DR. REINHARD MARX - Rechtsanwalt RA Dr. Reinhard Marx - Mainzer Landstr. 127a – D- 60327 Frankfurt am Main Fachtagung für Verwaltungsrichter „Aktuelle Fragen des Ausländerrechts“ am 13. November 2013 im BVerwG in Leipzig -- Mainzer Landstraße 127a (Eingang Rudolfstraße) D-60327 Frankfurt am Main Telefon: 0049 / 69 / 24 27 17 34 Telefax: 0049 / 69 / 24 27 17 35 E-Mail: [email protected] Internet: http://www.ramarx.de Bei Antwort und Zahlung bitte angeben. 11. November 2013 Aktuelle Fragen des Rechts der Aufenthaltshaltsbeendigung Gliederung: I. Vorbemerkung S. 2 II. Befristung der Rückkehrentscheidung 2 1. Nationale Sperrwirkung 2 2. Abschiebungsandrohung (§ 59 Abs. 1 AufenthG) 3 3. Abschiebung (§ 58 AufenthG) 4 4. Ausweisung (§§ 53 ff. AufenthG) 7 a) Zum umstrittenen unionsrechtlichen Charakter der Ausweisung 7 b) Verhältnis Ausweisung und Befristung 9 c) Zuständige Behörde 14 d) Antragserfordernis für die Befristung 15 e) Ausreiseerfordernis (§ 11 Abs. 1 Satz 6 AufenthG) 17 aa) Problemaufriss 17 bb) Unzulässigkeit einer Befristungsentscheidung mit aufschiebender Bedingung 18 cc) Ausnahmen vom Ausreiseerfordernis 18 dd) Rückkehrperspektive 20 f) Dauer der Befristung 21 aa) Gebundene Entscheidung bb) Überschreitung der Fünfjahresgrenze (Art. 11 Abs. 2 Satz 2 RFRL, § 11 Abs. 1 Satz 4 zweiter Halbsatz AufenthG) 22 cc) Grundsätze zur Fristbemessung 24 III Verhältnis der Abschiebungsanordnung nach § 34a AsylVfG zur Duldung oder Aufenthaltserlaubnis. 27 1. Erlass der Abschiebungsanordnung (§ 34a Abs. 1 AsylVfG) 27 2. Rücknahme oder Unterlassen des Asylantrags 29 3. Zulässigkeit von Eilrechtsschutz (§ 34a Abs. 2 AsylVfG n.F.) 31 IV. Feststellung des Nichtbestehens oder des Wegfalls der Freizügigkeitsberechtigung wegen Inanspruchnahme von Sozialhilfeleistungen (§ 5 Abs. 4 FreizügG/EU) 34 Bankverbindung: Frankfurter Sparkasse von 1822 (BLZ 50050201) Kto.-Nr. 668 702 Gerichtsstand für Streitigkeiten aus Anwaltsvertrag ist Frankfurt am Main 1. 2. 3. Funktion der Feststellung nach § 5 Abs. 4 FreizügG/EU Inanspruchnahme von Sozialhilfeleistung a) Fallgruppen b) Funktion des Verbots des Art. 14 Abs. 3 RL 2004/38/EG c) Arbeitnehmer d) Selbständige Durchsetzung der Ausreisepflicht 34 36 36 36 37 40 41 I. Vorbemerkung Die im Vorwege eingeholten Themenwünsche der Teilnehmer betreffen nahezu ausschließlich Fragen der Befristungsregelungen des § 11 Abs. 1 AufenthG und in diesem Zusammenhang die Frage der unionskonformen Umsetzung der Richtlinie 2008/105/EG (Rückführungsrichtlinie - RFRL). Dabei sollen das Erfordernis der Befristung der Ausweisung, das Ausreiseerfordernis und die Grundsätze zur Dauer der Befristung wie auch das Erfordernis der Befristung der angedrohten Abschiebungsandrohung erörtert werden. Diese Fragen bilden daher den thematischen Schwerpunkt des Vortrags. Ferner sollen das Verhältnis der Abschiebungsanordnung nach § 34a AsylVfG zur Duldung oder Aufenthaltserlaubnis sowie – wohl angeregt durch die Zuwanderung von Unionsbürgern aus Bulgarien und Rumänien - Fragen der Beendigung des Freizügigkeitsrechts nach § 5 Abs. 4 FreizügG/EU behandelt werden. Im Vortrag werden die aktuellen Gesetzesänderungen, die am 1. Dezember 2013 in Kraft treten werden, sowie die geänderten Rechtsakte der Union, soweit diese relevant sind, berücksichtigt. Das betrifft insbesondere die Verordnung (EU) Nr. 604/2013 (Dublin III-VO), die auf alle Anträge Anwendung findet, die ab dem 1. Januar 2014 in der Union gestellt werden (Art. 49 Abs. 2). Wegen der unionsrechtlichen Durchdringung nationalen Rechts werden alle drei Themenkomplexe ausgehend von den relevanten unionsrechtlichen Rechtsakten behandelt und dabei erörtert, ob und inwieweit der nationale Gesetzgeber noch eigenständige Regelungskompetenzen hat. II. Befristung der Rückkehrentscheidung (Art. 11 RFRL) 1. Nationale Sperrwirkung (§ 11 Abs. 1 Satz 1 AufenthG) Die Prüfung, ob die Rückführungsrichtlinie unionskonform umgesetzt wurde, beginnt beim Einreiseverbot des Art. 11 RFRL. Dieses hat in § 11 Abs. 1 Satz 1 AufenthG seine nationale 2 Entsprechung. Dabei bleibt zunächst die Frage offen, welche der dort bezeichneten Maßnahmen dem Anwendungsbereich der Richtlinie zuzuordnen sind. Nach § 11 Abs. 1 Satz 1 AufenthG bewirken Ausweisung, Zurückschiebung und Abschiebung ein gesetzliches Einreise- und Aufenthaltsverbot (Sperrwirkung) und führen zur Ausschreibung zur Einreiseverweigerung im SIS (Art. 96 Abs. 3 SDÜ). Dies bewirkt eine Einreisesperre für das gesamte Gebiet der Schengen-Staaten. Die Wirkungen von Ausweisung und Abschiebung betreffen auch Unionsbürger und diesen rechtlich gleichgestellte Personen (§ 7 Abs. 2 Satz 1 FreizügG/EU) und haben zur Folge, dass diese weder in andere Mitgliedstaaten einreisen noch sich dort aufhalten dürfen. Die Sperrwirkung tritt unmittelbar kraft Gesetzes ein (§ 11 Abs. 1 Satz 1 AufenthG, § 7 Abs. 2 Satz 1 FreizügG/EU). Die Abschiebung knüpft die Sperrwirkung an den tatsächlichen Vollzug. Die Abschiebungsandrohung als solche bewirkt keine Sperrwirkung. Ausweisung, Zurückschiebung und Abschiebung begründen einen zwingenden Versagungsgrund für die Erteilung eines Aufenthaltstitels (§ 11 Abs. 1 Satz 2 AufenthG). Bei § 7 Abs. 2 Satz 1 FreizügG/EU bleibt dies hinsichtlich der Abschiebung und Zurückschiebung offen. Der Versagungsgrund kann durch antragsgemäße Befristung aufgehoben werden (§ 11 Abs. 1 Satz 3 AufenthG, § 7 Abs. 2 Satz 2 FreizügG/EU). 2. Abschiebungsandrohung (§ 59 Abs. 1 AufenthG) Die Abschiebungsandrohung (§ 59 Abs. 1 AufenthG) wird im Allgemeinen nicht als Rückkehrentscheidung im Sinne von Art. 11 Abs. 1 RFRL angesehen, da sie lediglich die Funktion hat, die Abschiebung als Vollstreckungsmaßnahme (Art. 8 Abs. 1 RFRL) vorzubereiten, aber nicht selbst die Ausreisepflicht begründet. Sie ergeht regelmäßig zusammen mit der aufenthaltsbeendenden Maßnahme (§ 51 Abs. 1 Nr. 3 bis 5 AufenthG). Die Abschiebungsandrohung ist selbständig anfechtbarer Verwaltungsakt1 und als solche die erste Stufe des Verwaltungsvollstreckungsverfahrens zur zwangsweisen Durchsetzung der Ausreisepflicht des Betroffenen. Sie ist im Einzelfall von dem bloßen Hinweis auf die Ausreisepflicht und der Ankündigung einer Abschiebung abzugrenzen, insbesondere wenn bereits eine Abschiebungsandrohung verfügt worden war. 1 BVerwGE 49, 202 (209) = EZAR 103 Nr. 1 = NJW 1976, 490; BVerwG, DÖV 1978, 180; Funke-Kaiser, in: GK-AsylVfG II - § 34 Rdn. 11; Hailbronner, AuslR B 2 § 34 AsylVfG Rdn. 6. 3 Nur dann, wenn die Abschiebungsandrohung zur Durchsetzung einer vollziehbaren (§ 58 Abs. 2 Satz 1 AufenthG) gesetzlich bestehenden Ausreisepflicht (§ 50 Abs. 1 in Verb. mit § 51 Abs. 1 Nr. 1 und 2 AufenthG) erlassen, die Ausreisepflicht also nicht durch eine Verfügung begründet wird, wird sie als Rückkehrentscheidung im Sinne von Art. 11 Abs. 1 RFRL angesehen, weil nach Art. 6 Abs. 1 RFRL grundsätzlich gegen alle illegal aufhältlichen Drittstaatsangehörigen eine Rückführungsentscheidung zu erlassen ist.2 In diesem Fall wird eine Einreiseverbot aber nur begründet, wenn der Ausreisepflicht nicht nachgekommen (Art. 11 Abs. 1 Buchst. b) RFRL), diese also zwangsweise durchgesetzt wird (Abschiebung). Der Gesetzgeber hat im Blick auf Abschiebungsandrohung, die eine Ausreisepflicht begründet (§ 34, § 35 AsylVfG) nicht von der unionsrechtlichen Kompetenz, damit ein Einreiseverbot zu verbinden (Art. 11 Abs. 1 UAbs. 2 RFRL) Gebrauch gemacht, vielmehr die tradionelle deutsche Rechtslage beibehalten. 3. Abschiebung (§ 58 AufenthG) Nach § 11 Abs. 1 Satz 1 AufenthG begründet die Abschiebung ein Einreiseverbot, dessen Befristung nach § 11 Abs. 1 Satz 3 AufenthG beantragt werden kann. Die unionsrechtliche Grundlage hierfür ist zweifelhaft, da die Abschiebung als solche keine Rückkehrentscheidung darstellt3 und ein Einreiseverbot nur nach Maßgabe von Art. 11 Abs. 1 RFRL, also enumerativ lediglich in zwei Fällen, angeordnet werden darf und damit auch nicht kraft Gesetzes eintreten darf. Dem ersten Fall, in dem die Verhängung eines Einreiseverbots zulässig ist, liegt zugrunde, dass es nach Art. 7 Abs. 4 RFRL im Ermessen steht, bei Fluchtgefahr oder Gefahr für die öffentliche Ordnung, öffentliche oder nationale Sicherheit von der Fristsetzung für eine freiwillige Ausreise abzusehen. § 58 Abs. 1 AufenthG ist daher grundsätzlich unionsrechtlich unbedenklich. Durch die Abschiebung wird die bereits angeordnete Rückkehrentscheidung vollstreckt (Art. 8 Abs. 1 RFRL). Wird aufgrund einer Ausweisung die Abschiebung durchgeführt, handelt die Behörde zwar in Übereinstimmung mit Art. 7 Abs. 4 RFRL. Die Abschiebung wird dadurch jedoch nicht zur Rückkehrentscheidung. Sie bleibt vielmehr bloßer Vollzugsakt als Folge, dass die Rückkehrentscheidung ohne Fristsetzung erfolgt. 2 VGH BW, NVwZ-RR 2012, 492 (493); VGH BW, NVwZ-RR 2012, 412 (414); VGH BW, InfAuslR 2013, 98 (99); s. hierzu im Einzelnen Welte, ZAR 2012, 424 (427 ff.). 3 Welte, ZAR 2012, 424 (429). 4 Dem zweiten Fall liegt zugrunde, dass der Rückkehrverpflichtung nicht nachgekommen wurde (Art. 11 Abs. 1 Buchst. b) RFRL). Nach Art. 7 Abs. 1 RFRL sieht eine Rückkehrentscheidung grundsätzlich eine angemessene Frist zwischen sieben und 30 Tagen für die freiwillige Ausreise vor. Die verspätete freiwillige Befolgung der Ausreisepflicht als solche ist ein Nachkommen, wenn auch ein „verspätetes“. Dieses Verhalten als solches rechtfertigt daher nicht die Verhängung eines Einreiseverbots.4 Wird der Betroffene nach Fristablauf festgenommen und abgeschoben, ist es ihm nicht mehr möglich, der Rückkehrverpflichtung von sich aus nachzukommen. Gelingt ihm jedoch ungeachtet der Pflichtwidrigkeit seines Verhaltens tatsächlich die Ausreise, indem er etwa die Grenzkontrollen ungehindert passiert oder den grundsätzlich von Grenzkontrollen befreiten Schengenraum durchquert und in sein Herkunftsland zurückkehrt oder kann er die Ausländerbehörde überzeugen, ihm ungeachtet der Verspätung weiterhin die freiwillige Ausreise zu ermöglichen, kommt er der Rückkehrverpflichtung von sich aus nach. Art. 7 Abs. 2 RFRL lässt eine derartige Fristverlängerung zu. Zwar ergreifen die Behörden bei Nichtbefolgung der Frist „alle erforderlichen Maßnahmen zur Vollstreckung der Rückkehrentscheidung“ (Art. 8 Abs. 1 RFRL). Bei überzeugender Entschuldigung für die Fristversäumnis ist die Vollstreckung nicht erforderlich, weil aufgrund der überzeugenden Entschuldigung die freiwillige Ausreise nach Ablauf der antragsgemäß verlängerten Frist gewährleistet erscheint. In diesem Fall untersagt Art. 11 Abs. 1 Buchst. b) RFRL trotz der verspäteten Erfüllung der Rückkehrverpflichtung die Verhängung eines Einreiseverbots. Aus dieser Struktur des Art. 11 Abs. 1 RFRL wird deutlich, dass die Abschiebung als solche unter keinen denkbaren Umständen eine Rückkehrentscheidung darstellen kann, die ein Einreiseverbot zur Folge hätte. Gleiches gilt für die in § 11 Abs. 1 Satz 1 AufenthG bezeichnete Zurückschiebung (§ 57 AufenthG). Damit ist die auch der üblichen Verwaltungspraxis, die Anordnung der Befristung grundsätzlich von der Begleichung der Abschiebungskosten abhängig zu machen,5 der Rechtsgrund Rückkehrentscheidung (Art. 6 in Verb. mit Art. 3 Nr. 4 entzogen. Die RFRL) ist stets eine der Vollstreckung (Art. 8 RFRL) zeitlich vorausliegende Maßnahme. An diese der Vollstreckung vorgehende Rückkehrentscheidung knüpft das Einreiseverbot an, wenn keine Gelegenheit zur freiwilligen Ausreise eingeräumt oder der Rückkehrverpflichtung nach Fristablauf nicht 4 5 So Welte, ZAR 2012, 424 (429). Hess.VGH, InfAuslR 1998, 445 (446); VGH BW, InfAuslR 1998 433 (435). 5 nachgekommen und der Betroffene wegen der Vollstreckung der Rückkehrverpflichtung nicht mehr von sich aus nachkommen kann. Nur im ersten Fall ergeht die Rückkehrentscheidung von vornherein mit einem Einreiseverbot (Art. 11 Abs. 1 Buchst. a) RFRL) einher. Im zweiten Fall wird erst durch die Abschiebung das Einreiseverbot begründet. Aber auch dadurch wird der tatsächliche Vollzugsakt der Abschiebung nicht zur Rückkehrentscheidung. Vielmehr liegt ja - wie bereits aus dem Wortlaut der Vorschrift und der Gesetzessystematik folgt - eine Rückkehrverpflichtung vor, deren Nichtbefolgung zwingend das Einreiseverbot zur Folge hat. Nicht der Vollzugsakt, sondern die Pflichtwidrigkeit des Betroffenen begründet das Einreiseverbot. Vor Fristablauf darf er nicht abgeschoben werden (Art. 8 Abs. 2 RFRL). Auch Art. 8 Abs. 1 und Art. 10 RFRL verdeutlichen, dass Rückkehrentscheidung und Abschiebung im System der Richtlinie zwei voneinander getrennte Maßnahmen sind. Bereits vor dem Erlass der Rückkehrentscheidung bedarf es bei unbegleiteten Minderjährigen nach Art. 10 Abs. 1 RFRL der Zusammenarbeit mit den zuständigen Behörden und haben sich die Behörden vor der Vollstreckung nach Abs. 2 zu vergewissern, dass im Zielstaat die Unterstützung durch eine geeignete Stelle sichergestellt ist. Diese unionsrechtlichen Verpflichtungen entsprechen der Rechtsprechung des EGMR.6 Nach der deutschen Rechtsprechung kommt es für die Aufhebung der Sperrwirkung darauf an, ob die Abschiebungsgründe (vgl. § 59 AufenthG) fortbestehen.7 Die Maßstäbe für die Befristung der Sperrwirkung der Ausweisungsverfügung können auch für die Befristung der Wirkung der Abschiebung nutzbar gemacht werden. Dabei sind allerdings die Unterschiede in den Zwecken beider Maßnahmen zu beachten. Die Sperrwirkung der Abschiebung knüpft an die Abschiebungsgründe (§ 58 Abs. 3 AufenthG) an. Das mit ihr verbundene Einreise-, Aufenthalts-/Aufenthaltstitelverbot soll den Ausländer deswegen treffen, weil er Anlass für Vollstreckungsmaßnahmen gegeben hat und die Besorgnis besteht, dass dies bei einem künftigen Aufenthalt im Bundesgebiet erneut der Fall sein könnte. Insofern hat die Abschiebungssperrfrist eine spezialpräventive Zielrichtung. Daneben kommt ihr auch wegen der Abschreckungswirkung eine generalpräventive Wirkung zu. Ferner kommt es auch maßgeblich auf das Verhalten des Ausländers nach der Abschiebung, insbesondere auf 6 7 EGMR, NVwZ-RR 2008, 573 (575) Rdn. 68 –Maeka und Mitunga. OVG Hamburg, InfAuslR 1990, 60 (61); VGH BW, InfAuslR 1998, 433 (435). 6 straffälliges Verhalten an. Hingegen sind die Gründe, die zur Aufenthaltsbeendigung geführt haben, grundsätzlich unerheblich.8 Dagegen ist nach der Richtlinie grundsätzlich die Dauer des Einreiseverbots mit dem Erlass der Rückkehrentscheidung festzusetzen. Auch für den Fall, dass der Rückkehrverpflichtung nicht nachgekommen wurde, geht die Rückkehrentscheidung mit einem Einreiseverbot einher. Naturgemäß kann es nicht mit dem Erlass der Rückkehrentscheidung ergehen, ist aber von Amts wegen unverzüglich nachzuholen. In beiden Fällen liefern die Maßstäbe für die Dauer des Einreiseverbots Art. 11 Abs. 2 RFRL. Die in der Vorschrift angesprochenen „jeweiligen Umstände des Einzelfalls“ verdeutlichen, dass anders als nach der deutschen Rechtsprechung die Gründe, die zur Rückkehrentscheidung geführt haben, erheblichen Einfluss auf die Bemessung der Dauer des Einreiseverbots haben. Diese Gründe zielen also zunächst auf den Sachverhalt, der der Rückkehrentscheidung zugrunde liegt. Zusätzlich kann nach Erwägungsgrund Nr. 14 für die Bemessung der Dauer des Einreiseverbots – wohl aus spezialpräventiven Gründen des Art. 11 Abs. 2 RFRL - auch die Pflichtwidrigkeit des Verhaltens zu Lasten des Betroffenen berücksichtigt werden. Eine generalpräventive Stoßrichtung kann diesen Regelungen aber nicht entnommen werden. Die Abschiebung bedarf der Schriftform und einer sachlichen und rechtlichen Begründung sowie der Information über mögliche Rechtsbehelfe (Art. 12 Abs. 1 UAbs. 1 RFRL, § 77 Abs. 1 Satz 1 AufenthG). Nach Art. 8 Abs. 3 RFRL dürfen hiervon keine Ausnahme gemacht werden.9 Daher ist Gelegenheit zur Einlegung von Rechtsbehelfen gegen die Abschiebung zu geben.10 Vorangegangene Rechtsbehelfe konnten sich nicht gegen die Abschiebung, sondern nur gegen die Rückkehrentscheidung selbst richten. Allerdings wird die Ausländerbehörde Abschiebungshaft nach § 62 Abs. 3 AufenthG beantragt haben und der Eilrechtsschutz die Haft verlängern. Gleichwohl kann im Eilrechtsschutzverfahren festgestellt werden, dass die Voraussetzungen nach § 58 Abs. 1 AufenthG nicht vorliegen. 8 VGH BW, InfAuslR 2003, 333 (337) = AuAS 2003, 184. So aber Welte, ZAR 2012, 424 (430). 10 Gutmann, InfAuslR 2013, 2 (3). 9 7 4. Ausweisung (§ 53 ff. AufenthG) a) Zum umstrittenen unionsrechtlichen Charakter der Ausweisung Hoch umstritten ist, ob die Ausweisung als Rückkehrentscheidung im Sinne von Art. 11 Abs. 1 RFRL zu qualifizieren ist.11 Der als „Gesamtschauansatz“ bezeichnete Versuch des BVerwG wird in der Literatur gelobt, weil er durch die Auslegung des § 11 Abs. 1 AufenthG nach Maßgabe nationalen Rechts die Ausweisung vom Unionsrecht und damit von Entscheidungen des EuGH abkoppelt.12 Ob das Gericht mit diesem nationalen Ansatz auf Dauer die vielfältigen, unionsrechtlichen Fragen, die mit der Rückkehrentscheidung und dem Einreiseverbot einhergehen, lösen kann, darf jedoch bezweifelt werden. Das schwächste Argument gegen eine Einbettung der Ausweisung in das System der Richtlinie ist der Hinweis auf die Freistellungsklausel des Art. 2 Buchst. b) RFRL, 13 wonach die Mitgliedstaaten beschließen können, die Richtlinie nicht auf die Drittstaatsangehörige anzuwenden, die nach nationalem Recht aufgrund einer strafrechtlichen Sanktion rückkehrpflichtig sind. Zwar erweckt die gesetzliche Begründung (BT-Drs. 17/5470, S. 39) den Eindruck, dass der Gesetzgeber diese Ausschlussklausel hat in Anspruch nehmen wollen, was auch erklärt, dass er in § 11 Abs. 1 Satz 3 AufenthG entgegen Art. 11 Abs. 1 UAbs. 1 RFRL das Antragserfordernis für die Befristung beibehalten hat. Was damit gewonnen wurde, bleibt jedoch offen, wenn ungeachtet dessen die Vorgaben der Richtlinie beachtet werden müssen. Gegen die Bedeutung, die der Ausschlussklausel beigemessen wird, spricht, dass die strafrechtliche Sanktion die Rückkehrpflicht bewirken muss. Daran aber mangelt es nach der Rechtsprechung des EuGH, wenn dazwischen - wie nach § 51 Abs. 1 Nr. 5, §§ 53 ff. AufenthG - noch eine behördliche Entscheidung geschaltet wird.14 Zwar findet nach dem EuGH die Richtlinie keine Anwendung, wenn ein Mitgliedstaat von der Freistellungsklausel 11 Dafür Welte, ZAR 2012, 424; dagegen VGH BW, NVwZ-RR 2012, 412 (414); VGH BW, NVwZ-RR 2012, 492; wohl auch OVG NW, EZAR NF 19 Nr. 59, S. 6 ff.; Hörig, ZAR 2011, 281 (283); Fritsch, ZAR 2011, 297 (303); offen gelassen BVerwGE 143, 277 (294) Rdn. 35 ff. (38), 45 = InfAuslR 2012, 397 = EZAR NF 43 Nr. 5 = ZAR 2013, 78 mit Anm. Pfersich, ZAR 21013, 82; Basse/Burbaum/Richard, ZAR 2011, 361 (364); Franßende-la-Cord, ZAR 2009, 17. 12 Armbruster/Hoppe, ZAR 2013, 309 (311 f.). So OVG NW, EZAR NF 19 Nr. 59, S. 6 f. 14 EuGH, InfAuslR 2011, 320 (322) Rdn. 49 – El Dridi; VGH BW, NVwZ-RR 2012, 412 (414); Armbruster/Hoppe, ZAR 2013, 309 (317). 13 8 des Art. 2 Abs. 2 Buchst. b) RFRL Gebrauch gemacht hat. 15 Dem stellt er jedoch einerseits ausdrücklich seine Rechtsprechung zur unmittelbaren Kausalität der strafrechtlichen Sanktion voran, andererseits hatte er sich in dieser Entscheidung nicht mit dem unionsrechtlichen Rechtscharakter der deutschen Ausweisung, sondern mit der Frage befasst, welche Folgen nach Ablauf der Umsetzungsfrist das Säumnis des deutschen Gesetzgebers, die Richtlinie umzusetzen, für die strafrechtliche Verurteilung nach § 95 Abs. 2 Nr. 1 AufenthG auf der Grundlage eines nach Art. 11 Abs. 2 Satz 1 RFRL nicht mehr wirksamen Einreiseverbots hat. Dass auf die Ausweisung die Richtlinie keine Anwendung findet, wird ferner damit begründet, es sei nicht der Zweck der Richtlinie, ein eigenständiges unionsrechtliches Instrumentarium zur Gefahrenabwehr zu schaffen.16 Dagegen spricht, dass die Richtlinie auch auf diejenigen Drittstaatsangehörigen Anwendung findet, die „nicht mehr“ die Voraussetzungen für den Aufenthalt erfüllen (Erwägungsgrund Nr. 5). Dies trifft auf die Ausweisung zu, da nach § 51 Abs. 1 Nr. 5 AufenthG der bisherige rechtmäßige Aufenthalt des Drittstaatsangehörigen beendet wird, er sich also „nicht mehr“ rechtmäßig im Bundesgebiet aufhält. Die enge Auffassung spaltet die Fragen der Begründung schematisch der Aufenthaltsbeendigung von deren Vollzug ab, um damit unionsrechtliche Vorgaben auf das nationale Recht abzuwehren. Ob damit den Vorgaben der Richtlinie zur Schaffung einer „wirksamen Rückkehrpolitik“ nach Maßgabe klarer, transparenter und fairer Vorschriften (Erwägungsgrund Nr. 4) genügt wird, erscheint eher zweifelhaft. Vielmehr dürfte im Erwägungsgrund Nr. 4 der Auslegungsgrundsatz des effet utile seinen Ausdruck finden. Der EuGH wird demnächst Gelegenheit haben, diese Frage zu klären. Nachfolgend soll an den einzelnen Rechtsproblemen, die durch die Ausweisung aufgeworfen werden, aufgezeigt werden, dass die herrschende Aufspaltung eines einheitlichen Rückkehrvorgangs keine „wirksame Rückkehrpolitik“ hervorbringen kann. b) Verhältnis Ausweisung und Befristung Das BVerwG weist zwar auf Art. 11 Abs. 1 Satz 1 RFRL hin, wonach die Rückführungsentscheidung mit einem Einreiseverbot einhergeht. Gleichwohl hält es jedoch 15 16 EuGH, U. v. 19. 9. 2013 – Rs. C-297/12 Rdn. 52– Filev. VGH BW, NVwZ-RR 2012, 492 (493). 9 am Trennungsprinzip zwischen Ausweisung und Befristung fest.17 Das hat zunächst zur Folge, dass zunächst die Rechtmäßigkeit der Ausweisung zu prüfen ist. Ist diese rechtswidrig, stellt sich die Frage der Rechtmäßigkeit der Befristung nicht.18 Andererseits wird die Prüfung der Rechtmäßigkeit der Ausweisung eng geführt, ohne dass für diese Prüfung die Erforderlichkeit der Befristung von Bedeutung ist. Erst anschließend an die isoliert vom Einreiseverbot getroffene Feststellung, dass die Ausweisung als solche rechtmäßig ist, schließt sich eine wiederum eng geführte Prüfung an, die der Rechtmäßigkeit der Befristung.19 Daraus schließt die Rechtsprechung, dass die fehlende Befristung nicht zur Rechtswidrigkeit der Ausweisung führt.20 Gerade die generalpräventive Begründung der Ausweisung macht offenkundig, dass diese Entkoppelung der Ausweisung vom Unionsrecht unionsrechtlich fragwürdig ist, da die Rückkehrentscheidung nach Art. 6 Abs. 1 RFRL mit einem Einreiseverbot nach Art. 11 RFRL einhergeht und die Dauer des Einreiseverbots in Anbetracht der jeweiligen Umstände des Einzelfalls festgesetzt wird (Art. 11 Abs. 2 RFRL). Die generalpräventive Begründung sieht jedoch von den individuellen Umständen des Einzelfalls ab. Eine Befristungsdauer kann daher gar nicht anhand der Einzelfallumstände und im Ergebnis nur nach abstrakten, eher willkürlichen Erwägungen festgesetzt werden. Aus der nationalen Sichtweise erscheint die Generalprävention als systemfremde Doktrin im Gefahrenabwehrecht. Die Ausweisung ist klassisches Polizeirecht. Mit ihr wird eine konkrete Gefahr für ein öffentliches Schutzgut (öffentliche Sicherheit und Ordnung) bekämpft. Besteht eine Gefährdung des Schutzguts ist in die Wahrscheinlichkeitsprognose aus verfassungsrechtlichen Grundsätzen eine optimale Abwägung zwischen dem Schutzgut und dem betroffenen Grundrecht vorzunehmen.21 Dabei wird als Faustregel regelmäßig die pragmatische Formel zugrunde gelegt, dass umso geringere Anforderungen an die Wahrscheinlichkeit des Eintritts der Störung zu stellen sind, je weniger die behördliche Maßnahme in Rechte des Betroffenen eingreift. Hingegen setzt eine diesen erheblich 17 BVerwGE 143, 277 (295 f.) Rdn. 37 ff. (38) = InfAuslR 2012, 397 = EZAR NF 43 Nr. 5. BVerwG, NVwZ-RR 2013, 435 (438) Rdn. 26 = InfAuslR 2013, 217; Armbruster/Hoppe, ZAR 2013, 309 (312). 19 BVerwG, NVwZ-RR 13, 435 (438) Rdn. 26 = InfAuslR 2013, 217; Armbruster/Hoppe, ZAR 2013, 309 (313). 20 OVG NW, EZAR NF 19 Nr. 59 = ZAR 2012, 399 (LS). 21 Denninger, in: Lisken/Denninger, Handbuch des Polizeirechts, 4. Aufl., 2007, S. 322 Rdn. 52. 18 10 beeinträchtigende Maßnahme eine hohe Wahrscheinlichkeit des Gefahreneintritts voraus.22 Diese Formel verwendet das BVerwG auch bei der spezialbegründeten Ausweisung. 23 Nach diesen Grundsätzen kann daher die spezialpräventive Ausweisung und eine daran anknüpfende Fristdauer gerechtfertigt werden. Da der Wegfall des (spezialpräventiven) Ausweisungszwecks für die Bemessung der Fristsetzung unabdingbar ist,24 muss prognostisch ermittelt werden, wann keine Gefahr für das öffentliche Schutzgut mehr besteht. Demgegenüber kann die Generalprävention nach Art. 11 Abs. 2 RFRL nicht begründet werden. Es ist zunächst aus nationaler Sicht nicht ersichtlich, aus welchen verwaltungsrechtlichen Grundsätzen die Rechtsprechung ihre Rechtsschöpfung25 ableitet. Nach dieser kann ein schwerwiegender Ausweisungsgrund auch generalpräventiv begründet werden. Danach müssen nicht zusätzlich individuelle Gründe die Ausweisung tragen, also nicht kumulativ die Voraussetzungen einer spezialpräventiv begründeten Ausweisung vorliegen. Auch in Fällen des erhöhten Ausweisungsschutzes darf nicht nur die zwingende, sondern auch die Regelausweisung zusätzlich auf generalpräventive Erwägungen gestützt werden.26 Das Vorliegen eines Ausnahmefalles muss danach im Blick auf beide Ausweisungszwecke dargelegt werden.27 Liegt ein Ausnahmefall allein in spezialpräventiver Hinsicht vor, reicht dies nicht aus, um einen schwerwiegenden Ausweisungsgrund zu verneinen. Hinzu kommen muss, dass auch in generalpräventiver Hinsicht ein besonders gelagerter Sachverhalt gegeben ist. Danach kann dahinstehen, ob von dem Betroffenen eine Wiederholungsgefahr ausgeht, wenn feststeht, dass der Ausweisungsgrund jedenfalls in generalpräventiver Hinsicht schwerwiegend ist.28 Das BVerwG hat aber auch unter Geltung der RFRL den obergerichtlichen Versuch, jedenfalls bei nachhaltig verwurzelten Ausländern, die generalpräventive Begründung der Ausweisung nicht zuzulassen,29 eine eindeutige Absage erteilt und hält weiterhin an der 22 BVerwGE 45, 51 (58); 47, 31 (40); 89, 162 (169 f.); BayVGH, BayVB1, 1993, 684, mit Hinweis auf Drews/Wacke/Vogel/Martens, Gefahrenabwehr 9. Aufl. 1986 S. 224. 23 BVerwG, NVwZ-RR 2013, 435 7/436). 24 BVerwGE 143, 277 (294) Rdn. 35 ff. (38), 45 = InfAuslR 2012, 397 = EZAR NF 43 Nr. 5. 25 So VGH BW, InfAuslR 2011, 293 (296). 26 BVerwGE 101, 247 (255) = EZAR 035 Nr. 16 = InfAuslR 1997, 8 = NVwZ 1997, 297; BVerwG, InfAuslR 1995, 195 (196); BVerwGE 121, 356 (362 f.) = EZAR 41 Nr. 1 = NVwZ 2005, 229 = InfAuslR 2005, 49. 27 BVerwGE 101, 247 (255) = NVwZ 1997, 297= EZAR 035 Nr. 16 = InfAuslR 1997, 8; BayVGH, AuAS 2010, 161 (163); BayVGH, InfAuslR 2010, 198 (200); OVG NW, NVwZ 2008, 450 (451); VG Karlsruhe, InfAuslR 2009, 197 (201) = EZAR NF 44 Nr. 11. 28 BVerwGE 121, 356 (362) = NVwZ 2005, 229 (230) = InfAuslR 2005, 49 = EZAR NF 41 Nr. 1; kritisch hierzu Alexy, in: Hofmann/Hoffmann, Handkommentar AuslR, § 56 AufenthG Rn 24; Mayer, VA 2010, 482 (506 ff.). 29 VGH BW, InfAuslR 2011, 293 (294). 11 Dogmatik der Generalprävention fest,30 ohne allerdings auszuführen, nach welchen Grundsätzen die Dauer der Befristung bei dieser Figur ermittelt werden kann. Das jedoch ist nach Art. 11 Abs. 2 RFRL erforderlich. Traditionell setzt die Rechtsprechung das generalpräventive Schwert der Ausweisung in aller Regel schematisierend sowie ohne Berücksichtigung der Individualinteressen ein. Es genügt für die Begründung einer generalpräventiv motivierten Ausweisung, dass diese eine „angemessene generalpräventive Wirkung erwarten lasse.“ Das ist der Fall, wenn nach der Lebenserfahrung damit gerechnet werden kann, dass sich andere Ausländer von „einer kontinuierlichen Ausweisungspraxis in ihrem Verhalten beeinflussen“ lassen. Behörden und Gerichte dürfen grundsätzlich davon ausgehen, dass eine aus Anlass einer strafgerichtlichen Verurteilung verfügte Ausweisung zur Verwirklichung dieses Ziels geeignet ist. Erforderlich ist, dass es Ausländer gibt, die sich in einer mit dem Betroffenen vergleichbaren Situation befinden und sich durch dessen Ausweisung von gleichen oder ähnlichen Handlungen abhalten ließen.31 Wie aus einer derartigen Begründung Grundsätze für die Dauer des Einreiseverbots nach Art. 11 Abs. 2 RFRL ermittelt werden können, erschließt sich nicht. Insoweit besteht Klärungsbedarf durch den EuGH. Schließlich ergeben sich auch verfassungsrechtliche Probleme. Anknüpfend an die Rechtsprechung des BVerwG, in der für die generalpräventiv begründete Ausweisung besonderes Gewicht auf den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit gelegt wird,32 hat das BVerfG in seiner neueren Kammerrechtsprechung die generalpräventiv motivierte Ausweisung unter besonderen Begründungszwang gestellt und für die Praxis die materiellen und verfahrensrechtlichen Anforderungen an diesen Ausweisungszweck signifikant erhöht. Aus dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit folge, dass die Ausländerbehörde die Umstände der Straftat und die persönlichen Verhältnisse des Betroffenen von Amts wegen sorgfältig ermittle und eingehend würdige. Ohne die Kenntnis von Einzelheiten der Tatbegehung und der persönlichen Situation des Betroffenen (Art. 11 Abs. 1 Satz 1 RFRL) könnten in der Regel die Auswirkungen der Ausweisung auf die Individualinteressen nicht hinreichend 30 BVerwGE 142, 29 (36 ff.) Rdn. 19 ff. = InfAuslR 2012, 256 = NVwZ 2012, 1558; BVerwG, NVwZ-RR 2013, 435 (436 f.) = InfAuslR 2013, 217. 31 OVG NW, NVwZ 2008, 450 (451). 32 BVerwGE 101, 247 (254) = EZAR 035 Nr. 16 = InfAuslR 1997, 8 = NVwZ 1997, 297; BayVGH, AuAS 2010, 161 (163); BayVGH, InfAuslR 2010, 198 (200); OVG NW, NVwZ 2008, 450 (451). 12 sicher festgestellt und in einer einzelfallbezogenen Abwägung den die Ausweisung verlangenden Interessen der Allgemeinheit gegenüber gestellt werden.33 Die Prüfung der Rechtmäßigkeit der generalpräventiv begründeten Ausweisung läuft im Ergebnis auf deren Umwandlung in eine spezialpräventive nach Maßgabe des Art. 11 Abs. 2 RFRL hinaus. Denn nach dem BVerfG sind folgende Anforderungen –zu beachten34: 1. Im Unionsrecht, also im Blick auf Unionsbürger und diesen rechtlich gleichgestellten Personen, auf türkische Assoziationsberechtigte sowie auf langfristig Aufenthaltsberechtigte ist die generalpräventiv motivierte Ausweisung von vornherein unzulässig. Die neuere Rechtsprechung des BVerfG kann dahin verstanden werden, dass dies auch gilt, wenn die Schutzwirkung von Art. 8 EMRK Anwendung findet.35 2. Zulässig ist eine Ausweisung aus Gründen der Generalprävention im Anwendungsbereich des § 56 Abs. 1 Satz 1 AufenthG in Anlehnung an die zum Ausweisungsschutz ausländischer Ehegatten Deutscher entwickelten Maßstäbe nur dann, wenn die Straftat „besonders schwer“ wiegt und deshalb ein dringendes Bedürfnis daran besteht, über eine strafrechtliche Sanktion hinaus durch Ausweisung andere Ausländer von Straftaten ähnlicher Art und Schwere abzuhalten.36 3. Das Gewicht der Straftat ist nicht abstrakt, sondern konkret nach den Umständen der Tatbegehung zu bestimmen.37 Im Grundsatz nicht anders wie bei der Würdigung der von dem Betroffenen künftig ausgehenden Gefahren im Rahmen spezialpräventiv motivierter Ausweisungen genügt es insbesondere nicht, das Gewicht der für eine Ausweisung sprechenden öffentlichen Interessen allein anhand der Typisierung der den Ausweisungsanlass bildenden Straftaten zu bestimmen.38 4. Für die Geeignetheit der generalpräventiven Wirkung ihrer Ausweisung hat die Behörde insbesondere darzulegen, dass nach der Lebenserfahrung damit zu rechnen ist, dass sich 33 BVerfG (Kammer), NVwZ 2007, 1300 (1301) = InfAuslR 2007, 443 = EZAR NF 42 Nr. 6. Marx, Aufenthalts-, Asyl- und Flüchtlingsrecht in der anwaltlichen Praxis, 4. Auf., 2011, S. 871 f. 35 BVerfG (Kammer), NVwZ 2007, 946 (947) = InfAuslR 2007, 275 = EZAR NF 42 Nr. 5. 36 BVerwGE 101, 247 (255) = EZAR 035 Nr. 16 = InfAuslR 1997, 8 = NVwZ 1997, 297. 37 BVerwGE 101, 247 (251 f.) = InfAuslR 1997, 8 = EZAR 035 Nr. 16. 38 BVerfG (Kammer), NVwZ 2007, 1300 (1301) = InfAuslR 2007, 443 = EZAR NF 42 Nr. 6. 34 13 andere Ausländer mit Rücksicht auf eine kontinuierliche Ausweisungspraxis ordnungsgemäß verhalten.39 5. Darüber hinaus ist eine Auseinandersetzung mit den Motiven für die Tatbegehung und den näheren Tatumständen unerlässlich, um die Umstände der Straftat zu erkunden, welche zum Anlass einer Ausweisung zur Abschreckung anderer Ausländer genommen werden soll.40 Denn die Ausweisung muss nach den konkreten Verhältnissen des Einzelfalls und nicht lediglich abstrakt geeignet sein, abschreckend auf andere, als potenzielle Straftäter in Betracht kommende Ausländer zu wirken. Namentlich bei Ausweisungen aus Anlass von „Beziehungs- oder Leidenschaftstaten“ kann es an der Eignung der Ausweisung als abschreckende Maßnahme fehlen.41 Wesentliche, in die Betrachtung einzubeziehende Umstände sind insbesondere auch die Tatsache, dass der Betroffene nicht der Drogenszene zugerechnet werden kann oder sich durch Umzug das persönlichen Umfeld verändert hat.42 6. Schließlich ist insbesondere zu berücksichtigen, ob die Abschreckungswirkung angesichts der konkreten Einzelfallumstände angemessen ist.43 c) Zuständige Behörde Früher wurde allgemein die Behörde, die die Ausweisung verfügt hatte, als für die Befristung zuständige Behörde angesehen. Wurde der Antragsteller nicht ausgewiesen, sondern mehrfach abgeschoben, wurde die Ausländerbehörde für zuständig gehalten, die zuletzt die Abschiebung vollzogen hatte. War die Ausweisung/Abschiebung von einer zentral zuständigen Ausländerbehörde angeordnet/vollzogen worden (§ 71 Abs. 1 Satz 2 AufenthG), war die Ausländerbehörde für die Befristung zuständig, in deren Bezirk der Antragsteller zuletzt seinen gewöhnlichen Aufenthalt hatte. 39 BVerwGE 102, 63 = InfAuslR 1997, 63 = EZAR 035 Nr. 18; BVerwG, InfAuslR 1996, 299 (302), bejaht für Drogenhandel; BVerwG, NVwZ 1997, 1119 (1121), nicht alle Drogendelikte; BVerwG, NVwZ 1998, 741 (742), bejaht für bandenmäßig organisierten Kfz-Diebstahl. 40 BVerfG (Kammer), NVwZ 2007, 1300 (1301) = InfAuslR 2007, 443 = EZAR NF 42 Nr. 6. 41 BayVGH, InfAuslR 2010, 198 (200), mit Hinweis auf BVerwGE 60, 75 (77 f.); a.A. VG Schleswig, InfAuslR 2009, 114 (116). 42 OVG NW, NVwZ 2008, 450 (451). 43 OVG NW, NVwZ-RR 1996, 173. 14 Das BVerwG leitet nunmehr aus § 3 Abs. 1 Nr. 3a VwVfG ab, dass die Behörde zuständig ist, in deren Bezirk der Betroffene seinen gewöhnlichen Aufenthalt hat oder zuletzt hatte. Allerdings setzt § 72 Abs. 3 AufenthG das Herstellen des Einvernehmens mit der verfügenden Behörde voraus.44 Die Rechtsprechung, die davon ausging, dass die Ausländerbehörde auch dann zuständig bleibt, wenn der Betroffene unerlaubt in ein anderes Bundesland wechselt,45 ist damit überholt. Nicht geäußert hat sich das BVerwG zur Frage der Behördenzuständigkeit in Nachzugsfällen. Danach wurde bislang davon ausgegangen, dass bei der Beantragung der Aufenthaltserlaubnis zur Herstellung und Wahrung der familiären Lebensgemeinschaft (§§ 27 ff. AufenthG) die Behörde über die Befristung befindet, die auch für die Zustimmung im Visumverfahren zuständig ist. Begründet wurde dies nach Landesrecht. Nach § 4 Abs. 1 OBG NRW sei die Behörde zuständig, in deren Bezirk der Betroffene sich aufhalten wolle.46 Darauf kommt es jedoch nicht an. Andererseits folgt aus § 31 Abs. 1 Satz 1 1. Hs. AufenthV, dass die für den vorgesehenen Aufenthalt zuständige Behörde im Zustimmungsverfahren beteiligt wird. Da das BVerwG für den allgemeinen Fall auf fehlende aufenthaltsrechtliche Spezialbestimmungen abstellt, dürfte hier wohl § 31 Abs. 1 Satz 1 1. Hs. AufenthV maßgebend sein. Die verfügende oder vollziehende Behörde ist in der Regel zu beteiligen (§ 72 Abs. 3 Satz 1 AufenthG),47 nicht aber die Behörde des letzten gewöhnlichen Aufenthalts. Da nunmehr grundsätzlich mit der Ausweisung auch die Befristung festzusetzen ist, dürfte die Rechtsprechung des BVerwG nur noch für Altfälle Bedeutung erlangen. d) Antragserfordernis für die Befristung Die Aufhebung der Sperrwirkung setzt nach deutschem Recht einen entsprechenden Antrag (§ 11 Abs. 1 Satz 3 AufenthG; § 7 Abs. 2 Satz 4 FreizügG/EU) voraus. Demgegenüber wird nach Art. 11 Abs. 2 Satz 1 RFRL die Dauer des Einreiseverbots von Amts wegen festgesetzt. Danach hat die Ausländerbehörde bereits in der Rückkehrentscheidung, andernfalls nachträglich von Amts wegen eine Frist festzusetzen. Einer Antragstellung bedarf es danach nicht. Diese Hürde überwindet das BVerwG wenig überzeugend mit der Anweisung an die Ausländerbehörden, zugleich mit der Ausweisung über die Befristung zu entscheiden. Dabei wird das Antragserfordernis widersprüchlich konkretisiert: einerseits reicht eine erkennbar 44 BVerwG, NVwZ 2012, 1485 (1486 f.). VG Berlin, InfAuslR 2011, 353 (354). 46 OVG NW, NVwZ 2008, 450 (451). 45 15 werdende Willensbekundung gegen die Ausweisung aus, die als solche regelmäßig in der Erhebung der Anfechtungsklage gesehen wird, andererseits wird aber gleichwohl ein irgendwie gearteter Antrag gefordert. Demgegenüber erfolgt nach der Rechtsprechung des EuGH die Befristung des Einreiseverbots nach Art. 11 Abs. 2, Erwägungsgrund Nr. 14 RFRL unabhängig von einem hierauf gerichteten Antrag. Dies folge auch aus Art. 3 Nr. 6 und Art. 7 Abs. 1 UAbs. 1 RFRL. Danach stehe Art. 11 Abs. RFRL der deutschen Vorschrift des § 11 Abs. 1 AufenthG entgegen, der die Befristung eines Einreiseverbots von einem Antrag abhängig mache.48 Hier wird bereits deutlich, dass die Aufspaltung in die aufenthaltsbeendende Maßnahme einerseits und deren Befristung andererseits wohl nicht die Zustimmung des EuGH finden wird. Die neuere, aber bereits jetzt aus unionsrechtlichen Gründen überholte Rechtsprechung des BVerwG wirft eine Reihe von prozessualen Problemen auf: - Das BVerwG erfordert einen irgendwie gearteten Antrag, den es als Hilfsantrag auf Verpflichtung der Ausländerbehörde auf angemessene Befristung behandelt.49 Dagegen wird eingewandt, wenn die Befristung wesentlich für die Beurteilung der Verhältnismäßigkeit der Ausweisung sein sollte, ihr Fehlen aber nicht zur Aufhebung der Ausweisung selbst führen soll, müsse prozessual sichergestellt sein, dass der Befristungsanspruch in allen Instanzen durchgesetzt werden könne. In jeder Anfechtung einer unbefristet verfügten Ausweisung sei daher als Minus der Verpflichtungsantrag auf deren Befristung enthalten.50 Die Fristsetzung obliegt dem Gericht. Aus der Rechtsprechung des EuGH folgt jedoch, dass mit der Anfechtung der Ausweisung zugleich eine Verletzung von Art. 11 Abs. 2 RFRL gerügt wird. Ein besonderer auf die Befristung gerichteter Antrag ist nicht erforderlich. - Hinsichtlich der Befristungsdauer wird mit Hinweis auf die Vollstreckungsfähigkeit des Urteils ein in zeitlicher Hinsicht konkretisierter Befristungsantrag verlangt.51 Es reicht danach nicht die bloße Anfechtung aus. Dem wird im Blick auf § 82 Abs. 1 VwGO für den Fall zugestimmt, dass die von der Ausländerbehörde festgesetzte Frist durch Teilanfechtung 47 OVG NW, InfAuslR 2008, 250 (251); siehe hierzu auch Pfaff, ZAR 2010, 183. EuGH, U. v. 19. 9. 2013 – C-297/12 Rdn. 27, 31, 34 – Filev; Marx, Aufenthalts-, Asyl- und Flüchtlingsrecht in der anwaltlichen Praxis, 4. Auf., 2011, § 7 Rdn. 764. 49 BVerwGE 143, 277 (290 f.) Rdn. 28 f. = InfAuslR 2012, 397 = EZAR NF 43 Nr. 5; (438); BVerwG, NVwZRR 2013, 435 (438) Rdn. 26 = InfAuslR 2013, 217. 50 Armbruster/Hoppe, ZAR 2013, 309 (315). 51 OVG NW, B. v. 24. 1. 2013 – 18 A 139/12 – juris, Rdn. 33 ff. 48 16 angegriffen wird. Hat die Behörde jedoch überhaupt keine Befristungsentscheidung getroffen, könne dem Kläger nicht zugemutet werden, auch nur annähernd eine angemessene Frist anzugeben. 52 - Ist eine Ausweisung auf spezial- und generalpräventive Erwägungen gestützt, erweist sich jedoch im Prozess die spezialpräventive Begründung nicht als tragfähig, darf die Befristung im Prozess nachgeholt werden.53 Auch dies ist im Hinblick auf die Rechtsprechung des EuGH nicht tragfähig, da die Fristsetzung wesentlicher Bestandteil der Verfügung ist. Im Übrigen sind generalpräventive Ausweisungen nicht unionskonform (s. oben). - Ferner hat das BVerwG entschieden, dass durch nachträgliche Befristung der Ausweisung während des Beschwerdeverfahrens die Beschwerde unzulässig wird.54 Auch dies erscheint im Hinblick auf die Rechtsprechung des EuGH nicht mehr tragfähig. Eine derartige Begründung verletzt im Übrigen Art. 19 Abs. 4 GG, weil die Beschreitung des eröffneten (Teil-)Rechtswegs in einer unzumutbaren, aus Sachgründen nicht mehr zu rechtfertigenden Weise erschwert wird.55 e) Ausreiseerfordernis (§ 11 Abs. 1 Satz 6) aa) Problemaufriss Nach wie vor ungeklärt ist die Frage, ob der Beginn des Fristlaufs von der Ausreise abhängig gemacht werden darf. Das Ausreiseerfordernis, das gegen die frühere Rechtsprechung des BVerwG56 in das AuslG 1990 eingeführt wurde, sollte verhindern, dass eine Ausweisung nicht durch Befristung des Versagungsgrundes während des Inlandsaufenthaltes unterlaufen werden konnte.57 Die Praxis der nach dem AuslG 1965 zulässigen Bewährungsduldung war damit damals nicht mehr aufrechtzuerhalten. Bis dahin war es allgemein übliche Praxis in Ausweisungsverfahren, im Wege des Vergleichs eine befristete Bewährungsduldung auszuhandeln, sodass nach Fristablauf ein neuer rechtmäßiger Aufenthalt ohne vorherige 52 Armbruster/Hoppe, ZAR 2013, 309 (315). BVerwGE 142, 29 Rdn. 28 54 BVerwG, EZAR NF 98 Nr. 59 = ZAR 2013, 348 55 (BVerfG (Kammer), Beschluss vom 12. Mai 2008 – 2 BvR 378/05, in InfAuslR 2008, 263 nicht abgedruckt; BVerfG (Kammer), InfAuslR 2009, 417; BVerfG (Kammer), NVwZ 2011, 547 (548). 56 BVerwGE 60, 284 (285); 69, 137 (141). 57 Fraenkel, Einführende Hinweise zum neuen Ausländergesetz 1991, S. 52. 53 17 Ausreise sichergestellt werden konnte. Ob durch die Rechtsänderung im Jahre 1991 eine derartige Praxis nicht mehr möglich ist, bedarf näherer Erörterung. Aus Art. 11 RFRL kann kein Ausreiseerfordernis abgelesen werden. Ob er diesem Erfordernis entgegensteht, ist offen. Die Ausnahmen beziehen sich auf das Einreiseverbot insgesamt und nicht auf dessen Dauer (Art. 11 Abs. 3 UAbs. 1 bis UAbs. 3 RFRL). Das spricht für eine Systematik, dass das Einreiseverbot von vornherein nicht verhängt wird, wenn Ausnahmegründe bestehen. Ausnahmen vom Ausreiseerfordernis nach deutschem Recht lassen jedoch das Einreiseverbot und dessen Befristung unberührt, sondern befreien vom Erfordernis der Ausreise als Voraussetzung für den Beginn des Fristlaufs: Nach § 11 Abs. 1 Satz 6 AufenthG beginnt die Frist mit der Ausreise.58 Ausreise bedeutet grundsätzlich Ausreise aus dem Unionsgebiet (§ 50 Abs. 3 AufenthG). Die zwangsweise durchgesetzte Ausreise kann nicht als Ausreise angesehen werden.59 Das wirft nach nationalem Recht das Problem auf, nach welchen Grundsätzen die Abschiebung zu befristen ist. Nach Unionsrecht ist die Abschiebung jedoch keine Rückkehrentscheidung und darf daher auch nicht mit einem Einreiseverbot verbunden werden. bb) Unzulässigkeit einer Befristungsentscheidung mit aufschiebender Bedingung Die Ausweisung kann nicht mit einer aufschiebenden Bedingung (§ 36 Abs. 2 Nr. 2 VwVfG) erlassen werden.60 § 11 Abs. 1 AufenthG enthält hierfür keine Rechtsgrundlage. Daher kann auch die Ausreise innerhalb einer bestimmten Frist nicht zur Voraussetzung für den Erlass einer Befristungsentscheidung gemacht werden.61 Die Einreise entgegen einem bestehenden Einreiseverbot stellt eine nachträglich eingetretene Tatsache dar, die zum Widerruf der Befristung und zum Erlass einer erneuten Befristungsentscheidung führt. Hingegen darf die Befristung der Ausweisung nicht an die Bedingung geknüpft werden, dass im Befristungszeitraum keine Wiedereinreise erfolgt.62 cc) Ausnahmen vom Ausreiseerfordernis 58 OVG Bremen, InfAuslR 1998, 442 (443); VGH BW, InfAuslR 1998, 433 (434), zur Rechtslage vor Umsetzung der RFRL. 59 BVerwGE 141, 325 ( 60 Nieders.OVG, EZAR NF 45 Nr. 11 61 Armbruster/Hoppe, ZAR 2013, 309 (314). 18 Der Zweck der Sperrwirkung, eine effektive Kontrolle der Wiedereinreise sicherzustellen, wird insbesondere an der Regelung des § 11 Abs. 1 Satz 6 AufenthG deutlich. Die Wirkungen der Ausweisung dürfen nach allgemeiner Ansicht erst zu einem Zeitpunkt entfallen, der nach der Ausreise des Betroffenen liegt.63 Mit Ausreise meint das Gesetz allerdings nur die erstmalige Ausreise. Eine spätere erneute Einreise hemmt nicht den Fristlauf.64 Ist daher der Antragsteller erneut eingereist, bedarf es für den Fristbeginn nicht der erneuten Ausreise.65 Die Behörde darf jedoch bei der Bemessung der Sperrwirkung selbst im Falle der nachträglichen Eheschließung im Bundesgebiet die erneute illegale Einreise berücksichtigen (Erwägungsgrund Nr. 14 RFRL).66 Aufgrund des Anwendungsvorrangs des Unionsrechts darf jedoch die Aufhebung der Sperrwirkung gegenüber Unionsbürgern und diesen rechtlich gleichgestellten Personen nicht von der Ausreise abhängig gemacht werden.67 Im Hinblick auf ARB 1/80 hat der EuGH festgestellt, dass das Unionsrecht der Anwendung der nationalen Regelungen über die Sperrwirkung entgegensteht, wenn der Betroffene abgeschoben worden ist, obwohl ihm die Rechte aus Art. 6 ARB 1/80 zustanden. In diesem Fall darf die für die Erteilung des Aufenthaltstitels erforderliche Aufhebung der Sperrwirkung der Abschiebung nicht von der vorherigen Ausreise des Betroffenen abhängig gemacht werden.68 Die Beibehaltung der zwingenden Ausreiseverpflichtung in § 11 Abs. 1 Satz 6 AufenthG ist mit Unionsrecht nicht vereinbar. Vielmehr kann ein Einreiseverbot in Einzelfällen aus „humanitären Gründen“ oder in „bestimmten Kategorien von Fällen“ oder „aus sonstigen Gründen“ aufgehoben oder ausgesetzt werden. Eine vorherige Ausreise vor der Aufhebung oder Aussetzung schreibt Unionsrecht nicht vor (vgl. Art. 11 Abs. 3 RFRL). Art. 6 GG und Art. 8 EMRK gebieten aber auch im Allgemeinen, dass der Aufenthalt zum Zweck des familiären Zusammenlebens unter Berücksichtigung des Verhältnismäßigkeitsprinzips sogleich zu genehmigen ist und nicht eine vorherige Ausreise des Betroffenen verlangt 62 VG Augsburg, AuAS 2013, 206 (207 f.). BVerwG, NVwZ 2000, 688 (690) = InfAuslR 2000, 176 = EZAR 039 Nr. 5 = AuAS 2000, 74. 64 VG Karlsruhe, InfAuslR 2003, 150 (153). 65 OVG Hamburg, InfAuslR 1992, 250 (251); BVerwG, InfAuslR 2000, 176 (180) = AuAS 2000, 74. 66 VGH BW, InfAuslR 2003, 333 (337) = AuAS 2003, 184; VG Augsburg, AuAS 2013, 206 (208). 67 BVerwGE 110, 140 (150) = EZAR 039 Nr. 5 = NVwZ 2000, 688 = InfAuslR 2000, 176; Hess.VGH, AuAS 2008, 87 (88); OVG Hamburg, InfAuslR 2004, 57 (59); vgl. auch EuGH, NJW 1983, 1250 (1251); Welte, ZAR 2012, 424 (430). 68 EuGH, InfAuslR 2003, 41 (45) = AuAS 2003, 134. 63 19 werden kann.69 Das BVerwG verweist hierzu in einem Verfahren, in dem Unionsrecht keine Anwendung fand, auf seine Rechtsprechung zum Unionsrecht in dieser Frage. Die Ausnahme von der Ausreisepflicht ist also nicht nur auf Freizügigkeitsberechtigte und diesen rechtlich gleichgestellte Personen beschränkt, sondern findet in den Fällen, in denen Art. 6 GG und Art. 8 EMRK zu berücksichtigen sind, im gleichen Umfang Anwendung. Nach der Rechtsprechung des BVerfG kann nicht von vornherein bei der Trennung des sorgeberechtigten Elternteils von seinem deutschen Kleinkind als Folge der Ausweisung ein Überwiegen des öffentlichen Interesses an einer wenigstens vorübergehenden Ausreise im Hinblick auf die erhebliche Straffälligkeit wegen Drogendelikten festgestellt werden. Zu prüfen sei, ob nicht auf der Grundlage von § 25 Abs. 5 Satz 1 bzw. § 60a Abs. 2 AufenthG eine Lösung in Betracht komme. Insbesondere dann, wenn die Geburt nicht eine „Zäsur“ in der Lebensführung des betroffenen Ausländers darstelle, die in Anbetracht aller Umstände erwarten ließe, dass er bei legalisiertem Aufenthalt keine Straftat mehr begehe, komme ein Vorrang der gegen einen weiteren Aufenthalt im Bundesgebiet stehenden Gründe in Betracht.70 Unabhängig hiervon ist zwischen der Fristsetzung nach § 11 Abs. 1 Satz 4 AufenthG und dem Ausreiseerfordernis nach § 11 Abs. 1 Satz 6 AufenthG zu unterscheiden: Für beide Entscheidungen gilt das Verhältnismäßigkeitsprinzip. Die Entscheidung, den Fristlauf erst mit der Ausreise beginnen zu lassen, muss sich am Verhältnismäßigkeitsgrundsatz messen lassen. Daher darf in der Ausweisungsverfügung der Fristlauf nicht auf den Zeitpunkt der Ausreise festgesetzt werden, wenn die Gründe für die Ausweisung nicht mehr vorliegen.71 Damit kann die Sackgasse des § 25 Abs. 5 AufenthG vermieden und auf die anderen Erteilungszwecke zurück gegriffen werden. dd) Rückkehrperspektive 69 BVerwGE 129, 226 (237) Rdn. 28 = EZAR NF 33 Nr. 13 = NVwZ 2008, 333 = InfAuslR 2008, 71, mit Hinweis auf BVerwGE 110, 140 (150) = EZAR 039 Nr. 5 = NVwZ 2000, 688 = InfAuslR 2000, 176; OVG Bremen, InfAuslR 2002, 119 (122); VGH BW, InfAuslR 2013, 95 (96 f.); a.A. noch VGH BW, InfAuslR 2005, 52 (54) = AuAS 2005, 50; OVG Hamburg, NVwZ-RR 2007, 712 (713). 70 OVG Bremen, InfAuslR 2002, 119; a.A. VGH BW, InfAuslR 2005, 52 (54) = AuAS 2005, 50. 71 VGH BW, InfAuslR 2013, 95 (96 f.); VG Darmstadt, InfAuslR 2010, 160 (162); Pfaff, ZAR 2010, 183; Armbruster/Hoppe, ZAR 2013, 309 (313). 20 Die Rechtsprechung weist der Befristung u.a. auch die Funktion zu, die Grundlage für eine Neubegründung des Aufenthaltes zu schaffen.72 Da der Gesetzgeber nicht reagiert, wird sich Art. 8 EMRK weiterhin durch die Entwicklung der Rechtsprechung materialisieren müssen.73 In der aktuellen Literatur wird die Behörde im Rahmen der Fristsetzung angehalten, dem Betroffenen eine Perspektive für die mögliche Rückkehr aufzuzeigen, 74 ohne allerdings aufzuzeigen, wie für faktische Inländer, die nicht grundsätzlich freizügigkeitsberechtigt sind oder aus familiären Gründen über §§ 27 ff. AufenthG den Aufenthalt neu begründen können, eine Rückkehrperspektive realisiert werden könnte. Derzeit hat die Ausreise in Erfüllung der Ausreiseverpflichtung aufgrund der Ausweisung ein dauerhaftes Fernbleiben vom Bundesgebiet zur Folge. Die Ausweisung versperrt „faktischen Inländern“ für immer die Rückkehr. Selbst das Besuchervisum nach Fristablauf dürfte kaum noch zu erlangen sein. Diese Rechtslage ist aus verfassungsrechtlichen und aus Gründen des Art. 8 EMRK zu überdenken. Seit der ersten Entscheidung des EGMR zum verstärkten Ausweisungsschutz bis heute sind zwanzig Jahre ins Land gegangen. Schrittweise wurden die Ausweisungsschranken in Verwurzelungsfällen höher geschraubt. Inzwischen sind auch Hinweise auf eine Rückkehrperspektive in der Rechtsprechung des EGMR erkennbar. In den Fällen, in denen der Schutzbereich von Art. 8 Abs. 1 EMRK bei der Ausweisung Berücksichtigung verlangt, also in Verwurzelungsfällen, ist im Rahmen der Verhältnismäßigkeitsprüfung die Rückkehroption zu prüfen. Anders kann die Feststellung, es könne nicht gesagt werden, dass der Betroffene „keine Aussicht auf eine Rückkehr gehabt“ habe, 75 kaum verstanden werden. Die aus Art. 8 EMRK folgende Prüfungspflicht der Rückkehraussicht ist darin begründet, dass ein unbefristetes Aufenthaltsverbot grundsätzlich Art. 8 EMRK verletzt. Insbesondere bei Ausweisungen gegen jugendliche Straftäter „schließt die Verpflichtung zur Beachtung des Kindeswohls auch die Pflicht“ mit ein, deren „Resozialisierung zu erleichtern.“76 Art. 8 EMRK kann danach durchaus dahin interpretiert werden, dass in Verwurzelungsfällen im Falle der Ausweisung die Aussicht auf Rückkehr eröffnet werden sollte. f) Dauer der Befristung 72 BVerwGE 129, 367 (371) = EZAR NF 48 Nr. 11 = InfAuslR 2008, 116. Marx, InfAuslR 2011, 136 140). 74 Armbruster/Hoppe, ZAR 2013, 309 (312). 75 EGMR, InfAuslR 2007, 325 (326) – Kaya. 76 EGMR, InfAuslR 2008, 333 (335) – Maslov II. 73 21 aa) Gebundene Entscheidung Die Entscheidung über die Dauer der Fristsetzung ist eine gebundene Entscheidung (§ 11 Abs. 1 Satz 3 AufenthG), steht also nicht mehr im behördlichen Ermessen. Der Richter selbst hat deshalb eine eigenständige Prognose über die in Zukunft fortdauernde Gefährlichkeit des Betroffenen zu treffen.77 Die vom Gericht festgesetzte Frist kann höher78 oder geringer als die behördliche Fristsetzung ausfallen. Grundsätzlich ist das Rechtssystem „so zu organisieren, dass auch neue Entwicklungen, die nach der endgültigen Entscheidung der Behörden eintreten, berücksichtigt werden können.“79 Ob die Rechtsprechung des EuGH so zu verstehen ist, dass nicht nur die Befristung selbst, sondern auch ihre nachträgliche Verkürzung antragsunabhängig ist, ist offen. Jedenfalls sind Hinweise des Betroffenen hilfreich. - Die nachträgliche Verkürzung der Befristung kann nach nationalem Recht auf Antrag Satz 3 AufenthG gestützt80 und gerichtlich durchgesetzt unmittelbar auf § 11 Abs. 1 werden.81 Im Prozess ist der Anspruch durch eine Anfechtungsklage durchzusetzen.82Demgegenüber verweist OVG NW auf die Verpflichtungsklage.83 Soweit in der Literatur die Frage als ungeklärt aufgeworfen wird, ob der prognostisch zu erwartende Beginn des Fristlaufs bei der Fristbemessung zu berücksichtigen ist, wenn die Ausreise nicht unmittelbar nach der Ausweisungsentscheidung erfolgt,84 hat die Behörde von sich aus bei veränderten günstigen Umständen die Frist anzupassen. Häufig lösen sich diese Fälle durch die Dauer des Gerichtsverfahrens. - Für die nachträgliche Verlängerung der Befristung ist die Rechtsgrundlage ungeklärt. Vorgeschlagen wird eine Doppelausweisung,85 bei der als Minusmaßnahme eine Verlängerung der ursprünglich festgesetzten Befristungsdauer in Betracht komme, wobei 77 BVerwGE 143, 277 (297) Rdn. 39 = InfAuslR 2012, 397 = EZAR NF 43 Nr. 5 Nieders.OVG, EZAR NF 45 Nr. 11. 79 EGMR, InfAuslR 2008, 333 (335) – Maslov II; so auch BVerwGE 130, 20 (26) = EZAR NF 40 Nr. 6 = NVwZ 2008, 434 = InfAuslR 2008, 156 80 Armbruster/Hoppe, ZAR 2013, 309 (314); a. A. Lenz, NVwZ 2013, 624 (???), auf § 49 Abs. 1 VwVfG. 81 BVerwG AuAS 2013; Armbruster/Hoppe, ZAR 2013, 309 (314): „Die Befristungsentscheidung wird aufgehoben, soweit mit dieser eine längere Frist als X Jahre festgesetzt worden ist.“ 82 BVerwG, AuAS 2013, 108; 83 OVG, EZAR NF 19 Nr. 59, S. 9. 84 Armbruster/Hoppe, ZAR 2013, 309 (313 f.) 85 BVerwGE 72, 191 (193) !== EZAR Nr. 19 Nr. 100 = NVwZ 1985,6, 306 = InfAuslR 1986, 134; BVerwGE 106, 302 (305) = EZAR 036 Nr. 6 = NVwZ 1998, 740 = InfAuslR 1998, 285. 78 22 allerdings die Vereinbarkeit einer doppelten Einreisesperre mit Unionsrecht für klärungsbedürftig erachtet wird.86 bb) Überschreitung des Fünfjahresgrenze (Art. 11 Abs. 2 Satz 2 RFRL, § 11 Abs. 1 Satz 4 zweiter Halbsatz AufenthG) Die Dauer der Frist wird in Anbetracht der jeweiligen Umstände des Einzelfalls festgesetzt und überschreitet grundsätzlich nicht fünf Jahre. Sie darf nach Ablauf dieser Frist nicht mehr aufrechterhalten und zur Grundlage strafrechtlicher Verfehlungen (§ 95 Abs. 2 Nr. 1 AufenthG) gemacht werden.87 Bei schwerwiegenden Gefahren für die öffentliche Ordnung, öffentliche oder nationale Sicherheit kann diese Frist überschritten werden (Art. 11 Abs. 2 RFRL, § 11 Abs. 1 Satz 4 AufenthG). Einen Anhalt für schwerwiegende Gründe liefert § 56 Abs. 1 Satz 3 AufenthG). Das BVerwG hält insoweit bei hoher Wiederholungsgefahr sieben Jahre für angemessen.88 Die frühere Rechtsprechung, die eine unbefristete Ausweisung für zulässig erachtete, wenn der Betroffene in so hohem Maße eine Gefährdung der öffentlichen Interessen darstellt, dass seine dauerhafte Fernhaltung vom Bundesgebiet geboten sei,89 dürfte damit überholt sein. Dass die zwingende Ausweisung § 53 AufenthG) als solche nicht zwingend die unbefristete Ausweisung rechtfertigt, wurde schon nach früheren Recht angenommen90 und dürfte wohl kaum noch mit Art. 11 Abs. 2 Satz 2 RFRL vereinbar sein, wenn diese Norm primärrechtskonform ausgelegt wird (Art. 6 Abs. 3 EUV, Art. 7 GRCh). Die Überschreitung der Fünfjahresgrenze besteht im öffentlichen Interesse an der Sicherheit und der Verhütung von Straftaten.91 Geht vom Betroffenen keine Gefahr mehr aus, weil seine erneute Straffälligkeit nach Ablauf einer bestimmten Frist aufgrund der nachträglichen individuellen Entwicklung verlässlich ausgeschlossen werden kann, lässt sich das Einreiseverbot weder im Lichte von Art. 8 EMRK noch verfassungsrechtlich aufrechterhalten. Nach dem EGMR kann eine 86 Armbruster/Hoppe, ZAR 2013, 309 (314). EuGH, U. v.19. 9. 2013 – C-297/12 Rdn. 44 - Filev. 88 BVerwGE 143, 277 (299) Rdn. 43 = InfAuslR 2012, 397 = EZAR NF 43 Nr. 5, zu Art. 14 ARB 1/80; BayVGH, EZAR NF 45 Nr. 9, zehn Jahre bei Drogendelikten. 89 Hess.VGH, InfAuslR 1998, 445; VG Hannover, InfAuslR 2000, 117 (118); VG Saarlouis, InfAuslR 2011, 22. 90 BVerwGE 111, 369 (372 ff.) = NVwZ 2000, 1422 (1423) = InfAuslR 2000, 483 = EZAR 039 Nr. 7 = AuAS 2001, 42; Nieders. OVG, AuAS 2002, 17; VGH BW, InfAuslR 1998, 433 (435); VG Aachen, InfAuslR 2000, 117 (118); VG Berlin, InfAuslR 1998, 57 (58); VG Hannover, InfAuslR 2000, 117. 91 EGMR, InfAuslR 2003, 126 (128) – Yildiz; EGMR, InfAuslR 2006, 255 (256) – Sezen. 87 23 Ausweisungsverfügung aufgrund ihrer unbegrenzten Dauer unverhältnismäßig sein.92 Auch wenn angesichts der Schwere der begangenen Straftat die Ausweisung an sich zulässig ist, verletzt danach die unbefristete Ausweisung unter Berücksichtigung der besonderen Umstände des Einzelfalls, insbesondere der Dauer des Aufenthalts, des unbefristeten Aufenthaltsstatus sowie der Schwierigkeiten, mit denen die Kinder im Falle der Ausweisung konfrontiert werden, Art. 8 EMRK.93 Die für die Verhältnismäßigkeit der Ausweisung entwickelten Boultif-Kriterien94 können auch für die Frage der Verhältnismäßigkeit der Dauer des Einreiseverbotes heran gezogen werden. cc) Grundsätze zur Fristbemessung Bei der spezialpräventiven Begründung kommt es auf das Gewicht des Ausweisungsgrundes und den Ausweisungszweck an. Es bedarf einer prognostischen Einschätzung im jeweiligen Einzelfall im Entscheidungszeitpunkt, wie lange das der Ausweisung zugrunde liegende Verhalten des Betroffenen das öffentliche Interesse an Gefahrenabwehr zu tragen vermag. Höherrangiges Recht (Art. 2 Abs. 1, Art, 6 GG, Art. 8 EMRK, Art. 7 GRCh) und der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit bilden ein normatives Korrektiv, um fortwirkende einschneidende Folgen für persönliche Lebensführung des Betroffenen und der Familienangehörigen (§ 55 Abs. 3 AufenthG) zu begrenzen.95 Einerseits sind zu Lasten des Betroffenen96 die Schwere des Ausweisungsgrundes im Rahmen der §§ 53 ff. AufenthG, Gefährlichkeit des Betroffenen, Strafbiografie, Einschätzungen und Beurteilungen der Strafgerichte, der Umfang einer gewährten Strafaussetzung, Verstoß gegen Bewährungsauflagen und das Alter bei Tatbegehung zu berücksichtigen. Andererseits sind zu seinen Gunsten die Dauer des Aufenthalts im Bundesgebiet, Schul- und Berufsausbildung, Sprachkenntnis, eheliche oder familiäre Lebensgemeinschaft, stabile wirtschaftliche und familiäre Kontakte während der Trennung/Haftzeit, die Berufstätigkeit bzw. EGMR (große Kammer), InfAuslR 2008, 333 (335) – Maslow II; EGMR, InfAuslR 2004, 374 (375) – Radovanic; EGMR, InfAuslR 2006, 3 (4) – Keles; EGMR, InfAuslR 2007, 325 (326) – Kaya; EGMR, InfAuslR 2008, 336 (337) – Emre; EGMR, InfAuslR 2010, 325 (327) – Mutlag. 93 EGMR, InfAuslR 2006, 3 (4) – Keles; EGMR, InfAuslR 2008, 336 (337) – Emre; EGMR (große Kammer), InfAuslR 2008, 333 (335) – Maslow II. 94 EGMR, InfAuslR 2001, 476 – Boultif; bestätigt in EGMR, InfAuslR 2004, 184 (185) – Jakupovic; EGMR, InfAuslR 2005, 450 = NVwZ 2007, 1279 – Üner; EGMR, InfAuslR 2007, 325 - Kaya; EGMR, InfAuslR 2010, 369 – Abdul Waheed Khan; EGMR, InfAuslR 2010, 325 – Mutlag. 95 BVerwGE 143, 277 (294) Rdn. 35 ff. (38), 45 = InfAuslR 2012, 397 = EZAR NF 43 Nr. 5. 96 Nach VG Berlin, InfAuslR 2011, 353 (356). 92 24 Arbeitsplatzangebot, Höhe des Erwerbseinkommens, soziale Integration, Hinweise auf Persönlichkeitswandel, Dauer der Straffreiheit, Erkrankungen und Suchtgefahren zu bedenken. Umstritten ist, ob die nach Ausweisungstatbeständen typisierten „Regelfristen“ in Nr. 11.1.4.6.1. ff. AufenthG-VwV97 weiterhin zugrundegelegt werden dürfen. Einerseits wird dies für zulässig erachtet, sofern für eine Ermessensentscheidung stets in eine Einzelfallbewertung eingetreten wird.98 Andererseits wird aus der Rechtsprechung des BVerwG abgeleitet, dass diese weder unmittelbar noch der Sache nach Anwendung finden. Als grobe Orientierung könne aber bei der zwingenden Ausweisung eine Regelfrist von sechs Jahren, bei der Regelausweisung von vier Jahren und der Ermessensausweisung von zwei Jahren ausgegangen werden.99 Dagegen wird eine abstrakte Festlegung von Fristen mit dem Gebot der Einzelfallwürdigung für unvereinbar erachtet.100 Hierbei wird jedoch keine am konkreten Einzelfall ausgerichtete Ermessensausübung unter Berücksichtigung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit getroffen. Es fehlt bereits an der Eignung dieses Kriteriums. Die Dauer der Haftstrafe ist nur von begrenzter Aussagekraft für die erforderliche aktuelle Gefahrenprognose. Hieraus lassen sich keine tragfähigen Rückschlüsse auf die möglicherweise vom Betroffenen ausgehenden Gefahren ziehen.101 Stets bedarf es einer auf der Grundlage aller konkreten Umstände beruhenden Festsetzung einer Obergrenze bereits im Entscheidungszeitpunkt (§ 11 Abs. 1 Satz 4 AufenthG). Entscheidend ist allein, ob der spezialpräventive Zweck der Ausweisung bereits erreicht oder noch nicht erreicht ist. Ist er in diesem Zeitpunkt erreicht, wurde früher das Ermessen auf null reduziert.102 Nach geltendem Recht ist das Einreiseverbot aufzuheben Da das Einreiseverbot bei Zweckerreichung nicht aufrechterhalten werden kann, stellt sich bei spezialpräventiv begründeten Ausweisungen das Problem, wie die zukünftige individuelle Entwicklung des Betroffenen verlässlich eingeschätzt werden kann. Das BVerwG hat den obergerichtlichen Versuch, strafgerichtliche Aussetzungsentscheidungen nach § 57 StGB jedenfalls dann zu berücksichtigen, wenn zu ihrer Vorbereitung fachkundige Stellungnahmen 97 § 55 AufenthG: Drei Jahre - § 54 AufenthG: sieben Jahre - § 53 AufenthG: zehn Jahre Nach VG Berlin, InfAuslR 2011, 353 (356). 99 VG Oldenburg, InfAuslR 2013, 35. 100 Nieders.OVG, EZAR NF 45 Nr. 10, S. 7 f. 101 VGH BW, InfAuslR 2008, 429 (438) = EZAR NF 10 Nr. 11; Gutmann, InfAuslR 2013, 2 (3). 102 BVerwGE 129, 243 (250) = InfAuslR 2008, 1 (3) = EZAR NF 10 Nr. 8 = ZAR 2008, 31; Hess.VGH, AuAS 2008, 87 (88). 98 25 oder fachwissenschaftliche Gutachten eingeholt worden sind, zurückgewiesen. Strafrechtliche Prognoseprüfungen seien am Resozialisierungsgedanken orientiert, ausweisungsrechtliche Prognoseentscheidungen hingegen an der Aufbürdung des Risikos für das Misslingen der Resozialisierung. Dieses habe nicht die Gesellschaft des Aufnahmestaates zu tragen. Daher dürfe ein über die Bewährungszeit hinausgehender zeitlicher Horizont zugrunde gelegt werden.103 Es kommt danach nicht vorrangig auf eine nach wissenschaftlich gesicherten Erkenntnisse beruhende Prognose an, solange nach dem eher holzschnitzartig differenzierten Wahrscheinlichkeitsmaßstab wenig mehr als „jede auch nur entfernte Möglichkeit einer Wiederholungsgefahr“ besteht. Demgegenüber ist nach der Rechtsprechung des BVerfG bei der spezialpräventiven Prognose der sachkundigen strafrichterlichen Prognose „wesentliche Bedeutung“ beizumessen. Grundsätzlich darf hiervon nur bei Vorliegen überzeugender Gründe abgewichen werden. Dies ist nur zulässig, wenn umfassenderes Tatsachenmaterial zur Verfügung steht, das genügend zuverlässig eine andere Einschätzung der Wiederholungsgefahr erlaubt.104 Nur bessere Erkenntnisse, nicht aber eine andere normative Verteilung des Risikos der Rückfallgefahr im Rahmen der Prognose erlaubt daher die Abweichung von der strafrichterlichen Prognose. Geht es um „faktische Inländer“ kommt hinzu, dass die Art der Risikoverteilung auch deshalb fragwürdig erscheint, weil zu ihren Gunsten aufgrund ihrer territorialen Bindung an das Bundesgebiet der zeitliche Horizont des Einreiseverbots nicht losgelöst von dieser Bindung bemessen werden darf. Das Recht auf Achtung des Privatlebens umfasst - bezogen auf die Aufnahmegesellschaft - die Summe der persönlichen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Beziehungen, die für das Privatleben eines jeden Menschen konstitutiv sind und denen angesichts der zentralen Bedeutung dieser Bindungen für die Entfaltung der Persönlichkeit eines Menschen bei fortschreitender Dauer des Aufenthalts wachsende Bedeutung zukommt.105 Das Recht auf Achtung des Privatlebens ist weit zu verstehen und umfasst seinem Schutzbereich nach u.a. das Recht auf Entwicklung der Person und das Recht darauf, Beziehungen zu anderen Personen und der Außenwelt anzuknüpfen und zu entwickeln und 103 104 BVerwG, NVwZ-RR 2013, 435 (436 f.) = InfAuslR 2013, 217. BVerfG (Kammer), InfAuslR 2011, 287 (289). 105 BVerfG (Kammer) InfAuslR 2007, 275 (277) = NVwZ 2007, 946 = EZAR NF 42 Nr. 5; BVerfG (Kammer), NVwZ 2007, 1300 (1301) = InfAuslR 2007, 443= EZAR NF 42 Nr. 6; BVerfG (Kammer), NVwZ-RR 2011, 420 (421) =InfAuslR 2011, 236. 26 damit auch die Gesamtheit der im Aufenthaltsstaat gewachsenen Bindungen. Entscheidend ist, ob der Betroffene dort über intensive persönliche und familiäre Bindungen verfügt.106 III. Verhältnis der Abschiebungsanordnung nach § 34a AsylVfG zur Duldung oder Aufenthaltserlaubnis 1. Erlass der Abschiebungsanordnung (§ 34a Abs. 1 AsylVfG) Die Abschiebungsanordnung darf erst erlassen werden, wenn feststeht, dass die Abschiebung durchgeführt werden kann (§ 34a Abs. 1 Satz 1 AsylVfG). Die Abschiebungsanordnung – als Festsetzung eines Zwangsmittels – darf damit erst ergehen, wenn die Zulässigkeitsvoraussetzungen einer Abschiebung nach § 26a oder § 27a AsylVfG erfüllt sind. Denn sie ist die letzte Voraussetzung für die Anwendung des Zwangsmittels – hier der Abschiebung. Dies bedeutet, dass das Bundesamt vor Erlass der Abschiebungsanordnung gegebenenfalls sowohl zielstaatsbezogene Aspekte wie auch der Abschiebung entgegenstehende inländische Vollstreckungshindernisse zu berücksichtigen, mitunter auch zu prüfen hat, ob die Abschiebung in den anderen Mitgliedstaat oder Drittstaat aus subjektiven, in der Person des Betroffenen liegenden Gründen – wenn auch nur vorübergehend – rechtlich oder tatsächlich unmöglich ist.107 Daher darf im Rahmen der Abschiebungsanordnung die Prüfungskompetenz nicht in zielstaats- und inlandsbezogene Hindernisse aufgespalten werden.108 Dementsprechend wird in der Rechtsprechung auch geprüft, ob das Bundesamt etwa Krankheitsgründe, eine bestehende Schwangerschaft oder z.B. eine bevorstehende Eheschließung als inlandsbezogene Vollstreckungshemmnisse in seine Prüfung einbezogen hat. Regelmäßig beruhen die Hindernisse auf Gründen, die die Reiseunfähigkeit des Betroffenen zur Folge haben, insbesondere infolge schwerwiegender psychischer Symptome109 oder einer Risikoschwangerschaft.110 Aber auch aus Art. 6 Abs. 1 GG wird dann 106 OVG NW, NVwZ-RR 576 (577); Nieders.OVG, InfAuslR 2006, 329 (330). VGH BW, B. v. 31. 5. 2011 – A 11 S 1523/11 (openJur 2012, 64252), mit weiteren Hinweisen ; OVG MV, B. v. 29. 11. 2004 – 2 M 299/04; Nieders.OVG, Asylmagazin 2012, 254 (255); VGH BW, InfAuslR 2011, 310 (311). 108 OVG Hamburg, B. v. 3. 12. 2010 – 4 Bs 223/10; VG Trier, B. v. 5. 3. 2013 – 5 L 971/11.TR. 109 VG Weimar, B. v. 11. 12. 2009 – 7 E 20173/09 We; VG Düsseldorf, B. v. 4. 4. 2013 – 27 L 2497/12.A; VG Düsseldorf, B. v. 30. 10. 2007 – 21 K 3831/07. 110 Nieders.OVG, Asylmagazin 2012, 254 (256). 107 27 ein inlandsbezogenes Überstellungshindernis abgeleitet, wenn die Durchführung eines Asylverfahrens in einem anderen Mitgliedstaat wegen der zeitlich nicht absehbaren Dauer dieses Verfahrens dem Betroffenen unzumutbare Belastung auferlegt.111 Überwiegend behandelt die Rechtsprechung nicht die dauerhaften rechtlichen Folgen eines inlandsbezogenen Vollstreckungshindernisses. Teilweise wird festgestellt, das Ermessen zum Selbsteintritt werde in diesen Fällen reduziert.112 Vereinzelt wird darauf hingewiesen, dass auch ein nur vorübergehendes Hindernis113 zu berücksichtigen sei, ohne die rechtlichen Folgen einer gerichtlichen Aussetzung der Durchführung der Überstellung näher zu behandeln. Daher ist die maßgebende Dogmatik zur Lösung dieser Frage zu klären. Nach § 34a Abs. 1 Satz 1 AsylVfG darf die Abschiebungsanordnung erst ergehen, wenn feststeht, dass die Abschiebung durchführbar ist. Solange Vollstreckungshindernisse nicht ausgeräumt werden können, darf die Abschiebungsanordnung nicht erlassen werden. Für diese Prüfung ist nicht die vollstreckende Behörde, sondern das Bundesamt zuständig.114 Der vorübergehende Charakter des Vollstreckungshindernisses kann je nach Dauer zu Folge haben, dass die maximal auf sechs Monate begrenzte Überstellungsfrist des Art. 29 Abs. 1 UAbs. 1 Verordnung (EU) Nr. 604/2013115 – beginnend mit der Annahme des Ersuchens – abgelaufen ist und dadurch die Zuständigkeit für die Behandlung des Asylantrags auf die Bundesrepublik übergeht (Art. 29 Abs. 2 Verordnung (EU) Nr. 604/2013). Diese Rechtsfolge ist dem Rechtscharakter der Abschiebungsanordnung als letzte Stufe des Vollstreckungsverfahrens geschuldet. Sie darf nicht ergehen, wenn nicht geprüft wurde, ob gegebenenfalls zielstaatsbezogene Aspekte oder inländische Vollstreckungshindernisse der Abschiebung entgegenstehen, auch wenn bereits das Ersuchen angenommen wurde. Die CDU/CSUFraktion hatte bei den Beratungen des Richtlinienumsetzungsgesetzes 2013 bewusst darauf OVG Hamburg, B. v. 3. 12. 2010 – 4 Bs 223/10. OVG Hamburg, B. v. 3. 12. 2010 – 4 Bs 223/10. 113 OVG MV, B. v. 29. 11. 2004 – 2 M 299/04. 114 OVG MV, B. v. 29. 11. 2004 – 2 M 299/04; OVG Hamburg, B. v. 3. 12. 2010 – 4 Bs 223/10; VGH BW, InfAuslR 2011, 310 (311); Nieders.OVG, Asylmagazin 2012, 254 (255); VG Düsseldorf, B. v. 30. 10. 2007 – 21 K 3831/07.A; VG Weimar, B. v. 11. 12. 2009 – 7 E 20173/09 We; VG Trier, B. v. 5. 3. 2013 – 5 L 971/11.TR; VG Düsseldorf, B. v. 4. 4. 2013 – 27 L 2497/12.A; VG Weimar, B. v. 11. 12. 2009 – 7 E 20173/09 We; a.A. VG Hamburg, B. v. 2. 3. 2010 – 15 AE 44/10; VG Düsseldorf, B. v. 12. 5. 2010 – 13 L 761/10; VG Trier, B. v. 30. 7. 2013 – 1 L 891/13.TR. 115 Für Anträge, die bis zum 31. Dezember 2013 in der Union gestellt werden Art. 19 Abs. 3 Verordnung (EG) Nr. 343/2003 111 112 28 bestanden, dass trotz Zulassung des Eilrechtsschutzes als nationales Vollstreckungsmittel der unionsrechtlichen Überstellung nicht die erste Stufe, die Abschiebungsandrohung, sondern weiterhin die letzte Stufe, die Abschiebungsanordnung, beibehalten werden sollte. Damit werden auch die Folgen für die behördliche Zuständigkeit und die Durchführbarkeit der Verordnung in Kauf genommen. Das Bundesamt mag sich bei zielstaatsbezogenen Abschiebungshindernissen auf die Sicherheitsvermutung zurückziehen. Diese ist jedoch widerleglich.116 Bei inlandsbezogenen Hindernissen können aber häufig einzelfallbezogene und nicht der Sicherheitsvermutung zuzuordnende Umstände relevant werden. 2. Rücknahme des oder Unterlassen des Asylantrags Die Abschiebungsanordnung enthält zwei Regelungen: Die Feststellung, dass dem Antragsteller aufgrund seiner Einreise über den betreffenden Drittstaat oder wegen der Zuständigkeit eines anderen Mitgliedstaats kein Asylrecht zusteht. Ferner wird die Abschiebung in den „sicheren“ Drittstaat oder zuständigen Mitgliedstaat angeordnet. Feststellungen zu möglichen Verfolgungstatbeständen, zum subsidiären Schutz oder zu Abschiebungsverboten werden grundsätzlich nicht getroffen. Nach § 34a Abs. 1 Satz 2 2. Hs. AsylVfG ist die Abschiebung auch dann anzuordnen, wenn der Antragsteller seinen Antrag vor der Entscheidung des Bundesamtes zurückgenommen hat. Dies ist jedoch für die Fälle, in denen die Rücknahme des Asylantrags vor der Annahme des Ersuchens erfolgt, nicht zulässig.117 Anders als die Verordnung (EG) Nr. 343/2003, die nur noch auf Anträge anwendbar ist, die bis zum 31. Dezember 2013 in der Union gestellt werden, und die nur auf Asylanträge anwendbar ist, mit denen die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft begehrt wird (Art. 1, 2 Buchst. c) Verordnung (EG) Nr. 343/2003), bezeichnet der in Art. 1 Verordnung (EU) Nr. 604/2013 verwandte Begriff „Asylantrag“ alle Anträge auf internationalen Schutz im Sinne von Art. 2 Buchst. h) RL 2011/95/EU, schließt also auch den unionsrechtlichen subsidiären Schutz ein. EuGH, NVwZ 2012, 417 (419 f.) Rdn. 81 86 – N.S.; Hailbronner/Thym, NVwZ 2012, 406; Marx, NVwZ 2012, 409 117 EuGH, - InfAuslR 2012, 296 (297) = NVwZ 2012, 817 Rdn. 39, 42, 47 - Kastrati; VG Frankfurt am Main, InfAuslR 2011, 366 (367) = AuAS 2011, 189; Sigmaringen, InfAuslR 2012, 237; VG München, U. v. 8. 9. 2010 – M 2 K 09.50582; Hailbronner/Thiery, ZAR 1997, 55 (58); Löper, ZAR 2000, 16 (17); a.A. Nieders.OVG, AuAS 2008, 114; VG Regensburg, NVwZ-RR 2004, 692 (693) = AuAS 2004, 213); VG Regensburg, B. v. 9. 2. 2012 – RO 9 E 12.30035;VG Saarlouis, B. v. 14. 6. 2010 – 10 L 528/10, 116 29 Für die Übergangsperiode ist das unionsrechtliche Zuständigkeitssystem nicht anwendbar, wenn der Asylantrag vor Erteilung der Zustimmung des ersuchten Mitgliedstaates zurückgenommen und auf den subsidiären Schutz beschränkt wird. Unter der Geltung der Verordnung (EU) Nr. 604/2013 kann diese Wirkung durch Antragsrücknahme nicht mehr erreicht werden. Das aber bedeutet während der Übergangsperiode: Ob die Verordnung (EG) Nr. 343/2003 Anwendung findet, ist von dem Zeitpunkt des im ersten Mitgliedstaat gestellten Asylantrags abhängig. Stellt der Betroffene diesen im ersten Mitgliedstaat vor dem 31. Dezember 2013 und stellt er anschließend im Bundesgebiet einen weiteren Asylantrag, den er später vor Annahme des Ersuchens zurücknimmt, kommt es auf den Begriff des Asylantrags nach Art. 2 Bucht. c) Verordnung (EG) Nr. 343/2003 an, auch wenn der Asylantrag im Bundesgebiet nach dem 1. Dezember 2013 auch den subsidiären Schutz nach § 4 AsylVfG n.F. umfasst. Die Verordnung unterliegt unionsrechtlichen und nicht nationalen verfahrensrechtlichen Grundsätzen. Nach Abschluss des Übergangsperiode, also wenn für den nach dem 1. Januar 2014 in der Union gestellten und für den im Bundesgebiet gestellten weiteren Antrag derselbe Asylantragsbegriff maßgebend sein wird, kann der Antragsteller durch Rücknahme des Asylantrags und Beschränkung auf den subsidiären Schutz nach § 4 AsylVfG n.F. vor Annahme des Ersuchens nicht mehr die Anwendbarkeit der Verordnung vermeiden. Wird der Asylantrag jedoch von vornherein oder nachträglich vor der Erteilung der Zustimmung durch den ersuchten Mitgliedstaat auf den nationalen subsidiären Schutz (§ 60 Abs. 5 und 7 AufenthG n.F., Art. 3 EMRK) beschränkt, findet die Verordnung (EU) Nr. 604/2013 keine Anwendung. Der Antragsteller wird nicht an den anderen Mitgliedstaat überstellt, sondern sein Antrag im Bundesgebiet behandelt. Hat er zuvor einen Asylantrag gestellt, bleibt das Bundesamt zuständig (§ 24 Abs. 2 AsylVfG). Beschränkt er von vornherein den Antrag auf dieses Ziel, ist die Ausländerbehörde originär zuständig, hat aber das Bundesamt zu beteiligen (§ 72 Abs. 2 AufenthG). Wird von vornherein kein Asylantrag, sondern unter Berufung auf § 60 Abs. 5 oder 7 AufenthG n.F. die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis beantragt, findet Abs. 1 Satz 1 keine Anwendung. In diesem Fall liegt aus unionsrechtlicher Sicht kein Asylantrag vor und die Verordnung (EU) Nr. 604/2013 findet keine Anwendung. Unter Geltung der Verordnung (EG) Nr. 343/2003 war die Rechtsprechung davon ausgegangen, dass diese ungeachtet der erteilten Zustimmung des zuständigen Mitgliedstaates zur Wiederaufnahme keine Anwendung fand und daher auch keine Abschiebungsanordnung nach 30 § 34a AsylVfG erlassen werden durfte, wenn der Betroffene hier keinen Asylantrag gestellt, sondern wegen inlandsbezogener Vollstreckungshemmnisse Abschiebungsschutz im Wege der Duldung oder die Erteilung einer Duldung bzw. Aufenthaltserlaubnis zwecks Eheschließung gesucht hatte.118 Es handelt sich hierbei um die Fälle des Art. 16 Abs. 1 Buchst. e) Verordnung (EG) Nr. 343/2003. § 34a AsylVfG enthält keine Regelungen für den Fall, dass die Durchführung der Abschiebung in den Drittstaat z.B. infolge Überschreitens der Rücknahmefristen oder wegen Passlosigkeit119 fehlschlägt. Demgegenüber wird das Verfahren bei unbeachtlichen Asylanträgen nach Ablauf von drei Monaten fortgeführt, wenn bis dahin die Rückführung in den Drittstaat nicht möglich gewesen ist. Die Überstellung in den zuständigen Mitgliedstaat ist rechtlich untersagt, wenn die Übernahmefrist abgelaufen ist. Hat der Antragsteller seinen Asylantrag nicht zurückgenommen und ist die Durchführung der Abschiebung in den sicheren Drittstaat nicht mehr möglich, steht Art. 16a Abs. 2 GG der Prüfung der Voraussetzungen des internationalen Schutzes und von Abschiebungsverboten nach § 60 Abs. 5 oder 7 AufenthG nicht entgegen.120 Gleiches gilt für fehlgeschlagene Überstellungen in den zuständigen Mitgliedstaat. 3. Zulässigkeit von Eilrechtsschutz (§ 34a Abs. 2 AsylVfG n.F.) Maßgebend für die Zulässigkeit des Eilrechtsschutzes ist § 34a AsylVfG n.F., der seit dem 6. September 2013 in Kraft ist und Eilrechtsschutz in Übereinstimmung mit Art. 27 Abs. 2 Buchst. c) Verordnung (EU) Nr. 604/2013 (Dublin III – VO) gewährleistet. Die Verordnung ist hingegen erst auf die Anträge anzuwenden, die nach dem 1. Januar 2014 in der Union gestellt werden (Art. 49 Abs. 2). Nach § 34a Abs. 2 Satz 1 AsylVfG ist der Antrag gegen die Abschiebungsanordnung nach § 34a Abs. 1 Satz 1 innerhalb einer Woche nach Bekanntgabe zu stellen. Ungeachtet dessen gilt für die Anfechtungsklage die Zweiwochenfrist des § 74 Abs. 1 1. Hs. Der Gesetzgeber hat in § 74 Abs. 1 2. Hs. nicht auf § 34a Abs. 2 AsylVfG OVG Hamburg, B. v. 27. 7. 2011 – 4 Bs 97/11 juris; VG Gelsenkirchen, B. v. 29. 11. 2011 – 5a L 1234/11.A juris. 119 S. hierzu OVG Berlin, InfAuslR 1994, 236. 120 BVerfGE 94, 49 (97) = NVwZ 1996, 700 (705) = EZAR 208 Nr. 7; BVerfG (Kammer), AuAS 1996, 243 (245); BVerwGE 100, 23 (31) = EZAR 208 Nr. 5 = NVwZ 1996, 197 = InfAuslR 1996, 1; Hess.VGH, NVwZBeil. 1996, 11 (14); OVG Rh-Pf, NVwZ 1995, 53 (54f.); VGH, BW NVwZ-Beil. 1995, 5; VGH BW, EZAR 210 Nr. 9 S. 3. 118 31 hingewiesen. Wegen der Folgen unrichtiger Rechtsbehelfsbelehrungen (§ 58 Abs. 2 VwGO) wird daher in der Verwaltungspraxis auf die Zweiwochenfrist hingewiesen. Bei rechtzeitiger Antragstellung ist die Abschiebung vor der gerichtlichen Entscheidung im Eilrechtsschutzverfahren nicht zulässig (§ 34a Abs. 2 Satz 2 AsylVfG). Dieses gesetzliche Vollstreckungshindernis entspricht dem in § 36 Abs. 3 Satz 8 AsylVfG geregelten Vollzugshindernis. Aus dem Gesetzeswortlaut folgt, dass auch vor der Antragstellung beim Verwaltungsgericht das Vollstreckungshindernis Anwendung findet, da die Abschiebung vor der gerichtlichen Entscheidung nicht zulässig ist. § 34a Abs. 2 AsylVfG regelt das Eilrechtsschutzverfahren unabhängig von dem Verfahren nach § 36 Abs. 3 und 4 AsylVfG. Daher finden weder die dort geregelten gerichtlichen Entscheidungsfristen noch die Präklusionsregelungen noch die Anforderungen an die gerichtliche Prüfung und Entscheidung Anwendung. Vielmehr ist über den Antrag nach § 80 Abs. 5 VwGO nach allgemeinen verwaltungsprozessualen Grundsätzen zu entscheiden. Der Antragsteller kann im Eilrechtsschutzverfahren entsprechend seinen subjektiven Rechten nach der Verordnung (EU) Nr. 604/2013121 Einwände gegen die fehlerhafte Anwendung der Zuständigkeitskriterien, die Überschreitung der maßgebenden Fristen für die Stellung des Ersuchens und die Durchführung der Überstellung wie auch insbesondere gegen die fehlerhafte Anwendung der Schutznormen zugunsten Minderjähriger, der Familieneinheit wie auch gegen die rechtswidrige Anwendung der Regelanordnung des Art. 16 Abs. 1 Verordnung (EU) Nr. 604/2013 und die fehlerhafte Anwendung der Ermessensklauseln des Art. 16 Abs. 2 und Art. 17 Abs. 1 und 2 Verordnung (EU) Nr. 604/2013 erheben. Sind die Einwände gegen die Anwendung der Zuständigkeitskriterien und die Einhaltung der Fristregelungen nach summarischer Prüfung gerechtfertigt, hat das Verwaltungsgericht dem Antrag zu entsprechen. Bei den Ermessensklauseln wird häufig eine Ermessensreduktion in Betracht kommen. Allerdings hat die Anordnung der aufschiebenden Wirkung nicht den verbindlichen Übergang der Zuständigkeit für die Behandlung des Asylantrag auf die Zum subjektiven Rechtscharakter der Verordnungsbestimmungen VG Düsseldorf, Urteil vom 10. 12. 2009 – 18 K 718/09.A, insbesondere der Fristregelungen Thür.OVG, B. v. 28. 12. 2009 – 3 EO 469/09; VG Ansbach, U. v. 16. April 2009 – AN 3 K 09.30012; VG Münster, InfAuslR 2008, 372 (375); VG Sigmaringen, AuAS 2009, 152 (154 f.); VG Meiningen, Beschluss vom 8. Februar 2010 – 8 E 20009/10 Me; VG Meiningen, B. v. 19. 2. 2010 – 5 E 20022/10 Me; VG Stuttgart, B. v. 18. 12. 2012 – A 7 K 4330/12; Funke-Kaiser, in: GK-AsylVfG II § 27a Rdn. 199; a.A. Hailbronner, AuslR B 2 § 27a AsylVfG Rdn. 62; generell zum subjektiven Rechtscharakter sekundärrechtlicher Vorschriften EuGH, Urt. vom 30. Mai 1991, Rs. C-361/88, Rdn. 16 – Kommission gegen Bundesrepublik. 121 32 Bundesrepublik zur Folge, weil diese die Überstellungsfrist lediglich hemmt (Art. 29 Abs. 1 UAbs. 1 Verordnung (EU) Nr. 604/2013).. Wird die Wochenfrist versäumt, kann bei mangelndem Verschulden Antrag auf Wiedereinsetzung gestellt werden. In diesem Fall dürfte aber § 34a Abs. 2 Satz 2 AsylVfG nicht unmittelbar Anwendung finden. Es kann jedoch der Antrag analog § 80 Abs. 5 VwGO auf Feststellung gestellt werden, dass die Klage gegen die Abschiebungsanordnung aufschiebende Wirkung hat. Hilfsweise kann ein Antrag auf Gewährung von Eilrechtsschutz nach § 123 VwGO gegen die Vollstreckungsbehörde gestellt werden. Es besteht aber auch die Möglichkeit, den Antrag zu stellen, dass das Verwaltungsgericht durch gesonderten Verfahrensbeschluss über den Wiedereinsetzungsantrag entscheidet. Kommt es diesem nach, wird der Mangel der Fristversäumnis geheilt und das gesetzliche Vollstreckungshemmnis des Abs. 2 Satz 2 tritt unmittelbar ein.122 Im Hauptsacheverfahren ist Anfechtungsklage zu erheben. Zwar ist im Falle der Klage gegen die Versagung eines gebundenen begünstigenden Verwaltungsakts regelmäßig die dem Rechtsschutzbegehren des Klägers allein entsprechende Verpflichtungsklage die richtige Klageart mit der Konsequenz, dass das Verwaltungsgericht die Sache spruchreif zu machen hat.123 Grundsätzlich gilt dieser Grundsatz auch im Asylverfahren, kann im Falle einer fehlerhaften Ablehnung des Asylantrags als unzulässig im Sinne von § 27a AsylVfG jedoch keine Anwendung finden, weil das Bundesamt im bisherigen Verfahren wegen des eingeschränkten Zwecks des persönlichen Gesprächs (Art. 5 Verordnung (EU Nr. 604/2013) grundsätzlich noch nicht zur Sache angehört hat. Da es seine Zuständigkeit für die begehrte Prüfung verneint und dementsprechend auch entsprechende Übermittlungen unterlassen hat, liefe es grundsätzlich der Aufgabenverteilung zwischen Exekutive und Judikative zuwider, letzterer nunmehr allein die vollständige Aufklärungslast zu übertragen. Dies liefe darauf hinaus, dass das Verwaltungsgericht anstelle der Behörde selbst entscheiden würde.124 Hat das 122 Hailbronner, AuslR B 2 § 36 AsylVfG Rdn. 37. BVerwGE 106, 171 (173) = NVwZ 1998, 861 (862) = EZAR 631 Nr. 45 =AuAS 1998, 149. 124 VG Hamburg, U. v. 15. 3. 2012 – 10 A 227/11; VG Düsseldorf, U. v. 15. 1. 2010 – 11 K 9136/09.A; VG Karlsruhe, U. v. 3. 3. 2010 – A 4 K 4052/08; VG Trier, U. v. 18. 5. 2011 – 5 K 198/11.TR; VG Wiesbaden, U. v. 2. 10. 2012 7 K 1278/11.WI.A; VG Braunschweig, U. v.6. 12. 2012 – 1 A 125/11; VG Gießen, U. v. 24. 1. 2013 – 6 K 1329/12.GI.A - AuAS 2013, 144 (nur LS); VG München, U. v. 19. 7. 2013 – M 1 K 13.30169. 123 33 Bundesamt allerdings in der Sache angehört, mag eine andere prozessuale Betrachtung geboten sein. berücksichtigen.125. Diese Frage regelt sich nach Art. 29 Abs. 1 Verordnung (EU) Nr. 604/2013. Danach ist die Überstellung, sobald dies praktisch möglich ist und spätestens innerhalb einer Frist von sechs Monaten nach Annahme des Ersuchens durchzuführen. Solange das inlandsbezogene Vollstreckungshindernis andauert, ist die Überstellung praktisch nicht möglich. Wirkt es über die Überstellungsfrist hinaus, geht die Zuständigkeit nach Art. 29 Abs. 2 Satz 1 auf die Bundesrepublik über. Der Ausübung des Selbsteintrittsrechts nach Art. 17 Abs. 1 bedarf es daher nicht. Der Übergang der Zuständigkeit liegt nicht im Ermessen, sondern erfolgt kraft der Verordnung wegen Fristablaufs. IV. Feststellung des Nichtbestehens oder des Wegfalls der Freizügigkeitsberechtigung wegen Inanspruchnahme von Sozialhilfeleistungen (§ 5 Abs. 4 FreizügG/EU) 1. Funktion der Feststellung nach § 5 Abs. 4 FreizügG/EU Das Freizügigkeitsrecht innerhalb der Union für Unionsbürger ist Bestandteil der Unionsbürgerschaft (Art. 20 Abs. 1 Buchst. a) AEUV). Es gliedert sich in die Arbeitnehmerfreizügigkeit (Art. 45 AEUV), die Niederlassungsfreiheit (Art 49 AEUV) und die Dienstleistungsfreiheit (Art. 56 AEUV). Sekundärrechtlich wird es durch die Richtlinie 2004/38/EG (Unionsbürgerrichtlinie) ausgestaltet und im nationalen Recht durch das Freizügigkeitsgesetz umgesetzt. Freizügigkeitsberechtigt sind Unionsbürger und deren drittstaatsangehörige – Familienangehörige (Art. 2 Nr. 1 und Nr. 2 RL 2004/38/EG). Familienangehörige des Unionsbürgers, die die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaates besitzen, sind aus eigenem Recht als Unionsbürger freizügigkeitsberechtigt. Unionsbürger haben das Recht auf Einreise und Ausreise in die Mitgliedstaaten (Art. 4 Abs. 1 RL 2004/38/EG), insbesondere auf Aufenthalt in einem anderen Mitgliedstaat bis zu drei Monaten (Art. 6 Abs. 1 RL 2004/38/EG). Dieses Recht wird auch den Familienangehörigen gewährt (Art. 6 Abs. 2 RL 2004/38/EG). Für einen darüber hinausgehenden Aufenthalt hat der Unionsbürger das Recht zum Aufenthalt, wenn er Arbeitnehmer oder Selbständiger ist und für sich und seine Familienangehörigen über ausreichende Existenzmittel verfügt, sodass OVG MV, B. v. 29. 11. 2004 – 2 M 299/04; Nieders.OVG, Asylmagazin 2012, 254 (255); VGH BW, InfAuslR 2011, 310 (311). 125 34 sie während des Aufenthalts keine Sozialhilfeleistungen in Anspruch nehmen müssen, und er über einen ausreichenden Krankenversicherungsschutz verfügt (Art. 7 Abs. 1 RL 2004/38/EG). Unter diesen Voraussetzungen haben auch die Familienangehörigen das Recht zu einem längerfristigen Aufenthalt (Art. 7 Abs. 2 RL 2004/38/EG). Im nationalen Recht regelt § 5 Abs. 4 FreizügG/EU in Umsetzung von Art. 14 Abs. 1 und 2 RL 2004/38/EG das Bestehen oder den Wegfall des Freizügigkeitsrechts. Sind dessen Voraussetzungen entfallen, kann innerhalb von fünf Jahren nach Begründung des ständigen Aufenthalts im Bundesgebiet der Verlust des Freizügigkeitsrechts festgestellt und bei drittstaatsangehörigen Familienangehörigen die Aufenthaltskarte (§ 5 Abs. 1 FreizügG/EU) eingezogen werden. Das Vorliegen oder der Fortbestand des Freizügigkeitsrechts kann aus besonderem Anlasss überprüft werden (§ 5 Abs. 3 FreizügG/EU n.F.). Dies ist gegenüber § 5 Abs. 4 FreizügG/EU a.F. eine Verschärfung,126 da nach früherem Recht die anlassbezogene Überprüfung nur den Fortbestand, nicht aber auch das Vorliegen der Voraussetzungen zum Gegenstand hatte. Es darf nunmehr also bereits das Vorliegen anlassbezogen geprüft werden. Ein Anlass ist aber nur bei „begründeten Zweifeln“, ob die Voraussetzungen des Aufenthaltsrecht (noch) bestehen (Art. 14 Abs. 2 UAbs. 2 RL 2004/38/EG) gegeben. Die Feststellung steht im behördlichen Ermessen und darf nicht mit der Verlustfeststellung nach § 6 FreizügG/EU verwechselt werden. Besteht kein Freizügigkeitsrecht, kann dessen Verlust auch nicht bewirkt werden. Im Anwendungsbereich des § 5 Abs. 4 FreizügG/EU wird unter Beachtung der Verfahrensgarantien des Art. 15 in Verb. mit Art. 30 und 31 RL 2004/38/EG also lediglich darüber entschieden, ob der Unionsbürger und seine Familienangehörigen noch freizügigkeitsberechtigt sind (§ 2 FreizügG/EU). Die Feststellung wird unabhängig davon getroffen, ob Gründe der öffentlichen Ordnung, Sicherheit oder Gesundheit vorliegen, und beschränkt sich lediglich darauf, ob ein Aufenthaltsrecht besteht oder weggefallen ist. Hat der Unionsbürger und seine Familienangehörigen nach Ablauf von fünf Jahren das Daueraufenthaltsrecht (Art. 16 RL 2004/38/EG, § 4a FreizügG/EU) erworben, darf die Feststellung nicht mehr getroffen werden. Dies folgt aus Art. 16 Abs. 1 Satz 2 und im Umkehrschluss aus Art. 14 Abs. 1 und 2 RL 2004/38/EG. 126 Tewocht, ZAR 2013, 221 (226. 35 2. Inanspruchnahme von Sozialhilfeleistungen a) Fallgruppen Bei den Fallgruppen der Inanspruchnahme von Sozialhilfeleistungen sind zunächst Kurzaufenthalte auszuscheiden. In diesem Fall führt eine „angemessene Sozialhilfeleistung“ nicht zur Beendigung des Aufenthaltsrechts nach § 5 Abs. 4 FreizügG/EU (Art. 14 Abs. 1 in Verb. mit Art. 6 RL 2004/38/EG). Ferner hat der „Arbeitnehmer“ das Recht, für einen angemessenen Zeitraum Arbeit zu suchen. Für diese Phase kann der Nachweis der Existenzsicherung nicht gefordert werden. Lediglich die abstrakte Gefahr, dass der Arbeitssuchende einen Antrag auf Gewährung öffentlicher Leistungen stellt, rechtfertigt die Feststellung nach § 5 Abs. 4 FreizügG/EU nicht.127 Nach § 7 Abs. 1 Nr. 2 SGB II haben Arbeitssuchende zwar keinen Anspruch auf Leistungen nach SGB II, jedoch einen Anspruch auf Sozialgeld nach § 23 Abs. 1 SGB XII. Eine angebliche Maximalfrist von sechs Monaten128 kennt das Unionsrecht nicht. Einem Arbeitnehmer ist erst dann der Zugang zum regulären Arbeitsmarkt verschlossen, wenn er objektiv keine Möglichkeit hat, sich in den Arbeitsmarkt einzugliedern.129 Nicht nach fixen Zeiträumen, sondern anhand objektiver Kriterien ist danach zu bestimmen, ob der Arbeitnehmer auf Arbeitssuche ist. b) Funktion des Verbots des Art. 14 Abs. 3 RL 2004/38/EG Grundsätzlich darf die Inanspruchnahme von Sozialleistungen durch einen Unionsbürger für sich und seine Familienangehörigen nicht automatisch zu einer „Ausweisung“ führen (Art. 14 Abs. 3 RL 2004/38/EG). Dieses Verbot gilt auch für die Feststellung des Nichtbestehens oder Wegfalls der Vorraussetzungen des Freizügigkeitsrechts.130 Gesetzessystematische Gründe sprechen für diese Auslegung des Begriffs „Ausweisung“ in Art. 14 Abs. 3 RL 2004/38/EG. Einerseits wird er in der Norm verwandt, welche die Aufrechterhaltung des Aufenthaltsrechts zum Gegenstand hat und damit Kapitel III zuzuordnen ist. Andererseits sind die Voraussetzungen der „Ausweisung“ in Kapitel VI geregelt und wird das Verbot des Art. 14 Abs. 3 RL 2004/38/EG dort als spezielles in Art. 27 Abs. 1 Satz 2 RL 2004/38/EG normiert. Für die Feststellung des Nichtbestehens oder des Wegfalls der Voraussetzungen des 127 BayVGH, InfAuslR 2009, 144 (145). Welte, ZAR 2009, 229 (231). 129 EuGH, InfAuslR 1997, 146 (§ 26) = NVwZ 2009, 235 (236), Rn 24 f. = InfAuslR 2009, 93 – Altun. 128 36 Freizügigkeitsrechts enthält damit das Verbot des Art. 14 Abs. 3 RL 2004/38/EG eine ermessensbeschränkende Funktion. Die Inanspruchnahme von Sozialleistungen als solche gibt also weder Anlass zu „begründeten Zweifeln“, ob die Voraussetzungen des Aufenthaltsrecht (noch) bestehen (Art. 14 Abs. 2 UAbs. 2 RL 2004/38/EG), noch rechtfertigt diese allein die Feststellungsentscheidung. Vielmehr beziehen sich die begründeten Zweifel unabhängig vom Sozialhilfebezug auf die spezifischen Voraussetzungen des Freizügigkeitsrechts und darf dieser im Rahmen des Ermessens nicht ausschließlich die Entscheidung tragen. Im Rahmen der Ermessensprüfung kommt insbesondere dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit besondere Bedeutung zu.131 Es kommt bei der Abwägung also auf die individuellen Umstände (vorübergehender Charakter der Schwierigkeiten, Dauer des Aufenthalts, Höhe der gewährten Hilfe, persönliche Umstände) mit den entgegenstehenden öffentlichen Interessen an. Regelmäßig wird daher nur eine dauerhafte Unfähigkeit, für den eigenen Lebensunterhalt aufzukommen, die Beendigung des Aufenthaltes rechtfertigen können.132 c) Arbeitnehmer Bei Arbeitnehmern ist nach Maßgabe der entsprechenden Voraussetzungen dieser Grundfreiheit zu prüfen, ob diese bestehen oder weggefallen sind. Das Aufenthaltsrecht für Arbeitnehmer bleibt bei vorübergehender Erwerbsminderung infolge Krankheit oder Unfall ebenso unberührt wie nach mehr als einem Jahr Tätigkeit bei unfreiwilliger Arbeitslosigkeit infolge nicht zu vertretender Umstände. Ferner bleibt es bei Aufnahme einer Berufsausbildung, wenn zwischen der früheren Erwerbstätigkeit und der Ausbildung ein Zusammenhang besteht, erhalten (§ 2 Abs. 3 FreizügG/EU). Erzielt der Arbeitnehmer aus seiner Tätigkeit ein Erwerbseinkommen und ist er auf ergänzende Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts angewiesen, rechtfertigt dieser Umstand als solcher nicht die Feststellung des Nichtbestehens oder des Wegfalls der Voraussetzungen des Freizügigkeitsrechts.133 Dies folgt aus dem Verbot des Art. 14 Abs. 3 RL 2004/38/EG. Auch 130 Welte, ZAR 2009, 229 (230). Welte, ZAR 2009, 229 (233). 132 BayVGH, InfAuslR 2009, 144 (145) = AuAS 2009, 74, Epe, in: GK-AufenthG IX – 2 § 2 FreizügG/EU Rn 97. 133 OVG Bremen, EZAR NF 10 Nr. 12. 131 37 eine geringfügige Beschäftigung etwa als Reinigungskraft mit einer Wochenarbeitszeit von zunächst fünf oder sechs Stunden erfüllt die Voraussetzungen der Arbeitnehmerfreizügigkeit.134 Es entspricht inzwischen gefestigter Rechtsprechung des Gerichtshofs, dass die Teilzeitbeschäftigung ein wirksames Mittel zur Verbesserung der Lebensbedingungen darstellt, auch wenn sie möglicherweise lediglich zu Einkünften unterhalb des Existenzminimums führt.135 Die praktische Wirksamkeit des Unionsrechts wird beeinträchtigt, wenn allein solche Personen in den Genuss der Freizügigkeit gelangen, die einer Vollzeitbeschäftigung nachgehen und daher ein Arbeitseinkommen erzielen, das mindestens dem in der betreffenden Branche garantierten Mindesteinkommen entspricht. Vielmehr kommt es auf die spezifischen Voraussetzungen der Arbeitnehmerfreizügigkeit (Art. 45 AEUV) an: Es muss in objektiver Hinsicht ein Arbeitsverhältnis vorliegen. Dieses wird nicht dadurch in Frage gestellt, dass die Produktivität des Arbeitnehmers gering ist, er keiner Vollzeitbeschäftigung nachgeht, deshalb nur eine verringerte Anzahl von Wochenarbeitsstunden leistet und infolgedessen nur eine beschränkte Vergütung erhält. Weder die begrenzte Höhe der Vergütung noch der Umstand, dass der Betreffende die Vergütung durch andere Mittel zur Bestreitung des Lebensunterhalts wie eine aus öffentlichen Mitteln des Aufnahmemitgliedstaates gezahlte finanzielle Unterstützung zu ergänzen sucht, hat irgendeine Auswirkung auf die unionsrechtliche Arbeitnehmereigenschaft.136 Eine reguläre Tätigkeit von lediglich 20 Wochenstunden,137 zehn Wochenstunden oder zwanzig Stunden monatlich138 reichen für die Begründung des Arbeitnehmerstatus aus. Daher ist die 134 VGH BW, EZAR NF 11 Nr. 6; Hess.VGH, InfAuslR 2009, 325 (326) = AuAS 2009, 235 = NVwZ-RR 2009, 862 (LS). 135 EuGH, EZAR 831 Nr. 1 = NJW 1983, 1249; s. im Einzelnen hierzu Marx, Aufenthalts-, Asyl- und Flüchtlingsrecht in der anwaltlichen Praxis, 4. Aufl., 2011, S.223 ff. 136 EuGH, InfAuslR 2003, 41 (42) = AuAS 2003, 134 – Kurz; EuGH, NVwZ 2010, 367 (368) = EZAR NF 19 Nr. 41, Rn 20. – Genc, mit Rspr.Hw.; BVerwG, EZAR 029 Nr. 14 = AuAS 2001, 62; Nieders. OVG, InfAuslR 2001, 317 (318), mit Hinweisen auf Rechtsprechung; BSG, EZAR 312 Nr. 5. 137 VGH BW, InfAuslR 1999, 137 (138); weitere Hinweise von Auer, ZAR 2008, 223 (225). 138 EuGH, Slg. 1995, I-4741 = NJW 1996, 446 – Megner und Scheffel; EuGH, Slg. 2007, I.6347 = EuZW 2007, 576 – Geven, zehn Stunden; EuGH, InfAuslR 2008, 149 – Payir, zwischen 15 und 20 Stunden; Hess.VGH, B.. v. 18.5.2010 – 11 A 2870/09.Z; Hess.VGH, InfAuslR 2009, 325 (326) = AuAS 2009, 235, zwölf Stunden; VG Frankfurt am Main, Urt. v. 22.9.2009 – 7 K 1534/08.F(3), zehn Stunden; VG Freiburg, InfAuslR 2003, 365 (366), neun Stunden; VG München, InfAuslR 1999, 223, 20 Stunden; VG Freiburg, AuAS 2011, 18 (20), 20 Stunden im Monat. 38 sozialversicherungsfreie geringfügige Beschäftigung geeignet, die Arbeitnehmereigenschaft im Sinne des Unionsrechts zu vermitteln.139 Abzugrenzen ist die zu prüfende Tätigkeit lediglich von „Scheinarbeitsverhältnissen“,140 also jenen Tätigkeiten, die einen so geringen Umfang haben, dass sie sich als völlig untergeordnet und unwesentlich darstellen. Die Tatsache, dass der Arbeitnehmer weniger verdient, als im Aufnahmemitgliedstaat als Existenzminimum abgenommen wird, steht aber der Annahme der Arbeitnehmereigenschaft nicht entgegen. Eine Geringfügigkeitsgrenze wird insoweit nicht anerkannt.141 Maßgebend ist vielmehr, dass der Betroffene die Einkünfte aus einer Tätigkeit im Lohn- oder Gehaltsverhältnis erzielt. Ergänzt er diese durch andere Einkünfte bis zu diesem oder begnügt er sich mit Existenzgrundlagen, die darunter liegen, ist er Arbeitnehmer, vorausgesetzt, er übt tatsächlich eine Tätigkeit im Lohn- und Gehaltsverhältnis aus.142 In Ansehung der aus einer Tätigkeit erzielten Mindestvergütung ist eine betragsmäßige Festlegung unzulässig. Der Umstand, dass im Rahmen eines Arbeitsverhältnisses nur sehr wenige Arbeitsstunden geleistet werden, kann zwar ein Anhalt dafür sein, dass die ausgeübte Tätigkeit nur untergeordnet und unwesentlich ist. Doch lässt sich unabhängig von der begrenzten Höhe des aus einer Berufstätigkeit bezogenen Entgelts und des begrenzten Umfangs der insoweit aufgewandten Arbeitszeit nicht ausschließen, dass die Tätigkeit aufgrund einer Gesamtbewertung des betreffenden Arbeitsverhältnisses als tatsächlich und echt anzusehen ist. Es ist Sache der nationalen Gerichte, die entsprechenden tatsächlichen Prüfungen vorzunehmen.143 Der EuGH hat klargestellt, dass in seiner Rechtsprechung zur Auslegung des Arbeitnehmerbegriffs im Blick auf Arbeitszeit und Entgelt keine bestimmten Grenzen festgelegt seien, unterhalb deren eine Tätigkeit als „völlig untergeordnet und unwesentlich“ zu betrachten wäre, auch wenn dies notwendigerweise eine begriffliche Unbestimmtheit dieses Abgrenzungsbegriffs zur Folge habe. Bei der Gesamtbewertung des konkreten Arbeitsverhältnisses seien nicht nur Gesichtspunkte wie Arbeitszeit Vergütungshöhe, sondern auch solche wie Anspruch auf bezahlten Urlaub, Geltung von 139 Hess.VGH, InfAuslR 2009, 325 (326) = AuAS 2009, 235 = NVwZ-RR 2009, 862 (LS). VGH BW, EZAR NF 11 Nr. 6. 141 EuGH, InfAuslR 1983, 102 (104 – Levin; a.A. AAH, InfAuslR 2002, 349 (353). 142 EuGH, InfAuslR 1983, 102 (104 – Levin; EuGH, NVwZ 2010, 367 (368) = EZAR NF 19 Nr. 41, Rn 20. – Genc; VG Freiburg, InfAuslR 2003, 365 (366). 143 EuGH, NVwZ 2010, 367 (368) = EZAR NF 19 Nr. 41, Rn 26, 33. – Genc. 140 39 Lohnfortzahlung im Krankheitsfall, Anwendung des Tarifvertrags in der jeweils gültigen Fassung auf den Arbeitsvertrag sowie Dauer des Arbeitsverhältnisses zu berücksichtigen.144 d) Selbständige Gleiche Grundsätze gelten für Selbständige (§ 2 Abs. 3 FreizügG/EU).145 Eine selbstständige Tätigkeit ist im Unterschied zur Arbeitnehmertätigkeit durch eine unabhängige Stellung gegenüber den Auftraggebern, eine selbstständige Organisation im Betrieb und im Verhältnis zum Kunden sowie durch Eigenverantwortlichkeit hinsichtlich der Tätigkeit und deren Ergebnissen geprägt.146 In erster Linie geht es bei der selbstständigen Erwerbstätigkeit um den Betrieb eines Gewerbes147 in verschiedenen Rechtsformen. Betrieb eines Gewerbes ist die selbstständige, generell erlaubte, auf Gewinnerzielung gerichtete Dauer im wirtschaftlichen Bereich.148 Begünstigt sind nicht nur Unternehmensgründer oder Einzelunternehmer, sondern auch Geschäftsführer und gesetzliche Vertreter von Personen- und Kapitalgesellschaften (geschäftsführungsberechtigter Gesellschafter einer Gesellschaft bürgerlichen Rechts, einer OHG oder einer KG, gesetzlicher Vertreter einer juristischen Person – z.B. Geschäftsführer einer GmbH –, leitender Angestellter mit Generalvollmacht oder Prokura), unselbstständiger Reisegewerbetreibender – z.B. als unselbstständiger Handelsvertreter – sowie Stellvertreter nach § 45 GewO oder § 9 GastG.149 Geschäftsführende Gesellschafter müssen dabei tatsächlich eine leitende Funktion wahrnehmen. Abzugrenzen ist die zu prüfende Tätigkeit von der „Scheinselbstständigkeit“. Eine selbstständige Erwerbstätigkeit kann regelmäßig nicht angenommen werden, wenn der Antragsteller ausschließlich für einen Auftraggeber tätig oder derart stark in den gesamten Betriebs- und Arbeitsablauf eingegliedert ist, dass ihm im Ergebnis nicht mehr Freiheiten verbleiben wie einem abhängig beschäftigten Arbeitnehmer.150 Ist er aber Arbeitnehmer, kann er sich auf Art. 45 AEUV berufen. Nur bei türkischen Assoziationsberechtigten und den EuGH, NVwZ 2010, 367 (368) = EZAR NF 19 Nr. 41, Rn 27 f. – Genc. VGH BW, EZAR NF 11 Nr. 6. 146 Breidenbach, in: Kluth/Hund/Maaßen, Zuwanderungsrecht, 2008, S. 166 (183), Rn 264; s. im Einzelnen hierzu Marx, Aufenthalts-, Asyl- und Flüchtlingsrecht in der anwaltlichen Praxis, 4. Aufl., 2011, S. 390 ff. 147 Lange, GewArch 1996, 359 (360). 148 Röschert, GewArch 1984, 145 (146). 149 Röschert, GewArch 1984, 145 (146). 150 Breidenbach, in: Kluth/Hund/Maaßen, Zuwanderungsrecht, 2008, S. 166 (183), Rn 265. 144 145 40 Angehörigen aus den den Wartefristen unterliegenden neuen Mitgliedstaaten ist diese Unterscheidung von Bedeutung. Es bedarf hinreichend verlässlicher Feststellungen für die Annahme einer „Scheinselbständigkeit“ Allein die wirtschaftliche Abhängigkeit von einem Auftraggeber rechtfertigt angesichts der vielfältigen das Erwerbsleben prägenden ökonomischen Abhängigkeiten noch nicht die Annahme einer „Scheinselbstständigkeit“. Maßgebend ist stets, ob eine Tätigkeit nach einer Gesamtwürdigung aller Umstände des Einzelfalls in persönlicher Abhängigkeit ausgeübt wird (Nr. 2.2.3 AufenthG-VwV). Dass in dem der Erwerbstätigkeit zugrunde liegenden Vertrag der Begriff „Angestellter“ verwendet wird, ist dann unerheblich, wenn aufgrund des Gesellschaftsvertrages und des mit dem Betreffenden abgeschlossenen Anstellungsvertrages dieser alleinvertretungsberechtigt und von den Beschränkungen des § 181 BGB befreiter Geschäftsführer ist. Im Hinblick auf eine derart beherrschende Stellung im Betrieb und den Einfluss auf die Geschäftsführung kann unter diesen Voraussetzungen nicht von einer abhängigen, unselbstständigen Beschäftigung ausgegangen werden.151 Soweit in der Rechtsprechung für die Aufnahme einer selbstständigen Erwerbstätigkeit die Beherrschung der deutschen Sprache gefordert wird,152 ist dem entgegen zu halten, dass im Unionsrecht jede Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit (Art. 18 Abs. 1 AEUV)153 und aufgrund der Sprache (Art. 21 Abs. 1 GRCh in Verb. mit Art. 6 Abs. 3 EUV) verboten ist. Im Übrigen sind Unternehmen überwiegend im internationalen Handel tätig und kommt es daher insbesondere auf die Beherrschung der englischen Sprache an. Es ist allein Sache der Unternehmen und nicht der prüfenden Ausländerbehörde, zu entscheiden, welche Sprachkenntnisse sie für selbständige Tätigkeiten voraussetzen.154 2. Durchsetzung der Ausreisepflicht Visumvorschriften sperren nicht den Zugang von Unionsbürgern zum Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten. Allerdings bedürfen drittstaatsangehörige Familienangehörige des Unionsbürgers eines Visums nach Maßgabe des EG-VisaVO (vgl. § 2 Abs. 4 Satz 1 151 VGH BW, InfAuslR 1993, 336 (338). VG Köln, NVwZ-Beil. 2003, 108 (109); VG Berlin, InfAuslR 2003, 217 (219). 153 EuGH, U. v. 23. 5. 1996 – Rs. C-237/94 Rdn. 17 – Flynn. 154 Berühmtes Bespiel: Der Ko-Vorsitzende Anshu Jain der Deutschen Bank beherrschte zur Zeit seiner Bestellung kein Deutsch und hielt seine Antrittsrede vor der Aktionärsversammlung in Englisch. 152 41 FreizügG/EU). Dabei sind ihnen allerdings zur Erlangung der erforderlichen Sichtvermerke alle Erleichterungen zu gewähren. Das Visum ist entsprechend dem bestehenden Rechtsanspruch unverzüglich und nach Möglichkeit an den Einreisestellen in das nationale Hoheitsgebiet zu erteilen.155 Dementsprechend darf der Zugang zum Hoheitsgebiet nicht von der vorherigen Durchführung des Visumverfahrens abhängig gemacht werden.156 Der Verstoß gegen Einreisevorschriften ist mangels gesetzlicher Vorschriften weder strafbar noch ordnungswidrig.157 Es ist ferner unzulässig, die Einreise allein unter Hinweis auf eine vorhandene Eintragung im SIS zu verweigern. Vielmehr sind die Mitgliedstaaten verpflichtet, unionsrechtlich begünstigte Personen nur dann zur Einreiseverweigerung auszuschreiben, wenn eine tatsächliche und hinreichend schwere Gefährdung vorliegt, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt.158 Unter diesen Umständen stellt die Aufnahme eines mit einem Unionsbürger verheirateten Drittstaatsangehörigen in das SIS zwar ein Indiz für das Vorliegen eines Grundes dar, der es rechtfertigt, ihm die Einreise in den Schengenraum zu verweigern. Dieses Indiz muss jedoch durch Informationen erhärtet werden, anhand deren der das SIS konsultierende Mitgliedstaat vor einer Einreiseverweigerung feststellen kann, dass die unionsrechtlichen Voraussetzungen für die Einreiseverweigerung vorliegen. Beim Grenzübertritt sind entsprechend Nr. 2.2.1 des SIRENE-Handbuchs die erforderlichen Informationen innerhalb einer Frist von maximal zwölf Stunden zu liefern.159 Ist der Unionsbürger nicht in der Lage, nachzuweisen, dass die Voraussetzungen des Freizügigkeitsrechts erfüllt sind, kann seine Abschiebung angeordnet werden.160 Die Abschiebung eines Unionsbürgers oder seines drittstaatsangehörigen Familienangehörigen setzt jedoch eine behördliche Feststellung über das Nichtbestehen des Freizügigkeitsrechts voraus. dies auch dann, wenn dieses Recht von vornherein nicht bestanden hat. Die Nichterfüllung der Bedingungen und Beschränkungen des Freizügigkeitsrechts führt unmittelbar zum Nichtbestehen des aus Art. 21 AEUV folgenden Aufenthaltsrechts. Legt der Betroffene gegen die Feststellung nach § 2 Abs. 4 FreizügG/EU Widerspruch und Klage ein, EuGH, InfAuslR 2002, 417 (420 ff.) – MRAX.; Welte, ZAR 2009, 61 (62); s. im Einzelnen hierzu Marx, Aufenthalts-, Asyl- und Flüchtlingsrecht in der anwaltlichen Praxis, 4. Aufl., 2011, S. 390 ff.. 156 EuGH, InfAuslR 2005, 229 (230) = EZAR 14 Nr. 2 – Kommission gegen Spanien; Winkelmann, InfAuslR 2009, 45 (46); Welte, ZAR 2009, 61 (62). 157 Winkelmann, InfAuslR 2009, 45 (46). 158 EuGH, EZAR 14 Nr. 4 – Kommission gegen Spanien. 159 EuGH, EZAR 14 Nr. 4 – Kommission gegen Spanien. 160 EuGH, InfAuslR 2005, 126 (130) – Oulane, für Dienstleistungsfreiheit. 155 42 haben diese aufschiebende Wirkung (Art. 15 Abs. 1 in Verb. mit Art. Art. 31 Abs. 2 RL 2004/38/EG). § 84 Abs. 1 AufenthG ist deshalb nicht anwendbar (§ 11 Abs. 2 FreizügG/EU). Es bedarf daher nicht der Einholung einer Stillhaltezusage. Vielmehr ist der Aufenthalt während des Eilrechtsschutzverfahrens kraft Unionsrechts gestattet. Ihm ist keine Duldung, sondern eine entsprechende Bescheinigung sui generis auszustellen.161 Nach erfolglosem Eilrechtsschutzverfahren darf die Abschiebung jedoch durchgesetzt werden. Da die Abschiebung die Anwendung des AufenthG zur Voraussetzung hat, muss zunächst die nach § 11 Abs. 2 FreizügG/EU erforderliche Feststellung des Nichtbestehens des Freizügigkeitsrechts (§ 5 Abs. 4 FreizügG/EU eindeutig und rechtsförmig getroffen werden.162 Das Einreiseverbot des § 7 Abs. 2 FreizügG/EU findet keine Anwendung, da dieses allein an die Verlustfeststellung nach § 6 FreizügG/EU anknüpft. Die Abschiebung als solche begründet also kein Einreiseverbot. Dies wäre auch mit Unionsrecht unvereinbar, weil nur aus Gründen der öffentlichen Ordnung oder Sicherheit ein Einreiseverbot verhängt werden kann (Art. 32 Abs. 1 RL 2004/38/EG), bei der Feststellung nach § 5 Abs. 4 FreizügG/EU geht es jedoch nicht um eine Beschränkung der Grundfreiheit, sondern um die Feststellung, dass diese im konkreten Einzelfall nicht besteht. 161 162 VG Sigmaringen, ZAR 2007, 108; VG Bremen, AuAS 2013, 230. OVG Hamburg, NVwZ-RR 2008, 728 (729). 43