgabe eines Blitz-Telegramms, Beauftragung eines
556
Hess. VGH, NVwZ 1992, 1212.
557
VG Wiesbaden, NJW 1994, 403 = NVwZ 1994, 403 (LS).
558
OLG München, NJW 1991, 303; Hess. VGH, AuAS 1996, 46 (47); a.A. OVG Bautzen, NJW 1996,
2251.
559
560
561
BVerfGE 69, 381 (385 f.).
BGH, MDR 1995, 310.
So aber VGH BW, NJW 1994, 538.
128
privaten, überörtlichen Kurierdienstes562 der Benutzung eines anderen Telefaxgerätes den
Schriftsatz rechtzeitig dem Gericht zuzuleiten.
c)
Vorlage der Vollmacht
aa)
Anforderungen an die Vollmacht
§ 67 Abs. 3 Satz 1 VwGO bestimmt, dass der Bevollmächtigte eine schriftliche Vollmacht
einzureichen hat. Aus § 67 Abs. 3 Satz 2 1. Hs. VwGO folgt andererseits, dass die
Wirksamkeit der Klage nicht von dem gleichzeitigen Nachweis abhängig ist. Der Umstand
allein, dass eine Vollmacht weder zusammen mit dem Rechtsbehelf noch später nachgereicht
worden ist, berechtigt das Gericht noch nicht, den Rechtsbehelf nach Ablauf einer gewissen
Frist als unzulässig zurückzuweisen. Eine derartige Verfahrensweise verletzt das
verfassungsrechtlich verbürgte Recht auf Gehör563 Denn das Gericht darf keine
Überraschungsentscheidungen treffen.
Gerade im Hinblick auf die Möglichkeit einer Nachreichung der Vollmacht muss dem
Bevollmächtigten deshalb zu erkennen gegeben werden, dass die Vollmacht bisher nicht
vorgelegt wurde, dies jedoch zur Beurteilung der Zulässigkeit des Rechtsbehelfs für
erforderlich erachtet wird. Dazu ist im Allgemeinen ausreichend, dass die Prozessvollmacht
angefordert wird. Insbesondere bei rechtlich nicht vorgebildeten Bevollmächtigten kann es
sich empfehlen, entsprechend der Vorschrift des § 67 Abs. 3 Satz 2 2. Hs. VwGO eine Frist
zu setzen. Diese hat jedoch keine ausschließende Wirkung, sondern eine gesteigerte
Warnfunktion in dem Sinne, dass nach Fristablauf mit der Entscheidung über die Zulässigkeit
des Rechtsbehelfs nicht mehr zugewartet werden braucht.564 Legt der Prozessbevollmächtigte
jedoch auch nach wiederholter gerichtlicher Erinnerung keine Vollmacht vor und stellt sich
heraus, dass er den Rechtsbehelf lediglich fristwahrend im vermuteten Interesse des
Auftraggebers erhoben hat, ist der Rechtsbehelf nach dem BVerwG mit der Folge
abzuweisen, dass dem Prozessbevollmächtigten die Kosten des Verfahrens aufzuerlegen
sind.565
Die schriftliche Vollmacht muss wie eine Willenserklärung im Sinne des § 126 BGB vom
Auftraggeber unterzeichnet sein Im Rahmen dieser Vorschrift ist es anerkanntermaßen
unerheblich, in welcher Reihenfolge Text und Unterschrift gesetzt werden. Demgemäß sind
Blankounterschriften, denen erst später ein Text vorgestellt wird, nach allgemeiner Ansicht
formwirksam. Das Prozessrecht verbietet es daher nicht, dass der Auftraggeber seinem
Rechtsanwalt mehrere unterschriebene, im Übrigen aber unausgefüllte Vollmachtsformulare
übergibt und ihn ermächtigt, sie nach eigener Entscheidung von Fall zu Fall zu ergänzen –
erst dadurch entsteht die konkrete Prozessvollmacht – und zu verwerten.566 Auch eine bereits
vor Jahren erteilte Vollmacht bleibt unter diesen Voraussetzungen wirksam.567
bb)
Zustellung an den Prozessbevollmächtigten
562
Vgl. Hess. VGH, AuAS 1996, 46 (48).
BVerwG, InfAuslR 1985, 166; a. A. BFH, NVwZ-RR 2000, 263, Setzung einer Ausschlussfrist unmittelbar nach Klageeingang ist zulässig.
564
BVerwG, InfAuslR 1985, 166.
565
BVerwG, NJW 1960, 593; s. aber § 83b Abs. 1 AsylVfG.
563
566
567
BVerwG, InfAuslR 1983, 309.
BFH, NVwZ 1998, 662 (663).
129
Ist ein Bevollmächtigter für das Verfahren bestellt, sind Zustellungen oder Mitteilungen des
Gerichts an diesen zu richten (§ 67 Abs. 3 Satz 3 VwGO). Solange der Vollmachtsvertrag im
Innenverhältnis fortbesteht, findet § 67 Abs. 3 Satz 3 VwGO Anwendung. Besteht daher das
Auftragsverhältnis noch fort, weil der Kontakt des Rechtsanwaltes zum Auftraggeber
abgerissen ist und dieser daher im Innenverhältnis den Auftrag nicht kündigen kann, ist
gemäß § 67 Abs. 3 Satz 3 VwGO ungeachtet der Mandatsniederlegung nach wie vor an den
Verfahrensbevollmächtigten zuzustellen.568
Das Gericht kann nach dieser Rechtsprechung, etwa bei Kenntnis von dem unterbrochenen
Kontakt an den Rechtsanwalt, eine Betreibensaufforderung gemäß § 81 AsylVfG zustellen,
mit der Folge, dass nach Fristablauf die Klage mit allen für den Auftraggeber nachteiligen
Folgen als zurückgenommen gilt. Wer als Rechtsanwalt oder Rechtsanwältin dem Gericht
Mitteilung macht, dass der Kontakt zum Mandanten unterbrochen ist, muss diese prozessuale
Vorgehensweise bedenken. Vor einer entsprechenden Mitteilung an das Gericht sind daher
alle Möglichkeiten auszuschöpfen, um den Kontakt zum Mandanten wiederherzustellen. Dazu
gehören auch Anfragen bei der zuständigen Ausländerbehörde und bei Dritten. Andererseits
ist es unzumutbar, Akten über Jahre lediglich zu verwalten, wenn der Mandant jeglichen
Kontakt unterbrochen hat und auch keine Möglichkeiten erkennbar sind, diesen
wiederherzustellen.
Bei Zustellung an mehrere Prozessbevollmächtigte, beginnt die Rechtsmittelfrist mit der
ersten Zustellung zu laufen. Nach § 173 VwGO in Verb. mit § 84 Satz 1 ZPO sind mehrere
Bevollmächtigte eines Beteiligten berechtigt, sowohl gemeinschaftlich als auch einzeln den
Beteiligten zu vertreten. Bei der Bestellung mehrerer Prozessbevollmächtigter kann daher die
Zustellung an jeden von ihnen gemäß § 67 Abs. 3 Satz 3 VwGO, § 8 Abs. 4VwZG wirksam
bewirkt werden. Wird an jeden von ihnen zugestellt, ist die zeitlich erste Zustellung für den
Lauf der Frist für alle Prozessbevollmächtigten maßgebend, ohne dass es auf Kenntnis des
jeweils anderen Prozessbevollmächtigten von der weiteren Zustellung ankommt 569 Das
Gericht soll an den Verfahrensbevollmächtigten in Anerkennung der besonderen Stellung des
Rechtsanwaltes als Organ der Rechtspflege die Zustellung durch Empfangsbekenntnis (§ 5
Abs. 2 VwZG) vornehmen.570
cc)
Prozessuale Sorgfaltspflichten bei Doppelklage
Wechselt der Asylsuchende nach Zustellung den Rechtsanwalt und erhebt dieser die Klage,
wird häufig bereits durch den bisherigen Rechtsanwalt die Klage erhoben worden sein. In
Kooperation mit dem bisherigen Verfahrensbevollmächtigten, gegebenenfalls durch Anfrage
an das Verwaltungsgericht ist zu klären, welche Klage zuerst eingegangen ist und
anschließend die später erhobene Klage zurück zu nehmen. Denn der letzteren steht das
Prozozesshindernis der Rechtshängigkeit im Wege. Nimmt der frühere Bevollmächtigte die
Klage zurück, obwohl diese zuerst eingegangen ist, erwächst der Bescheid in Bestandskraft,
de zweite Klage wird als unzulässig zurück gewiesen. Allerdings kann ihm bereits vor
Klageerhebung die Vollmacht entzogen worden sein. In diesem Fall ist die von ihm erhobene
Klage mangels Nachweises einer Vollmacht unzulässig.
dd)
Zustellung durch Empfagsbekenntnis
568
BVerwG, InfAuslR 1984, 90; BVerwG, NVwZ 1985, 337; Hess. VGH, NVwZ 1998, 1313 (1314).
BVerwG, AuAS 1998, 260.
570
Thür.OVG, AuAS 1999, 195 (196); OVG MV, NVwZ 2002, 113, zu den Voraussetzungen der
Zustellung durch Empfangsbekenntnis
569
130
Das Empfangsbekenntnis erbringt als öffentliche Urkunde vollen Beweis dafür, dass der darin
vom Empfänger angegebene Zustellungszeitpunkt der Wirklichkeit entspricht. Der
Gesetzgeber vertraut gegenüber den in § 5 Abs. 2 VwZG bezeichneten Personen darauf, dass
Urkunden, die einen amtlichen Vorgang betreffen, mit besonderer Sorgfalt behandelt werden.
Deshalb treffen diese Personen bei der Zustellung durch Empfangsbekenntnis eigene
Sorgfaltspflichten. Die Zustellung ist in diesem Fall erst dann bewirkt, wenn der als Adressat
bezeichnete Rechtsanwalt das zuzustellende Schriftstück persönlich als zugestellt annimmt.571
Will der Rechtsanwalt diese Urkunde nicht gegen sich gelten lassen, muss er sie entkräften.
An den Gegenbeweis sind allerdings strenge Anforderungen zu stellen.572 Hierzu ist die
Beweiswirkung des Empfangsbekenntnisses im Wege eines Gegenbeweises vollständig
auszuräumen. Jede Möglichkeit der Richtigkeit der Empfangsbestätigung muss
ausgeschlossen werden.573 Der Gegenbeweis wird noch nicht dadurch geführt, dass nur die
Möglichkeit eines vielleicht naheliegenden anderen Geschehensablaufs dargetan wird. Mit
einem bloßen Hinweis auf einen Schreibfehler oder ein Schreibversehen wird der
Urkundsbeweis nicht entkräftet.
Der Eingangsstempel hat keine nach außen gerichtete Funktion, sondern dokumentiert
lediglich einen innerbetrieblichen Ablauf in der Anwaltkanzlei. Maßgebend ist deshalb für
den Fristbeginn der vom Rechtsanwalt auf dem Empfangsbekenntnis notierte Zeitpunkt der
persönlichen Kenntnisnahme.574 Andererseits ist die Zustellung nicht deshalb unwirksam,
weil auf dem Empfangsbekenntnis das Datum fehlt.575
5.
Rechtsschutzbedürfnis
a)
Der untergetauchte Kläger
Bei einem beharrlichen Verschweigen des Aufenthaltsortes des Klägers wird wegen der damit
einhergehenden groben Verletzung der Mitwirkungspflichten das Rechtsschutzinteresse
verneint. Vorauszusetzen ist indes ein beharrliches Verschweigen. Bei einmaligem Verstoß
gegen die Verpflichtung zur Mitteilung des Aufenthaltsortes wird dies nicht angenommen.576
Zweifel am Wegfall des Rechtsschutzbedürfnisses sind mithin erst dann begründet, wenn der
Kläger sich beharrlich weigert, seine Adresse bekannt zu geben. Das Verwaltungsgericht
muss wiederholt aufgefordert haben, eine ladungsfähige Adresse mitzuteilen.577 Wird dem
Verwaltungsgericht bekannt, dass der Kläger nach „unbekannt abgemeldet“ ist, bedarf es
ebenfalls einer vorherigen Aufforderung, eine ladungsfähige Adresse mitzuteilen.578 Häufig
erfolgen derartige Abmeldungen ohne Wissen des Klägers oder der Aufsichtsperson in der
Gemeinschaftsunterkunft durch den Hotelbesitzer oder Vermieter.
Tritt der Asylsuchende im Asylverfahren unter falschem Namen auf, so wird nach der
Rechtsprechung der Bescheid auch dann wirksam zugestellt, wenn er an den Kläger unter
seinem falschen Namen gerichtet wird. Voraussetzung für eine wirksame Bekanntgabe nach
571
Thür.OVG, AuAS 1999, 195 (196).
BVerfG (Kammer), NJW 2001, 1563 = NVwZ 2001, 796.
573
BVerfG (Kammer), NJW 2001, 1563 = NVwZ 2001, 796; Thür.OVG, AuAS 1999, 195 (196).
574
Thür. OVG, AuAS 1999, 195 (196).
575
OVG Sachsen-Anhalt, NJW 1998, 2993 = NVwZ 1998, 1191.
576
Hess. VGH, Hess. VGRspr. 1988, 41; 1988, 47; s. auch BVerfG (Kammer), AuAS 1996, 31, zur
Zurückweisung des einstweiligen Anordnungsantrags eines im Kirchenasyl „untergetauchten Asylsuchenden“.
577
Hess. VGH, Hess. VGRspr. 1988, 41; Hess. VGH, InfAuslR 1990, 291 (292).
578
Hess. VGH, EZAR 630 Nr. 9, S. 2; BayVGH, AuAS 1999, 98.
572
131
§ 43 Abs. 1 Satz 1 VwVfG sei lediglich, dass der Kläger als Adressat wirklich existiere, nicht
hingegen, dass er unter falschem Namen aufgetreten sei. Denn dies berühre seine tatsächliche
Identität nicht. Auf diese allein komme es jedoch an.579 Dementsprechend kann der Kläger
unter dem Namen, den er dem Bundesamt angegeben hat und unter dem der Bescheid an ihn
zugestellt worden ist, Klage erheben. Eine ganz andere Frage betrifft die Notwendigkeit, zur
Durchsetzung des Klageanspruchs die Identitätstäuschung im Rahmen der Klagebegründung
b)
Der ausgereiste Kläger
Zweifel am Fortbestand des Rechtsschutzinteresses bestehen, wenn der Kläger ausgereist
ist.580 Betreibt er nach Ausreise das Verfahren ordnungsgemäß weiter und bekundet unter
Bezeichnung nachvollziehbarer Gründe sein fortbestehendes Interesse an der Erlangung eines
positiven Verpflichtungsurteils, kann das Rechtsschutzbedürfnis hingegen nicht verneint
werden. So lange die dem Urteil eigenen Wirkungen rechtlich möglich und auch mithilfe des
Gerichts, eben durch gerichtliche Entscheidung, erreichbar sind, kann ein objektives Interesse
am Ergehen einer richterlichen Entscheidung grundsätzlich nicht verneint werden.581
6.
Begründung der Klage
a)
Monatsfrist (§ 74 Abs. 2 Satz 1 AsylVfG)
Nach § 74 Abs. 2 Satz 1 AsylVfG sind die zur Begründung dienenden Tatsachen und
Beweismittel binnen einer Frist von einem Monat nach Zustellung der Entscheidung
anzugeben. Die Begründungsfrist knüpft damit nicht an die Klagefrist des § 74 Abs. 1
AsylVfG an. Vielmehr beginnen mit Zustellung Rechtsbehelfs- und Begründungsfrist
einheitlich zu laufen. Während die Klagefrist nach Ablauf von zwei Wochen (§ 74 Abs. 1
1. Hs. AsylVfG) bzw. von einer Woche (§ 74 Abs. 1 2. Hs. AsylVfG) nach Zustellung endet,
läuft die Begründungsfrist nach Ablauf eines Monats nach Zustellung einheitlich für alle
Klagen – auch für die im Zusammenhang mit einem Eilrechtsschutzantrag nach § 36 Abs. 3
Satz 1 AsylVfG erhobene Klage – ab (§ 74 Abs. 2 Satz 1 AsylVfG).
b)
Fakultative Präklusion (§ 74 Abs. 2 Satz 2 AsylVfG in Verb. mit § 87b Abs. 3 VwGO)
Das Verwaltungsgericht kann die unter Verletzung der fristgebundenen Begründungspflicht
nach § 74 Abs. 2 Satz 1 AsylVfG verspätet vorgebrachte Erklärungen und Beweismittel nach
§ 87b Abs. 3 Satz 1 VwGO unter den dort bezeichneten Voraussetzungen zurückweisen und
ohne weitere Ermittlungen entscheiden. Die fakultative Präklusion findet jedoch keine
Anwendung, wenn es mit geringem Aufwand möglich ist, den Sachverhalt auch ohne
Mitwirkung der Beteiligten zu ermitteln (§ 87 Abs. 3 Satz 3 VwGO). Die Voraussetzungen
für die Präklusion müssen kumulativ vorliegen, d. h., alle drei Voraussetzungen müssen
zusammen erfüllt sein.582 Daher tritt keine Präklusion ein, wenn das Gericht bei rechtzeitigem
Vortrag auch nicht schneller entschieden hätte.
579
580
BayVGH, EZAR 210 Nr. 12.
BVerwG, InfAuslR 1985, 278 (279) = EZAR 630 Nr. 19; BVerwG, Buchholz 402.25 § 33 AsylVfG
Nr. 10.
581
BVerwGE 81, 164 (166) = EZAR 205 Nr. 10 = NVwZ 1989, 673; s. auch BVerfGE 56, 216 (243 f.) =
DVBl. 1981, 623 = DÖV 1981, 453 = NJW 1981, 1436; BVerfGE 67, 43 (57) = NJW 1984, 2028 = InfAuslR
1984, 216; ebenso OVG Rh-Pf, NVwZ-Beil. 1998, 60 = AuAS 1998, 58.
582
VGH BW, EZAR 631 Nr. 37 = NVwZ-Beil. 1995, 44.
132
In Anbetracht der nach wie vor erheblichen Bearbeitungszeiten der Gerichte wird im Übrigen
in aller Regel die Zulassung des verspäteten Sachvorbringens keine verfahrensverzögernde
Wirkung haben. Die Gerichte behelfen sich daher auch mit prozessleitenden Anordnungen
nach § 87b Abs. 2 VwGO insbesondere zur Vorbereitung auf die mündliche Verhandlung in
den Fällen, in denen erst geraume Zeit nach Ablauf der Begründungsfrist nach § 74 Abs. 2
Satz 1 AsylVfG Termin zur mündlichen Verhandlung bestimmt wird. Die Zulässigkeit von
Anordnungen nach § 87b Abs. 2 VwGO neben § 87b Abs. 3 VwGO wird allgemein
anerkannt. Die Fristsetzung muss allerdings vom Vorsitzenden, dem Berichterstatter oder dem
Einzelrichter verfügt und unterzeichnet werden. Im Hinblick auf die erhebliche Tragweite
bedarf es der ordnungsgemäßen Unterzeichnung und Zustellung einer solchen Verfügung. 583
Darüber hinaus muss die Verzögerung erheblich sein, so dass nur geringfügige
Fristüberschreitungen außer Betracht zu bleiben haben. Da die Frage, ob die Zulassung des
verspäteten Sachvortrags die Erledigung des Rechtsstreits verzögern würde, nach objektiven
Gesichtspunkten zu beurteilen ist, liegt keine Verzögerung vor, wenn das Verfahren auch aus
anderen Gründen nicht spruchreif ist, etwa weil ohnehin noch zur Aufklärung genereller
Tatsachenfragen weitere Gutachten einzuholen sind, oder wenn die noch offenen Fragen
unschwer und ohne unangemessenen Zeitaufwand auch in der mündlichen Verhandlung
geklärt werden können.584
Nach § 87b Abs. 3 Satz 1 VwGO kann das Gericht unter den Voraussetzungen dieser
Vorschrift verspätet vorgetragene Tatsachen und Beweismittel zurückweisen. Von vornherein
unzulässig ist die Anwendung dieser Sanktionsnorm, wenn es sich bei den schriftsätzlich oder
in der mündlichen Verhandlung abgegebenen Erklärungen gar nicht um den Vortrag von
Tatsachen im Sinne des § 74 Abs. 2 Satz 1 AsylVfG, sondern lediglich um die nachträgliche
Erläuterung und Ergänzung solcher Tatsachen handelt, die bereits in der Klageschrift
innerhalb der Begründungsfrist durch Wiederholung der Sachangaben aus dem
Verwaltungsverfahren angegeben wurden.585 § 74 Abs. 2 Satz 1 AsylVfG begründet keine
Pflicht des Klägers zu einer in jeder Hinsicht erschöpfenden Klagebegründung, sondern
kennzeichnet lediglich die Grenze der richterlichen Pflicht zur Berücksichtigung des
Tatsachenvortrags. Erläuterungen, Ergänzungen und Vertiefungen eines innerhalb der
Begründungsfrist substanziierten Tatsachenvortrags sind deshalb grundsätzlich bis zur
mündlichen Verhandlung zulässig.586
Ebenso können neue Tatsachen und Beweismittel uneingeschränkt und ohne dass eine Frist zu
beachten wäre, nach § 74 Abs. 2 Satz 4 AsylVfG vorgebracht werden. „Neu“ sind Umstände
und Beweismittel, wenn sie erst nach Ablauf der Begründungsfrist entstanden sind (z.B.
behördliche Nachforschungen im Herkunftsstaat, exilpolitische Aktivitäten) oder wenn sie
erst später bekannt werden. Der volle Nachweis für die Behauptung, dass die Tatsachen oder
Beweismittel erst jetzt bekannt geworden sind, muss nicht erbracht werden. Insoweit genügt
Glaubhaftmachung.
583
BVerwG, NJW 1994, 746 = NVwZ 1994, 482 (LS).
584
BVerfGE 81, 264 (273 f.) = NJW 1990, 2373; BVerfG, NJW 1989, 706; BGH, NJW 1984, 1964; 1987,
260; 1991, 1181; s. auch BVerwG, NJW 1994, 673
585
586
VGH BW, EZAR 631 Nr. 37 = NVwZ-Beil. 1995, 44.
VGH BW, EZAR 631 Nr. 37.
133
c)
Umfang des Klagebegründungspflicht
Wohl in stillschweigender Anknüpfung an die Rechtsprechung des BVerwG zum Umfang der
Darlegungslast in Asylverfahren differenziert die Gesetzesbegründung zwischen den
Mitwirkungspflichten des Asylsuchenden einerseits und den aus dem Untersuchungsgrundsatz
(§ 86 Abs. 1 VwGO) folgenden gerichtlichen Verpflichtungen andererseits. Der
Asylsuchende berufe sich regelmäßig auf Umstände, die in seinem persönlichen
Lebensbereich lägen und daher nur von ihm selbst vorgetragen werden könnten. Auch die
Beweismittel, die diese Umstände belegen könnten (insbesondere Zeugen und Urkunden),
könne vielfach nur der Kläger selbst benennen. Komme er seiner hieraus folgenden
Mitwirkungspflicht nicht oder nur unzureichend nach, führe dies zu erheblichen
Verfahrensverzögerungen. Dem solle durch die zwingende Begründungsfrist in § 74 Abs. 2
Satz 1 AsylVfG Rechnung getragen werden.587
Unberührt von dieser Darlegungspflicht bleibe der Untersuchungsgrundsatz nach § 86 Abs. 1
VwGO. Deshalb müssten die Gerichte beispielsweise Ermittlungen über die allgemeine
politische Lage im Herkunftsland des Asylklägers, soweit erforderlich, auch weiterhin von
Amts wegen vornehmen. Als generelle Faustregel zur Handhabung der fristgebundenen
Begründungspflicht wird man daher sagen können, dass innerhalb der Begründungsfrist
sämtliche den individuellen Lebensbereich des Klägers betreffende Tatsachen und
Beweismittel anzugeben sind. Dies erfordert insbesondere eine konkrete und detaillierte
Auseinandersetzung im Einzelnen mit den im angefochtenen Asylbescheid erhobenen
Bedenken gegen die Glaubhaftigkeit der Angaben innerhalb der Begründungsfrist. Sie sind
innerhalb dieser Frist nach Möglichkeit erschöpfend auszuräumen.
Ausreichend ist aber, dass dem Grunde nach Tatsachen und Umstände vorgetragen werden,
die geeignet sind, Glaubhaftigkeitsbedenken auszuräumen. Ergänzendes Sachvorbringen nach
Fristablauf, das sich auf dem Grunde nach bereits vorgetragene Tatsachen bezieht, bleibt
rechtlich zulässig. Das Vorbringen neuer Tatsachen und Beweismittel bleibt unberührt (§ 74
Abs. 2 Satz 4 AsylVfG). Der Anknüpfungszeitpunkt hierfür ist das Fristende nach § 74 Abs. 2
Satz 1 AsylVfG. Tatsachen und Beweismittel, die nach dieser Frist bekannt werden, können
nachträglich vorgebracht werden und unterliegen keiner besonderen Fristbestimmung. Spät
vorgetragene neue Tatsachen können aber Zweifel an deren Glaubhaftigkeit aufkommen
lasssen.
Mit Beweismitteln sind in erster Linie vorhandene Urkunden und Zeugen gemeint, die nur der
Kläger selbst benennen kann. Es genügt insoweit deren „Angabe“, d. h. die Vorlage der
Urkunde oder Benennung des Zeugen. Die Präzisierung des Beweisthemas wie auch die
Angabe der ladungsfähigen Anschrift des benannten Zeugen können nachgeholt werden.
Vielfach wird der Kläger auch erst nach Ablauf der Begründungsfrist Kenntnis von
vorhandenen Zeugen erlangen.
Tatsächliche Ausführungen zur allgemeinen politischen und rechtlichen Situation im
Herkunftsland des Klägers bleiben jederzeit möglich. Dies trifft auch auf die zur Aufklärung
der allgemeinen Situation im Herkunftsland dienenden Beweismittel zu. Insoweit ist das
Gericht nach § 86 Abs. 1 VwGO ohnehin gehalten, von Amts wegen jede mögliche
Aufklärung des Sachverhalts bis zur Grenze des Zumutbaren zu versuchen, sofern dies für die
Entscheidung des Verwaltungsstreitverfahrens von Bedeutung ist. Rechtsausführungen sind
ebenfalls jederzeit möglich. Denn das Gericht hat über das Klagebegehren nach seiner
587
BT-Drs. 12/2062, S. 40.
134
eigenen Rechtsauffassung zu entscheiden. Rechtsausführungen des Klägers haben daher
lediglich anregende Funktion bzw. bereiten das Rechtsgespräch in der mündlichen
Verhandlung vor. Dem entspricht es, dass sie jederzeit vorgetragen werden können.
Der Umfang des fristgebundenen Begründungserfordernisses wird also durch die den Kläger
treffende Darlegungspflicht bestimmt. Der Asylsuchende braucht nur in Bezug auf die in
seine eigene Sphäre fallenden Ereignisse und persönlichen Erlebnisse eine in sich stimmige
und widerspruchsfreie Schilderung zu geben, die geeignet ist, seinen Anspruch lückenlos zu
tragen. Hinsichtlich der allgemeinen Umstände ist ein Asylsuchender oft in einer schwierigen
Lage. Denn seine eigenen Kenntnisse und Erfahrungen sind häufig auf einen engeren
Lebenskreis begrenzt und liegen zudem stets einige Zeit zurück. Daher würde seine
Mitwirkungspflicht überdehnt, wollte man auch insofern einen Tatsachenvortrag verlangen,
der seinen Anspruch lückenlos zu tragen vermöchte und im Sinne der zivilprozessualen
Verhandlungsmaxime schlüssig zu sein hätte. Insofern muss es genügen, um das Gericht zu
Ermittlungen zu veranlassen, wenn sich aus den vom Kläger vorgetragenen Tatsachen – ihre
Wahrheit unterstellt – die nicht entfernt liegende Möglichkeit ergibt, dass ihm bei Rückkehr
politische Verfolgung droht.588
Der Inhalt der fristgebundenen Begründungspflicht ist damit nach Maßgabe dieser Grundsätze
zu bestimmen. Innerhalb der Begründungsfrist sind vom Kläger sämtliche in seine
persönliche Erlebnissphäre fallenden Ereignisse und Vorkommnisse, die Anlass zur Flucht
gegeben hatten oder sich auf Aktivitäten im Bundesgebiet beziehen, erschöpfend und
detailliert darzulegen. Da im angefochtenen Asylbescheid häufig eine Reihe von Einwänden
gegen die persönliche Glaubwürdigkeit bzw. die Glaubhaftigkeit der Sachangaben erhoben
werden, ist eine konkrete Auseinandersetzung mit diesen nach Maßgabe der genannten
Grundsätze erforderlich. Häufig werden Glaubhaftigkeitsbedenken auch aus Erkenntnissen
zur allgemeinen Situation im Herkunftsland abgeleitet. Hier reicht es aus, wenn der Kläger
substanziiert den Hergang der Ereignisse darlegt, so wie er ihn erlebt hat. Ist dieses
Sachvorbringen in sich schlüssig, kann nicht ohne weiteres davon ausgegangen werden, dass
die vom Bundesamt verwertete Erkenntnisquelle die ihr beigemessene Aussagekraft hat.
Erforderlichenfalls ist von Amts wegen aus Anlass des Sachvortrags weiter aufzuklären oder
ist zu diesem Zweck Beweisantrag zu stellen.
d)
Klagearten im Asylprozess
aa)
Verpflichtungsklage auf Asylanerkennung und Zuerkennung der
Flüchtlingseigenschaft
Wird der nach § 13 Abs. 1 AsylVfG gestellte Antrag auf Asylanerkennung und auf
Feststellung der Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG abgelehnt, ist
Verpflichtungsklage zu erheben.589 Diese richtet sich gegen die Bundesrepublik Deutschland,
endvertreten durch den Präsidenten des Bundesamtes bzw. den Leiter der zuständigen
Außenstelle des Bundesamtes. Der Klageantrag geht dahin, die Beklagte zu verpflichten, den
Kläger als Asylberechtigten anzuerkennen sowie ihm die Flüchtlingseigenschaft
zuzuerkennen (§ 3 Abs. 4 AsylVfG).
Gegen die Ablehnung der Gewährung von Familienasyl bzw. von Familienflüchtlingsschutz
ist ebenfalls Verpflichtungsklage auf Gewährung der Asylberechtigung nach § 26 AsylVfG
bzw. des internationalen Schutzes nach § 26 Abs. 4 AsylVfG zu erheben.
588
589
BVerwG, InfAuslR 1981, 156; 1983, 76; BVerwG, DÖV 1983, 207; BVerwG, BayVBl. 1983, 507.
BVerfGE 54, 341 (360) = EZAR 200 Nr. 1 = NJW 1980, 2641; BVerwG, NVwZ 1982, 630.
135
bb)
Verpflichtungsklage im Asylvolgeantragsverfahren
Im Asylfolgeantragsverfahren ergibt sich aus § 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO die gerichtliche
Verpflichtung, die Sache spruchreif zu machen. Dies schließt es aus, das Bundesamt lediglich
zur Durchführung eines Asylverfahrens zu verpflichten (vgl. § 71 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG).
Vielmehr ist auch im Asylfolgeantragsverfahren auf die Ablehnung des Bundesamtes, ein
weiteres Verfahren einzuleiten, der Klageantrag auf die Verpflichtung zur Gewährung der
Asylberechtigung und Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft zu richten.590 Streitgegenstand
im Asylfolgeantragsverfahren ist damit die sachliche Ablehnung des Asylantrags. Auf eine
Verpflichtung des Bundesamtes gerichtete Klagen, das Verfahren durchzuführen, sind
sachdienlich dahin auszulegen, dass das Bundesamt verpflichtet wird, die Asylberechtigung
und die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nach § 3 Abs. 4 AsylVfG zu gewähren.
Da im Asylfolgeantragsverfahren in aller Regel Nachfluchtgründe wegen exilpolitischer
Aktivitäten (§ 51 Abs. 1 Nr. 1 VwVfG) geltend gemacht werden, kann die Klage auch von
vornherein auf den Flüchtlingsschutz beschränkt werden. Etwas anderes mag im Falle
objektiver Nachfluchtgründe oder bei der Berufung auf neue Beweismittel für alte Tatsachen
(§ 51 Abs. 1 Nr. 2 VwVfG) gelten.
cc)
Untätigkeitsklage (§ 75 VwGO)
Die Verpflichtungsklage kann auch in Form der Untätigkeitsklage nach § 75 VwGO erhoben
werden.591 Die Rechtsprechung war in Ansehung der erforderlichen Voraussetzungen bislang
zurückhaltend. Bei der Beurteilung der Zulässigkeit der Untätigkeitsklage kommt es auf die
„zureichenden Gründe“ an, die es rechtfertigen können, dass das Bundesamt nicht in
angemessener Frist die Sachentscheidung treffen kann. Dabei wurden früher die Überlastung
des Bundesamtes sowie die Besonderheiten des Rechtsgebietes besonders berücksichtigt.592
Die Untätigkeitsklage kann nach Ablauf von drei Monaten nach Antragstellung erhoben
werden (§ 75 Satz 2 VwGO). Maßgebend für die Zulässigkeit der Klage ist jedoch nicht der
Zeitpunkt der Klageerhebung, sondern der der gerichtlichen Entscheidung. In Asylverfahren
kann angesichts der Besonderheiten dieses Rechtsgebietes sicherlich nicht die Drei-MonatsFrist des § 75 Satz 2 VwGO maßgebend sein. Insoweit dürften die Verwaltungsgerichte auch
auf die Sechs-Monats-Frist des § 24 Abs. 4 AsylVfG verweisen. Ob „zureichende Gründe“
für die Verzögerung vorliegen, ist stets anhand der erkennbaren Umstände des Einzelfalls zu
beurteilen. Reagiert das Bundesamt nach Ablauf der Drei-Monats-Frist auf wiederholte
Erinnerungen überhaupt nicht oder nur ausweichend, ist die Verpflichtungsklage zulässig.
Vereinzelt wird aus dem Grundsatz des effektiven und damit auch unverzüglichen
Rechtsschutzes abgeleitet, dass das Verwaltungsgericht auch ohne mündliche Verhandlung
der Verpflichtungsklage stattgeben könne, wenn die für die Schutzgewährung sprechenden
590
BVerwGE 106, 171 (172 f.) = NVwZ 1998, 861 (862) = EZAR 631 Nr. 45 = AuAS 1998, 149; a. A.
BayVGH, NVwZ-Beil. 1997, 75; BayVGH, EZAR 212 Nr. 9; BayVGH, EZAR 630 Nr. 32; OVG NW, NVwZRR 1996, 549; OVG NW, NVwZ-Beil. 1997, 77 (79); OVG SH, Beschl. v. 7.6.1995 – 4 L 132/95; VG Freiburg,
AuAS 1996, 90 (91); VG Berlin, NVwZ-Beil. 1996, 96 = AuAS 1996, 225; VG Gießen, NVwZ-Beil. 1998, 62
591
BVerwGE 106, 171 (172 f.) = NVwZ 1998, 861 (862) = EZAR 631 Nr. 45 = AuAS 1998, 149; a. A.
BayVGH, NVwZ-Beil. 1997, 75; BayVGH, EZAR 212 Nr. 9; BayVGH, EZAR 630 Nr. 32; OVG NW, NVwZRR 1996, 549; OVG NW, NVwZ-Beil. 1997, 77 (79); OVG SH, Beschl. v. 7.6.1995 – 4 L 132/95; VG Freiburg,
AuAS 1996, 90 (91); VG Berlin, NVwZ-Beil. 1996, 96 = AuAS 1996, 225; VG Gießen, NVwZ-Beil. 1998, 62.
592
VG Aachen, InfAuslR 1995, 71.
136
Gründe offensichtlich seien.593 Erlässt das Bundesamt nach Erhebung der Untätigkeitsklage
einen ablehnenden Asylbescheid, ist hiergegen im anhängigen Verfahren Verpflichtungsklage
zu erheben
dd)
Verpflichtungsklage auf Gewährung subsidiären Schutzes
Verneint das Bundesamt das Vorliegen von Abschiebungshindernissen nach § 60 Abs. 2 bis 5,
7 AufenthG, ist Verpflichtungsklage mit dem Inhalt zu erheben, die Bundesrepublik
Deutschland zu verpflichten festzustellen, dass Abschiebungshindernisse nach § 60 Abs. 2 bis
5, 7 AufenthG in der Person des Klägers vorliegen. Der Klageantrag sollte zunächst den
gemeinschaftsrechtlichen subsidiären Schutz nach § 60 Abs. 2, 3 und 7 Satz 2 AufenthG (Art.
15 RL 2004/83/EG) bezeichnen, weil damit ein gegenüber dem nationalen subsidiären Schutz
(§ 60 Abs. 5, 7 Satz 1 AufenthG) rechtlich selbständiger und vorrangiger Anspruch geltend
gemacht wird.594
Der Verpflichtungsantrag auf Gewährung des gemeinschaftsrechtlichen subsidiären
Schutzstatus, ist hilfsweise zu stellen, wenn mit der Verpflichtungsklage zugleich die
Asylanerkennung und die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft begehrt werden. Ein
weiterer hierzu hilfsweise Klageantrag ist hinsichtlich des nationalen subsidiären Schutzes zu
empfehlen. In der Rechtsprechung ist seit langem anerkannt, dass es auch nach § 44 VwGO
zulässig ist, mehrere Klagebegehren nicht nur kumulativ, sondern auch eventualiter
(hilfsweise) in der Weise anhängig zu machen, dass das Verwaltungsgericht unter der
auflösenden Bedingung eines Erfolges des Hauptantrags über den Hilfsantrag zu entscheiden
hat. Dies hat zur Folge, dass ein Hilfsantrag, über den die Vorinstanz nicht zu entscheiden
brauchte, weil sie dem Hauptantrag entsprochen hat, durch das Rechtsmittel des Beklagten
gegen seine Verurteilung nach dem Hauptantrag ebenfalls und automatisch in der
Rechtsmittelinstanz anfällt.595
Musterklage: Asylanerkennung, Flüchtlingsschutz, subsidiärer Schutzstatus
An das
Verwaltungsgericht
Verpflichtungsklage
der angolanischen Staatsangehörigen
– Klägerin –
gegen
die Bundesrepublik Deutschland, vertreten durch den Leiter der Außenstelle des Bundesamtes
für Migration und Flüchtlinge
– Beklagte –
wegen Asylrecht und Flüchtlingsschutz
Unter Vollmachtsvorlage erhebe ich Klage und beantrage:
Die beklagte Bundesrepublik Deutschland wird unter Aufhebung des Bescheides des
Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom .., zugestellt am.. , verpflichtet
festzustellen, dass die Kläger Asylberechtigte sind und ihnen die Flüchtlingseigenschaft
nach § 3 Abs. 4 AsylVfG zuzuerkennen;
hilfsweise:
593
594
595
VG Aachen, InfAuslR 1996, 237, Gefährdung gebildeter Frauen in Afghanistan.
BVerwG, InfAuslR 2008, 474 (475).
BVerwGE 104, 260 (263) = InfAuslR 1997, 420 (421) = NVwZ 1997, 1132 = AuAS 1997, 250.
137
ihnen den subsidiären Schutzstatus nach § 60 Abs. 2, 3 und 7 Satz 2 AufenthG
zuzuerkennen;
hilfsweise ihnen den subsidiären Schutzstatus nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 AufenthG
zuzuerkennen.
5.
Anfechtungsklage gegen die Abschiebungsandrohung
Gegen die Abschiebungsandrohung nach § 34 und § 35 AsylVfG ist Anfechtungsklage zu
erheben. Diese richtet sich gegen die Bundesrepublik Deutschland, da das Bundesamt die
Abschiebungsandrohung erlässt. Nach § 34 Abs. 2 AsylVfG soll die Abschiebungsandrohung
mit der Sachentscheidung nach § 31 AsylVfG verbunden werden. Dies ist heute in aller Regel
der Fall. Eines ausdrücklichen Aufhebungsantrags bedarf es nicht, wenn im Hinblick auf die
verweigerte Asylanerkennung und die gleichfalls versagte Zuerkennung der
Flüchtlingseigenschaft Verpflichtungsklage erhoben wird. Es reicht aus, wenn zusammen mit
den Verpflichtungsanträgen die Aufhebung des belastenden Bescheides des Bundesamtes
beantragt wird. Damit ist klargestellt, dass der Klageantrag neben dem mit der
Verpflichtungsklage verfolgten Rechtsschutzziel nicht nur auf die Aufhebung der Ablehnung
des Asylantrags (§ 13 Abs. 1 AsylVfG), sondern auch auf die Beseitigung der
Abschiebungsandrohung zielt.
ee)
Anfechtungsklage gegen Widerruf und Rücknahme
(1)
Allgemeines
Widerruf und Rücknahme sind Streitigkeiten nach dem AsylVfG (§ 74 Abs. 1 1. Hs.
AsylVfG). Gegen diese Maßnahmen kann Anfechtungsklage erhoben werden. Klagegegner ist
die Bundesrepublik Deutschland, endvertreten durch den Leiter des Bundesamtes (§ 73 Abs. 4
Satz 1 AsylVfG). Voraussetzung für die Aufhebung des Widerrufs- oder
Rücknahmebescheides ist, dass der Kläger durch einen diesem Bescheid anhaftenden
Rechtsfehler in seinen Rechten verletzt ist.596
(2)
Anordnung der sofortigen Vollziehung
Nach § 75 Satz 2 AsylVfG hat die Anfechtungsklage gegen Widerruf oder Rücknahme kraft
Gesetzes keine aufschiebende Wirkung, wenn der asylrechtliche Statusbescheid wegen
nachträglichen Eintritts eines Ausschlussgrundes (§ 3 Abs. 2 AsylVfG, § 60 Abs. 8 Satz1 1
AufenthG) aufgehoben wird. Es handelt sich damit um einen Fall nach § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr.
3 VwGO, in dem durch Bundesgesetz bestimmt wird, dass die aufschiebende Wirkung der
Anfechtungsklage entfällt. Nach § 75 Satz 3 AsylVfG kann das Bundesamt darüber hinaus
auch nach § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 4 VwGO in anderen Fällen im Einzelfall anordnen, dass die
Anfechtungsklage keine aufschiebende Wirkung entfaltet. Die Qualifikationsrichtlinie regelt
in Art. 11 und 14 die materiellen Kriterien für Aufhebungsentscheidungen. Die
Verfahrensrichtlinie regelt in Art. 39 III abschließend, unter welchen Voraussetzungen die
Mitgliedstaaten bestimmen dürfen, dass einer Maßnahme im Rahmen eines Asylverfahrens
keine aufschiebende Wirkung zukommt.
Durch die Anordnung der sofortigen Vollziehung des Aufhebungsbescheides, sei es kraft
Gesetzes (§ 75 Satz 2 AsylVfG), sei es im Einzelfall (§ 75 Satz 3 AsylVfG), sollen zügig die
Voraussetzungen dafür geschaffen werden, den Aufenthalt des Betroffenen zu beenden.
596
BVerwG, NVwZ-RR 1997, 741 = EZAR 214 Nr. 7 = AuAS 1997, 240 (LS).
138
Während im Regelfall aufenthaltsbeendende Maßnahmen erst nach dem Eintritt der
Unanfechtbarkeit des asylrechtlichen Aufhebungsbescheides zulässig sind,597 kann die
Ausländerbehörde nunmehr bereits nach Bekanntgabe des Widerrufsbescheides den
aufenthaltsrechtlichen Widerruf nach § 52 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 AufenthG einleiten, sofern die
sofortige Vollziehung des asylrechtlichen Widerrufsbescheides angeordnet wird. Sie hat für
den Fall der Beantragung von Eilrechtsschutz nach § 80 Abs. 5 VwGO jedoch die
unanfechtbare gerichtliche Entscheidung abzuwarten.
Der Betroffene muss danach im Falle des § 75 Satz 2 AsylVfG zwei hintereinander
geschachtelte Eilrechtsschutzverfahren betreiben, will er den Vollzug aufenthaltsbeendender
Maßnahmen verhindern (vgl. § 84 Abs. 1 Nr. 4 AufenthG). Im Falle von § 75 Satz 3 AsylVfG
kann er sich auf den Eilrechtsschutz gegen den Widerruf beschränken, es sei denn, die
Ausländerbehörde geht nach § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 4 VwGO vor.
(3)
Aufenthaltsrechtliche Situation nach Widerruf bzw. Rücknahme
Der Widerruf des Aufenthaltstitels kommt grundsätzlich erst nach Unanfechtbarkeit des
asylrechtlichen Statusbescheides in Betracht,598 soweit nicht kraft Gesetzes oder behördlich
die sofortige Vollziehung angeordnet worden ist (vgl. § 75 Satz 2 und 3 AsylVfG).
Unzulässig ist es, den aufenthaltsrechtlichen Widerruf unter dem Vorbehalt des Eintritts der
Bestandskraft des asylrechtlichen Widerrufs zu stellen.599
Nach Ansicht des BVerwG ist ein auf dem asylrechtlichen Statusbescheid aufbauendes
Aufenthaltsrecht selbst asylbedingt und unterliegt deshalb dem Widerruf.600 Ist die
Asylberechtigung unanfechtbar widerrufen worden, entscheidet danach die Ausländerbehörde
gemäß § 52 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 AufenthG nach pflichtgemäßem Ermessen über den
Fortbestand des Aufenthaltsrechts. Sie hat dabei nur zwei Entscheidungsmöglichkeiten,
nämlich, entweder die akzessorische Niederlassungserlaubnis zu widerrufen oder aber vom
Widerruf abzusehen.601 Ein Widerruf des Aufenthaltstitels kommt zunächst dann nicht in
Betracht, wenn dieser dem Betroffenen aus anderen Rechtsgründen sogleich wieder erteilt
werden müsste, weil er einen Anspruch auf ein dem entzogenen Recht gleichwertiges
Aufenthaltsrecht hat.602 Steht der aus anderen Rechtsgründen in Betracht kommende
Aufenthaltstitel im behördlichen Ermessen, hat die Behörde im Rahmen der
aufenthaltsrechtlichen Widerrufsprüfung nach Ermessen zu prüfen, ob der anderweitige
Aufenthaltstitel in Betracht kommt.603
Die Niederlassungserlaubnis nach § 26 Abs. 4 AufenthG wird im Allgemeinen dann erteilt,
wenn deren tatbestandliche Voraussetzungen erfüllt sind. Es bedarf deshalb keiner besonderen
Ermessenserwägungen, um zu prüfen, ob nach unanfechtbarer Aufhebung des
597
BVerwGE 117, 380 (383f.) = EZAR 019 Nr. 19 = NVwZ 2003, 1275 = InfAuslR 2003, 324 = AuAS
2003, 182; BayVGH, DÖV 1980, 51; VGH BW, InfAuslR 2001, 410 (411))
598
BVerwGE 117, 380 (385) = EZAR 019 Nr. 19 = NVwZ 2003, 1275 = InfAuslR 2003, 324;VGH BW,
InfAuslR 2001, 410 (411); VG Sigmaringen, InfAuslR 1999, 47; VG Stuttgart, InfAuslR 2003, 95; VG
Hannover, U. v. 8. 3. 2006 – 6 8615/05; Marx, Kommentar zum AsylVfG, 2008, 7. Aufl., § 73 Rdn. 293;
Stiegeler, Asylmagazin 9/2006, S. 3; s. aber Nr. 52.1.4.1 VAH
599
VGH BW, InfAuslR 2001, 410 (411); Stiegeler, Asylmagazin 9/2006, S. 3.
600
BVerwGE 117, 380 (385) = EZAR 019 Nr. 19 = NVwZ 2003, 1275 = InfAuslR 2003, 324.
VGH BW, U. v. 26. 7. 2006 – 11 S 951/06.
BVerwGE 117, 380 (384) = EZAR 019 Nr. 19 = NVwZ 2003, 1275 = InfAuslR 2003, 324; VGH BW,
EZAR 214 Nr. 5.
603
VG Hannover, InfAuslR 2005, 468 = NVwZ-RR 2006, 357; VG Stuttgart, InfAuslR 2003, 95 (96).
601
602
139
statusrechtlichen Bescheides anstelle der Niederlassungserlaubnis nach § 26 Abs. 3 AufenthG
aus den Gründen des § 26 Abs. 4 AufenthG eine Niederlassungserlaubnis in Betracht kommt,
wenn die hierfür maßgeblichen Voraussetzungen vorliegen. Eine besondere
Ermessensprüfung kommt allenfalls dann in Betracht, wenn diese Voraussetzungen nicht
erfüllt werden und deshalb zu entscheiden ist, ob ein Widerruf des Aufenthaltsrechtes als
solches in Betracht kommt. Allerdings setzt die Anwendung des § 26 Abs. 4 AufenthG den
Nachweis der allgemeinen Voraussetzungen nach § 9 Abs. 2 AufenthG voraus. Zugunsten der
Antragsteller, die als Minderjährige eingereist sind, ist § 26 Abs. 4 Satz 4 AufenthG zu
berücksichtigen. Danach steht die fehlende Sicherung des Lebensunterhaltes der Erteilung der
Niederlassungserlaubnis nicht entgegen, wenn der Antragsteller sich in einer in § 35 Abs. 1
Satz 2 Nr. 3 AufenthG bezeichneten Ausbildung befindet.604
Festzuhalten ist, dass nach unanfechtbarem Abschluss des statusrechtlichen
Widerrufsverfahrens nach § 73 AsylVfG zunächst zu prüfen ist, ob die tatbestandlichen
Voraussetzungen nach § 26 Abs. 4 AufenthG vorliegen. Ist dies der Fall, wird ohne besondere
Ermessenserwägungen in aller Regel die Niederlassungserlaubnis nach § 26 Abs. 4 AufenthG
zu erteilen sein. Ist dies nicht der Fall, ist nach Ermessen über die befristete Verlängerung der
Aufenthaltserlaubnis zu entscheiden. Die Rechtsprechung lässt allerdings die Frage offen,
nach welchen Rechtsvorschriften für den Fall, dass die Ausländerbehörde vom Widerruf des
Aufenthaltstitels absieht, der weitere Aufenthalt geregelt werden kann. Wenn die
Ausländerbehörde zwar aus besonderen humanitären Gründen vom aufenthaltsrechtlichen
Widerruf Abstand nehmen kann, ist damit noch nicht die Frage beantwortet, nach welchen
Rechtsvorschriften der weitere Aufenthalt geregelt werden soll.
Die Rechtsprechung verweist in diesem Zusammenhang auf Art. 8 Abs. 1 EMRK,605 sodass
die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 2 oder § 25 Abs. 5 AufenthG in
Betracht kommt. In Betracht kommt auch § 7 Abs. 1 Satz 3 AufenthG. Danach kann die
Beendigung eines Aufenthalts durch Widerruf eines statusbezogenen Aufenthaltstitels einen
Eingriff in den Schutzbereich des Rechts auf Achtung des Privatlebens darstellen, wobei hier
wegen des vorherigen Aufenthaltsrechts die auf den geduldeten Aufenthalt bezogenen
obergerichtlichen Einwände unerheblich sind.
Nach der Rechtsprechung des BVerwG ist das der Behörde eingeräumte Ermessen nach § 52
Abs. 1 AufenthG nicht an bestimmte Vorgaben geknüpft, sondern eröffnet einen weiten
Spielraum. Die Behörde darf danach grundsätzlich davon ausgehen, dass in den Fällen des
§ 52 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 AufenthG ein gewichtiges öffentliches Interesse an dem Widerruf
des Aufenthaltstitels besteht, falls nicht aus anderen Rechtsgründen ein gleichwertiger
Aufenthaltstitel zu gewähren ist. Nach der Rechtsprechung des BVerwG muss nämlich die
Behörde im Rahmen ihrer Ermessensausübung sämtliche Umstände des Einzelfalles und
damit auch die schutzwürdigen Belange des Betroffenen an einem weiteren Verbleib im
Bundesgebiet in den Blick nehmen, wie sie beispielhaft in § 55 Abs. 3 AufenthG aufgeführt
sind.606
Insbesondere die vollzogene Integration der Kinder ist insoweit zu berücksichtigen.607
Darüber hinaus hat die Behörde die Beziehung eines nichtsorgeberechtigten Elternteils zu
604
o auch VG Hannover, InfAuslR 2005, 468 (469) = NVwZ-RR 2006, 357; VG Stuttgart, InfAuslR 2003,
95 (96).
605
606
607
VGH BW, U. v. 26. 7. 2006 – 11 S 951/06; VG Göttingen, U. v. 1. 11. 2006 – 3 A 33/05.
BVerwGE 117, 380 (388) = EZAR 019 Nr. 19 = NVwZ 2003, 1275 = InfAuslR 2003, 324
VGH BW, U. v. 26. 7. 2006 – 11 S 951/06; VG Hannover, InfAuslR 2005, 468 = NVwZ-RR 2006, 357:
140
seinem im Gebiet des Vertragsstaates lebenden Kind zu berücksichtigen.608 Das Kind muss
nicht die deutsche Staatsangehörigkeit haben.609 Ebenso sind alters- und krankheitsbedingte
Schwierigkeiten für den Fall der Rückkehr in das behördliche Ermessen einzustellen.610
II.
Eilrechtsschutz im Asylverfahren
1.
Eilrechtsschutzverfahren nach § 36 Abs. 3 AsylVfG
a)
Funktion des Eilrechtsschutzverfahrens
Das asylrechtliche Eilrechtsschutzverfahren hat seinen verfassungsrechtlichen Ort in Art. 16a
Abs. 4 GG. Die Regelungen in § 36 Abs. 3 und 4 AsylVfG setzen die verfassungsrechtliche
Beschleunigungsmaxime um. Das BVerfG beschreibt die Funktion des Art. 16a Abs. 4 GG so,
dass durch diese Norm in Verb. mit Art. 16a Abs. 3 GG das vorläufige Bleiberecht des
Asylsuchenden beschränkt werden soll.611 Diese Verfassungsnorm gilt für die Fälle des
Art. 16a Abs. 3 GG und damit insbesondere für offensichtlich unbegründete Asylbegehren im
Sinne des § 30 AsylVfG.
b)
Antragsfrist
Die gegen die Abschiebungsandrohung gerichtete Anfechtungsklage hat keine aufschiebende
Wirkung (§ 75 AsylVfG). Will der Antragsteller für das weitere Verfahren sein Verbleibsrecht
sicherstellen, muss er deshalb abweichend vom allgemeinem Verwaltungsprozessrecht binnen
Wochenfrist einen Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage nach § 36
Abs. 3 Satz 1 AsylVfG in Verb. mit § 80 Abs. 5 VwGO stellen. Wegen § 74 Abs. 1 2. Hs.
AsylVfG ist auch die Klage innerhalb dieser Frist zu erheben. Wird kein einstweiliger
Rechtsbehelf eingelegt, wird die Abschiebungsandrohung (§§ 34 und 35 AsylVfG) nach
Ablauf der einwöchigen Ausreisefrist vollziehbar. Wird zwar der Eilrechtsschutzantrag
innerhalb der Wochenfrist des § 36 Abs. 3 Satz 1 AsylVfG gestellt, die Klage jedoch erst
nach Ablauf der Wochenfrist des § 74 Abs. 1 2. Hs. AsylVfG erhoben, ist der einstweilige
Antrag als unzulässig zurückzuweisen.
Anders als im normalen Verwaltungsstreitverfahren, in dem der einstweilige Antrag jederzeit
wiederholt werden kann, sofern die Anfechtungsklage fristgemäß erhoben worden ist, folgt
aus der Fristgebundenheit des Eilrechtsschutzantrags das Verbot der Wiederholung.612 Da bei
Versäumung der Klagefrist die Klage unzulässig ist, das Eilrechtschutzverfahren im
Asylverfahrensrecht seine Eigenart als Mittel des einstweiligen Rechtsschutzes, das in
Abhängigkeit zum Hauptsacheverfahren steht, jedoch nicht verliert,613 teilt es das rechtliche
Schicksal des Anfechtungsprozesses.
c)
Unverzügliches Begründungserfordernis
608
EGMR, InfAuslR 2006, 298 (299) – Da Silva und Hoogkamer:
BVerwGE 117, 380 (388 f.) = EZAR 019 Nr. 19 = NVwZ 2003, 1275 = InfAuslR 2003, 324:
Hess.VGH, InfAuslR 2003, 400 (401):
BVerfGE 94, 166 (190 f.) = EZAR 632 Nr. 25 = NVwZ 1996, 678.
VGH BW, VBlBW 1985, 466 = DÖV 1986, 296.
BVerfG, EZAR 631 Nr. 4.
609
610
611
612
613
141
Der Gesetzgeber hat keine Begründungsfrist festgelegt. Im Hinblick auf die das Gericht
betreffende Entscheidungsfrist (vgl. § 36 Abs. 3 Satz 5 AsylVfG) kann ein unterbliebener
oder unvollständiger Sachvortrag einschneidende Rechtsfolgen haben. Auch kann die
Präklusionswirkung nach § 36 Abs. 4 Satz 2 AsylVfG eingreifen. Zwar hindert das Gesetz das
Verwaltungsgericht nicht, bereits vor Ablauf der Frist nach § 36 Abs. 3 Satz 5 AsylVfG zu
entscheiden. Vielmehr geht diese Norm davon aus, dass die Entscheidung „innerhalb“ von
einer Woche nach Ablauf der einwöchigen Ausreisefrist getroffen werden „soll“. Es spricht
jedoch vieles dafür, dem Antragsteller zur möglichst umfassenden Begründung seines
Rechtsschutzbegehrens entgegenzukommen und deshalb nicht unmittelbar nach Ablauf der
Wochenfrist zu entscheiden. Gegebenenfalls ist das Verwaltungsgericht darauf hinzuweisen,
dass der Antrag innerhalb der Frist des § 36 Abs. 3 Satz 5 AsylVfG begründet werden wird.
Im Hinblick auf den strengen Prüfungsmaßstab nach § 36 Abs. 4 Satz 1 AsylVfG und die in
§ 36 Abs. 4 Satz 2 und 3 AsylVfG vorgesehenen Beschränkungen des
Untersuchungsgrundsatzes ist der Antragsteller zu möglichst umfassendem Vortrag gehalten.
Daher sollten zur zweckentsprechenden Rechtsverteidigung bereits mit dem einstweiligen
Rechtsschutzantrag sämtliche Tatsachen und Beweismittel angegeben werden. Mit späterem
Sachvorbringen ist der Antragsteller zwar nicht präkludiert. Jedoch kann das
Verwaltungsgericht unter den Voraussetzungen des § 36 Abs. 4 Satz 3 AsylVfG ein nach § 25
Abs. 3 AsylVfG im Verwaltungsverfahren verspätetes Sachvorbringen auch im
Eilrechtsschutzverfahren unberücksichtigt lassen. Wegen der Bedeutung des Asylrechts sollte
das Verwaltungsgericht jedoch sehr zurückhaltend mit dieser Präklusionsvorschrift umgehen.
d)
Persönliche Anhörung
Hat das Gericht Zweifel, die nach Aktenlage nicht auszuräumen sind, muss es entweder dem
Eilantrag stattgeben oder eine persönliche Anhörung des Antragstellers im Eilverfahren
durchführen. Das BVerfG hatte in seiner früheren Rechtsprechung ausdrücklich darauf
hingewiesen, dass es je nach Sachlage geboten sein könne, Beweis zu erheben oder dem
Antragsteller Gelegenheit zur persönlichen Anhörung im Eilverfahren zu geben.614 Wegen
Art. 16a Abs. 4 GG hält das Gericht zwar hieran nicht mehr fest.615 Das Verwaltungsgericht
hat im Eilrechtsschutzverfahren aber auch zu prüfen, ob etwaige Verfahrensverstöße des
Bundesamtes ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit der Behördenentscheidung begründen.
Ein Fehler des Bundesamtes bei der Sachverhaltsermittlung und Beweiswürdigung kann für
das Verwaltungsgericht dabei Anlass sein, den Antragsteller im Eilrechtsschutzverfahren
persönlich anzuhören.616
e)
Gegenstand des Eilrechtsschutzverfahrens
Als Gegenstand des Eilrechtsschutzverfahrens bezeichnet § 36 Abs. 3 Satz 1 AsylVfG die
Abschiebungsandrohung. In Fortsetzung seiner bisherigen Rechtsprechung hält das BVerfG
daran fest, dass auch nach neuem Recht Anknüpfungspunkt der richterlichen Prüfung und
Entscheidung im Eilrechtsschutzverfahren die Frage sein muss, ob das Bundesamt zu Recht
den Asylantrag als offensichtlich unbegründet abgelehnt hat.617 Deshalb ist die Frage der
614
615
616
617
BVerfGE 67, 43 (62) = EZAR 632 Nr. 1 = NJW 1984, 2082 = InfAuslR 1984, 215.
BVerfGE 94, 166 (194) = EZAR 632 Nr. 25 = NVwZ 1996, 678.
BVerfGE 94, 166 (206).
BVerfGE 94, 166 (193 f.) = EZAR 632 Nr. 25 = NVwZ 1996, 678.
142
„offensichtlichen Unbegründetheit“ des Asylbegehrens der maßgebliche Prüfungsgegenstand
im Eilrechtsschutzverfahren.
Das Verwaltungsgericht hat darüber hinaus im Eilrechtsschutzverfahren auch
Abschiebungshindernisse zu prüfen. Zwar kann dies den gesetzlichen Regelungen in § 36
AsylVfG nicht unmittelbar entnommen werden. Andererseits verweist § 36 Abs. 4 Satz 3
AsylVfG auf die Präklusionsvorschrift des § 25 Abs. 3 AsylVfG, die sich ja auch auf die
Abschiebungshindernisse des § 60 Abs. 2 bis 5, 7 AufenthG bezieht (vgl. § 25 Abs. 2
AsylVfG). Auch aus dem Gesamtzusammenhang der Regelungen des § 36 Abs. 3 und 4, § 37
AsylVfG folgt die Erheblichkeit von Abschiebungshindernissen nach § 60 AufenthG. Darüber
hinaus ist supranationales Recht zu beachten. Maßgebend sind in erster Linie die
Schutzvorschriften des subsidiären Schutzes nach Art. 15 bis 18 RL 2004/83/EG, die
zwingenden Charakter haben.
Dementsprechend wird in der gerichtlichen Praxis im Eilrechtsschutzverfahren auch
überprüft, ob das Bundesamt fehlerfrei das Bestehen von Abschiebungshindernissen nach
§ 60 Abs. 2 bis 5, 7 AufenthG verneint hat.
Die Prüfung im Eilrechtsschutzverfahren erstreckt sich daher auch auf die Zielstaatsangabe in
der Abschiebungsandrohung. Verneint das Bundesamt das Vorliegen von
Abschiebungshindernissen, wird es insbesondere die Abschiebung in den Herkunftsstaat
anordnen. Folge der anders lautenden gerichtlichen Feststellung ist daher, dass die
Abschiebungsandrohung „insoweit“ rechtswidrig ist, weil in ihr der Staat, in den nicht
abgeschoben werden darf, nicht bezeichnet ist (§ 59 Abs. 3 Satz 2 AufenthG). Da regelmäßig
im Eilrechtsschutzverfahren die Frage eines aufnahmebereiten Drittstaates nicht mit der
erforderlichen hinreichenden Verlässlichkeit geprüft werden kann und dies auch nicht
Aufgabe des Verwaltungsgerichtes ist, ist die Abschiebung auszusetzen.
Gibt das Verwaltungsgericht dem Antrag nur deshalb statt, weil seiner Ansicht nach
Abschiebungshindernisse nach § 60 Abs. 2 bis 5, 7 AufenthG vorliegen, ist fraglich, ob
dadurch die Abschiebungsandrohung insgesamt nach § 37 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG unwirksam
wird. Dagegen könnte sprechen, dass nach § 37 Abs. 3 AsylVfG die Regelungen des § 37
Abs. 1 und 2 AsylVfG nicht gelten, wenn aufgrund der gerichtlichen Entscheidung die
Abschiebung in einen der in der Abschiebungsandrohung bezeichneten Staaten vollziehbar
wird. Da der enge Zusammenhang zwischen der Abschiebungsandrohung und der
Zielstaatsangabe jedoch regelmäßig eine erneute Abschiebungsandrohung erforderlich macht,
spricht eher vieles dafür, dass auch in dem Fall, in dem die Abschiebung nur deshalb
ausgesetzt
wird,
weil
nach
den
Feststellungen
des
Verwaltungsgerichtes
Abschiebungshindernisse nach § 60 Abs. 2 –5, 7 AufenthG bestehen, die
Abschiebungsandrohung nach § 37 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG unwirksam wird.
f)
Gerichtliche Ermittlungstiefe im Eilrechtsschutzverfahren
Die verfassungsgerichtliche Rechtsprechung darf indes nicht so verstanden werden, dass das
Verwaltungsgericht nicht von sich aus Erkenntnisse zu berücksichtigen habe, die vom
Antragsteller nicht eingeführt werden, weil er sie gar nicht kennt. Im Hinblick auf die
allgemeinen Verhältnisse im Herkunftsland verlangt das BVerwG keinen lückenlosen, also
schlüssigen Tatsachenvortrag im Sinne der zivilprozessualen Verhandlungsmaxime. Vielmehr
besteht Anlass zu weiteren Ermittlungen, wenn der Tatsachenvortrag die nicht entfernt
143
liegende Möglichkeit ergibt, dass Verfolgung droht.618 Unabhängig vom Tatsachenvortrag hat
das Gericht damit von Amts wegen alle ihm bekannten Erkenntnismittel zu berücksichtigen.
Das BVerfG hat für das Eilrechtsschutzverfahren im Hinblick auf die fehlerhafte
Sachverhaltsfeststellung oder fehlerhafte Wertung des Vorbringens darauf hingewiesen, dass
insoweit die allgemeinen Maßstäbe nach Art. 3 Abs. 1 und Art. 103 Abs. 1 GG gelten. Auf
eine unzulässige Nichtberücksichtigung des Vortrags könne etwa geschlossen werden, wenn
das Gericht die wesentlichen der Rechtsverfolgung oder Rechtsverteidigung dienenden
Tatsachenbehauptungen in den Gründen nicht verarbeite, sofern der Vortrag nicht nach dem
Rechtsstandpunkt des Gerichts unerheblich oder offensichtlich unsubstanziiert sei.619 Allein
der Umstand einer in der Vergangenheit erlittenen Folter vermöge zwar im Hinblick auf § 53
AuslG 1990 (jetzt § 60 Abs. 2 und 5 AufenthG) eine konkrete Gefahr nicht zu begründen.
Werde der hierauf gestützte Sachvortrag jedoch überhaupt nicht berücksichtigt, werde
Art. 16a Abs. 1 GG verletzt.620
Zwar kann dem Asylsuchenden eine gesteigerte Darlegungslast auferlegt und erwartet
werden, dass er die aufgeworfenen und begründeten Zweifel an der Glaubhaftigkeit seiner
Sachangaben im Einzelnen und in nachvollziehbarer sowie schlüssiger und konkretisierter
Weise ausräumt. Gelingt ihm dies nicht, gewinnen in aller Regel die verfügbaren
Erkenntnismittel mangels Entscheidungserheblichkeit keine prozessuale Bedeutung. Gelingt
dem Asylsuchenden aber die Ausräumung der Zweifel an der Glaubhaftigkeit seiner
Angaben, kann dem Eilrechtsschutzantrag der Erfolg nicht mit der Begründung versagt
werden, zu den behaupteten Ereignissen gebe es keine Erkenntnisse. In einem derartigen Fall
hat das Gericht den Sachverhalt im Hauptsacheverfahren aufzuklären und deshalb dem
Eilantrag stattzugeben.
g)
Prüfkriterien
Mit dem Begriff „ernstliche Zweifel“ qualifizierte Anforderungen an eine Ausgestaltung des
Vollzuges durch das Verwaltungsgericht gestellt. Der Verfassungsgeber lässt indes mit
Art. 16a Abs. 4 GG das vorläufige Bleiberecht nicht erst dann entfallen, wenn das
Verwaltungsgericht sich von der Richtigkeit des behördlichen Offensichtlichkeitsurteils des
Bundesamtes überzeugt hat, sondern bereits dann, wenn es an der Richtigkeit dieser
Entscheidung keine „ernstlichen Zweifel“ hat. Ausdrücklich weist das BVerfG darauf hin,
dass damit seine frühere Rechtsprechung, der zufolge sich auch im Eilrechtsschutzverfahren
das Verwaltungsgericht von der Richtigkeit des Offensichtlichkeitsurteils überzeugt haben
muss, überholt ist.621
Maßgeblich ist nicht ein – wie auch immer zu qualifizierender – innerer Zustand des
Zweifelns, dessen Intensität nicht messbar ist. Es kommt vielmehr auf das Gewicht der
Faktoren an, die Anlass zu Zweifeln geben. Ernstliche Zweifel im Sinne des Art. 16a Abs. 4
Satz 1 GG liegen dann vor, wenn erhebliche Gründe dafür sprechen, dass die Maßnahme
einer rechtlichen Prüfung wahrscheinlich nicht standhält.622 Bei der vom Richter zu treffenden
Wahrscheinlichkeitsprognose, ob erhebliche Gründe dafür sprechen, dass die Ablehnung des
Asylantrags als offensichtlich unbegründet einer Prüfung voraussichtlich nicht standhält, ist
618
BVerwG, InfAuslR 1982, 156; BVerwG, InfAuslR 1983, 76; BVerwG, DÖV 1983, 207; BVerwG,
InfAuslR 1989, 350.
619
BVerfG (Kammer), Beschl. v. 10.7.1997 – 2 BvR 1291/96.
620
BVerfG (Kammer), Beschl. v. 10.7.1997 – 2 BvR 1291/96
621
BVerfGE 94, 166 (190)
622
BVerfGE 94, 166 (194).
144
insbesondere auch das Gewicht der Rechtsgüter zu beachten, welche nach dem
substanziierten Vortrag des Betroffenen bedroht sind. Erhebliche Gründe, die für einen Erfolg
im Hauptsacheverfahren sprechen, sind damit nicht weit vom früheren Maßstab der
Richtigkeitskontrolle entfernt. Denn ernstliche Zweifel bestehen nur dann nicht, wenn eine
„hohe Gewissheit“ dafür besteht, dass ein materieller Asylanspruch nicht verletzt wird.623
Bezugspunkt der Wahrscheinlichkeitsprognose ist nicht der Erfolg in der Hauptsache wie im
Rahmen des § 80 Abs. 4 Satz 3 VwGO. Wäre dies der Fall, so müsste das Verwaltungsgericht
bereits im vorgeschalteten Eilrechtsschutzverfahren prüfen, ob der Asylantrag „begründet“ ist.
In diesem Verfahren geht es jedoch allein um die Frage, ob die Feststellung, dass der Antrag
„offensichtlich“ unbegründet ist, wahrscheinlich einer Prüfung nicht standhält. Er mag im
Ergebnis unbegründet sein. Darauf zielt die Prüfung indes nicht. Prüfungsgegenstand im
Eilrechtsschutzverfahren ist vielmehr ausschließlich die Sperrwirkung der Offensichtlichkeit.
Nach § 30 Abs. 3–5 AsylVfG ist ein in der Sache lediglich einfach unbegründeter Asylantrag
unter den dort genannten Voraussetzungen als offensichtlich unbegründet abzulehnen.
Prüfungsgegenstand ist in diesen Fällen daher allein die Frage, ob das Bundesamt die
tatbestandlichen Voraussetzungen nach § 30 Abs. 3–5 AsylVfG zu Recht angenommen hat.
Erst wenn sich insoweit keine oder nur geringe Zweifel daran ergeben, ob das Bundesamt die
Voraussetzungen nach § 30 Abs. 3 AsylVfG zu Recht angenommen hat, ist der in der Sache
nur schlicht unbegründete Asylantrag anhand des eingeschränkten Prüfungsmaßstabes des
§ 36 Abs. 4 AsylVfG zu beurteilen. Bestehen hingegen ernstliche Zweifel gegen das
Vorliegen der tatbestandlichen Voraussetzungen der Fallgruppen des § 30 Abs. 3 – 5
AsylVfG, so ist dem Eilrechtsschutzantrag ohne Prüfung der sachlichen Ablehnungsgründe
stattzugeben. Für eine Prüfung der schlichten Unbegründetheit anhand des eingeschränkten
Maßstabes besteht insoweit keine Rechtsgrundlage mehr.624
2.
Eilrechtsschutz im Asylfolgeantragsverfahren
a)
System des Rechtsschutzes im Asylfolgeantragsverfahren
Das AsylVfG lässt unter den Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 bis 3 VwVfG das
Wiederaufgreifen des Verfahrens zu (vgl. § 71 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG). Die
Wiederaufgreifensgründe nach § 51 Abs. 1 VwVfG sind schlüssig darzulegen. Lehnt das
Bundesamt die Durchführung eines weiteren Verfahrens ab, so kann gegen diese
Entscheidung Verpflichtungsklage auf Asylanerkennung und Zuerkennung der
Flüchtlingseigenschaft. Unabhängig davon, wann die im ersten Asylverfahren ergangene
Abschiebungsandrohung vollziehbar geworden ist, kann die Ausländerbehörde nach der
Mitteilung des Bundesamtes, dass die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 bis 3 VwVfG nicht
vorliegen, aus der Abschiebungsandrohung des Erstverfahrens vorgehen kann.
Der vorläufige Rechtsschutz zielt daher auf die Verhinderung der Vollziehung der
Abschiebungsandrohung aus dem vorangegangenen Asylverfahren und richtet sich nach
§ 123 VwGO. Die Verpflichtungsklage ist binnen zwei Wochen zu stellen. Besondere
Fristvorschriften für den Eilrechtsschutzantrag bestehen nicht. Der Gesetzgeber hat
andererseits nicht die Vorschrift des § 71 Abs. 4 AsylVfG aufgehoben, sodass das Bundesamt
im Zusammenhang mit der Entscheidung, kein neues Asylverfahren durchzuführen, eine neue
623
BVerfGE 94, 166 (190) = EZAR 632 Nr. 25 = NVwZ 1996, 678.
Giesler/Wasser, Das neue Asylrecht, S. 52; VG Frankfurt/M., NVwZ-Beil. 1999, 60, Hervorhebung in
den Entscheidungsgründen; VG Frankfurt/M., Beschl. v. 8.10.1999 – 5 G 50731/99. A (3); Dienelt, in: GKAsylVfG, § 30 Rn 163.
624
145
Abschiebungsandrohung erlassen kann. Es wird dieses Verfahren in den Fällen wählen, in
denen Zweifel an der Rechtmäßigkeit der zuerst ergangenen Abschiebungsandrohung
bestehen. Das Eilrechtsschutzverfahren richtet sich in diesen Fällen nach § 36 Abs. 3 und 4
AsylVfG, d. h., Klage und Eilrechtsschutzantrag nach § 80 Abs. 5 VwGO sind binnen
Wochenfrist einzureichen (§ 36 Abs. 1, 3 Satz 1, § 74 Abs. 1 2. Hs. AsylVfG).
Für die Rechtsbehelfsfristen und die Form des Rechtsschutzes im Asylfolgeantragsverfahren
ist damit maßgebend, ob das Bundesamt eine erneute Abschiebungsandrohung erlässt oder
nicht. Im ersten Fall regelt sich das weitere Verfahren nach §§ 36, 74 Abs. 1 2. Hs. AsylVfG
und ist der Eilrechtsschutz fristgebunden (vgl. § 71 Abs. 4 in Verb. mit § 36 Abs. 3 Satz 1
AsylVfG). Unterbleibt der Erlass der Abschiebungsandrohung, ist einstweiliger Rechtsschutz
- fristungebunden - nach § 123 VwGO zu erlangen. Hier ist darüber hinaus der
Anordnungsgrund darzulegen, d.h., der Eilrechtsschutzantrag kann erst dann gestellt werden,
wenn glaubhaft gemacht werden kann, dass die Abschiebung unmittelbar bevorsteht.
Zentrale Bedeutung für das Eilrechtsschutzverfahren nach § 123 VwGO hat die
Mitteilungsverpflichtung des Bundesamtes gegenüber der Ausländerbehörde nach § 71 Abs. 5
Satz 2 1. Hs. AsylVfG. Diese Mitteilung ist für das Verwaltungsverfahren zwingend. Sie
begründet ein gesetzliches Abschiebungshindernis (vgl. § 71 Abs. 5 Satz 2 1. Hs. AsylVfG).
Nach der Entscheidung des Bundesamtes, dass kein weiteres Asylverfahren durchgeführt
wird, übernimmt im Verfahren nach § 71 Abs. 4 AsylVfG das gesetzliche
Abschiebungshindernis nach § 71 Abs. 4 i.V.m. § 36 Abs. 3 Satz 8 AsylVfG die Funktion des
Abschiebungshindernisses. Im Verfahren nach § 71 Abs. 5 AsylVfG zielt der
Eilrechtsschutzantrag auf den Fortbestand des gesetzlichen Abschiebungshindernisses nach
§ 71 Abs. 5 Satz 2 1. Hs. AsylVfG ab. Bis zur gerichtlichen Entscheidung besteht ein
Schwebezustand. Entscheidet das Bundesamt und lehnt den Antrag in der Sache ab, handelt es
sich um ein normales Verfahren. Die Klage hat aufschiebende Wirkung (§ 75 AsylVfG). Das
Bundesamt kann aber auch im Rahmen des Asylfolgeantrags in der qualifizierten Form
ablehnen. In diesem Fall richtet sich der Rechtsschutz nach § 36 Abs. 1, 3 und 4, § 74 Abs. 1
2. Hs. AsylVfG.
b)
Eilrechtsschutzverfahren nach § 71 Abs. 5 AsylVfG in Verb. mit § 123 VwGO
Verneint das Bundesamt die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 bis 3 VwVfG und wird keine
erneute Abschiebungsandrohung erlassen, lebt die durch § 71 Abs. 5 Satz 2 1. Hs. AsylVfG
vorübergehend ausgesetzte Vollziehbarkeit der Ausreisepflicht wieder auf. Die vollziehende
Ausländerbehörde ist nach dem Gesetz verpflichtet, die Ausreisepflicht durchzusetzen.
Inzwischen ist geklärt, dass der einstweilige Rechtsschutz nach § 123 VwGO gegen die
Bundesrepublik Deutschland durchzusetzen ist, mit dem Ziel, das Bundesamt zu verpflichten,
der Ausländerbehörde mitzuteilen, dass aufgrund des eingeleiteten Asylverfahrens das
gesetzliche Abschiebungshindernis nach § 71 Abs. 5 Satz 2 1. Hs. AsylVfG der Vollziehung
entgegensteht.625 Ein Antrag nach § 80 Abs. 5 VwGO gegenüber dem Bundesamt läuft
mangels Erlasses einer Abschiebungsandrohung ins Leere.
Bei der Antragsformulierung gibt es verschiedene Varianten. Einerseits kann dem Bundesamt
aufgegeben werden, die Mitteilung nach § 71 Abs. 5 Satz 2 AsylVfG zurückzunehmen.
Andererseits kann das Bundesamt verpflichtet werden, der Ausländerbehörde mitzuteilen,
Thür. OVG, EZAR 632 Nr. 32; OVG Berlin, Beschl. v. 28.1.1994 – OVG 8 S 383.93; VG Darmstadt,
NVwZ-Beil. 1995, 31; VG Darmstadt, EZAR 632 Nr. 29; VG Freiburg, NVwZ 1995, 197; VG Sigmaringen,
NVwZ-Beil. 1996, 30; VG Würzburg, EZAR 632 Nr. 17; s. auch BVerfG (Kammer), NVwZ-Beil. 1999, 49
(50 f.) = EZAR 632 Nr. 31 = InfAuslR 1999, 256.
625
146
dass aufgrund des anhängigen Asylstreitverfahrens ein weiteres Asylverfahren durchgeführt
wird. Schließlich kommt in Betracht, dem Bundesamt aufzugeben, der Ausländerbehörde
mitzuteilen, dass der Antragsteller für die Dauer des Asylverfahrens aus asylrechtlichen
Gründen nicht abgeschoben werden darf. Durchgesetzt hat sich die zweite Variante. Nach
einer entsprechenden Mitteilung ist es der Ausländerbehörde wegen § 71 Abs. 5 Satz 2 1. Hs.
AsylVfG kraft Gesetzes verwehrt, den Antragsteller abzuschieben. Stets muss beim Gericht
auch die Stillhaltezusage beantragt werden, die vom Bundesamt an die Ausländerbehörde zu
übermitteln ist.
Die Rechtsprechung erachtet mit Hinweis auf § 88 VwGO auch bei einem durch einen
Rechtsanwalt gestellten fehlerhaften Antrag eine Umdeutung für zulässig.626 Wegen der
Unanfechtbarkeit des erstinstanzlichen Beschlusses (vgl. § 80 AsylVfG) ist das Prozessrisiko
nach Möglichkeit zu minimieren und gegebenenfalls der Antrag gegen das Bundesamt zu
richten und hilfsweise ein verfahrenssichernder Abschiebungsschutzantrag gegen die
Ausländerbehörde zu stellen.
Muster:
Klage und Eilrechtsschutzantrag bei Ablehnung des Asylfolgeantrags nach § 71
Abs. 5 AsylVfG
An das
Verwaltungsgericht
Klage und Eilrechtsschutzantrag
der türkischen Staatsangehörigen
– Klägerin/Antragstellerin –
gegen
die Bundesrepublik Deutschland, endvertreten durch den Leiter der Außenstelle des
Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge
– Beklagte/Antragsgegnerin –
wegen Asylrecht und Flüchtlingsschutz
Unter Vollmachtsvorlage erhebe ich Klage und beantrage:
Die beklagte Bundesrepublik Deutschland wird unter Aufhebung des Bescheides des
Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom .., zugestellt am.. , verpflichtet
festzustellen, dass die Klägerin Asylberechtigte ist und ihr die Flüchtlingseigenschaft
zuzuerkennen;
hilfsweise:
zu verpflichten, der Klägerin subsidiären Schutz nach § 60 Abs. 1, und 7 Satz 2 AufenthG
zuzuerkennen;
hilfsweise
zu verpflichten, der Klägerin subsidiären Schutz nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 AufenthG
zuzuerkennen
Des weiteren beantrage ich,
die Bundesrepublik Deutschland im Wege der einstweiligen Anordnung gemäß § 123
VwGO zu verpflichten, der Ausländerbehörde mitzuteilen, dass aufgrund der
Klageerhebung ein weiteres Asylverfahren durchgeführt wird.
(Variante bei Zuständigkeit einer zentralen, für die Abschiebung zuständigen
Ausländerbehörde:
626
Thür. OVG, EZAR 632 Nr. 32; VG Sigmaringen, NVwZ-Beil. 1996, 30 (31); VG Osnabrück, NVwZBeil. 1994, 61 (62); gegen Umdeutung bei anwaltlicher Vertretung BVerwG, NJW 1962, 883; OVG Bremen,
InfAuslR 1983, 84 (85); BayVGH, NJW 1982, 1474.
147
die Bundesrepublik Deutschland im Wege der einstweiligen Anordnung gemäß § 123
VwGO zu verpflichten, der Ausländerbehörde mitzuteilen, dass diese dem
Regierungspräsidium … mitteilt, dass aufgrund der Klageerhebung ein weiteres
Asylverfahren durchgeführt wird.)
Des Weiteren wird gebeten,
der Außenstelle des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge in … aufzugeben, der
Ausländerbehörde in … den gerichtlichen Hinweis zu übermitteln, dass im Hinblick auf
den anhängigen Eilrechtsschutzantrag bis zur einer gerichtlichen Entscheidung die
Abschiebung ausgesetzt wird.
(Variante bei Zuständigkeit einer zentralen, für die Abschiebung zuständigen
Ausländerbehörde:
der Außenstelle des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge in … aufzugeben, der
Ausländerbehörde in … den gerichtlichen Hinweis zu übermitteln, dass diese dem
Regierungspräsidium in … den Hinweis übermittelt, dass im Hinblick auf den anhängigen
Eilrechtsschutzantrag bis zur einer gerichtlichen Entscheidung die Abschiebung
ausgesetzt wird.
c)
Eilrechtsschutzverfahren nach § 71 Abs. 5 AsylVfG in Verb. mit § 123 VwGO
An das
Verwaltungsgericht
Klage und Eilrechtsschutzantrag
der türkischen Staatsangehörigen
– Klägerin/Antragstellerin –
gegen
die Bundesrepublik Deutschland, endvertreten durch den Leiter der Außenstelle des
Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge
– Beklagte/Antragsgegnerin –
wegen Asylrecht und Flüchtlingsschutz
Unter Vollmachtsvorlage erhebe ich Klage und beantrage:
(wie zuvor)
Ich stelle den Antrag,
die aufschiebende Wirkung der Klage vom heutigen Tage gegen die
Abschiebungsandrohung des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom
anzuordnen.
d)
Prüfkriterien
Für beide Verfahrensformen habe sich einheitliche an § 71 Abs. 4 in Verb. mit § 36 Abs. 3
und 4 AsylVfG ausgerichtete materielle Kriterien herausgebildet, sodass der Prüfungsmaßstab
der ernstlichen Zweifel nach § 36 Abs. 4 Satz 1 AsylVfG Anwendung findet. Auf diesen
Maßstab hat das BVerfG sich auch in einem Verfahren nach § 71 Abs. 5 AsylVfG bezogen.
Danach darf das Verwaltungsgericht in beiden Fällen einstweiligen Rechtsschutz nur
gewähren, wenn es keine ernstlichen Zweifel daran hat, dass die Voraussetzungen des § 71
Abs. 1 Satz 1 AsylVfG i.V.m. § 51 Abs. 1–3 VwVfG nicht vorliegen627.
627
BVerfG (Kammer), NVwZ-Beil. 1999, 49 (50) = EZAR 632 Nr. 31; so auch VGH BW, VBlBW 1997,
111 (112); VG Darmstadt, EZAR 632 Nr. 29.
148
Diese durch doppelte Negation bewirkte deutliche Abschwächung des Eilrechtsschutzes
rechtfertigt das BVerfG damit, dass der Asylfolgeantragsteller bereits ein Asylverfahren
erfolglos betrieben habe, sodass sein verfassungsrechtlich gewährleistetes vorläufiges
Bleiberecht in Abwägung mit den Belangen des Staates auch dann zurücktreten müsse, wenn
die Voraussetzungen für ein Wiederaufgreifen des Verfahrens und eine erneute Prüfung nicht
gegeben sind. Ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit der vom Bundesamt getroffenen
Entscheidung bestehen danach bereits dann, wenn im Eilrechtsschutzverfahren keine
abschließende Klarheit über die Rechtmäßigkeit der angefochtenen Verfügung gewonnen
werden kann, sondern nur im Hauptsacheverfahren.628
3.
Eilrechtsschutz beim Wiederaufgreifensantrag nach § 51 Abs. 5 VwVfG
a)
Funktion des Wiederaufgreifensantrags im weiteren Sinne
In der Rechtsprechung ist allgemein anerkannt, dass das Bundesamt bei erneuter Berufung auf
§ 60 Abs. 2 bis 5, 7 AufenthG auch bei fehlendem Nachweis der Voraussetzungen des § 51
Abs. 1 bis 3 VwVfG das Verfahren nach pflichtgemäßem Ermessen nach § 51 Abs. 5 VwVfG
eröffnen kann629. Die deutsche verfahrensrechtliche Situation steht in Übereinstimmung mit
Gemeinschaftsrecht. Danach können die Mitgliedstaaten gemäß den nationalen
Rechtsvorschriften einen Folgeantrag weiter prüfen, wenn es andere Gründe gibt, aus denen
das Verfahren wieder aufgenommen werden muss (Art. 32 Abs. 5 RL 2005/85/EG
(Verfahrensrichtlinie). Nach der Rechtsprechung des BVerwG ist die obsiegende Behörde
nicht gehindert, einen rechtskräftig abgesprochenen Anspruch zu erfüllen, wenn sie erkennt,
dass der Anspruch tatsächlich besteht und das rechtskräftige Urteil unzutreffend ist.630
Insoweit besteht zunächst ein Anspruch auf fehlerfreie Ermessensausübung.631 Daher ist das
Bundesamt zu einer Abänderung seiner früheren Entscheidung ermächtigt, wenn sie sich als
inhaltlich unrichtig erweisen sollte. Darüber hinaus muss die Rechtskraft eines
verwaltungsgerichtlichen Urteils grundsätzlich weichen, wenn ein Festhalten an ihr »zu einem
schlechthin unerträglichen Ergebnis führen würde«. Das kann unter anderem der Fall sein,
wenn der Betroffene andernfalls einer erheblichen Gefahr für Leib oder Leben, insbesondere
einer extremen Gefahrensituation im Herkunftsstaat ausgesetzt wäre und die geltend
gemachten Umstände zuvor behördlicherseits und gerichtlich noch nicht geprüft worden
sind.632
271BVerfG (Kammer), NVwZ-Beil. 1999, 49 (50) = EZAR 632 Nr. 31 = InfAuslR 1999, 256.
628
VGH BW, VBlBW 1997, 111 (112).
BVerfG (Kammer), InfAuslR 2000, 459 (461) = NVwZ 2000, 907 = EZAR 212 Nr. 12 = AuAS 2000,
197; (BVerfG (Kammer), NVwZ 207, 1046 (1047); BVerwG, InfAuslR 2000, 16 (18) = EZAR 043 Nr. 39 =
NVwZ 2000, 204; BVerfG (Kammer), AuAS 2007, 41 (42); BVerwGE 111, 77 (82) = NVwZ 2000, 940 (941) =
InfAuslR 2000, 410 = AuAS 2000, 154 = EZAR 212 Nr. 10; OVG NW, AuAS 2002, 142 (143); Nieders.OVG,
AuAS 2001, 141 (142); OVG Rh-Pf, NVwZ-Beil. 1999, 45 (46); VGH BW, AuAS 2000, 45 (46); VG Neustadt
a.d. Weinstr., NVwZ-Beil. 2001, 45 (46); s. auch BVerwG, NVwZ 1995, 388 (389).
630
BVerwG, InfAuslR 2000, 16 (18); vgl. auch BVerwGE 78, 332 (340); BVerfG (Kammer), EZAR 212
Nr. 7 = NVwZ 1989, 141 = InfAuslR 1989, 65; Kemper, NVwZ 1985, 872 (875).
631
BVerfG (Kammer), NVwZ 207, 1046 (1047), mit Hinweis auf BVerwGE 111, 77 (82) = NVwZ 2000,
940.
629
632
BVerwG, InfAuslR 2000, 16 (18) = EZAR 043 Nr. 39 = NVwZ 2000, 204; OVG NW, AuAS 2002, 142
(143); BVerwG, InfAuslR 2000, 16 (18) = EZAR 043 Nr. 39 = NVwZ 2000, 204; BVerwG, InfAuslR 2005, 120
(122); VG Neustadt a.d. Weinstr., NVwZ-Beil. 2001, 45 (46), posttraumatische Belastungsstörung; VG
Lüneburg, U. v. 19. 5. 2000 - 6 A 134/99, Schwerbehinderung).
149
Bei drohender Verletzung elementarer Menschenrechte633, insbesondere bei drohender
Todesstrafe634, drohender Folter635 ist daher stets das Ermessen reduziert. Dies hat der EGMR
im Blick auf den absoluten Schutzcharakter des Folterverbots nach Art. 3 EMRK für die
Anwendung von § 51 Abs. 5 VwVfG in Verb. mit § 53 Abs. 6 Satz1 AuslG 1990 (jetzt § 60
Abs. 7 Satz 1 AufenthG) ausdrücklich hervorgehoben.636 Im Hinblick auf behauptete
Traumatisierungen ist nach einer internen Dienstanweisung die Anhörung durchzuführen.
b)
Kein Antragserfordernis
Nach der Rechtsprechung des BVerfG ist das Bundesamt auf einen Antrag »oder auch von
Amts wegen« berechtigt, das Verfahren nach § 51 V VwVfG wieder aufzugreifen.637
Allerdings hat das Bundesamt von sich aus, ohne konkrete und erschöpfende Darlegung der
nachträglich entstandenen zwingenden Gründe keinen Anlass, von Amts wegen in eine
erneute Sachprüfung ein zutreten. Aus Gründen des effektiven Verfahrensschutzes empfiehlt
sich deshalb ein ausdrücklich auf § 51 Abs. 5 VwVfG in Verb. mit § 60 Abs. 2 bis 5, 7
AufenthG bezogener sowie detailliert und ausführlich begründeter Antrag. Das Bundesamt
hat jedoch durch interne Dienstanweisung geregelt, dass bei einer schweren, im Herkunftsland
nicht behandelbaren Krankheit, einer drohenden Genitalverstümmelung sowie insbesondere
einer behaupteten Traumatisierung ein Wiederaufgreifen von Amts wegen zu prüfen ist.
c)
Eilrechtsschutz
Es stellen sich schwierige Rechtsschutzprobleme. So ist etwa die Regelung des § 71 Abs. 5
Satz 2 1. Hs. AsylVfG nicht unmittelbar anwendbar. Auch finden die Vorschriften des
AsylVfG keine Anwendung. Vielmehr ist gemäß § 1 Abs. 1 Nr. 1 VwVfG die Vorschrift des
§ 51 VwVfG unmittelbar anwendbar. Erst die Entscheidung über die Aufhebung der im
Rahmen des Erstverfahrens getroffenen negativen Feststellung zu § 60 Abs. 2 bis 5, 7
AufenthG ist als eine Entscheidung nach dem AsylVfG anzusehen. Dies ergibt sich im
Umkehrschluss aus § 73 Abs. 3 AsylVfG. Wenn die positive Entscheidung über
Abschiebungshindernisse nach § 60 Abs. 2 bis 5, 7 AufenthG nur vom Bundesamt abgeändert
werden darf, so spricht vieles dafür, dass dies auch für die negative dementsprechende
Feststellung gilt. Im Falle der isolierten - erstmaligen - Berufung auf
Abschiebungshindernisse nach § 60 Abs. 2 bis 5, 7 AufenthG kann sich der Eilrechtsschutz
jedoch nicht auf den Widerruf der Mitteilung nach § 71 Abs. 5 S. 2 1. Hs. AsylVfG beziehen,
da diese Vorschrift in einem derartigen Verfahren von vornherein nicht anwendbar ist.
Ungeachtet dieser Bedenken wird in der Praxis allgemein Eilrechtsschutz gegen das
Bundesamt gewährt.638 Danach ist dieses analog § 71 Abs. 5 Satz 2 1. Hs AsylVfG im Wege
der einstweiligen Anordnung zu verpflichten, der zuständigen Ausländerbehörde mitzuteilen,
dass Abschiebungshindernisse geprüft werden und deshalb eine Abschiebung bis zum
Abschluss des Folgeantragsverfahrens nicht vollzogen werden darf. Darüber hinaus ist eine
Stillhaltezusage zu beantragen. Die entsprechende Empfehlung kann das Verwaltungsgericht
aber nur an das Bundesamt mit dem Inhalt richten, diese an die zuständige Ausländerbehörde
633
OVG Rh-Pf, NVwZBeil. 1999, 45 (46).
VG Wiesbaden, InfAuslR 2002, 275 (276), drohende Todesstrafe im Iran wegen Drogenhandels.
635
Vgl. BVerwG, NVwZ 2000, 940 (941) = InfAuslR 2000, 410 = AuAS 2000, 154 = EZAR 212 Nr. 10.
636
EGMR, InfAuslR 2000, 321 (324f.) = NVwZ 2001, 301 = EZAR 933 Nr. 8 - T.I.
637
BVerfG (Kammer), InfAuslR 2000, 459 (461) = NVwZ 2000, 907 = EZAR 212 Nr. 12 = AuAS 2000,
197; so bereits BVerwGE 78, 332 (340) = NVwZ 1988, 737; so auch Nieders.OVG, AuAS 2001, 140 (142); a.A.
VGH BW, 2000, 201(202).
638
Nieders.OVG, AuAS 2005, 58 (59); OVG NW, AuAS 2004, 155 (156); Hess.VGH, EZAR 98 Nr. 17;
VG Stuttgart, NVwZ-Beil. 2003, 95.
634
150
zu übermitteln. Sollte die Ausländerbehörde während des anhängigen Verfahrens oder auch
nach der Anordnung der einstweiligen Anordnung die Abschiebung durchführen wollen, ist
einstweiliger Rechtsschutz nach § 123 VwGO gegen den Rechtsträger der Ausländerbehörde
auf Aussetzung der Abschiebung zu beantragen (umstritten). Kompliziert wird die
prozessuale Situation noch dadurch, dass sich dieser Antrag nicht gegen die an sich
zuständige Ausländerbehörde, sondern häufig gegen die zentrale Abschiebungsbehörde
richtet.
Eine andere Lösung geht dahin, das Bundesamt im Wege der einstweiligen Anordnung nach
§ 123 VwGO zu verpflichten, festzustellen, dass vorläufig bis zu einer Entscheidung im
Hauptsacheverfahren die Voraussetzungen des § 60 Abs. 7 1 AufenthG vorliegen. Hierdurch
werde die gesetzliche Duldung ausgelöst. Nur auf diesem Wege könne überhaupt der Weg für
die von der Ausländerbehörde noch zu treffende Ermessensentscheidung eröffnet werden.
Sollte die Ausländerbehörde ungeachtet der vorläufigen Feststellung des Bundesamtes eine
negative Ermessensentscheidung treffen, sei nach allgemeinen Grundsätzen der
Eilrechtsschutz gegenüber der Ausländerbhehörde zu verfolgen.639 Im Falle einer Feststellung
nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG ist zwingend die Abschiebung auszusetzen (§ 60 a Abs. 2
AufenthG). Art. 15 Buchst. c) RL 2004/83/EG, welche durch § 60 Abs. 7 AufenthG jedenfalls
teilweise umgesetzt wird, ordnet zwingend die Gewährung subsidiären Schutzes an. Dies
spricht dafür, den Eilrechtsschutz allein gegenüber dem Bundesamt zuzulassen. Ob Inhalt des
Rechtsschutzantrags die Verpflichtung zur Mitteilung, dass Abschiebungshindernisse geprüft
werden, oder die vorläufige Verpflichtung zur Feststellung von Abschiebungshindernissen ist,
ist eine zweitrangige Frage.
Erlässt das Bundesamt im Zusammenhang mit der Verweigerung der Einleitung eines neuen,
auf die isolierte Feststellung von Abschiebungshindernissen nach § 60 Abs. 2 bis 5, 7
AufenthG gerichteten Verfahrens zugleich eine Abschiebungsandrohung, ist im Hinblick auf
den Abschiebungsschutz nach § 60 Abs. 2 bis 5, 7 AufenthG vorläufiger Rechtsschutz nach
§ 80 Abs. 7 VwGO gegen den Rechtsträger des Bundesamtes zu beantragen. Die Beantragung
einer Stillhaltezusage ist wegen Eingreifens des gesetzlichen Abschiebungshindernisses (vgl.
§ 71 Abs. 4 in Verb. mit § 36 Abs. 3 Satz 8 AsylVfG) nicht erforderlich. In der
Rechtsprechung wird vertreten, das Bundesamt habe auch während des anhängigen
Verwaltungsstreitverfahrens, wenn Wiederaufgreifensgründe erst nach Abschluss des
Verwaltungsverfahrens geltend gemacht werden, nach § 51 Abs. 2 VwVfG in eine erneute
Prüfung einzutreten.640 Dem ist zuzustimmen. Denn in Fällen der Ermessensreduktion trifft
das Bundesamt von Amts wegen eine Verpflichtung zur Prüfung.
4.
Abänderungsantrag (§ 80 Abs. 7 Satz 2 VwGO
a)
Zulässigkeit des Antrags
Die in § 36 Abs. 3 Satz 1 AsylVfG geregelte Fristgebundenheit des Antrags nach § 80 Abs. 5
VwGO
mit
ihrer
die
Klagefrist
verkürzenden
Wirkung
verfolgt
einen
verfahrensbeschleunigenden Zweck. Spätere Abänderungsanträge nach § 80 Abs. 7 Satz 2
VwGO werden damit jedoch nicht ausgeschlossen, vorausgesetzt, der Antrag nach § 36
Abs. 3 Satz 1 AsylVfG im vorläufigen Rechtsschutzverfahren war nicht verfristet. 641 In
diesem Fall erachtet die Rechtsprechung einen nicht fristgebundenen einstweiligen
639
640
641
VG Stuttgart, NVwZ-Beil. 2003, 95.
VG Neustadt a.d. Weinstr., NVwZ-Beil. 2001, 45 (46).
OVG NW, EZAR 632 Nr. 13; wohl auch VG Gießen, AuAS 1994, 228; ähnl. Leiner, NVwZ 1994, 239
(242).
151
Anordnungsantrag nach § 123 VwGO für zulässig, mit dem Ziel, die Ausländerbehörde zu
verpflichten, von aufenthaltsbeendenden Maßnahmen bis zum rechtskräftigen Abschluss des
Asylverfahrens abzusehen.642
Die Wahl des richtigen Rechtsmittels nach Zurückweisung des Eilrechtsschutzantrags ist
danach abhängig davon, ob der ursprüngliche Antrag nach § 36 Abs. 3 Satz 1 AsylVfG
verfristet war oder nicht. Für den Fall, dass der Antrag auf Anordnung der aufschiebenden
Wirkung fristgemäß gestellt worden war, ist ein späterer Abänderungsantrag nach § 80 Abs. 7
Satz 2 VwGO grundsätzlich zulässig. Jedoch erstreckt sich der Beschwerdeausschluss (§ 80
AsylVfG) auch auf das Abänderungsverfahren.643 Ist etwa im Folgeantragsverfahren der
fristgemäß gestellte Eilantrag abgelehnt worden, aber das Hauptsacheverfahren noch
anhängig, kann bei veränderter Sach- und Rechtslage Abänderungsantrag gemäß § 80 Abs. 7
Satz 2 VwGO in Betracht kommen. Kein Asylfolgeantrag, sondern ein Abänderungsantrag ist
bei nachträglich auftretenden Umständen angezeigt, wenn der asylrechtliche Eilrechtsschutz
unanfechtbar versagt worden, indes das Hauptsacheverfahren noch anhängig ist. In diesem
Fall wäre die Stellung eines Asylfolgeantrags unzulässig (vgl. § 71 Abs. 1 1. Hs. AsylVfG).
Eine Rücknahme der Klage ist nicht empfehlenswert, da in diesem Fall der Tatsachenstoff des
Asylverfahrens nicht mehr Gegenstand des Asylfolgeantragsverfahrens wäre.
Der Abänderungsantrag hat auch insbesondere deshalb Bedeutung, weil das BVerfG wegen
der Subsidiarität der Verfassungsbeschwerde644 verlangt, dass der Beschwerdeführer über das
Gebot der Rechtswegerschöpfung im engeren Sinne hinaus alle ihm zur Verfügung stehenden
Möglichkeiten ergreift, um es erst gar nicht zu einem Verfassungsverstoß kommen zu lassen
oder eine Korrektur der geltend gemachten Verfassungsverletzung zu erreichen, wozu auch
ein „weiterer“ Abänderungsantrag gemäß § 123 i.V.m. § 80 Abs. 7 Satz 2 VwGO gehören
kann.645 Zuständig für die Entscheidung über den Abänderungsantrag ist das Gericht der
Hauptsache (vgl. § 80 Abs. 7 Satz 1 VwGO).
b)
Abänderung von Amts wegen oder auf Antrag
Abänderungsanträge nach § 80 Abs. 7 Satz 2 VwGO sind nicht fristgebunden. Nach der
Vorschrift des § 80 Abs. 7 VwGO besteht einerseits die Möglichkeit, eine Entscheidung von
Amts wegen im Verfahren nach § 80 Abs. 7 Satz 1 VwGO anzuregen und andererseits das
Antragsverfahren nach § 80 Abs. 7 Satz 2 VwGO einzuleiten. Bei einer Entscheidung von
Amts wegen brauchen sich weder rechtlich noch tatsächlich die Umstände geändert haben.
Das Gericht kann vielmehr auch bei unveränderten Umständen zu einer Änderung seiner
Auffassung kommen.646 Nach der Gegenmeinung ist dagegen die Abänderung nicht völlig in
das Belieben des Gerichts gestellt, da auch Beschlüsse nach § 80 Abs. 5 VwGO wegen ihrer
Vollstreckungsfähigkeit einer gewissen „inneren Festigkeit“ bedürften. Eine Abänderung von
642
643
BayVGH, NVwZ-Beil. 1994, 67 = AuAS 1994, 204.
OVG NW, EZAR 632 Nr. 11; Hess. VGH, AuAS 8/1992, S. 12
644
BVerfGE 42, 243 (247)
BVerfG, AuAS 1995, 101 (105) = NVwZ-Beil. 1995, 50; BVerfG (Kammer), NJW 1993, 1060 =
NVwZ 1993, 466 (LS); BVerfG (Kammer), NVwZ 1992, 51; BVerfG (Kammer), InfAuslR 1995, 18 = AuAS
1994, 250.s. hierzu auch BVerfG (Kammer), InfAuslR 1995, 344; BVerfG (Kammer), 1994, 159,
Verfassungsbeschwerdefrist gegen ablehnenden Beschluss des VG nach § 80 Abs. 7 VwGO beträgt einen
Monat; s. auch Roeser/Hänlein, NVwZ 1995, 1082 (1084); Hänlein, AnwBl 1995, 57 (60 f.).
646
VGH BW, NVwZ 1996, 603 (604); Redeker, NVwZ 1991, 526 (528); Schoch, NVwZ 1991, 1121
(1123); a.A. Hess. VGH, NVwZ-RR 1997, 446; OVG NW, NVwZ 1999, 894.
645
152
Amts wegen komme deshalb nur in Betracht, wenn bei gleich bleibenden Umständen etwa die
Rechtslage jetzt anders beurteilt werde oder die Interessenabwägung korrekturbedürftig
erscheine, weil den Belangen der materiellen Einzelfallgerechtigkeit und inhaltlichen
Richtigkeit Vorrang vor Rechtssicherheit und Vertrauensschutz einzuräumen sei.647
Der im Eilrechtsschutzverfahren erfolglos gebliebene Asylsuchende kann also jederzeit, ohne
besondere Voraussetzungen, anregen, dass der Einzelrichter seinen Beschluss nach
pflichtgemäßem Ermessen überprüft und gegebenenfalls ändert. Der Antragsteller hat jedoch
keinen Anspruch darauf, dass das Gericht ohne Vorliegen der Voraussetzungen nach § 80
Abs. 7 Satz 2 VwGO sein Ermessen nach § 80 Abs. 7 Satz 1 VwGO fehlerfrei ausübt.648
Angesichts der zwingenden materiellen und prozessualen asylrechtlichen Vorschriften dürfte
dieser Weg jedoch in aller Regel kaum erfolgversprechend sein, sodass effektiver
Rechtsschutz nur unter den Voraussetzungen des § 80 Abs. 7 Satz 2 VwGO anzustreben ist.
c)
Voraussetzungen des Abänderungsantrags nach § 80 Abs. 7 Satz 2 VwGO
Der Antragsteller kann nach § 80 Abs. 7 Satz 2 VwGO die Änderung oder Aufhebung des
ursprünglichen Beschlusses nach § 80 Abs. 5 VwGO wegen veränderter oder im
ursprünglichen Verfahren ohne Verschulden nicht geltend gemachter Umstände beantragen.
Gegenstand des Abänderungsverfahrens ist die Prüfung, ob eine zuvor im Verfahren nach
§ 80 Abs. 5 VwGO getroffene gerichtliche Entscheidung über die Bestätigung der sofortigen
Vollziehbarkeit einer Abschiebungsandrohung ganz oder teilweise geändert oder aufgehoben
werden soll. Dabei geht es nicht um die ursprüngliche Richtigkeit der im vorangegangenen
Verfahren getroffenen Entscheidung.
Das Abänderungsverfahren ist demzufolge kein Rechtsmittelverfahren, sondern ein gegenüber
dem Ausgangsverfahren nach § 80 Abs. 5 VwGO selbständiges und neues Verfahren des
vorläufigen Rechtsschutzes, in dem eine abweichende Entscheidung der aufschiebenden
Wirkung der Klage nur mit Wirkung für die Zukunft getroffen werden kann.649 Zwar kann
nach § 80 Abs. 7 Satz 2 VwGO jeder Beteiligte den Abänderungsantrag stellen. Es spricht
jedoch vieles dagegen, im Asylverfahren der Behörde die Antragsbefugnis einzuräumen.
Antragsbefugt wäre ohnehin nur das Bundesamt, da nur diese Behörde und nicht die
Ausländerbehörde Beteiligte des vorläufigen Rechtsschutzverfahrens ist.
Für die Frage, ob der Antragsteller im ursprünglichen Verfahren entscheidungserhebliche
Umstände ohne Verschulden nicht geltend machen konnte, dürfte vom Verschuldensmaßstab
des § 60 Abs. 1 VwGO auszugehen sein Die Präklusionsvorschrift des § 74 Abs. 2 Satz 2
AsylVfG findet insoweit keine Anwendung. Das ergibt sich bereits aus dem Unterschied
zwischen § 36 Abs. 4 Satz 2 und § 74 Abs. 2 Satz 2 AsylVfG. Dieser rechtfertigt die
Annahme, dass § 36 Abs. 4 Satz 2 AsylVfG nicht die Möglichkeit eröffnen soll, Tatsachen
und Beweismittel endgültig aus dem Eilrechtsschutzverfahren auszuschließen. Zudem führte
eine Präklusion auch für das Abänderungsverfahren zu einer bedenklichen
Überbeschleunigung des Verfahrens.
647
Hess. VGH, NVwZ-RR 1997, 446 (447); OVG NW, NVwZ 1999, 894.
VGH, NVwZ-RR 1997, 446 (447); OVG NW, NVwZ 1999, 894 .
OVG Hamburg, NVwZ 1995, 1004 (1005).
VGH BW, NVwZ 1996, 603 (604); Sächs. OVG, DVBl. 1996, 118
283Hess.
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649
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Von einer veränderten Sachlage nach § 80 Abs. 7 Satz 2 VwGO ist auszugehen, wenn sich
die Umstände, also die tatsächlichen Voraussetzungen, von denen der Einzelrichter bei
seinem Beschluss nach § 80 Abs. 5 VwGO ausgegangen ist, nachträglich geändert haben. Der
Abänderungsantrag kann auf jedes neue Vorbringen gestützt werden. Voraussetzung ist nicht,
dass sich die Sach- oder Rechtslage geändert hat.650 Vielmehr kann auch eine sich bereits
abzeichnende Änderung der Gesetzeslage im Abänderungsverfahren berücksichtigt werden.651
Ebenso kann die Änderung der höchstrichterlichen Rechtsprechung in Verbindung mit
gewichtigen Bedenken im Schrifttum, die gegen eine bisher geltende Rechtsansicht geltend
gemacht wurden, die Änderung des ursprünglichen Beschlusses angezeigt erscheinen
lassen.652 Auch die gefestigte Rechtsprechung eines Obergerichtes zur Beurteilung der
Gefährdung einer bestimmten Personengruppe ist ein veränderter Umstand. Vereinzelt
gebliebene abweichende obergerichtliche Entscheidungen können allerdings dann nicht
berücksichtigt werden, wenn dem eine überwiegende obergerichtliche Rechtsprechung
entgegensteht, die durch das BVerwG bekräftigt worden ist.653
Auch eine Änderung der Prozesslage rechtfertigt den Erlass des Abänderungsbeschlusses.654
So reicht es aus, wenn früher nicht verfügbare Urkunden und damit möglicherweise
entscheidungserhebliche neue Beweismittel vorgelegt werden, die deshalb eine Änderung der
Prozesslage bewirken, weil sie die für die Beurteilung der Glaubwürdigkeit des Antragstellers
wesentlichen tatsächlichen Grundlagen in Frage stellen.655 Darüber hinaus ergibt sich eine den
Abänderungsantrag rechtfertigende veränderte Prozesslage, wenn nach dem Erlass des
Beschlusses nach § 80 Abs. 5 VwGO etwa im Blick auf die Gefährdung bestimmter
Personengruppen neue Stellungnahmen sachverständiger Stellen bekannt werden656 oder
wenn das Verwaltungsgericht im Hauptsacheverfahren eine Beweisaufnahme angeordnet hat,
um hinsichtlich etwaiger Abschiebungshindernisse eine aktualisierte Auskunftslage zu
erhalten, jedenfalls dann, wenn sich die Lage im Herkunftsland des Asylsuchenden
fortlaufend verändert und ihre Stabilität durch eine während des Hauptsacheverfahrens
anhaltende kriegerische Auseinandersetzung beeinflusst werden kann.657
Für die im Abänderungsverfahren vorzunehmende Interessenabwägung kommt es
entscheidend auf die Einschätzung der Erfolgsaussicht des Hauptsacheverfahrens an.658 Ist
die angefochtene Verfügung offensichtlich rechtmäßig, überwiegt das öffentliche Interesse an
der sofortigen Vollziehbarkeit der Abschiebungsandrohung das entgegenstehende Interesse
des Antragstellers.659 Es muss also eine hohe Gewissheit bestehen, dass mit der
Zurückweisung des Antrags ein materieller Anspruch auf Gewährung von
Abschiebungsschutz nicht verletzt wird.660 Droht danach dem Antragsteller bei Versagung des
vorläufigen Rechtsschutzes eine erhebliche, über Randbereiche hinausgehende Verletzung in
seinen Grundrechten, die durch eine der Klage stattgebende Entscheidung nicht mehr beseitigt
werden kann, so ist – erforderlichenfalls unter eingehender tatsächlicher und rechtlicher
650
VGH BW, NJW 1970, 165.
OVG NW, NVwZ 1983, 353.
652
BFH, BStBl. II 1981, 99 (100).
653
BVerfG (Kammer), NVwZ-Beil. 1997, 25.
654
VGH BW, NJW 1970, 165; Hess. VGH, NVwZ-RR 1989, 590.
655
Hess. VGH, NVwZ-RR 1989, 590
656
VG Ansbach, Beschl. v. 26.8.1994 – AN 12 S 9444555, zur Gefährdung der armenischen Volksgruppe
in Aserbeidschan.
657
VG Hannover – Kammern Hildesheim –, Beschl. v. 30.5.1995 – 1 B 784/95. Hi
658
BVerwG, InfAuslR 1994, 395; VGH BW, NJW 1970, 165.
298BVerwG, InfAuslR 1994, 395; VGH BW, NJW 1970, 165.
659
VGH BW, NVwZ 1996, 603 (604).
660
Vgl. BVerfGE 94, 166 (190) = EZAR 632 Nr. 25 = NVwZ 1996, 678.
651
154
Prüfung des im Hauptsacheverfahren geltend gemachten Anspruchs – vorläufiger
Rechtsschutz zu gewähren, es sei denn, es stehen ausnahmsweise überwiegende, besonders
gewichtige Gründe entgegen.661
661
BVerfGE 979, 68 (75).
155
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