Fachtagung für Verwaltungsrichter

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DR. REINHARD MARX
- Rechtsanwalt RA Dr. Reinhard Marx - Mainzer Landstr. 127a – D- 60327 Frankfurt am Main
Fachtagung für Verwaltungsrichter
„Aktuelle Fragen des Ausländerrechts“
am 13. November 2013 im BVerwG in Leipzig
--
Mainzer Landstraße 127a
(Eingang Rudolfstraße)
D-60327 Frankfurt am Main
Telefon:
0049 / 69 / 24 27 17 34
Telefax:
0049 / 69 / 24 27 17 35
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11. November 2013
Aktuelle Fragen des Rechts der Aufenthaltshaltsbeendigung
Gliederung:
I. Vorbemerkung
S. 2
II. Befristung der Rückkehrentscheidung
2
1. Nationale Sperrwirkung
2
2. Abschiebungsandrohung (§ 59 Abs. 1 AufenthG)
3
3. Abschiebung (§ 58 AufenthG)
4
4. Ausweisung (§§ 53 ff. AufenthG)
7
a) Zum umstrittenen unionsrechtlichen Charakter der Ausweisung
7
b) Verhältnis Ausweisung und Befristung
9
c) Zuständige Behörde
14
d) Antragserfordernis für die Befristung
15
e) Ausreiseerfordernis (§ 11 Abs. 1 Satz 6 AufenthG)
17
aa) Problemaufriss
17
bb) Unzulässigkeit einer Befristungsentscheidung mit
aufschiebender Bedingung
18
cc) Ausnahmen vom Ausreiseerfordernis
18
dd) Rückkehrperspektive
20
f) Dauer der Befristung
21
aa) Gebundene Entscheidung
bb) Überschreitung der Fünfjahresgrenze (Art. 11 Abs. 2 Satz 2
RFRL, § 11 Abs. 1 Satz 4 zweiter Halbsatz AufenthG)
22
cc)
Grundsätze zur Fristbemessung
24
III Verhältnis der Abschiebungsanordnung nach § 34a AsylVfG zur Duldung
oder Aufenthaltserlaubnis.
27
1. Erlass der Abschiebungsanordnung (§ 34a Abs. 1 AsylVfG)
27
2.
Rücknahme oder Unterlassen des Asylantrags
29
3.
Zulässigkeit von Eilrechtsschutz (§ 34a Abs. 2 AsylVfG n.F.)
31
IV. Feststellung des Nichtbestehens oder des Wegfalls der Freizügigkeitsberechtigung
wegen Inanspruchnahme von Sozialhilfeleistungen (§ 5 Abs. 4 FreizügG/EU)
34
Bankverbindung: Frankfurter Sparkasse von 1822 (BLZ 50050201) Kto.-Nr. 668 702
Gerichtsstand für Streitigkeiten aus Anwaltsvertrag ist Frankfurt am Main
1.
2.
3.
Funktion der Feststellung nach § 5 Abs. 4 FreizügG/EU
Inanspruchnahme von Sozialhilfeleistung
a) Fallgruppen
b) Funktion des Verbots des Art. 14 Abs. 3 RL 2004/38/EG
c) Arbeitnehmer
d) Selbständige
Durchsetzung der Ausreisepflicht
34
36
36
36
37
40
41
I. Vorbemerkung
Die im Vorwege eingeholten Themenwünsche der Teilnehmer betreffen nahezu
ausschließlich Fragen der Befristungsregelungen des § 11 Abs. 1 AufenthG und in diesem
Zusammenhang die Frage der unionskonformen Umsetzung der Richtlinie 2008/105/EG
(Rückführungsrichtlinie - RFRL). Dabei sollen das Erfordernis der Befristung der
Ausweisung, das Ausreiseerfordernis und die Grundsätze zur Dauer der Befristung wie auch
das Erfordernis der Befristung der angedrohten Abschiebungsandrohung erörtert werden.
Diese Fragen bilden daher den thematischen Schwerpunkt des Vortrags.
Ferner sollen das Verhältnis der Abschiebungsanordnung nach § 34a AsylVfG zur Duldung
oder Aufenthaltserlaubnis sowie – wohl angeregt durch die Zuwanderung von Unionsbürgern
aus Bulgarien und Rumänien - Fragen der Beendigung des Freizügigkeitsrechts nach § 5 Abs.
4 FreizügG/EU behandelt werden. Im Vortrag werden die aktuellen Gesetzesänderungen, die
am 1. Dezember 2013 in Kraft treten werden, sowie die geänderten Rechtsakte der Union,
soweit diese relevant sind, berücksichtigt. Das betrifft insbesondere die Verordnung (EU) Nr.
604/2013 (Dublin III-VO), die auf alle Anträge Anwendung findet, die ab dem 1. Januar 2014
in der Union gestellt werden (Art. 49 Abs. 2). Wegen der unionsrechtlichen Durchdringung
nationalen Rechts werden alle drei Themenkomplexe ausgehend von den relevanten
unionsrechtlichen Rechtsakten behandelt und dabei erörtert, ob und inwieweit der nationale
Gesetzgeber noch eigenständige Regelungskompetenzen hat.
II. Befristung der Rückkehrentscheidung (Art. 11 RFRL)
1. Nationale Sperrwirkung (§ 11 Abs. 1 Satz 1 AufenthG)
Die Prüfung, ob die Rückführungsrichtlinie unionskonform umgesetzt wurde, beginnt beim
Einreiseverbot des Art. 11 RFRL. Dieses hat in § 11 Abs. 1 Satz 1 AufenthG seine nationale
2
Entsprechung. Dabei bleibt zunächst die Frage offen, welche der dort bezeichneten
Maßnahmen dem Anwendungsbereich der Richtlinie zuzuordnen sind. Nach § 11 Abs. 1 Satz
1 AufenthG bewirken Ausweisung, Zurückschiebung und Abschiebung ein gesetzliches
Einreise- und Aufenthaltsverbot (Sperrwirkung) und führen zur Ausschreibung zur
Einreiseverweigerung im SIS (Art. 96 Abs. 3 SDÜ). Dies bewirkt eine Einreisesperre für das
gesamte Gebiet der Schengen-Staaten. Die Wirkungen von Ausweisung und Abschiebung
betreffen auch Unionsbürger und diesen rechtlich gleichgestellte Personen (§ 7 Abs. 2 Satz 1
FreizügG/EU) und haben zur Folge, dass diese weder in andere Mitgliedstaaten einreisen
noch sich dort aufhalten dürfen. Die Sperrwirkung tritt unmittelbar kraft Gesetzes ein (§ 11
Abs. 1 Satz 1 AufenthG, § 7 Abs. 2 Satz 1 FreizügG/EU). Die Abschiebung knüpft die
Sperrwirkung an den tatsächlichen Vollzug. Die Abschiebungsandrohung als solche bewirkt
keine Sperrwirkung. Ausweisung, Zurückschiebung und Abschiebung begründen einen
zwingenden Versagungsgrund für die Erteilung eines Aufenthaltstitels (§ 11 Abs. 1 Satz 2
AufenthG). Bei § 7 Abs. 2 Satz 1 FreizügG/EU bleibt dies hinsichtlich der Abschiebung und
Zurückschiebung
offen. Der Versagungsgrund kann durch antragsgemäße Befristung
aufgehoben werden (§ 11 Abs. 1 Satz 3 AufenthG, § 7 Abs. 2 Satz 2 FreizügG/EU).
2. Abschiebungsandrohung (§ 59 Abs. 1 AufenthG)
Die Abschiebungsandrohung (§ 59 Abs. 1 AufenthG) wird im Allgemeinen nicht als
Rückkehrentscheidung im Sinne von Art. 11 Abs. 1 RFRL angesehen, da sie lediglich die
Funktion hat, die Abschiebung als Vollstreckungsmaßnahme (Art. 8 Abs. 1 RFRL)
vorzubereiten, aber nicht selbst die Ausreisepflicht begründet. Sie ergeht regelmäßig
zusammen mit der aufenthaltsbeendenden Maßnahme (§ 51 Abs. 1 Nr. 3 bis 5 AufenthG). Die
Abschiebungsandrohung ist selbständig anfechtbarer Verwaltungsakt1 und als solche die erste
Stufe des Verwaltungsvollstreckungsverfahrens zur zwangsweisen Durchsetzung der
Ausreisepflicht des Betroffenen. Sie ist im Einzelfall von dem bloßen Hinweis auf die
Ausreisepflicht und der Ankündigung einer Abschiebung abzugrenzen, insbesondere wenn
bereits eine Abschiebungsandrohung verfügt worden war.
1
BVerwGE 49, 202 (209) = EZAR 103 Nr. 1 = NJW 1976, 490; BVerwG, DÖV 1978, 180; Funke-Kaiser, in:
GK-AsylVfG II - § 34 Rdn. 11; Hailbronner, AuslR B 2 § 34 AsylVfG Rdn. 6.
3
Nur dann, wenn die Abschiebungsandrohung zur Durchsetzung einer vollziehbaren (§ 58 Abs.
2 Satz 1 AufenthG) gesetzlich bestehenden Ausreisepflicht (§ 50 Abs. 1 in Verb. mit § 51
Abs. 1 Nr. 1 und 2 AufenthG) erlassen, die Ausreisepflicht also nicht durch eine Verfügung
begründet wird, wird sie als Rückkehrentscheidung im Sinne von Art. 11 Abs. 1 RFRL
angesehen, weil nach Art. 6 Abs. 1 RFRL grundsätzlich gegen alle illegal aufhältlichen
Drittstaatsangehörigen eine Rückführungsentscheidung zu erlassen ist.2 In diesem Fall wird
eine Einreiseverbot aber nur begründet, wenn der Ausreisepflicht nicht nachgekommen (Art.
11 Abs. 1 Buchst. b) RFRL), diese also zwangsweise durchgesetzt wird (Abschiebung). Der
Gesetzgeber hat im Blick auf Abschiebungsandrohung, die eine Ausreisepflicht begründet (§
34, § 35 AsylVfG) nicht von der unionsrechtlichen Kompetenz, damit ein Einreiseverbot zu
verbinden (Art. 11 Abs. 1 UAbs. 2 RFRL) Gebrauch gemacht, vielmehr die tradionelle
deutsche Rechtslage beibehalten.
3. Abschiebung (§ 58 AufenthG)
Nach § 11 Abs. 1 Satz 1 AufenthG begründet die Abschiebung ein Einreiseverbot, dessen
Befristung nach § 11 Abs. 1 Satz 3 AufenthG beantragt werden kann. Die unionsrechtliche
Grundlage hierfür ist zweifelhaft, da die Abschiebung als solche keine Rückkehrentscheidung
darstellt3 und ein Einreiseverbot nur nach Maßgabe von Art. 11 Abs. 1 RFRL, also
enumerativ lediglich in zwei Fällen, angeordnet werden darf und damit auch nicht kraft
Gesetzes eintreten darf. Dem ersten Fall, in dem die Verhängung eines Einreiseverbots
zulässig ist, liegt zugrunde, dass es nach Art. 7 Abs. 4 RFRL im Ermessen steht, bei
Fluchtgefahr oder Gefahr für die öffentliche Ordnung, öffentliche oder nationale Sicherheit
von der Fristsetzung für eine freiwillige Ausreise abzusehen. § 58 Abs. 1 AufenthG ist daher
grundsätzlich unionsrechtlich unbedenklich. Durch die Abschiebung wird die bereits
angeordnete Rückkehrentscheidung vollstreckt (Art. 8 Abs. 1 RFRL). Wird aufgrund einer
Ausweisung die Abschiebung durchgeführt, handelt die Behörde zwar in Übereinstimmung
mit Art. 7 Abs. 4 RFRL. Die Abschiebung wird dadurch jedoch nicht zur
Rückkehrentscheidung. Sie bleibt vielmehr bloßer Vollzugsakt als Folge, dass die
Rückkehrentscheidung ohne Fristsetzung erfolgt.
2
VGH BW, NVwZ-RR 2012, 492 (493); VGH BW, NVwZ-RR 2012, 412 (414); VGH BW, InfAuslR 2013, 98
(99); s. hierzu im Einzelnen Welte, ZAR 2012, 424 (427 ff.).
3
Welte, ZAR 2012, 424 (429).
4
Dem zweiten Fall liegt zugrunde, dass der Rückkehrverpflichtung nicht nachgekommen
wurde (Art. 11 Abs. 1 Buchst. b) RFRL). Nach Art. 7 Abs. 1 RFRL sieht eine
Rückkehrentscheidung grundsätzlich eine angemessene Frist zwischen sieben und 30 Tagen
für die freiwillige Ausreise vor. Die verspätete freiwillige Befolgung der Ausreisepflicht als
solche ist ein Nachkommen, wenn auch ein „verspätetes“. Dieses Verhalten als solches
rechtfertigt daher nicht die Verhängung eines Einreiseverbots.4 Wird der Betroffene nach
Fristablauf festgenommen und abgeschoben, ist es ihm nicht mehr möglich, der
Rückkehrverpflichtung von sich aus nachzukommen. Gelingt ihm jedoch ungeachtet der
Pflichtwidrigkeit seines Verhaltens tatsächlich die Ausreise, indem er etwa die
Grenzkontrollen ungehindert passiert oder den grundsätzlich von Grenzkontrollen befreiten
Schengenraum durchquert und in sein Herkunftsland zurückkehrt oder kann er die
Ausländerbehörde überzeugen, ihm ungeachtet der Verspätung weiterhin die freiwillige
Ausreise zu ermöglichen, kommt er der Rückkehrverpflichtung von sich aus nach. Art. 7 Abs.
2 RFRL lässt eine derartige Fristverlängerung zu. Zwar ergreifen die Behörden bei
Nichtbefolgung der Frist „alle erforderlichen Maßnahmen zur Vollstreckung der
Rückkehrentscheidung“ (Art. 8 Abs. 1 RFRL). Bei überzeugender Entschuldigung für die
Fristversäumnis ist die Vollstreckung nicht erforderlich, weil aufgrund der überzeugenden
Entschuldigung die freiwillige Ausreise nach Ablauf der antragsgemäß verlängerten Frist
gewährleistet erscheint. In diesem Fall untersagt Art. 11 Abs. 1 Buchst. b) RFRL trotz der
verspäteten Erfüllung der Rückkehrverpflichtung die Verhängung eines Einreiseverbots.
Aus dieser Struktur des Art. 11 Abs. 1 RFRL wird deutlich, dass die Abschiebung als solche
unter keinen denkbaren Umständen eine Rückkehrentscheidung darstellen kann, die ein
Einreiseverbot zur Folge hätte. Gleiches gilt für die in § 11 Abs. 1 Satz 1 AufenthG
bezeichnete Zurückschiebung (§ 57 AufenthG). Damit ist die auch der üblichen
Verwaltungspraxis, die Anordnung der Befristung grundsätzlich von der Begleichung der
Abschiebungskosten
abhängig
zu
machen,5
der
Rechtsgrund
Rückkehrentscheidung (Art. 6 in Verb. mit Art. 3 Nr. 4
entzogen.
Die
RFRL) ist stets eine der
Vollstreckung (Art. 8 RFRL) zeitlich vorausliegende Maßnahme. An diese der Vollstreckung
vorgehende Rückkehrentscheidung knüpft das Einreiseverbot an, wenn keine Gelegenheit zur
freiwilligen Ausreise eingeräumt oder der Rückkehrverpflichtung nach Fristablauf nicht
4
5
So Welte, ZAR 2012, 424 (429).
Hess.VGH, InfAuslR 1998, 445 (446); VGH BW, InfAuslR 1998 433 (435).
5
nachgekommen und der Betroffene wegen der Vollstreckung der Rückkehrverpflichtung nicht
mehr von sich aus nachkommen kann. Nur im ersten Fall ergeht die Rückkehrentscheidung
von vornherein mit einem Einreiseverbot (Art. 11 Abs. 1 Buchst. a) RFRL) einher. Im
zweiten Fall wird erst durch die Abschiebung das Einreiseverbot begründet. Aber auch
dadurch wird der tatsächliche Vollzugsakt der Abschiebung nicht zur Rückkehrentscheidung.
Vielmehr liegt ja - wie bereits aus dem Wortlaut der Vorschrift und der Gesetzessystematik
folgt - eine Rückkehrverpflichtung vor, deren Nichtbefolgung zwingend das Einreiseverbot
zur Folge hat. Nicht der Vollzugsakt, sondern die Pflichtwidrigkeit des Betroffenen begründet
das Einreiseverbot. Vor Fristablauf darf er nicht abgeschoben werden (Art. 8 Abs. 2 RFRL).
Auch Art. 8 Abs. 1 und Art. 10 RFRL verdeutlichen, dass Rückkehrentscheidung und
Abschiebung im System der Richtlinie zwei voneinander getrennte Maßnahmen sind. Bereits
vor dem Erlass der Rückkehrentscheidung bedarf es bei unbegleiteten Minderjährigen nach
Art. 10 Abs. 1 RFRL der Zusammenarbeit mit den zuständigen Behörden und haben sich die
Behörden vor der Vollstreckung nach Abs. 2 zu vergewissern, dass im Zielstaat die
Unterstützung durch eine geeignete Stelle sichergestellt ist. Diese unionsrechtlichen
Verpflichtungen entsprechen der Rechtsprechung des EGMR.6
Nach der deutschen Rechtsprechung kommt es für die Aufhebung der Sperrwirkung darauf
an, ob die Abschiebungsgründe (vgl. § 59 AufenthG) fortbestehen.7 Die Maßstäbe für die
Befristung der Sperrwirkung der Ausweisungsverfügung können auch für die Befristung der
Wirkung der Abschiebung nutzbar gemacht werden. Dabei sind allerdings die Unterschiede in
den Zwecken beider Maßnahmen zu beachten. Die Sperrwirkung der Abschiebung knüpft an
die Abschiebungsgründe (§ 58 Abs. 3 AufenthG) an. Das mit ihr verbundene Einreise-,
Aufenthalts-/Aufenthaltstitelverbot soll den Ausländer deswegen treffen, weil er Anlass für
Vollstreckungsmaßnahmen gegeben hat und die Besorgnis besteht, dass dies bei einem
künftigen Aufenthalt im Bundesgebiet erneut der Fall sein könnte. Insofern hat die
Abschiebungssperrfrist eine spezialpräventive Zielrichtung. Daneben kommt ihr auch wegen
der Abschreckungswirkung eine generalpräventive Wirkung zu. Ferner kommt es auch
maßgeblich auf das Verhalten des Ausländers nach der Abschiebung, insbesondere auf
6
7
EGMR, NVwZ-RR 2008, 573 (575) Rdn. 68 –Maeka und Mitunga.
OVG Hamburg, InfAuslR 1990, 60 (61); VGH BW, InfAuslR 1998, 433 (435).
6
straffälliges Verhalten an. Hingegen sind die Gründe, die zur Aufenthaltsbeendigung geführt
haben, grundsätzlich unerheblich.8
Dagegen ist nach der Richtlinie grundsätzlich die Dauer des Einreiseverbots mit dem Erlass
der Rückkehrentscheidung festzusetzen. Auch für den Fall, dass der Rückkehrverpflichtung
nicht nachgekommen wurde, geht die Rückkehrentscheidung mit einem Einreiseverbot einher.
Naturgemäß kann es nicht mit dem Erlass der Rückkehrentscheidung ergehen, ist aber von
Amts wegen unverzüglich nachzuholen. In beiden Fällen liefern die Maßstäbe für die Dauer
des Einreiseverbots Art. 11 Abs. 2 RFRL. Die in der Vorschrift angesprochenen „jeweiligen
Umstände des Einzelfalls“ verdeutlichen, dass anders als nach der deutschen Rechtsprechung
die Gründe, die zur Rückkehrentscheidung geführt haben, erheblichen Einfluss auf die
Bemessung der Dauer des Einreiseverbots haben. Diese Gründe zielen also zunächst auf den
Sachverhalt, der der Rückkehrentscheidung zugrunde liegt. Zusätzlich kann nach
Erwägungsgrund Nr. 14 für die Bemessung der Dauer des Einreiseverbots – wohl aus
spezialpräventiven Gründen des Art. 11 Abs. 2 RFRL - auch die Pflichtwidrigkeit des
Verhaltens zu Lasten des Betroffenen berücksichtigt werden. Eine generalpräventive
Stoßrichtung kann diesen Regelungen aber nicht entnommen werden.
Die Abschiebung bedarf der Schriftform und einer sachlichen und rechtlichen Begründung
sowie der Information über mögliche Rechtsbehelfe (Art. 12 Abs. 1 UAbs. 1 RFRL, § 77 Abs.
1 Satz 1 AufenthG). Nach Art. 8 Abs. 3 RFRL dürfen hiervon keine Ausnahme gemacht
werden.9 Daher ist Gelegenheit zur Einlegung von Rechtsbehelfen gegen die Abschiebung zu
geben.10 Vorangegangene Rechtsbehelfe konnten sich nicht gegen die Abschiebung, sondern
nur gegen die Rückkehrentscheidung selbst richten. Allerdings wird die Ausländerbehörde
Abschiebungshaft nach § 62 Abs. 3 AufenthG beantragt haben und der Eilrechtsschutz die
Haft verlängern. Gleichwohl kann im Eilrechtsschutzverfahren festgestellt werden, dass die
Voraussetzungen nach § 58 Abs. 1 AufenthG nicht vorliegen.
8
VGH BW, InfAuslR 2003, 333 (337) = AuAS 2003, 184.
So aber Welte, ZAR 2012, 424 (430).
10
Gutmann, InfAuslR 2013, 2 (3).
9
7
4. Ausweisung (§ 53 ff. AufenthG)
a) Zum umstrittenen unionsrechtlichen Charakter der Ausweisung
Hoch umstritten ist, ob die Ausweisung als Rückkehrentscheidung im Sinne von Art. 11 Abs.
1 RFRL zu qualifizieren ist.11 Der als „Gesamtschauansatz“ bezeichnete Versuch des
BVerwG wird in der Literatur gelobt, weil er durch die Auslegung des § 11 Abs. 1 AufenthG
nach Maßgabe nationalen Rechts die Ausweisung vom Unionsrecht und damit von
Entscheidungen des EuGH abkoppelt.12 Ob das Gericht mit diesem nationalen Ansatz auf
Dauer die vielfältigen, unionsrechtlichen Fragen, die mit der Rückkehrentscheidung und dem
Einreiseverbot einhergehen, lösen kann, darf jedoch bezweifelt werden.
Das schwächste Argument gegen eine Einbettung der Ausweisung in das System der
Richtlinie ist der Hinweis auf die Freistellungsklausel des Art. 2 Buchst. b) RFRL, 13 wonach
die Mitgliedstaaten beschließen können, die Richtlinie nicht auf die Drittstaatsangehörige
anzuwenden, die nach nationalem Recht aufgrund einer strafrechtlichen Sanktion
rückkehrpflichtig sind. Zwar erweckt die gesetzliche Begründung (BT-Drs. 17/5470, S. 39)
den Eindruck, dass der Gesetzgeber diese Ausschlussklausel hat in Anspruch nehmen wollen,
was auch erklärt, dass er in § 11 Abs. 1 Satz 3 AufenthG entgegen Art. 11 Abs. 1 UAbs. 1
RFRL das Antragserfordernis für die Befristung beibehalten hat. Was damit gewonnen wurde,
bleibt jedoch offen, wenn ungeachtet dessen die Vorgaben der Richtlinie beachtet werden
müssen. Gegen die Bedeutung, die der Ausschlussklausel beigemessen wird, spricht, dass die
strafrechtliche Sanktion die Rückkehrpflicht bewirken muss. Daran aber mangelt es nach der
Rechtsprechung des EuGH, wenn dazwischen - wie nach § 51 Abs. 1 Nr. 5, §§ 53 ff.
AufenthG - noch eine behördliche Entscheidung geschaltet wird.14 Zwar findet nach dem
EuGH die Richtlinie keine Anwendung, wenn ein Mitgliedstaat von der Freistellungsklausel
11
Dafür Welte, ZAR 2012, 424; dagegen VGH BW, NVwZ-RR 2012, 412 (414); VGH BW, NVwZ-RR 2012,
492; wohl auch OVG NW, EZAR NF 19 Nr. 59, S. 6 ff.; Hörig, ZAR 2011, 281 (283); Fritsch, ZAR 2011, 297
(303); offen gelassen BVerwGE 143, 277 (294) Rdn. 35 ff. (38), 45 = InfAuslR 2012, 397 = EZAR NF 43 Nr. 5
= ZAR 2013, 78 mit Anm. Pfersich, ZAR 21013, 82; Basse/Burbaum/Richard, ZAR 2011, 361 (364); Franßende-la-Cord, ZAR 2009, 17.
12
Armbruster/Hoppe, ZAR 2013, 309 (311 f.).
So OVG NW, EZAR NF 19 Nr. 59, S. 6 f.
14
EuGH, InfAuslR 2011, 320 (322) Rdn. 49 – El Dridi; VGH BW, NVwZ-RR 2012, 412 (414);
Armbruster/Hoppe, ZAR 2013, 309 (317).
13
8
des Art. 2 Abs. 2 Buchst. b) RFRL Gebrauch gemacht hat. 15 Dem stellt er jedoch einerseits
ausdrücklich seine Rechtsprechung zur unmittelbaren Kausalität der strafrechtlichen Sanktion
voran, andererseits hatte er sich in dieser Entscheidung nicht mit dem unionsrechtlichen
Rechtscharakter der deutschen Ausweisung, sondern mit der Frage befasst, welche Folgen
nach Ablauf der Umsetzungsfrist das Säumnis des deutschen Gesetzgebers, die Richtlinie
umzusetzen, für die strafrechtliche Verurteilung nach § 95 Abs. 2 Nr. 1 AufenthG auf der
Grundlage eines nach Art. 11 Abs. 2 Satz 1 RFRL nicht mehr wirksamen Einreiseverbots hat.
Dass auf die Ausweisung die Richtlinie keine Anwendung findet, wird ferner damit
begründet, es sei nicht der Zweck der Richtlinie, ein eigenständiges unionsrechtliches
Instrumentarium zur Gefahrenabwehr zu schaffen.16 Dagegen spricht, dass die Richtlinie auch
auf
diejenigen
Drittstaatsangehörigen
Anwendung
findet,
die
„nicht
mehr“
die
Voraussetzungen für den Aufenthalt erfüllen (Erwägungsgrund Nr. 5). Dies trifft auf die
Ausweisung zu, da nach § 51 Abs. 1 Nr. 5 AufenthG der bisherige rechtmäßige Aufenthalt
des Drittstaatsangehörigen beendet wird, er sich also „nicht mehr“ rechtmäßig im
Bundesgebiet aufhält. Die enge Auffassung spaltet die Fragen der Begründung schematisch
der Aufenthaltsbeendigung von deren Vollzug ab, um damit unionsrechtliche Vorgaben auf
das nationale Recht abzuwehren. Ob damit den Vorgaben der Richtlinie zur Schaffung einer
„wirksamen Rückkehrpolitik“ nach Maßgabe klarer, transparenter und fairer Vorschriften
(Erwägungsgrund Nr. 4) genügt wird, erscheint eher zweifelhaft. Vielmehr dürfte im
Erwägungsgrund Nr. 4 der Auslegungsgrundsatz des effet utile seinen Ausdruck finden. Der
EuGH wird demnächst Gelegenheit haben, diese Frage zu klären. Nachfolgend soll an den
einzelnen Rechtsproblemen, die durch die Ausweisung aufgeworfen werden, aufgezeigt
werden, dass die herrschende Aufspaltung eines einheitlichen Rückkehrvorgangs keine
„wirksame Rückkehrpolitik“ hervorbringen kann.
b) Verhältnis Ausweisung und Befristung
Das BVerwG weist zwar auf Art. 11 Abs. 1 Satz 1 RFRL hin, wonach die
Rückführungsentscheidung mit einem Einreiseverbot einhergeht. Gleichwohl hält es jedoch
15
16
EuGH, U. v. 19. 9. 2013 – Rs. C-297/12 Rdn. 52– Filev.
VGH BW, NVwZ-RR 2012, 492 (493).
9
am Trennungsprinzip zwischen Ausweisung und Befristung fest.17 Das hat zunächst zur Folge,
dass zunächst die Rechtmäßigkeit der Ausweisung zu prüfen ist. Ist diese rechtswidrig, stellt
sich die Frage der Rechtmäßigkeit der Befristung nicht.18 Andererseits wird die Prüfung der
Rechtmäßigkeit der Ausweisung eng geführt, ohne dass für diese Prüfung die Erforderlichkeit
der Befristung von Bedeutung ist. Erst anschließend an die isoliert vom Einreiseverbot
getroffene Feststellung, dass die Ausweisung als solche rechtmäßig ist, schließt sich eine
wiederum eng geführte Prüfung an, die der Rechtmäßigkeit der Befristung.19 Daraus schließt
die Rechtsprechung, dass die fehlende Befristung nicht zur Rechtswidrigkeit der Ausweisung
führt.20
Gerade die generalpräventive Begründung der Ausweisung macht offenkundig, dass diese
Entkoppelung der Ausweisung vom Unionsrecht unionsrechtlich fragwürdig ist, da die
Rückkehrentscheidung nach Art. 6 Abs. 1 RFRL mit einem Einreiseverbot nach Art. 11
RFRL einhergeht und die Dauer des Einreiseverbots in Anbetracht der jeweiligen Umstände
des Einzelfalls festgesetzt wird (Art. 11 Abs. 2 RFRL). Die generalpräventive Begründung
sieht jedoch von den individuellen Umständen des Einzelfalls ab. Eine Befristungsdauer kann
daher gar nicht anhand der Einzelfallumstände und im Ergebnis nur nach abstrakten, eher
willkürlichen Erwägungen festgesetzt werden.
Aus der nationalen Sichtweise erscheint die Generalprävention als systemfremde Doktrin im
Gefahrenabwehrecht. Die Ausweisung ist klassisches Polizeirecht. Mit ihr wird eine konkrete
Gefahr für ein öffentliches Schutzgut (öffentliche Sicherheit und Ordnung) bekämpft. Besteht
eine
Gefährdung
des
Schutzguts
ist
in
die
Wahrscheinlichkeitsprognose
aus
verfassungsrechtlichen Grundsätzen eine optimale Abwägung zwischen dem Schutzgut und
dem betroffenen Grundrecht vorzunehmen.21 Dabei wird als Faustregel regelmäßig die
pragmatische Formel zugrunde gelegt, dass umso geringere Anforderungen an die
Wahrscheinlichkeit des Eintritts der Störung zu stellen sind, je weniger die behördliche
Maßnahme in Rechte des Betroffenen eingreift. Hingegen setzt eine diesen erheblich
17
BVerwGE 143, 277 (295 f.) Rdn. 37 ff. (38) = InfAuslR 2012, 397 = EZAR NF 43 Nr. 5.
BVerwG, NVwZ-RR 2013, 435 (438) Rdn. 26 = InfAuslR 2013, 217; Armbruster/Hoppe, ZAR 2013, 309
(312).
19
BVerwG, NVwZ-RR 13, 435 (438) Rdn. 26 = InfAuslR 2013, 217; Armbruster/Hoppe, ZAR 2013, 309 (313).
20
OVG NW, EZAR NF 19 Nr. 59 = ZAR 2012, 399 (LS).
21
Denninger, in: Lisken/Denninger, Handbuch des Polizeirechts, 4. Aufl., 2007, S. 322 Rdn. 52.
18
10
beeinträchtigende Maßnahme eine hohe Wahrscheinlichkeit des Gefahreneintritts voraus.22
Diese Formel verwendet das BVerwG auch bei der spezialbegründeten Ausweisung. 23 Nach
diesen Grundsätzen kann daher die spezialpräventive Ausweisung und eine daran
anknüpfende Fristdauer gerechtfertigt werden. Da der Wegfall des (spezialpräventiven)
Ausweisungszwecks für die Bemessung der Fristsetzung unabdingbar ist,24 muss prognostisch
ermittelt werden, wann keine Gefahr für das öffentliche Schutzgut mehr besteht.
Demgegenüber kann die Generalprävention nach Art. 11 Abs. 2 RFRL nicht begründet
werden.
Es
ist
zunächst
aus
nationaler
Sicht
nicht
ersichtlich,
aus
welchen
verwaltungsrechtlichen Grundsätzen die Rechtsprechung ihre Rechtsschöpfung25 ableitet.
Nach dieser kann ein schwerwiegender Ausweisungsgrund auch generalpräventiv begründet
werden. Danach müssen nicht zusätzlich individuelle Gründe die Ausweisung tragen, also
nicht kumulativ die Voraussetzungen einer spezialpräventiv begründeten Ausweisung
vorliegen. Auch in Fällen des erhöhten Ausweisungsschutzes darf nicht nur die zwingende,
sondern auch die Regelausweisung zusätzlich auf generalpräventive Erwägungen gestützt
werden.26 Das Vorliegen eines Ausnahmefalles muss danach im Blick auf beide
Ausweisungszwecke dargelegt werden.27 Liegt ein Ausnahmefall allein in spezialpräventiver
Hinsicht vor, reicht dies nicht aus, um einen schwerwiegenden Ausweisungsgrund zu
verneinen. Hinzu kommen muss, dass auch in generalpräventiver Hinsicht ein besonders
gelagerter Sachverhalt gegeben ist. Danach kann dahinstehen, ob von dem Betroffenen eine
Wiederholungsgefahr ausgeht, wenn feststeht, dass der Ausweisungsgrund jedenfalls in
generalpräventiver Hinsicht schwerwiegend ist.28
Das BVerwG hat aber auch unter Geltung der RFRL den obergerichtlichen Versuch,
jedenfalls bei nachhaltig verwurzelten Ausländern, die generalpräventive Begründung der
Ausweisung nicht zuzulassen,29 eine eindeutige Absage erteilt und hält weiterhin an der
22
BVerwGE 45, 51 (58); 47, 31 (40); 89, 162 (169 f.); BayVGH, BayVB1, 1993, 684, mit Hinweis auf
Drews/Wacke/Vogel/Martens, Gefahrenabwehr 9. Aufl. 1986 S. 224.
23
BVerwG, NVwZ-RR 2013, 435 7/436).
24
BVerwGE 143, 277 (294) Rdn. 35 ff. (38), 45 = InfAuslR 2012, 397 = EZAR NF 43 Nr. 5.
25
So VGH BW, InfAuslR 2011, 293 (296).
26
BVerwGE 101, 247 (255) = EZAR 035 Nr. 16 = InfAuslR 1997, 8 = NVwZ 1997, 297; BVerwG, InfAuslR
1995, 195 (196); BVerwGE 121, 356 (362 f.) = EZAR 41 Nr. 1 = NVwZ 2005, 229 = InfAuslR 2005, 49.
27
BVerwGE 101, 247 (255) = NVwZ 1997, 297= EZAR 035 Nr. 16 = InfAuslR 1997, 8; BayVGH, AuAS 2010,
161 (163); BayVGH, InfAuslR 2010, 198 (200); OVG NW, NVwZ 2008, 450 (451); VG Karlsruhe, InfAuslR
2009, 197 (201) = EZAR NF 44 Nr. 11.
28
BVerwGE 121, 356 (362) = NVwZ 2005, 229 (230) = InfAuslR 2005, 49 = EZAR NF 41 Nr. 1; kritisch hierzu
Alexy, in: Hofmann/Hoffmann, Handkommentar AuslR, § 56 AufenthG Rn 24; Mayer, VA 2010, 482 (506 ff.).
29
VGH BW, InfAuslR 2011, 293 (294).
11
Dogmatik der Generalprävention fest,30 ohne allerdings auszuführen, nach welchen
Grundsätzen die Dauer der Befristung bei dieser Figur ermittelt werden kann. Das jedoch ist
nach Art. 11 Abs. 2 RFRL erforderlich. Traditionell setzt die Rechtsprechung das
generalpräventive Schwert der Ausweisung in aller Regel schematisierend sowie ohne
Berücksichtigung der Individualinteressen ein. Es genügt für die Begründung einer
generalpräventiv motivierten Ausweisung, dass diese eine „angemessene generalpräventive
Wirkung erwarten lasse.“ Das ist der Fall, wenn nach der Lebenserfahrung damit gerechnet
werden kann, dass sich andere Ausländer von „einer kontinuierlichen Ausweisungspraxis in
ihrem Verhalten beeinflussen“ lassen. Behörden und Gerichte dürfen grundsätzlich davon
ausgehen, dass eine aus Anlass einer strafgerichtlichen Verurteilung verfügte Ausweisung zur
Verwirklichung dieses Ziels geeignet ist. Erforderlich ist, dass es Ausländer gibt, die sich in
einer mit dem Betroffenen vergleichbaren Situation befinden und sich durch dessen
Ausweisung von gleichen oder ähnlichen Handlungen abhalten ließen.31 Wie aus einer
derartigen Begründung Grundsätze für die Dauer des Einreiseverbots nach Art. 11 Abs. 2
RFRL ermittelt werden können, erschließt sich nicht. Insoweit besteht Klärungsbedarf durch
den EuGH.
Schließlich ergeben sich auch verfassungsrechtliche Probleme. Anknüpfend an die
Rechtsprechung des BVerwG, in der für die generalpräventiv begründete Ausweisung
besonderes Gewicht auf den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit gelegt wird,32 hat das
BVerfG in seiner neueren Kammerrechtsprechung die generalpräventiv motivierte
Ausweisung unter besonderen Begründungszwang gestellt und für die Praxis die materiellen
und verfahrensrechtlichen Anforderungen an diesen Ausweisungszweck signifikant erhöht.
Aus dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit folge, dass die Ausländerbehörde die Umstände
der Straftat und die persönlichen Verhältnisse des Betroffenen von Amts wegen sorgfältig
ermittle und eingehend würdige. Ohne die Kenntnis von Einzelheiten der Tatbegehung und
der persönlichen Situation des Betroffenen (Art. 11 Abs. 1 Satz 1 RFRL) könnten in der
Regel die Auswirkungen der Ausweisung auf die Individualinteressen nicht hinreichend
30
BVerwGE 142, 29 (36 ff.) Rdn. 19 ff. = InfAuslR 2012, 256 = NVwZ 2012, 1558; BVerwG, NVwZ-RR 2013,
435 (436 f.) = InfAuslR 2013, 217.
31
OVG NW, NVwZ 2008, 450 (451).
32
BVerwGE 101, 247 (254) = EZAR 035 Nr. 16 = InfAuslR 1997, 8 = NVwZ 1997, 297; BayVGH, AuAS
2010, 161 (163); BayVGH, InfAuslR 2010, 198 (200); OVG NW, NVwZ 2008, 450 (451).
12
sicher festgestellt und in einer einzelfallbezogenen Abwägung den die Ausweisung
verlangenden Interessen der Allgemeinheit gegenüber gestellt werden.33
Die Prüfung der Rechtmäßigkeit der generalpräventiv begründeten Ausweisung läuft im
Ergebnis auf deren Umwandlung in eine spezialpräventive nach Maßgabe des Art. 11 Abs. 2
RFRL hinaus. Denn nach dem BVerfG sind folgende Anforderungen –zu beachten34:
1.
Im Unionsrecht, also im Blick auf Unionsbürger und diesen rechtlich gleichgestellten
Personen,
auf
türkische
Assoziationsberechtigte
sowie
auf
langfristig
Aufenthaltsberechtigte ist die generalpräventiv motivierte Ausweisung von vornherein
unzulässig. Die neuere Rechtsprechung des BVerfG kann dahin verstanden werden, dass
dies auch gilt, wenn die Schutzwirkung von Art. 8 EMRK Anwendung findet.35
2.
Zulässig
ist
eine
Ausweisung
aus
Gründen
der
Generalprävention
im
Anwendungsbereich des § 56 Abs. 1 Satz 1 AufenthG in Anlehnung an die zum
Ausweisungsschutz ausländischer Ehegatten Deutscher entwickelten Maßstäbe nur dann,
wenn die Straftat „besonders schwer“ wiegt und deshalb ein dringendes Bedürfnis daran
besteht, über eine strafrechtliche Sanktion hinaus durch Ausweisung andere Ausländer
von Straftaten ähnlicher Art und Schwere abzuhalten.36
3.
Das Gewicht der Straftat ist nicht abstrakt, sondern konkret nach den Umständen der
Tatbegehung zu bestimmen.37 Im Grundsatz nicht anders wie bei der Würdigung der von
dem Betroffenen künftig ausgehenden Gefahren im Rahmen spezialpräventiv motivierter
Ausweisungen genügt es insbesondere nicht, das Gewicht der für eine Ausweisung
sprechenden
öffentlichen
Interessen
allein
anhand
der
Typisierung der
den
Ausweisungsanlass bildenden Straftaten zu bestimmen.38
4.
Für die Geeignetheit der generalpräventiven Wirkung ihrer Ausweisung hat die Behörde
insbesondere darzulegen, dass nach der Lebenserfahrung damit zu rechnen ist, dass sich
33
BVerfG (Kammer), NVwZ 2007, 1300 (1301) = InfAuslR 2007, 443 = EZAR NF 42 Nr. 6.
Marx, Aufenthalts-, Asyl- und Flüchtlingsrecht in der anwaltlichen Praxis, 4. Auf., 2011, S. 871 f.
35
BVerfG (Kammer), NVwZ 2007, 946 (947) = InfAuslR 2007, 275 = EZAR NF 42 Nr. 5.
36
BVerwGE 101, 247 (255) = EZAR 035 Nr. 16 = InfAuslR 1997, 8 = NVwZ 1997, 297.
37
BVerwGE 101, 247 (251 f.) = InfAuslR 1997, 8 = EZAR 035 Nr. 16.
38
BVerfG (Kammer), NVwZ 2007, 1300 (1301) = InfAuslR 2007, 443 = EZAR NF 42 Nr. 6.
34
13
andere
Ausländer mit
Rücksicht
auf
eine
kontinuierliche Ausweisungspraxis
ordnungsgemäß verhalten.39
5.
Darüber hinaus ist eine Auseinandersetzung mit den Motiven für die Tatbegehung und
den näheren Tatumständen unerlässlich, um die Umstände der Straftat zu erkunden,
welche zum Anlass einer Ausweisung zur Abschreckung anderer Ausländer genommen
werden soll.40 Denn die Ausweisung muss nach den konkreten Verhältnissen des
Einzelfalls und nicht lediglich abstrakt geeignet sein, abschreckend auf andere, als
potenzielle Straftäter in Betracht kommende Ausländer zu wirken. Namentlich bei
Ausweisungen aus Anlass von „Beziehungs- oder Leidenschaftstaten“ kann es an der
Eignung der Ausweisung als abschreckende Maßnahme fehlen.41 Wesentliche, in die
Betrachtung einzubeziehende Umstände sind insbesondere auch die Tatsache, dass der
Betroffene nicht der Drogenszene zugerechnet werden kann oder sich durch Umzug das
persönlichen Umfeld verändert hat.42
6.
Schließlich ist insbesondere zu berücksichtigen, ob die Abschreckungswirkung
angesichts der konkreten Einzelfallumstände angemessen ist.43
c) Zuständige Behörde
Früher wurde allgemein die Behörde, die die Ausweisung verfügt hatte, als für die Befristung
zuständige Behörde angesehen. Wurde der Antragsteller nicht ausgewiesen, sondern mehrfach
abgeschoben, wurde die Ausländerbehörde für zuständig gehalten, die zuletzt die
Abschiebung vollzogen hatte. War die Ausweisung/Abschiebung von einer zentral
zuständigen Ausländerbehörde angeordnet/vollzogen worden (§ 71 Abs. 1 Satz 2 AufenthG),
war die Ausländerbehörde für die Befristung zuständig, in deren Bezirk der Antragsteller
zuletzt seinen gewöhnlichen Aufenthalt hatte.
39
BVerwGE 102, 63 = InfAuslR 1997, 63 = EZAR 035 Nr. 18; BVerwG, InfAuslR 1996, 299 (302), bejaht für
Drogenhandel; BVerwG, NVwZ 1997, 1119 (1121), nicht alle Drogendelikte; BVerwG, NVwZ 1998, 741 (742),
bejaht für bandenmäßig organisierten Kfz-Diebstahl.
40
BVerfG (Kammer), NVwZ 2007, 1300 (1301) = InfAuslR 2007, 443 = EZAR NF 42 Nr. 6.
41
BayVGH, InfAuslR 2010, 198 (200), mit Hinweis auf BVerwGE 60, 75 (77 f.); a.A. VG Schleswig, InfAuslR
2009, 114 (116).
42
OVG NW, NVwZ 2008, 450 (451).
43
OVG NW, NVwZ-RR 1996, 173.
14
Das BVerwG leitet nunmehr aus § 3 Abs. 1 Nr. 3a VwVfG ab, dass die Behörde zuständig ist,
in deren Bezirk der Betroffene seinen gewöhnlichen Aufenthalt hat oder zuletzt hatte.
Allerdings setzt § 72 Abs. 3 AufenthG das Herstellen des Einvernehmens mit der verfügenden
Behörde voraus.44 Die Rechtsprechung, die davon ausging, dass die Ausländerbehörde auch
dann zuständig bleibt, wenn der Betroffene unerlaubt in ein anderes Bundesland wechselt,45
ist damit überholt. Nicht geäußert hat sich das BVerwG zur Frage der Behördenzuständigkeit
in Nachzugsfällen. Danach wurde bislang davon ausgegangen, dass bei der Beantragung der
Aufenthaltserlaubnis zur Herstellung und Wahrung der familiären Lebensgemeinschaft
(§§ 27 ff. AufenthG) die Behörde über die Befristung befindet, die auch für die Zustimmung
im Visumverfahren zuständig ist. Begründet wurde dies nach Landesrecht. Nach § 4 Abs. 1
OBG NRW sei die Behörde zuständig, in deren Bezirk der Betroffene sich aufhalten wolle.46
Darauf kommt es jedoch nicht an. Andererseits folgt aus § 31 Abs. 1 Satz 1 1. Hs. AufenthV,
dass die für den vorgesehenen Aufenthalt zuständige Behörde im Zustimmungsverfahren
beteiligt wird. Da das BVerwG für den allgemeinen Fall auf fehlende aufenthaltsrechtliche
Spezialbestimmungen abstellt, dürfte hier wohl § 31 Abs. 1 Satz 1 1. Hs. AufenthV
maßgebend sein. Die verfügende oder vollziehende Behörde ist in der Regel zu beteiligen
(§ 72 Abs. 3 Satz 1 AufenthG),47 nicht aber die Behörde des letzten gewöhnlichen
Aufenthalts. Da nunmehr grundsätzlich mit der Ausweisung auch die Befristung festzusetzen
ist, dürfte die Rechtsprechung des BVerwG nur noch für Altfälle Bedeutung erlangen.
d) Antragserfordernis für die Befristung
Die Aufhebung der Sperrwirkung setzt nach deutschem Recht einen entsprechenden Antrag
(§ 11 Abs. 1 Satz 3 AufenthG; § 7 Abs. 2 Satz 4 FreizügG/EU) voraus. Demgegenüber wird
nach Art. 11 Abs. 2 Satz 1 RFRL die Dauer des Einreiseverbots von Amts wegen festgesetzt.
Danach hat die Ausländerbehörde bereits in der Rückkehrentscheidung, andernfalls
nachträglich von Amts wegen eine Frist festzusetzen. Einer Antragstellung bedarf es danach
nicht. Diese Hürde überwindet das BVerwG wenig überzeugend mit der Anweisung an die
Ausländerbehörden, zugleich mit der Ausweisung über die Befristung zu entscheiden. Dabei
wird das Antragserfordernis widersprüchlich konkretisiert: einerseits reicht eine erkennbar
44
BVerwG, NVwZ 2012, 1485 (1486 f.).
VG Berlin, InfAuslR 2011, 353 (354).
46
OVG NW, NVwZ 2008, 450 (451).
45
15
werdende Willensbekundung gegen die Ausweisung aus, die als solche regelmäßig in der
Erhebung der Anfechtungsklage gesehen wird, andererseits wird aber gleichwohl ein
irgendwie gearteter Antrag gefordert.
Demgegenüber erfolgt nach der Rechtsprechung des EuGH die Befristung des Einreiseverbots
nach Art. 11 Abs. 2, Erwägungsgrund Nr. 14 RFRL unabhängig von einem hierauf
gerichteten Antrag. Dies folge auch aus Art. 3 Nr. 6 und Art. 7 Abs. 1 UAbs. 1 RFRL.
Danach stehe Art. 11 Abs. RFRL der deutschen Vorschrift des § 11 Abs. 1 AufenthG
entgegen, der die Befristung eines Einreiseverbots von einem Antrag abhängig mache.48 Hier
wird bereits deutlich, dass die Aufspaltung in die aufenthaltsbeendende Maßnahme einerseits
und deren Befristung andererseits wohl nicht die Zustimmung des EuGH finden wird.
Die neuere, aber bereits jetzt aus unionsrechtlichen Gründen überholte Rechtsprechung des
BVerwG wirft eine Reihe von prozessualen Problemen auf:
- Das BVerwG erfordert einen irgendwie gearteten Antrag, den es als Hilfsantrag auf
Verpflichtung der Ausländerbehörde auf angemessene Befristung behandelt.49 Dagegen wird
eingewandt, wenn die Befristung wesentlich für die Beurteilung der Verhältnismäßigkeit der
Ausweisung sein sollte, ihr Fehlen aber nicht zur Aufhebung der Ausweisung selbst führen
soll, müsse prozessual sichergestellt sein, dass der Befristungsanspruch in allen Instanzen
durchgesetzt werden könne. In jeder Anfechtung einer unbefristet verfügten Ausweisung sei
daher als Minus der Verpflichtungsantrag auf deren Befristung enthalten.50 Die Fristsetzung
obliegt dem Gericht. Aus der Rechtsprechung des EuGH folgt jedoch, dass mit der
Anfechtung der Ausweisung zugleich eine Verletzung von Art. 11 Abs. 2 RFRL gerügt wird.
Ein besonderer auf die Befristung gerichteter Antrag ist nicht erforderlich.
- Hinsichtlich der Befristungsdauer wird mit Hinweis auf die Vollstreckungsfähigkeit des
Urteils ein in zeitlicher Hinsicht konkretisierter Befristungsantrag verlangt.51 Es reicht danach
nicht die bloße Anfechtung aus. Dem wird im Blick auf § 82 Abs. 1 VwGO für den Fall
zugestimmt, dass die von der Ausländerbehörde festgesetzte Frist durch Teilanfechtung
47
OVG NW, InfAuslR 2008, 250 (251); siehe hierzu auch Pfaff, ZAR 2010, 183.
EuGH, U. v. 19. 9. 2013 – C-297/12 Rdn. 27, 31, 34 – Filev; Marx, Aufenthalts-, Asyl- und Flüchtlingsrecht
in der anwaltlichen Praxis, 4. Auf., 2011, § 7 Rdn. 764.
49
BVerwGE 143, 277 (290 f.) Rdn. 28 f. = InfAuslR 2012, 397 = EZAR NF 43 Nr. 5; (438); BVerwG, NVwZRR 2013, 435 (438) Rdn. 26 = InfAuslR 2013, 217.
50
Armbruster/Hoppe, ZAR 2013, 309 (315).
51
OVG NW, B. v. 24. 1. 2013 – 18 A 139/12 – juris, Rdn. 33 ff.
48
16
angegriffen wird. Hat die Behörde jedoch überhaupt keine Befristungsentscheidung getroffen,
könne dem Kläger nicht zugemutet werden, auch nur annähernd eine angemessene Frist
anzugeben. 52
- Ist eine Ausweisung auf spezial- und generalpräventive Erwägungen gestützt, erweist sich
jedoch im Prozess die spezialpräventive Begründung nicht als tragfähig, darf die Befristung
im Prozess nachgeholt werden.53 Auch dies ist im Hinblick auf die Rechtsprechung des EuGH
nicht tragfähig, da die Fristsetzung wesentlicher Bestandteil der Verfügung ist. Im Übrigen
sind generalpräventive Ausweisungen nicht unionskonform (s. oben).
- Ferner hat das BVerwG entschieden, dass durch nachträgliche Befristung der Ausweisung
während des Beschwerdeverfahrens die Beschwerde unzulässig wird.54 Auch dies erscheint
im Hinblick auf die Rechtsprechung des EuGH nicht mehr tragfähig. Eine derartige
Begründung verletzt im Übrigen Art. 19 Abs. 4 GG, weil die Beschreitung des eröffneten
(Teil-)Rechtswegs in einer unzumutbaren, aus Sachgründen nicht mehr zu rechtfertigenden
Weise erschwert wird.55
e)
Ausreiseerfordernis (§ 11 Abs. 1 Satz 6)
aa) Problemaufriss
Nach wie vor ungeklärt ist die Frage, ob der Beginn des Fristlaufs von der Ausreise abhängig
gemacht werden darf. Das Ausreiseerfordernis, das gegen die frühere Rechtsprechung des
BVerwG56 in das AuslG 1990 eingeführt wurde, sollte verhindern, dass eine Ausweisung
nicht durch Befristung des Versagungsgrundes während des Inlandsaufenthaltes unterlaufen
werden konnte.57 Die Praxis der nach dem AuslG 1965 zulässigen Bewährungsduldung war
damit damals nicht mehr aufrechtzuerhalten. Bis dahin war es allgemein übliche Praxis in
Ausweisungsverfahren, im Wege des Vergleichs eine befristete Bewährungsduldung
auszuhandeln, sodass nach Fristablauf ein neuer rechtmäßiger Aufenthalt ohne vorherige
52
Armbruster/Hoppe, ZAR 2013, 309 (315).
BVerwGE 142, 29 Rdn. 28
54
BVerwG, EZAR NF 98 Nr. 59 = ZAR 2013, 348
55
(BVerfG (Kammer), Beschluss vom 12. Mai 2008 – 2 BvR 378/05, in InfAuslR 2008, 263 nicht abgedruckt;
BVerfG (Kammer), InfAuslR 2009, 417; BVerfG (Kammer), NVwZ 2011, 547 (548).
56
BVerwGE 60, 284 (285); 69, 137 (141).
57
Fraenkel, Einführende Hinweise zum neuen Ausländergesetz 1991, S. 52.
53
17
Ausreise sichergestellt werden konnte. Ob durch die Rechtsänderung im Jahre 1991 eine
derartige Praxis nicht mehr möglich ist, bedarf näherer Erörterung.
Aus Art. 11 RFRL kann kein Ausreiseerfordernis abgelesen werden. Ob er diesem Erfordernis
entgegensteht, ist offen. Die Ausnahmen beziehen sich auf das Einreiseverbot insgesamt und
nicht auf dessen Dauer (Art. 11 Abs. 3 UAbs. 1 bis UAbs. 3 RFRL). Das spricht für eine
Systematik, dass das Einreiseverbot von vornherein nicht verhängt wird, wenn
Ausnahmegründe bestehen. Ausnahmen vom Ausreiseerfordernis nach deutschem Recht
lassen jedoch das Einreiseverbot und dessen Befristung unberührt, sondern befreien vom
Erfordernis der Ausreise als Voraussetzung für den Beginn des Fristlaufs: Nach § 11 Abs. 1
Satz 6 AufenthG beginnt die Frist mit der Ausreise.58
Ausreise bedeutet grundsätzlich
Ausreise aus dem Unionsgebiet (§ 50 Abs. 3 AufenthG). Die zwangsweise durchgesetzte
Ausreise kann nicht als Ausreise angesehen werden.59 Das wirft nach nationalem Recht das
Problem auf, nach welchen Grundsätzen die Abschiebung zu befristen ist. Nach Unionsrecht
ist die Abschiebung jedoch keine Rückkehrentscheidung und darf daher auch nicht mit einem
Einreiseverbot verbunden werden.
bb) Unzulässigkeit einer Befristungsentscheidung mit aufschiebender Bedingung
Die Ausweisung kann nicht mit einer aufschiebenden Bedingung (§ 36 Abs. 2 Nr. 2 VwVfG)
erlassen werden.60 § 11 Abs. 1 AufenthG enthält hierfür keine Rechtsgrundlage. Daher kann
auch die Ausreise innerhalb einer bestimmten Frist nicht zur Voraussetzung für den Erlass
einer Befristungsentscheidung gemacht werden.61 Die Einreise entgegen einem bestehenden
Einreiseverbot stellt eine nachträglich eingetretene Tatsache dar, die zum Widerruf der
Befristung und zum Erlass einer erneuten Befristungsentscheidung führt. Hingegen darf die
Befristung der Ausweisung nicht an die Bedingung geknüpft werden, dass im
Befristungszeitraum keine Wiedereinreise erfolgt.62
cc) Ausnahmen vom Ausreiseerfordernis
58
OVG Bremen, InfAuslR 1998, 442 (443); VGH BW, InfAuslR 1998, 433 (434), zur Rechtslage vor
Umsetzung der RFRL.
59
BVerwGE 141, 325 (
60
Nieders.OVG, EZAR NF 45 Nr. 11
61
Armbruster/Hoppe, ZAR 2013, 309 (314).
18
Der Zweck der Sperrwirkung, eine effektive Kontrolle der Wiedereinreise sicherzustellen,
wird insbesondere an der Regelung des § 11 Abs. 1 Satz 6 AufenthG deutlich. Die Wirkungen
der Ausweisung dürfen nach allgemeiner Ansicht erst zu einem Zeitpunkt entfallen, der nach
der Ausreise des Betroffenen liegt.63 Mit Ausreise meint das Gesetz allerdings nur die
erstmalige Ausreise. Eine spätere erneute Einreise hemmt nicht den Fristlauf.64 Ist daher der
Antragsteller erneut eingereist, bedarf es für den Fristbeginn nicht der erneuten Ausreise.65
Die Behörde darf jedoch bei der Bemessung der Sperrwirkung selbst im Falle der
nachträglichen Eheschließung im Bundesgebiet die erneute illegale Einreise berücksichtigen
(Erwägungsgrund Nr. 14 RFRL).66
Aufgrund des Anwendungsvorrangs des Unionsrechts darf jedoch die Aufhebung der
Sperrwirkung gegenüber Unionsbürgern und diesen rechtlich gleichgestellten Personen nicht
von der Ausreise abhängig gemacht werden.67 Im Hinblick auf ARB 1/80 hat der EuGH
festgestellt, dass das Unionsrecht der Anwendung der nationalen Regelungen über die
Sperrwirkung entgegensteht, wenn der Betroffene abgeschoben worden ist, obwohl ihm die
Rechte aus Art. 6 ARB 1/80 zustanden. In diesem Fall darf die für die Erteilung des
Aufenthaltstitels erforderliche Aufhebung der Sperrwirkung der Abschiebung nicht von der
vorherigen Ausreise des Betroffenen abhängig gemacht werden.68
Die Beibehaltung der zwingenden Ausreiseverpflichtung in § 11 Abs. 1 Satz 6 AufenthG ist
mit Unionsrecht nicht vereinbar. Vielmehr kann ein Einreiseverbot in Einzelfällen aus
„humanitären Gründen“ oder in „bestimmten Kategorien von Fällen“ oder „aus sonstigen
Gründen“ aufgehoben oder ausgesetzt werden. Eine vorherige Ausreise vor der Aufhebung
oder Aussetzung schreibt Unionsrecht nicht vor (vgl. Art. 11 Abs. 3 RFRL). Art. 6 GG und
Art. 8 EMRK gebieten aber auch im Allgemeinen, dass der Aufenthalt zum Zweck des
familiären Zusammenlebens unter Berücksichtigung des Verhältnismäßigkeitsprinzips
sogleich zu genehmigen ist und nicht eine vorherige Ausreise des Betroffenen verlangt
62
VG Augsburg, AuAS 2013, 206 (207 f.).
BVerwG, NVwZ 2000, 688 (690) = InfAuslR 2000, 176 = EZAR 039 Nr. 5 = AuAS 2000, 74.
64
VG Karlsruhe, InfAuslR 2003, 150 (153).
65
OVG Hamburg, InfAuslR 1992, 250 (251); BVerwG, InfAuslR 2000, 176 (180) = AuAS 2000, 74.
66
VGH BW, InfAuslR 2003, 333 (337) = AuAS 2003, 184; VG Augsburg, AuAS 2013, 206 (208).
67
BVerwGE 110, 140 (150) = EZAR 039 Nr. 5 = NVwZ 2000, 688 = InfAuslR 2000, 176; Hess.VGH, AuAS
2008, 87 (88); OVG Hamburg, InfAuslR 2004, 57 (59); vgl. auch EuGH, NJW 1983, 1250 (1251); Welte, ZAR
2012, 424 (430).
68
EuGH, InfAuslR 2003, 41 (45) = AuAS 2003, 134.
63
19
werden kann.69 Das BVerwG verweist hierzu in einem Verfahren, in dem Unionsrecht keine
Anwendung fand, auf seine Rechtsprechung zum Unionsrecht in dieser Frage. Die Ausnahme
von der Ausreisepflicht ist also nicht nur auf Freizügigkeitsberechtigte und diesen rechtlich
gleichgestellte Personen beschränkt, sondern findet in den Fällen, in denen Art. 6 GG und
Art. 8 EMRK zu berücksichtigen sind, im gleichen Umfang Anwendung.
Nach der Rechtsprechung des BVerfG kann nicht von vornherein bei der Trennung des
sorgeberechtigten Elternteils von seinem deutschen Kleinkind als Folge der Ausweisung ein
Überwiegen des öffentlichen Interesses an einer wenigstens vorübergehenden Ausreise im
Hinblick auf die erhebliche Straffälligkeit wegen Drogendelikten festgestellt werden. Zu
prüfen sei, ob nicht auf der Grundlage von § 25 Abs. 5 Satz 1 bzw. § 60a Abs. 2 AufenthG
eine Lösung in Betracht komme. Insbesondere dann, wenn die Geburt nicht eine „Zäsur“ in
der Lebensführung des betroffenen Ausländers darstelle, die in Anbetracht aller Umstände
erwarten ließe, dass er bei legalisiertem Aufenthalt keine Straftat mehr begehe, komme ein
Vorrang der gegen einen weiteren Aufenthalt im Bundesgebiet stehenden Gründe in
Betracht.70
Unabhängig hiervon ist zwischen der Fristsetzung nach § 11 Abs. 1 Satz 4 AufenthG und dem
Ausreiseerfordernis nach § 11 Abs. 1 Satz 6 AufenthG zu unterscheiden: Für beide
Entscheidungen gilt das Verhältnismäßigkeitsprinzip. Die Entscheidung, den Fristlauf erst mit
der Ausreise beginnen zu lassen, muss sich am Verhältnismäßigkeitsgrundsatz messen lassen.
Daher darf in der Ausweisungsverfügung der Fristlauf nicht auf den Zeitpunkt der Ausreise
festgesetzt werden, wenn die Gründe für die Ausweisung nicht mehr vorliegen.71 Damit kann
die Sackgasse des § 25 Abs. 5 AufenthG vermieden und auf die anderen Erteilungszwecke
zurück gegriffen werden.
dd) Rückkehrperspektive
69
BVerwGE 129, 226 (237) Rdn. 28 = EZAR NF 33 Nr. 13 = NVwZ 2008, 333 = InfAuslR 2008, 71, mit
Hinweis auf BVerwGE 110, 140 (150) = EZAR 039 Nr. 5 = NVwZ 2000, 688 = InfAuslR 2000, 176; OVG
Bremen, InfAuslR 2002, 119 (122); VGH BW, InfAuslR 2013, 95 (96 f.); a.A. noch VGH BW, InfAuslR 2005,
52 (54) = AuAS 2005, 50; OVG Hamburg, NVwZ-RR 2007, 712 (713).
70
OVG Bremen, InfAuslR 2002, 119; a.A. VGH BW, InfAuslR 2005, 52 (54) = AuAS 2005, 50.
71
VGH BW, InfAuslR 2013, 95 (96 f.); VG Darmstadt, InfAuslR 2010, 160 (162); Pfaff, ZAR 2010, 183;
Armbruster/Hoppe, ZAR 2013, 309 (313).
20
Die Rechtsprechung weist der Befristung u.a. auch die Funktion zu, die Grundlage für eine
Neubegründung des Aufenthaltes zu schaffen.72 Da der Gesetzgeber nicht reagiert, wird sich
Art. 8 EMRK weiterhin durch die Entwicklung der Rechtsprechung materialisieren müssen.73
In der aktuellen Literatur wird die Behörde im Rahmen der Fristsetzung angehalten, dem
Betroffenen eine Perspektive für die mögliche Rückkehr aufzuzeigen, 74 ohne allerdings
aufzuzeigen, wie für faktische Inländer, die nicht grundsätzlich freizügigkeitsberechtigt sind
oder aus familiären Gründen über §§ 27 ff. AufenthG den Aufenthalt neu begründen können,
eine Rückkehrperspektive realisiert werden könnte. Derzeit hat die Ausreise in Erfüllung der
Ausreiseverpflichtung aufgrund der Ausweisung ein dauerhaftes Fernbleiben vom
Bundesgebiet zur Folge. Die Ausweisung versperrt „faktischen Inländern“ für immer die
Rückkehr. Selbst das Besuchervisum nach Fristablauf dürfte kaum noch zu erlangen sein.
Diese Rechtslage ist aus verfassungsrechtlichen und aus Gründen des Art. 8 EMRK zu
überdenken. Seit der ersten Entscheidung des EGMR zum verstärkten Ausweisungsschutz bis
heute sind zwanzig Jahre ins Land gegangen. Schrittweise wurden die Ausweisungsschranken
in Verwurzelungsfällen höher geschraubt. Inzwischen sind auch Hinweise auf eine
Rückkehrperspektive in der Rechtsprechung des EGMR erkennbar. In den Fällen, in denen
der Schutzbereich von Art. 8 Abs. 1 EMRK bei der Ausweisung Berücksichtigung verlangt,
also in Verwurzelungsfällen, ist im Rahmen der Verhältnismäßigkeitsprüfung die
Rückkehroption zu prüfen. Anders kann die Feststellung, es könne nicht gesagt werden, dass
der Betroffene „keine Aussicht auf eine Rückkehr gehabt“ habe, 75 kaum verstanden werden.
Die aus Art. 8 EMRK folgende Prüfungspflicht der Rückkehraussicht ist darin begründet,
dass ein unbefristetes Aufenthaltsverbot grundsätzlich Art. 8 EMRK verletzt. Insbesondere
bei Ausweisungen gegen jugendliche Straftäter „schließt die Verpflichtung zur Beachtung
des Kindeswohls auch die Pflicht“ mit ein, deren „Resozialisierung zu erleichtern.“76 Art. 8
EMRK kann danach durchaus dahin interpretiert werden, dass in Verwurzelungsfällen im
Falle der Ausweisung die Aussicht auf Rückkehr eröffnet werden sollte.
f) Dauer der Befristung
72
BVerwGE 129, 367 (371) = EZAR NF 48 Nr. 11 = InfAuslR 2008, 116.
Marx, InfAuslR 2011, 136 140).
74
Armbruster/Hoppe, ZAR 2013, 309 (312).
75
EGMR, InfAuslR 2007, 325 (326) – Kaya.
76
EGMR, InfAuslR 2008, 333 (335) – Maslov II.
73
21
aa) Gebundene Entscheidung
Die Entscheidung über die Dauer der Fristsetzung ist eine gebundene Entscheidung (§ 11
Abs. 1 Satz 3 AufenthG), steht also nicht mehr im behördlichen Ermessen. Der Richter selbst
hat deshalb eine eigenständige Prognose über die in Zukunft fortdauernde Gefährlichkeit des
Betroffenen zu treffen.77 Die vom Gericht festgesetzte Frist kann höher78 oder geringer als die
behördliche Fristsetzung ausfallen. Grundsätzlich ist das Rechtssystem „so zu organisieren,
dass auch neue Entwicklungen, die nach der endgültigen Entscheidung der Behörden
eintreten, berücksichtigt werden können.“79 Ob die Rechtsprechung des EuGH so zu
verstehen ist, dass nicht nur die Befristung selbst, sondern auch ihre nachträgliche
Verkürzung antragsunabhängig ist, ist offen. Jedenfalls sind Hinweise des Betroffenen
hilfreich.
- Die nachträgliche Verkürzung der Befristung kann nach nationalem Recht auf Antrag
Satz 3 AufenthG gestützt80 und gerichtlich durchgesetzt
unmittelbar auf § 11 Abs. 1
werden.81
Im
Prozess
ist
der
Anspruch
durch
eine
Anfechtungsklage
durchzusetzen.82Demgegenüber verweist OVG NW auf die Verpflichtungsklage.83 Soweit in
der Literatur die Frage als ungeklärt aufgeworfen wird, ob der prognostisch zu erwartende
Beginn des Fristlaufs bei der Fristbemessung zu berücksichtigen ist, wenn die Ausreise nicht
unmittelbar nach der Ausweisungsentscheidung erfolgt,84 hat die Behörde von sich aus bei
veränderten günstigen Umständen die Frist anzupassen. Häufig lösen sich diese Fälle durch
die Dauer des Gerichtsverfahrens.
- Für die nachträgliche Verlängerung der Befristung ist die Rechtsgrundlage ungeklärt.
Vorgeschlagen wird eine Doppelausweisung,85 bei der als Minusmaßnahme eine
Verlängerung der ursprünglich festgesetzten Befristungsdauer in Betracht komme, wobei
77
BVerwGE 143, 277 (297) Rdn. 39 = InfAuslR 2012, 397 = EZAR NF 43 Nr. 5
Nieders.OVG, EZAR NF 45 Nr. 11.
79
EGMR, InfAuslR 2008, 333 (335) – Maslov II; so auch BVerwGE 130, 20 (26) = EZAR NF 40 Nr. 6 = NVwZ
2008, 434 = InfAuslR 2008, 156
80
Armbruster/Hoppe, ZAR 2013, 309 (314); a. A. Lenz, NVwZ 2013, 624 (???), auf § 49 Abs. 1 VwVfG.
81
BVerwG AuAS 2013; Armbruster/Hoppe, ZAR 2013, 309 (314): „Die Befristungsentscheidung wird
aufgehoben, soweit mit dieser eine längere Frist als X Jahre festgesetzt worden ist.“
82
BVerwG, AuAS 2013, 108;
83
OVG, EZAR NF 19 Nr. 59, S. 9.
84
Armbruster/Hoppe, ZAR 2013, 309 (313 f.)
85
BVerwGE 72, 191 (193) !== EZAR Nr. 19 Nr. 100 = NVwZ 1985,6, 306 = InfAuslR 1986, 134; BVerwGE
106, 302 (305) = EZAR 036 Nr. 6 = NVwZ 1998, 740 = InfAuslR 1998, 285.
78
22
allerdings
die
Vereinbarkeit
einer
doppelten
Einreisesperre
mit
Unionsrecht
für
klärungsbedürftig erachtet wird.86
bb) Überschreitung des Fünfjahresgrenze (Art. 11 Abs. 2 Satz 2 RFRL, § 11 Abs. 1 Satz
4 zweiter Halbsatz AufenthG)
Die Dauer der Frist wird in Anbetracht der jeweiligen Umstände des Einzelfalls festgesetzt
und überschreitet grundsätzlich nicht fünf Jahre. Sie darf nach Ablauf dieser Frist nicht mehr
aufrechterhalten und zur Grundlage strafrechtlicher Verfehlungen (§ 95 Abs. 2 Nr. 1
AufenthG) gemacht werden.87 Bei schwerwiegenden Gefahren für die öffentliche Ordnung,
öffentliche oder nationale Sicherheit kann diese Frist überschritten werden (Art. 11 Abs. 2
RFRL, § 11 Abs. 1 Satz 4 AufenthG).
Einen Anhalt für schwerwiegende Gründe liefert § 56 Abs. 1 Satz 3 AufenthG). Das BVerwG
hält insoweit bei hoher Wiederholungsgefahr sieben Jahre für angemessen.88 Die frühere
Rechtsprechung, die eine unbefristete Ausweisung für zulässig erachtete, wenn der Betroffene
in so hohem Maße eine Gefährdung der öffentlichen Interessen darstellt, dass seine dauerhafte
Fernhaltung vom Bundesgebiet geboten sei,89 dürfte damit überholt sein. Dass die zwingende
Ausweisung § 53 AufenthG) als solche nicht zwingend die unbefristete Ausweisung
rechtfertigt, wurde schon nach früheren Recht angenommen90 und dürfte wohl kaum noch mit
Art. 11 Abs. 2 Satz 2 RFRL vereinbar sein, wenn diese Norm primärrechtskonform ausgelegt
wird (Art. 6 Abs. 3 EUV, Art. 7 GRCh). Die Überschreitung der Fünfjahresgrenze besteht im
öffentlichen Interesse an der Sicherheit und der Verhütung von Straftaten.91 Geht vom
Betroffenen keine Gefahr mehr aus, weil seine erneute Straffälligkeit nach Ablauf einer
bestimmten Frist aufgrund der nachträglichen individuellen Entwicklung verlässlich
ausgeschlossen werden kann, lässt sich das Einreiseverbot weder im Lichte von Art. 8 EMRK
noch
verfassungsrechtlich
aufrechterhalten.
Nach
dem
EGMR
kann
eine
86
Armbruster/Hoppe, ZAR 2013, 309 (314).
EuGH, U. v.19. 9. 2013 – C-297/12 Rdn. 44 - Filev.
88
BVerwGE 143, 277 (299) Rdn. 43 = InfAuslR 2012, 397 = EZAR NF 43 Nr. 5, zu Art. 14 ARB 1/80;
BayVGH, EZAR NF 45 Nr. 9, zehn Jahre bei Drogendelikten.
89
Hess.VGH, InfAuslR 1998, 445; VG Hannover, InfAuslR 2000, 117 (118); VG Saarlouis, InfAuslR 2011, 22.
90
BVerwGE 111, 369 (372 ff.) = NVwZ 2000, 1422 (1423) = InfAuslR 2000, 483 = EZAR 039 Nr. 7 = AuAS
2001, 42; Nieders. OVG, AuAS 2002, 17; VGH BW, InfAuslR 1998, 433 (435); VG Aachen, InfAuslR 2000,
117 (118); VG Berlin, InfAuslR 1998, 57 (58); VG Hannover, InfAuslR 2000, 117.
91
EGMR, InfAuslR 2003, 126 (128) – Yildiz; EGMR, InfAuslR 2006, 255 (256) – Sezen.
87
23
Ausweisungsverfügung aufgrund ihrer unbegrenzten Dauer unverhältnismäßig sein.92 Auch
wenn angesichts der Schwere der begangenen Straftat die Ausweisung an sich zulässig ist,
verletzt danach die unbefristete Ausweisung
unter Berücksichtigung der besonderen
Umstände des Einzelfalls, insbesondere der Dauer des Aufenthalts, des unbefristeten
Aufenthaltsstatus sowie der Schwierigkeiten, mit denen die Kinder im Falle der Ausweisung
konfrontiert werden, Art. 8 EMRK.93 Die für die Verhältnismäßigkeit der Ausweisung
entwickelten Boultif-Kriterien94 können auch für die Frage der Verhältnismäßigkeit der Dauer
des Einreiseverbotes heran gezogen werden.
cc) Grundsätze zur Fristbemessung
Bei der spezialpräventiven Begründung kommt es auf das Gewicht des Ausweisungsgrundes
und den Ausweisungszweck an. Es bedarf einer prognostischen Einschätzung im jeweiligen
Einzelfall im Entscheidungszeitpunkt, wie lange das der Ausweisung zugrunde liegende
Verhalten des Betroffenen das öffentliche Interesse an Gefahrenabwehr zu tragen vermag.
Höherrangiges Recht (Art. 2 Abs. 1, Art, 6 GG, Art. 8 EMRK, Art. 7 GRCh) und der
Grundsatz der Verhältnismäßigkeit bilden ein normatives Korrektiv, um fortwirkende
einschneidende
Folgen
für
persönliche
Lebensführung
des
Betroffenen
und
der
Familienangehörigen (§ 55 Abs. 3 AufenthG) zu begrenzen.95
Einerseits sind zu Lasten des Betroffenen96 die Schwere des Ausweisungsgrundes im Rahmen
der §§ 53 ff. AufenthG, Gefährlichkeit des Betroffenen, Strafbiografie, Einschätzungen und
Beurteilungen der Strafgerichte, der Umfang einer gewährten Strafaussetzung, Verstoß gegen
Bewährungsauflagen und das Alter bei Tatbegehung zu berücksichtigen. Andererseits sind zu
seinen Gunsten die Dauer des Aufenthalts im Bundesgebiet, Schul- und Berufsausbildung,
Sprachkenntnis, eheliche oder familiäre Lebensgemeinschaft, stabile wirtschaftliche und
familiäre
Kontakte
während
der
Trennung/Haftzeit,
die
Berufstätigkeit
bzw.
EGMR (große Kammer), InfAuslR 2008, 333 (335) – Maslow II; EGMR, InfAuslR 2004, 374 (375) –
Radovanic; EGMR, InfAuslR 2006, 3 (4) – Keles; EGMR, InfAuslR 2007, 325 (326) – Kaya; EGMR, InfAuslR
2008, 336 (337) – Emre; EGMR, InfAuslR 2010, 325 (327) – Mutlag.
93
EGMR, InfAuslR 2006, 3 (4) – Keles; EGMR, InfAuslR 2008, 336 (337) – Emre; EGMR (große Kammer),
InfAuslR 2008, 333 (335) – Maslow II.
94
EGMR, InfAuslR 2001, 476 – Boultif; bestätigt in EGMR, InfAuslR 2004, 184 (185) – Jakupovic; EGMR,
InfAuslR 2005, 450 = NVwZ 2007, 1279 – Üner; EGMR, InfAuslR 2007, 325 - Kaya; EGMR, InfAuslR 2010,
369 – Abdul Waheed Khan; EGMR, InfAuslR 2010, 325 – Mutlag.
95
BVerwGE 143, 277 (294) Rdn. 35 ff. (38), 45 = InfAuslR 2012, 397 = EZAR NF 43 Nr. 5.
96
Nach VG Berlin, InfAuslR 2011, 353 (356).
92
24
Arbeitsplatzangebot, Höhe des Erwerbseinkommens, soziale Integration, Hinweise auf
Persönlichkeitswandel, Dauer der Straffreiheit, Erkrankungen und Suchtgefahren zu
bedenken.
Umstritten ist, ob die nach Ausweisungstatbeständen typisierten „Regelfristen“ in Nr.
11.1.4.6.1. ff. AufenthG-VwV97 weiterhin zugrundegelegt werden dürfen. Einerseits wird dies
für zulässig erachtet, sofern für eine Ermessensentscheidung stets in eine Einzelfallbewertung
eingetreten wird.98 Andererseits wird aus der Rechtsprechung des BVerwG abgeleitet, dass
diese weder unmittelbar noch der Sache nach Anwendung finden. Als grobe Orientierung
könne aber bei der zwingenden Ausweisung eine Regelfrist von sechs Jahren, bei der
Regelausweisung von vier Jahren und der Ermessensausweisung von zwei Jahren
ausgegangen werden.99 Dagegen wird eine abstrakte Festlegung von Fristen mit dem Gebot
der Einzelfallwürdigung für unvereinbar erachtet.100 Hierbei wird jedoch keine am konkreten
Einzelfall ausgerichtete Ermessensausübung unter Berücksichtigung des Grundsatzes der
Verhältnismäßigkeit getroffen. Es fehlt bereits an der Eignung dieses Kriteriums. Die Dauer
der Haftstrafe ist nur von begrenzter Aussagekraft für die erforderliche aktuelle
Gefahrenprognose.
Hieraus
lassen
sich
keine
tragfähigen
Rückschlüsse
auf
die
möglicherweise vom Betroffenen ausgehenden Gefahren ziehen.101 Stets bedarf es einer auf
der Grundlage aller konkreten Umstände beruhenden Festsetzung einer Obergrenze bereits im
Entscheidungszeitpunkt (§ 11 Abs. 1 Satz 4 AufenthG). Entscheidend ist allein, ob der
spezialpräventive Zweck der Ausweisung bereits erreicht oder noch nicht erreicht ist. Ist er in
diesem Zeitpunkt erreicht, wurde früher das Ermessen auf null reduziert.102 Nach geltendem
Recht ist das Einreiseverbot aufzuheben
Da das Einreiseverbot bei Zweckerreichung nicht aufrechterhalten werden kann, stellt sich bei
spezialpräventiv begründeten Ausweisungen das Problem, wie die zukünftige individuelle
Entwicklung des Betroffenen verlässlich eingeschätzt werden kann. Das BVerwG hat den
obergerichtlichen Versuch, strafgerichtliche Aussetzungsentscheidungen nach § 57 StGB
jedenfalls dann zu berücksichtigen, wenn zu ihrer Vorbereitung fachkundige Stellungnahmen
97
§ 55 AufenthG: Drei Jahre - § 54 AufenthG: sieben Jahre - § 53 AufenthG: zehn Jahre
Nach VG Berlin, InfAuslR 2011, 353 (356).
99
VG Oldenburg, InfAuslR 2013, 35.
100
Nieders.OVG, EZAR NF 45 Nr. 10, S. 7 f.
101
VGH BW, InfAuslR 2008, 429 (438) = EZAR NF 10 Nr. 11; Gutmann, InfAuslR 2013, 2 (3).
102
BVerwGE 129, 243 (250) = InfAuslR 2008, 1 (3) = EZAR NF 10 Nr. 8 = ZAR 2008, 31; Hess.VGH, AuAS
2008, 87 (88).
98
25
oder fachwissenschaftliche Gutachten eingeholt worden sind, zurückgewiesen. Strafrechtliche
Prognoseprüfungen seien am Resozialisierungsgedanken orientiert, ausweisungsrechtliche
Prognoseentscheidungen hingegen an der Aufbürdung des Risikos für das Misslingen der
Resozialisierung. Dieses habe nicht die Gesellschaft des Aufnahmestaates zu tragen. Daher
dürfe ein über die Bewährungszeit hinausgehender zeitlicher Horizont zugrunde gelegt
werden.103 Es kommt danach nicht vorrangig auf eine nach wissenschaftlich gesicherten
Erkenntnisse beruhende Prognose an, solange nach dem eher holzschnitzartig differenzierten
Wahrscheinlichkeitsmaßstab wenig mehr als „jede auch nur entfernte Möglichkeit einer
Wiederholungsgefahr“ besteht. Demgegenüber ist nach der Rechtsprechung des BVerfG bei
der spezialpräventiven Prognose der sachkundigen strafrichterlichen Prognose „wesentliche
Bedeutung“ beizumessen. Grundsätzlich darf hiervon nur bei Vorliegen überzeugender
Gründe abgewichen werden. Dies ist nur zulässig, wenn umfassenderes Tatsachenmaterial zur
Verfügung
steht,
das
genügend
zuverlässig
eine
andere
Einschätzung
der
Wiederholungsgefahr erlaubt.104 Nur bessere Erkenntnisse, nicht aber eine andere normative
Verteilung des Risikos der Rückfallgefahr im Rahmen der Prognose erlaubt daher die
Abweichung von der strafrichterlichen Prognose.
Geht es um „faktische Inländer“ kommt hinzu, dass die Art der Risikoverteilung auch deshalb
fragwürdig erscheint, weil zu ihren Gunsten aufgrund ihrer territorialen Bindung an das
Bundesgebiet der zeitliche Horizont des Einreiseverbots nicht losgelöst von dieser Bindung
bemessen werden darf. Das Recht auf Achtung des Privatlebens umfasst - bezogen auf die
Aufnahmegesellschaft - die Summe der persönlichen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen
Beziehungen, die für das Privatleben eines jeden Menschen konstitutiv sind und denen
angesichts der zentralen Bedeutung dieser Bindungen für die Entfaltung der Persönlichkeit
eines Menschen bei fortschreitender Dauer des Aufenthalts wachsende Bedeutung
zukommt.105 Das Recht auf Achtung des Privatlebens ist weit zu verstehen und umfasst
seinem Schutzbereich nach u.a. das Recht auf Entwicklung der Person und das Recht darauf,
Beziehungen zu anderen Personen und der Außenwelt anzuknüpfen und zu entwickeln und
103
104
BVerwG, NVwZ-RR 2013, 435 (436 f.) = InfAuslR 2013, 217.
BVerfG (Kammer), InfAuslR 2011, 287 (289).
105
BVerfG (Kammer) InfAuslR 2007, 275 (277) = NVwZ 2007, 946 = EZAR NF 42 Nr. 5; BVerfG (Kammer),
NVwZ 2007, 1300 (1301) = InfAuslR 2007, 443= EZAR NF 42 Nr. 6; BVerfG (Kammer), NVwZ-RR 2011, 420
(421) =InfAuslR 2011, 236.
26
damit auch die Gesamtheit der im Aufenthaltsstaat gewachsenen Bindungen. Entscheidend
ist, ob der Betroffene dort über intensive persönliche und familiäre Bindungen verfügt.106
III. Verhältnis der Abschiebungsanordnung nach § 34a AsylVfG zur Duldung oder
Aufenthaltserlaubnis
1. Erlass der Abschiebungsanordnung (§ 34a Abs. 1 AsylVfG)
Die Abschiebungsanordnung darf erst erlassen werden, wenn feststeht, dass die Abschiebung
durchgeführt werden kann (§ 34a Abs. 1 Satz 1 AsylVfG). Die Abschiebungsanordnung – als
Festsetzung
eines
Zwangsmittels
–
darf
damit
erst
ergehen,
wenn
die
Zulässigkeitsvoraussetzungen einer Abschiebung nach § 26a oder § 27a AsylVfG erfüllt sind.
Denn sie ist die letzte Voraussetzung für die Anwendung des Zwangsmittels – hier der
Abschiebung. Dies bedeutet, dass das Bundesamt vor Erlass der Abschiebungsanordnung
gegebenenfalls
sowohl
zielstaatsbezogene
Aspekte
wie
auch
der
Abschiebung
entgegenstehende inländische Vollstreckungshindernisse zu berücksichtigen, mitunter auch zu
prüfen hat, ob die Abschiebung in den anderen Mitgliedstaat oder Drittstaat aus subjektiven,
in der Person des Betroffenen liegenden Gründen – wenn auch nur vorübergehend – rechtlich
oder tatsächlich unmöglich ist.107 Daher darf im Rahmen der Abschiebungsanordnung die
Prüfungskompetenz nicht in zielstaats- und inlandsbezogene Hindernisse aufgespalten
werden.108
Dementsprechend wird in der Rechtsprechung auch geprüft, ob das Bundesamt etwa
Krankheitsgründe, eine bestehende Schwangerschaft oder z.B. eine bevorstehende
Eheschließung als inlandsbezogene Vollstreckungshemmnisse in seine Prüfung einbezogen
hat. Regelmäßig beruhen die Hindernisse auf Gründen, die die Reiseunfähigkeit des
Betroffenen
zur
Folge
haben,
insbesondere
infolge
schwerwiegender
psychischer
Symptome109 oder einer Risikoschwangerschaft.110 Aber auch aus Art. 6 Abs. 1 GG wird dann
106
OVG NW, NVwZ-RR 576 (577); Nieders.OVG, InfAuslR 2006, 329 (330).
VGH BW, B. v. 31. 5. 2011 – A 11 S 1523/11 (openJur 2012, 64252), mit weiteren Hinweisen ; OVG MV, B.
v. 29. 11. 2004 – 2 M 299/04; Nieders.OVG, Asylmagazin 2012, 254 (255); VGH BW, InfAuslR 2011, 310
(311).
108
OVG Hamburg, B. v. 3. 12. 2010 – 4 Bs 223/10; VG Trier, B. v. 5. 3. 2013 – 5 L 971/11.TR.
109
VG Weimar, B. v. 11. 12. 2009 – 7 E 20173/09 We; VG Düsseldorf, B. v. 4. 4. 2013 – 27 L 2497/12.A; VG
Düsseldorf, B. v. 30. 10. 2007 – 21 K 3831/07.
110
Nieders.OVG, Asylmagazin 2012, 254 (256).
107
27
ein inlandsbezogenes Überstellungshindernis abgeleitet, wenn die Durchführung eines
Asylverfahrens in einem anderen Mitgliedstaat wegen der zeitlich nicht absehbaren Dauer
dieses Verfahrens dem Betroffenen unzumutbare Belastung auferlegt.111 Überwiegend
behandelt
die
Rechtsprechung
nicht
die
dauerhaften
rechtlichen
Folgen
eines
inlandsbezogenen Vollstreckungshindernisses. Teilweise wird festgestellt, das Ermessen zum
Selbsteintritt werde in diesen Fällen reduziert.112 Vereinzelt wird darauf hingewiesen, dass
auch ein nur vorübergehendes Hindernis113 zu berücksichtigen sei, ohne die rechtlichen
Folgen einer gerichtlichen Aussetzung der Durchführung der Überstellung näher zu
behandeln.
Daher ist die maßgebende Dogmatik zur Lösung dieser Frage zu klären. Nach § 34a Abs. 1
Satz 1 AsylVfG darf die Abschiebungsanordnung erst ergehen, wenn feststeht, dass die
Abschiebung durchführbar ist. Solange Vollstreckungshindernisse nicht ausgeräumt werden
können, darf die Abschiebungsanordnung nicht erlassen werden. Für diese Prüfung ist nicht
die vollstreckende Behörde, sondern das Bundesamt zuständig.114 Der vorübergehende
Charakter des Vollstreckungshindernisses kann je nach Dauer zu Folge haben, dass die
maximal auf sechs Monate begrenzte Überstellungsfrist des Art. 29 Abs. 1 UAbs. 1
Verordnung (EU) Nr. 604/2013115 – beginnend mit der Annahme des Ersuchens – abgelaufen
ist und dadurch die Zuständigkeit für die Behandlung des Asylantrags auf die Bundesrepublik
übergeht (Art. 29 Abs. 2 Verordnung (EU) Nr. 604/2013). Diese Rechtsfolge ist dem
Rechtscharakter der Abschiebungsanordnung als letzte Stufe des Vollstreckungsverfahrens
geschuldet. Sie darf nicht ergehen, wenn nicht geprüft wurde, ob gegebenenfalls
zielstaatsbezogene Aspekte oder inländische Vollstreckungshindernisse der Abschiebung
entgegenstehen, auch wenn bereits das Ersuchen angenommen wurde. Die CDU/CSUFraktion hatte bei den Beratungen des Richtlinienumsetzungsgesetzes 2013 bewusst darauf
OVG Hamburg, B. v. 3. 12. 2010 – 4 Bs 223/10.
OVG Hamburg, B. v. 3. 12. 2010 – 4 Bs 223/10.
113
OVG MV, B. v. 29. 11. 2004 – 2 M 299/04.
114
OVG MV, B. v. 29. 11. 2004 – 2 M 299/04; OVG Hamburg, B. v. 3. 12. 2010 – 4 Bs 223/10; VGH BW,
InfAuslR 2011, 310 (311); Nieders.OVG, Asylmagazin 2012, 254 (255); VG Düsseldorf, B. v. 30. 10. 2007 – 21
K 3831/07.A; VG Weimar, B. v. 11. 12. 2009 – 7 E 20173/09 We; VG Trier, B. v. 5. 3. 2013 – 5 L 971/11.TR;
VG Düsseldorf, B. v. 4. 4. 2013 – 27 L 2497/12.A; VG Weimar, B. v. 11. 12. 2009 – 7 E 20173/09 We; a.A. VG
Hamburg, B. v. 2. 3. 2010 – 15 AE 44/10; VG Düsseldorf, B. v. 12. 5. 2010 – 13 L 761/10; VG Trier, B. v. 30.
7. 2013 – 1 L 891/13.TR.
115
Für Anträge, die bis zum 31. Dezember 2013 in der Union gestellt werden Art. 19 Abs. 3 Verordnung (EG)
Nr. 343/2003
111
112
28
bestanden, dass trotz Zulassung des Eilrechtsschutzes als nationales Vollstreckungsmittel der
unionsrechtlichen Überstellung nicht die erste Stufe, die Abschiebungsandrohung, sondern
weiterhin die letzte Stufe, die Abschiebungsanordnung, beibehalten werden sollte. Damit
werden auch die Folgen für die behördliche Zuständigkeit und die Durchführbarkeit der
Verordnung in Kauf genommen. Das Bundesamt mag sich bei zielstaatsbezogenen
Abschiebungshindernissen auf die Sicherheitsvermutung zurückziehen. Diese ist jedoch
widerleglich.116 Bei inlandsbezogenen Hindernissen können aber häufig einzelfallbezogene
und nicht der Sicherheitsvermutung zuzuordnende Umstände relevant werden.
2. Rücknahme des oder Unterlassen des Asylantrags
Die Abschiebungsanordnung enthält zwei Regelungen: Die Feststellung, dass dem
Antragsteller aufgrund seiner Einreise über den betreffenden Drittstaat oder wegen der
Zuständigkeit eines anderen Mitgliedstaats kein Asylrecht zusteht. Ferner wird die
Abschiebung in den „sicheren“ Drittstaat oder zuständigen Mitgliedstaat angeordnet.
Feststellungen zu möglichen Verfolgungstatbeständen, zum subsidiären Schutz oder zu
Abschiebungsverboten werden grundsätzlich nicht getroffen. Nach § 34a Abs. 1 Satz 2 2. Hs.
AsylVfG ist die Abschiebung auch dann anzuordnen, wenn der Antragsteller seinen Antrag
vor der Entscheidung des Bundesamtes zurückgenommen hat. Dies ist jedoch für die Fälle, in
denen die Rücknahme des Asylantrags vor der Annahme des Ersuchens erfolgt, nicht
zulässig.117 Anders als die Verordnung (EG) Nr. 343/2003, die nur noch auf Anträge
anwendbar ist, die bis zum 31. Dezember 2013 in der Union gestellt werden, und die nur auf
Asylanträge anwendbar ist, mit denen die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft begehrt
wird (Art. 1, 2 Buchst. c) Verordnung (EG) Nr. 343/2003), bezeichnet der in Art. 1
Verordnung (EU) Nr. 604/2013 verwandte Begriff „Asylantrag“ alle Anträge auf
internationalen Schutz im Sinne von Art. 2 Buchst. h) RL 2011/95/EU, schließt also auch den
unionsrechtlichen subsidiären Schutz ein.
EuGH, NVwZ 2012, 417 (419 f.) Rdn. 81 86 – N.S.; Hailbronner/Thym, NVwZ 2012, 406; Marx, NVwZ
2012, 409
117
EuGH, - InfAuslR 2012, 296 (297) = NVwZ 2012, 817 Rdn. 39, 42, 47 - Kastrati; VG Frankfurt am Main,
InfAuslR 2011, 366 (367) = AuAS 2011, 189; Sigmaringen, InfAuslR 2012, 237; VG München, U. v. 8. 9. 2010
– M 2 K 09.50582; Hailbronner/Thiery, ZAR 1997, 55 (58); Löper, ZAR 2000, 16 (17); a.A. Nieders.OVG,
AuAS 2008, 114; VG Regensburg, NVwZ-RR 2004, 692 (693) = AuAS 2004, 213); VG Regensburg, B. v. 9. 2.
2012 – RO 9 E 12.30035;VG Saarlouis, B. v. 14. 6. 2010 – 10 L 528/10,
116
29
Für die Übergangsperiode ist das unionsrechtliche Zuständigkeitssystem nicht anwendbar,
wenn der Asylantrag vor Erteilung der Zustimmung des ersuchten Mitgliedstaates
zurückgenommen und auf den subsidiären Schutz beschränkt wird. Unter der Geltung der
Verordnung (EU) Nr. 604/2013 kann diese Wirkung durch Antragsrücknahme nicht mehr
erreicht werden. Das aber bedeutet während der Übergangsperiode: Ob die Verordnung (EG)
Nr. 343/2003 Anwendung findet, ist von dem Zeitpunkt des im ersten Mitgliedstaat gestellten
Asylantrags abhängig. Stellt der Betroffene diesen im ersten Mitgliedstaat vor dem 31.
Dezember 2013 und stellt er anschließend im Bundesgebiet einen weiteren Asylantrag, den er
später vor Annahme des Ersuchens zurücknimmt, kommt es auf den Begriff des Asylantrags
nach Art. 2 Bucht. c) Verordnung (EG) Nr. 343/2003 an, auch wenn der Asylantrag im
Bundesgebiet nach dem 1. Dezember 2013 auch den subsidiären Schutz nach § 4 AsylVfG
n.F. umfasst. Die Verordnung unterliegt
unionsrechtlichen und
nicht nationalen
verfahrensrechtlichen Grundsätzen.
Nach Abschluss des Übergangsperiode, also wenn für den nach dem 1. Januar 2014 in der
Union gestellten und für den im Bundesgebiet gestellten weiteren Antrag derselbe
Asylantragsbegriff maßgebend sein wird, kann der Antragsteller durch Rücknahme des
Asylantrags und Beschränkung auf den subsidiären Schutz nach § 4 AsylVfG n.F. vor
Annahme des Ersuchens nicht mehr die Anwendbarkeit der Verordnung vermeiden. Wird der
Asylantrag jedoch von vornherein oder nachträglich vor der Erteilung der Zustimmung durch
den ersuchten Mitgliedstaat auf den nationalen subsidiären Schutz (§ 60 Abs. 5 und 7
AufenthG n.F., Art. 3 EMRK) beschränkt, findet die Verordnung (EU) Nr. 604/2013 keine
Anwendung. Der Antragsteller wird nicht an den anderen Mitgliedstaat überstellt, sondern
sein Antrag im Bundesgebiet behandelt. Hat er zuvor einen Asylantrag gestellt, bleibt das
Bundesamt zuständig (§ 24 Abs. 2 AsylVfG). Beschränkt er von vornherein den Antrag auf
dieses Ziel, ist die Ausländerbehörde originär zuständig, hat aber das Bundesamt zu beteiligen
(§ 72 Abs. 2 AufenthG). Wird von vornherein kein Asylantrag, sondern unter Berufung auf §
60 Abs. 5 oder 7 AufenthG n.F. die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis beantragt, findet
Abs. 1 Satz 1 keine Anwendung. In diesem Fall liegt aus unionsrechtlicher Sicht kein
Asylantrag vor und die Verordnung (EU) Nr. 604/2013 findet keine Anwendung. Unter
Geltung der Verordnung (EG) Nr. 343/2003 war die Rechtsprechung davon ausgegangen,
dass diese ungeachtet der erteilten Zustimmung des zuständigen Mitgliedstaates zur
Wiederaufnahme keine Anwendung fand und daher auch keine Abschiebungsanordnung nach
30
§ 34a AsylVfG erlassen werden durfte, wenn der Betroffene hier keinen Asylantrag gestellt,
sondern wegen inlandsbezogener Vollstreckungshemmnisse Abschiebungsschutz im Wege
der Duldung oder die Erteilung einer Duldung bzw. Aufenthaltserlaubnis zwecks
Eheschließung gesucht hatte.118 Es handelt sich hierbei um die Fälle des Art. 16 Abs. 1
Buchst. e) Verordnung (EG) Nr. 343/2003.
§ 34a AsylVfG enthält keine Regelungen für den Fall, dass die Durchführung der
Abschiebung in den Drittstaat z.B. infolge Überschreitens der Rücknahmefristen oder wegen
Passlosigkeit119 fehlschlägt. Demgegenüber wird das Verfahren bei unbeachtlichen
Asylanträgen nach Ablauf von drei Monaten fortgeführt, wenn bis dahin die Rückführung in
den Drittstaat nicht möglich gewesen ist. Die Überstellung in den zuständigen Mitgliedstaat
ist rechtlich untersagt, wenn die Übernahmefrist abgelaufen ist. Hat der Antragsteller seinen
Asylantrag nicht zurückgenommen und ist die Durchführung der Abschiebung in den sicheren
Drittstaat nicht mehr möglich, steht Art. 16a Abs. 2 GG der Prüfung der Voraussetzungen des
internationalen Schutzes und von Abschiebungsverboten nach § 60 Abs. 5 oder 7 AufenthG
nicht entgegen.120 Gleiches gilt für fehlgeschlagene Überstellungen in den zuständigen
Mitgliedstaat.
3. Zulässigkeit von Eilrechtsschutz (§ 34a Abs. 2 AsylVfG n.F.)
Maßgebend für die Zulässigkeit des Eilrechtsschutzes ist § 34a AsylVfG n.F., der seit dem 6.
September 2013 in Kraft ist und Eilrechtsschutz in Übereinstimmung mit Art. 27 Abs. 2
Buchst. c) Verordnung (EU) Nr. 604/2013 (Dublin III – VO) gewährleistet. Die Verordnung
ist hingegen erst auf die Anträge anzuwenden, die nach dem 1. Januar 2014 in der Union
gestellt werden (Art. 49 Abs. 2). Nach § 34a Abs. 2 Satz 1 AsylVfG ist der Antrag gegen die
Abschiebungsanordnung nach § 34a Abs. 1 Satz 1 innerhalb einer Woche nach Bekanntgabe
zu stellen. Ungeachtet dessen gilt für die Anfechtungsklage die Zweiwochenfrist des § 74
Abs. 1 1. Hs. Der Gesetzgeber hat in § 74 Abs. 1 2. Hs. nicht auf § 34a Abs. 2 AsylVfG
OVG Hamburg, B. v. 27. 7. 2011 – 4 Bs 97/11 juris; VG Gelsenkirchen, B. v. 29. 11. 2011 – 5a L 1234/11.A
juris.
119
S. hierzu OVG Berlin, InfAuslR 1994, 236.
120
BVerfGE 94, 49 (97) = NVwZ 1996, 700 (705) = EZAR 208 Nr. 7; BVerfG (Kammer), AuAS 1996, 243
(245); BVerwGE 100, 23 (31) = EZAR 208 Nr. 5 = NVwZ 1996, 197 = InfAuslR 1996, 1; Hess.VGH, NVwZBeil. 1996, 11 (14); OVG Rh-Pf, NVwZ 1995, 53 (54f.); VGH, BW NVwZ-Beil. 1995, 5; VGH BW, EZAR 210
Nr. 9 S. 3.
118
31
hingewiesen. Wegen der Folgen unrichtiger Rechtsbehelfsbelehrungen (§ 58 Abs. 2 VwGO)
wird daher in der Verwaltungspraxis auf die Zweiwochenfrist hingewiesen. Bei rechtzeitiger
Antragstellung
ist
die
Abschiebung
vor
der
gerichtlichen
Entscheidung
im
Eilrechtsschutzverfahren nicht zulässig (§ 34a Abs. 2 Satz 2 AsylVfG). Dieses gesetzliche
Vollstreckungshindernis entspricht dem in § 36 Abs. 3 Satz 8 AsylVfG geregelten
Vollzugshindernis. Aus dem Gesetzeswortlaut folgt, dass auch vor der Antragstellung beim
Verwaltungsgericht das Vollstreckungshindernis Anwendung findet, da die Abschiebung vor
der gerichtlichen Entscheidung nicht zulässig ist.
§ 34a Abs. 2 AsylVfG regelt das Eilrechtsschutzverfahren unabhängig von dem Verfahren
nach § 36 Abs. 3 und 4 AsylVfG. Daher finden weder die dort geregelten gerichtlichen
Entscheidungsfristen noch die Präklusionsregelungen noch die Anforderungen an die
gerichtliche Prüfung und Entscheidung Anwendung. Vielmehr ist über den Antrag nach § 80
Abs. 5 VwGO nach allgemeinen verwaltungsprozessualen Grundsätzen zu entscheiden. Der
Antragsteller kann im Eilrechtsschutzverfahren entsprechend seinen subjektiven Rechten nach
der Verordnung (EU) Nr. 604/2013121 Einwände gegen die fehlerhafte Anwendung der
Zuständigkeitskriterien, die Überschreitung der maßgebenden Fristen für die Stellung des
Ersuchens und die Durchführung der Überstellung wie auch insbesondere gegen die
fehlerhafte Anwendung der Schutznormen zugunsten Minderjähriger, der Familieneinheit wie
auch gegen die rechtswidrige Anwendung der Regelanordnung des Art. 16 Abs. 1
Verordnung (EU) Nr. 604/2013 und die fehlerhafte Anwendung der Ermessensklauseln des
Art. 16 Abs. 2 und Art. 17 Abs. 1 und 2 Verordnung (EU) Nr. 604/2013 erheben. Sind die
Einwände gegen die Anwendung der Zuständigkeitskriterien und die Einhaltung der
Fristregelungen nach summarischer Prüfung gerechtfertigt, hat das Verwaltungsgericht dem
Antrag zu entsprechen. Bei den Ermessensklauseln wird häufig eine Ermessensreduktion in
Betracht kommen. Allerdings hat die Anordnung der aufschiebenden Wirkung nicht den
verbindlichen Übergang der Zuständigkeit für die Behandlung des Asylantrag auf die
Zum subjektiven Rechtscharakter der Verordnungsbestimmungen VG Düsseldorf, Urteil vom 10. 12. 2009 –
18 K 718/09.A, insbesondere der Fristregelungen Thür.OVG, B. v. 28. 12. 2009 – 3 EO 469/09; VG Ansbach, U.
v. 16. April 2009 – AN 3 K 09.30012; VG Münster, InfAuslR 2008, 372 (375); VG Sigmaringen, AuAS 2009,
152 (154 f.); VG Meiningen, Beschluss vom 8. Februar 2010 – 8 E 20009/10 Me; VG Meiningen, B. v. 19. 2.
2010 – 5 E 20022/10 Me; VG Stuttgart, B. v. 18. 12. 2012 – A 7 K 4330/12; Funke-Kaiser, in: GK-AsylVfG II § 27a Rdn. 199; a.A. Hailbronner, AuslR B 2 § 27a AsylVfG Rdn. 62; generell zum subjektiven Rechtscharakter
sekundärrechtlicher Vorschriften EuGH, Urt. vom 30. Mai 1991, Rs. C-361/88, Rdn. 16 – Kommission gegen
Bundesrepublik.
121
32
Bundesrepublik zur Folge, weil diese die Überstellungsfrist lediglich hemmt (Art. 29 Abs. 1
UAbs. 1 Verordnung (EU) Nr. 604/2013)..
Wird die Wochenfrist versäumt, kann bei mangelndem Verschulden Antrag auf
Wiedereinsetzung gestellt werden. In diesem Fall dürfte aber § 34a Abs. 2 Satz 2 AsylVfG
nicht unmittelbar Anwendung finden. Es kann jedoch der Antrag analog § 80 Abs. 5 VwGO
auf Feststellung gestellt werden, dass die Klage gegen die Abschiebungsanordnung
aufschiebende Wirkung hat. Hilfsweise kann ein Antrag auf Gewährung von Eilrechtsschutz
nach § 123 VwGO gegen die Vollstreckungsbehörde gestellt werden. Es besteht aber auch die
Möglichkeit, den Antrag zu stellen, dass das Verwaltungsgericht durch gesonderten
Verfahrensbeschluss über den Wiedereinsetzungsantrag entscheidet. Kommt es diesem nach,
wird der Mangel der Fristversäumnis geheilt und das gesetzliche Vollstreckungshemmnis des
Abs. 2 Satz 2 tritt unmittelbar ein.122
Im Hauptsacheverfahren ist Anfechtungsklage zu erheben. Zwar ist im Falle der Klage gegen
die Versagung eines gebundenen begünstigenden Verwaltungsakts regelmäßig die dem
Rechtsschutzbegehren des Klägers allein entsprechende Verpflichtungsklage die richtige
Klageart mit der Konsequenz, dass das Verwaltungsgericht die Sache spruchreif zu machen
hat.123 Grundsätzlich gilt dieser Grundsatz auch im Asylverfahren, kann im Falle einer
fehlerhaften Ablehnung des Asylantrags als unzulässig im Sinne von § 27a AsylVfG jedoch
keine Anwendung finden, weil das Bundesamt im bisherigen Verfahren wegen des
eingeschränkten Zwecks des persönlichen Gesprächs (Art. 5 Verordnung (EU Nr. 604/2013)
grundsätzlich noch nicht zur Sache angehört hat. Da es seine Zuständigkeit für die begehrte
Prüfung verneint und dementsprechend auch entsprechende Übermittlungen unterlassen hat,
liefe es grundsätzlich der Aufgabenverteilung zwischen Exekutive und Judikative zuwider,
letzterer nunmehr allein die vollständige Aufklärungslast zu übertragen. Dies liefe darauf
hinaus, dass das Verwaltungsgericht anstelle der Behörde selbst entscheiden würde.124 Hat das
122
Hailbronner, AuslR B 2 § 36 AsylVfG Rdn. 37.
BVerwGE 106, 171 (173) = NVwZ 1998, 861 (862) = EZAR 631 Nr. 45 =AuAS 1998, 149.
124
VG Hamburg, U. v. 15. 3. 2012 – 10 A 227/11; VG Düsseldorf, U. v. 15. 1. 2010 – 11 K 9136/09.A; VG
Karlsruhe, U. v. 3. 3. 2010 – A 4 K 4052/08; VG Trier, U. v. 18. 5. 2011 – 5 K 198/11.TR; VG Wiesbaden, U. v.
2. 10. 2012 7 K 1278/11.WI.A; VG Braunschweig, U. v.6. 12. 2012 – 1 A 125/11; VG Gießen, U. v. 24. 1. 2013
– 6 K 1329/12.GI.A - AuAS 2013, 144 (nur LS); VG München, U. v. 19. 7. 2013 – M 1 K 13.30169.
123
33
Bundesamt allerdings in der Sache angehört, mag eine andere prozessuale Betrachtung
geboten sein. berücksichtigen.125.
Diese Frage regelt sich nach Art. 29 Abs. 1 Verordnung (EU) Nr. 604/2013. Danach ist die
Überstellung, sobald dies praktisch möglich ist und spätestens innerhalb einer Frist von sechs
Monaten nach Annahme des Ersuchens durchzuführen. Solange das inlandsbezogene
Vollstreckungshindernis andauert, ist die Überstellung praktisch nicht möglich. Wirkt es über
die Überstellungsfrist hinaus, geht die Zuständigkeit nach Art. 29 Abs. 2 Satz 1 auf die
Bundesrepublik über. Der Ausübung des Selbsteintrittsrechts nach Art. 17 Abs. 1 bedarf es
daher nicht. Der Übergang der Zuständigkeit liegt nicht im Ermessen, sondern erfolgt kraft
der Verordnung wegen Fristablaufs.
IV. Feststellung des Nichtbestehens oder des Wegfalls der Freizügigkeitsberechtigung
wegen Inanspruchnahme von Sozialhilfeleistungen (§ 5 Abs. 4 FreizügG/EU)
1. Funktion der Feststellung nach § 5 Abs. 4 FreizügG/EU
Das Freizügigkeitsrecht innerhalb der Union für Unionsbürger ist Bestandteil der
Unionsbürgerschaft (Art. 20 Abs. 1 Buchst. a) AEUV). Es gliedert sich in die
Arbeitnehmerfreizügigkeit (Art. 45 AEUV), die Niederlassungsfreiheit (Art 49 AEUV) und
die Dienstleistungsfreiheit (Art. 56 AEUV). Sekundärrechtlich wird es durch die Richtlinie
2004/38/EG (Unionsbürgerrichtlinie) ausgestaltet und im nationalen Recht durch das
Freizügigkeitsgesetz umgesetzt. Freizügigkeitsberechtigt sind Unionsbürger und deren drittstaatsangehörige – Familienangehörige (Art. 2 Nr. 1 und Nr. 2 RL 2004/38/EG).
Familienangehörige des Unionsbürgers, die die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaates
besitzen, sind aus eigenem Recht als Unionsbürger freizügigkeitsberechtigt. Unionsbürger
haben das Recht auf Einreise und Ausreise in die Mitgliedstaaten (Art. 4 Abs. 1 RL
2004/38/EG), insbesondere auf Aufenthalt in einem anderen Mitgliedstaat bis zu drei
Monaten (Art. 6 Abs. 1 RL 2004/38/EG). Dieses Recht wird auch den Familienangehörigen
gewährt (Art. 6 Abs. 2 RL 2004/38/EG). Für einen darüber hinausgehenden Aufenthalt hat
der Unionsbürger das Recht zum Aufenthalt, wenn er Arbeitnehmer oder Selbständiger ist
und für sich und seine Familienangehörigen über ausreichende Existenzmittel verfügt, sodass
OVG MV, B. v. 29. 11. 2004 – 2 M 299/04; Nieders.OVG, Asylmagazin 2012, 254 (255); VGH BW,
InfAuslR 2011, 310 (311).
125
34
sie während des Aufenthalts keine Sozialhilfeleistungen in Anspruch nehmen müssen, und er
über einen ausreichenden Krankenversicherungsschutz verfügt (Art. 7 Abs. 1 RL
2004/38/EG). Unter diesen Voraussetzungen haben auch die Familienangehörigen das Recht
zu einem längerfristigen Aufenthalt (Art. 7 Abs. 2 RL 2004/38/EG).
Im nationalen Recht regelt § 5 Abs. 4 FreizügG/EU in Umsetzung von Art. 14 Abs. 1 und 2
RL 2004/38/EG das Bestehen oder den Wegfall des Freizügigkeitsrechts. Sind dessen
Voraussetzungen entfallen, kann innerhalb von fünf Jahren nach Begründung des ständigen
Aufenthalts im Bundesgebiet der Verlust des Freizügigkeitsrechts festgestellt und bei
drittstaatsangehörigen Familienangehörigen die Aufenthaltskarte (§ 5 Abs. 1 FreizügG/EU)
eingezogen werden. Das Vorliegen oder der Fortbestand des Freizügigkeitsrechts kann aus
besonderem Anlasss überprüft werden (§ 5 Abs. 3 FreizügG/EU n.F.). Dies ist gegenüber § 5
Abs. 4 FreizügG/EU a.F. eine Verschärfung,126 da nach früherem Recht die anlassbezogene
Überprüfung nur den Fortbestand, nicht aber auch das Vorliegen der Voraussetzungen zum
Gegenstand hatte. Es darf nunmehr also bereits das Vorliegen anlassbezogen geprüft werden.
Ein Anlass ist aber nur bei „begründeten Zweifeln“, ob die Voraussetzungen des
Aufenthaltsrecht (noch) bestehen (Art. 14 Abs. 2 UAbs. 2 RL 2004/38/EG) gegeben.
Die Feststellung steht im behördlichen Ermessen und darf nicht mit der Verlustfeststellung
nach § 6 FreizügG/EU verwechselt werden. Besteht kein Freizügigkeitsrecht, kann dessen
Verlust auch nicht bewirkt werden. Im Anwendungsbereich des § 5 Abs. 4 FreizügG/EU wird
unter Beachtung der Verfahrensgarantien des Art. 15 in Verb. mit Art. 30 und 31 RL
2004/38/EG also lediglich darüber entschieden, ob der Unionsbürger und seine
Familienangehörigen noch freizügigkeitsberechtigt sind (§ 2 FreizügG/EU). Die Feststellung
wird unabhängig davon getroffen, ob Gründe der öffentlichen Ordnung, Sicherheit oder
Gesundheit vorliegen, und beschränkt sich lediglich darauf, ob ein Aufenthaltsrecht besteht
oder weggefallen ist. Hat der Unionsbürger und seine Familienangehörigen nach Ablauf von
fünf Jahren das Daueraufenthaltsrecht (Art. 16 RL 2004/38/EG, § 4a FreizügG/EU) erworben,
darf die Feststellung nicht mehr getroffen werden. Dies folgt aus Art. 16 Abs. 1 Satz 2 und im
Umkehrschluss aus Art. 14 Abs. 1 und 2 RL 2004/38/EG.
126
Tewocht, ZAR 2013, 221 (226.
35
2. Inanspruchnahme von Sozialhilfeleistungen
a) Fallgruppen
Bei den Fallgruppen der Inanspruchnahme von Sozialhilfeleistungen sind zunächst
Kurzaufenthalte auszuscheiden. In diesem Fall führt eine „angemessene Sozialhilfeleistung“
nicht zur Beendigung des Aufenthaltsrechts nach § 5 Abs. 4 FreizügG/EU (Art. 14 Abs. 1 in
Verb. mit Art. 6 RL 2004/38/EG). Ferner hat der „Arbeitnehmer“ das Recht, für einen
angemessenen Zeitraum Arbeit zu suchen. Für diese Phase kann der Nachweis der
Existenzsicherung nicht gefordert werden. Lediglich die abstrakte Gefahr, dass der
Arbeitssuchende einen Antrag auf Gewährung öffentlicher Leistungen stellt, rechtfertigt die
Feststellung nach § 5 Abs. 4 FreizügG/EU nicht.127 Nach § 7 Abs. 1 Nr. 2 SGB II haben
Arbeitssuchende zwar keinen Anspruch auf Leistungen nach SGB II, jedoch einen Anspruch
auf Sozialgeld nach § 23 Abs. 1 SGB XII. Eine angebliche Maximalfrist von sechs
Monaten128 kennt das Unionsrecht nicht. Einem Arbeitnehmer ist erst dann der Zugang zum
regulären Arbeitsmarkt verschlossen, wenn er objektiv keine Möglichkeit hat, sich in den
Arbeitsmarkt einzugliedern.129 Nicht nach fixen Zeiträumen, sondern anhand objektiver
Kriterien ist danach zu bestimmen, ob der Arbeitnehmer auf Arbeitssuche ist.
b) Funktion des Verbots des Art. 14 Abs. 3 RL 2004/38/EG
Grundsätzlich darf die Inanspruchnahme von Sozialleistungen durch einen Unionsbürger für
sich und seine Familienangehörigen nicht automatisch zu einer „Ausweisung“ führen (Art. 14
Abs. 3 RL 2004/38/EG). Dieses Verbot gilt auch für die Feststellung des Nichtbestehens oder
Wegfalls der Vorraussetzungen des Freizügigkeitsrechts.130 Gesetzessystematische Gründe
sprechen für diese Auslegung des Begriffs „Ausweisung“ in Art. 14 Abs. 3 RL 2004/38/EG.
Einerseits wird er in der Norm verwandt, welche die Aufrechterhaltung des Aufenthaltsrechts
zum Gegenstand hat und damit Kapitel III zuzuordnen ist. Andererseits sind die
Voraussetzungen der „Ausweisung“ in Kapitel VI geregelt und wird das Verbot des Art. 14
Abs. 3 RL 2004/38/EG dort als spezielles in Art. 27 Abs. 1 Satz 2 RL 2004/38/EG normiert.
Für die Feststellung des Nichtbestehens oder des Wegfalls der Voraussetzungen des
127
BayVGH, InfAuslR 2009, 144 (145).
Welte, ZAR 2009, 229 (231).
129
EuGH, InfAuslR 1997, 146 (§ 26) = NVwZ 2009, 235 (236), Rn 24 f. = InfAuslR 2009, 93 – Altun.
128
36
Freizügigkeitsrechts enthält damit das Verbot des Art. 14 Abs. 3 RL 2004/38/EG eine
ermessensbeschränkende Funktion.
Die Inanspruchnahme von Sozialleistungen als solche gibt also weder Anlass zu „begründeten
Zweifeln“, ob die Voraussetzungen des Aufenthaltsrecht (noch) bestehen (Art. 14 Abs. 2
UAbs. 2 RL 2004/38/EG), noch rechtfertigt diese allein die Feststellungsentscheidung.
Vielmehr beziehen sich die begründeten Zweifel unabhängig vom Sozialhilfebezug auf die
spezifischen Voraussetzungen des Freizügigkeitsrechts und darf dieser im Rahmen des
Ermessens nicht ausschließlich die Entscheidung tragen. Im Rahmen der Ermessensprüfung
kommt insbesondere dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit besondere Bedeutung zu.131 Es
kommt bei der Abwägung also auf die individuellen Umstände (vorübergehender Charakter
der Schwierigkeiten, Dauer des Aufenthalts, Höhe der gewährten Hilfe, persönliche
Umstände) mit den entgegenstehenden öffentlichen Interessen an. Regelmäßig wird daher nur
eine dauerhafte Unfähigkeit, für den eigenen Lebensunterhalt aufzukommen, die Beendigung
des Aufenthaltes rechtfertigen können.132
c) Arbeitnehmer
Bei Arbeitnehmern ist nach Maßgabe der entsprechenden Voraussetzungen dieser
Grundfreiheit zu prüfen, ob diese bestehen oder weggefallen sind. Das Aufenthaltsrecht für
Arbeitnehmer bleibt bei vorübergehender Erwerbsminderung infolge Krankheit oder Unfall
ebenso unberührt wie nach mehr als einem Jahr Tätigkeit bei unfreiwilliger Arbeitslosigkeit
infolge nicht zu vertretender Umstände. Ferner bleibt es bei Aufnahme einer
Berufsausbildung, wenn zwischen der früheren Erwerbstätigkeit und der Ausbildung ein
Zusammenhang besteht, erhalten (§ 2 Abs. 3 FreizügG/EU). Erzielt der Arbeitnehmer aus
seiner Tätigkeit ein Erwerbseinkommen und ist er auf ergänzende Leistungen zur Sicherung
des Lebensunterhalts angewiesen, rechtfertigt dieser Umstand als solcher nicht die
Feststellung
des
Nichtbestehens
oder
des
Wegfalls
der
Voraussetzungen
des
Freizügigkeitsrechts.133 Dies folgt aus dem Verbot des Art. 14 Abs. 3 RL 2004/38/EG. Auch
130
Welte, ZAR 2009, 229 (230).
Welte, ZAR 2009, 229 (233).
132
BayVGH, InfAuslR 2009, 144 (145) = AuAS 2009, 74, Epe, in: GK-AufenthG IX – 2 § 2 FreizügG/EU
Rn 97.
133
OVG Bremen, EZAR NF 10 Nr. 12.
131
37
eine geringfügige Beschäftigung etwa als Reinigungskraft mit einer Wochenarbeitszeit von
zunächst
fünf
oder
sechs
Stunden
erfüllt
die
Voraussetzungen
der
Arbeitnehmerfreizügigkeit.134
Es
entspricht
inzwischen
gefestigter
Rechtsprechung des
Gerichtshofs,
dass
die
Teilzeitbeschäftigung ein wirksames Mittel zur Verbesserung der Lebensbedingungen
darstellt, auch wenn sie möglicherweise lediglich zu Einkünften unterhalb des
Existenzminimums
führt.135
Die
praktische
Wirksamkeit
des Unionsrechts
wird
beeinträchtigt, wenn allein solche Personen in den Genuss der Freizügigkeit gelangen, die
einer Vollzeitbeschäftigung nachgehen und daher ein Arbeitseinkommen erzielen, das
mindestens dem in der betreffenden Branche garantierten Mindesteinkommen entspricht.
Vielmehr kommt es auf die spezifischen Voraussetzungen der Arbeitnehmerfreizügigkeit
(Art. 45 AEUV) an: Es muss in objektiver Hinsicht ein Arbeitsverhältnis vorliegen. Dieses
wird nicht dadurch in Frage gestellt, dass die Produktivität des Arbeitnehmers gering ist, er
keiner Vollzeitbeschäftigung nachgeht, deshalb nur eine verringerte Anzahl von
Wochenarbeitsstunden leistet und infolgedessen nur eine beschränkte Vergütung erhält.
Weder die begrenzte Höhe der Vergütung noch der Umstand, dass der Betreffende die
Vergütung durch andere Mittel zur Bestreitung des Lebensunterhalts wie eine aus öffentlichen
Mitteln des Aufnahmemitgliedstaates gezahlte finanzielle Unterstützung zu ergänzen sucht,
hat irgendeine Auswirkung auf die unionsrechtliche Arbeitnehmereigenschaft.136 Eine
reguläre Tätigkeit von lediglich 20 Wochenstunden,137 zehn Wochenstunden oder zwanzig
Stunden monatlich138 reichen für die Begründung des Arbeitnehmerstatus aus. Daher ist die
134
VGH BW, EZAR NF 11 Nr. 6; Hess.VGH, InfAuslR 2009, 325 (326) = AuAS 2009, 235 = NVwZ-RR 2009,
862 (LS).
135
EuGH, EZAR 831 Nr. 1 = NJW 1983, 1249; s. im Einzelnen hierzu Marx, Aufenthalts-, Asyl- und
Flüchtlingsrecht in der anwaltlichen Praxis, 4. Aufl., 2011, S.223 ff.
136
EuGH, InfAuslR 2003, 41 (42) = AuAS 2003, 134 – Kurz; EuGH, NVwZ 2010, 367 (368) = EZAR NF 19
Nr. 41, Rn 20. – Genc, mit Rspr.Hw.; BVerwG, EZAR 029 Nr. 14 = AuAS 2001, 62; Nieders. OVG, InfAuslR
2001, 317 (318), mit Hinweisen auf Rechtsprechung; BSG, EZAR 312 Nr. 5.
137
VGH BW, InfAuslR 1999, 137 (138); weitere Hinweise von Auer, ZAR 2008, 223 (225).
138
EuGH, Slg. 1995, I-4741 = NJW 1996, 446 – Megner und Scheffel; EuGH, Slg. 2007, I.6347 = EuZW 2007,
576 – Geven, zehn Stunden; EuGH, InfAuslR 2008, 149 – Payir, zwischen 15 und 20 Stunden; Hess.VGH, B.. v.
18.5.2010 – 11 A 2870/09.Z; Hess.VGH, InfAuslR 2009, 325 (326) = AuAS 2009, 235, zwölf Stunden; VG
Frankfurt am Main, Urt. v. 22.9.2009 – 7 K 1534/08.F(3), zehn Stunden; VG Freiburg, InfAuslR 2003, 365
(366), neun Stunden; VG München, InfAuslR 1999, 223, 20 Stunden; VG Freiburg, AuAS 2011, 18 (20), 20
Stunden im Monat.
38
sozialversicherungsfreie geringfügige Beschäftigung geeignet, die Arbeitnehmereigenschaft
im Sinne des Unionsrechts zu vermitteln.139
Abzugrenzen ist die zu prüfende Tätigkeit lediglich von „Scheinarbeitsverhältnissen“,140 also
jenen Tätigkeiten, die einen so geringen Umfang haben, dass sie sich als völlig untergeordnet
und unwesentlich darstellen. Die Tatsache, dass der Arbeitnehmer weniger verdient, als im
Aufnahmemitgliedstaat als Existenzminimum abgenommen wird, steht aber der Annahme der
Arbeitnehmereigenschaft nicht entgegen. Eine Geringfügigkeitsgrenze wird insoweit nicht
anerkannt.141 Maßgebend ist vielmehr, dass der Betroffene die Einkünfte aus einer Tätigkeit
im Lohn- oder Gehaltsverhältnis erzielt. Ergänzt er diese durch andere Einkünfte bis zu
diesem oder begnügt er sich mit Existenzgrundlagen, die darunter liegen, ist er Arbeitnehmer,
vorausgesetzt, er übt tatsächlich eine Tätigkeit im Lohn- und Gehaltsverhältnis aus.142
In Ansehung der aus einer Tätigkeit erzielten Mindestvergütung ist eine betragsmäßige
Festlegung unzulässig. Der Umstand, dass im Rahmen eines Arbeitsverhältnisses nur sehr
wenige Arbeitsstunden geleistet werden, kann zwar ein Anhalt dafür sein, dass die ausgeübte
Tätigkeit nur untergeordnet und unwesentlich ist. Doch lässt sich unabhängig von der
begrenzten Höhe des aus einer Berufstätigkeit bezogenen Entgelts und des begrenzten
Umfangs der insoweit aufgewandten Arbeitszeit nicht ausschließen, dass die Tätigkeit
aufgrund einer Gesamtbewertung des betreffenden Arbeitsverhältnisses als tatsächlich und
echt anzusehen ist. Es ist Sache der nationalen Gerichte, die entsprechenden tatsächlichen
Prüfungen vorzunehmen.143 Der EuGH hat klargestellt, dass in seiner Rechtsprechung zur
Auslegung des Arbeitnehmerbegriffs im Blick auf Arbeitszeit und Entgelt keine bestimmten
Grenzen festgelegt seien, unterhalb deren eine Tätigkeit als „völlig untergeordnet und
unwesentlich“ zu betrachten wäre, auch wenn dies notwendigerweise eine begriffliche
Unbestimmtheit dieses Abgrenzungsbegriffs zur Folge habe. Bei der Gesamtbewertung des
konkreten
Arbeitsverhältnisses
seien
nicht
nur
Gesichtspunkte
wie
Arbeitszeit
Vergütungshöhe, sondern auch solche wie Anspruch auf bezahlten Urlaub, Geltung von
139
Hess.VGH, InfAuslR 2009, 325 (326) = AuAS 2009, 235 = NVwZ-RR 2009, 862 (LS).
VGH BW, EZAR NF 11 Nr. 6.
141
EuGH, InfAuslR 1983, 102 (104 – Levin; a.A. AAH, InfAuslR 2002, 349 (353).
142
EuGH, InfAuslR 1983, 102 (104 – Levin; EuGH, NVwZ 2010, 367 (368) = EZAR NF 19 Nr. 41, Rn 20. –
Genc; VG Freiburg, InfAuslR 2003, 365 (366).
143
EuGH, NVwZ 2010, 367 (368) = EZAR NF 19 Nr. 41, Rn 26, 33. – Genc.
140
39
Lohnfortzahlung im Krankheitsfall, Anwendung des Tarifvertrags in der jeweils gültigen
Fassung auf den Arbeitsvertrag sowie Dauer des Arbeitsverhältnisses zu berücksichtigen.144
d) Selbständige
Gleiche Grundsätze gelten für Selbständige (§ 2 Abs. 3 FreizügG/EU).145 Eine selbstständige
Tätigkeit ist im Unterschied zur Arbeitnehmertätigkeit durch eine unabhängige Stellung
gegenüber den Auftraggebern, eine selbstständige Organisation im Betrieb und im Verhältnis
zum Kunden sowie durch Eigenverantwortlichkeit hinsichtlich der Tätigkeit und deren
Ergebnissen geprägt.146 In erster Linie geht es bei der selbstständigen Erwerbstätigkeit um den
Betrieb eines Gewerbes147 in verschiedenen Rechtsformen. Betrieb eines Gewerbes ist die
selbstständige, generell erlaubte, auf Gewinnerzielung gerichtete Dauer im wirtschaftlichen
Bereich.148 Begünstigt sind nicht nur Unternehmensgründer oder Einzelunternehmer, sondern
auch Geschäftsführer und gesetzliche Vertreter von Personen- und Kapitalgesellschaften
(geschäftsführungsberechtigter Gesellschafter einer Gesellschaft bürgerlichen Rechts, einer
OHG oder einer KG, gesetzlicher Vertreter einer juristischen Person – z.B. Geschäftsführer
einer GmbH –, leitender Angestellter mit Generalvollmacht oder Prokura), unselbstständiger
Reisegewerbetreibender – z.B. als unselbstständiger Handelsvertreter – sowie Stellvertreter
nach § 45 GewO oder § 9 GastG.149 Geschäftsführende Gesellschafter müssen dabei
tatsächlich eine leitende Funktion wahrnehmen.
Abzugrenzen ist die zu prüfende Tätigkeit von der „Scheinselbstständigkeit“. Eine
selbstständige Erwerbstätigkeit kann regelmäßig nicht angenommen werden, wenn der
Antragsteller ausschließlich für einen Auftraggeber tätig oder derart stark in den gesamten
Betriebs- und Arbeitsablauf eingegliedert ist, dass ihm im Ergebnis nicht mehr Freiheiten
verbleiben wie einem abhängig beschäftigten Arbeitnehmer.150 Ist er aber Arbeitnehmer, kann
er sich auf Art. 45 AEUV berufen. Nur bei türkischen Assoziationsberechtigten und den
EuGH, NVwZ 2010, 367 (368) = EZAR NF 19 Nr. 41, Rn 27 f. – Genc.
VGH BW, EZAR NF 11 Nr. 6.
146
Breidenbach, in: Kluth/Hund/Maaßen, Zuwanderungsrecht, 2008, S. 166 (183), Rn 264; s. im Einzelnen
hierzu Marx, Aufenthalts-, Asyl- und Flüchtlingsrecht in der anwaltlichen Praxis, 4. Aufl., 2011, S. 390 ff.
147
Lange, GewArch 1996, 359 (360).
148
Röschert, GewArch 1984, 145 (146).
149
Röschert, GewArch 1984, 145 (146).
150
Breidenbach, in: Kluth/Hund/Maaßen, Zuwanderungsrecht, 2008, S. 166 (183), Rn 265.
144
145
40
Angehörigen aus den den Wartefristen unterliegenden neuen Mitgliedstaaten ist diese
Unterscheidung von Bedeutung. Es bedarf hinreichend verlässlicher Feststellungen für die
Annahme einer „Scheinselbständigkeit“ Allein die wirtschaftliche Abhängigkeit von einem
Auftraggeber
rechtfertigt
angesichts
der vielfältigen das
Erwerbsleben prägenden
ökonomischen Abhängigkeiten noch nicht die Annahme einer „Scheinselbstständigkeit“.
Maßgebend ist stets, ob eine Tätigkeit nach einer Gesamtwürdigung aller Umstände des
Einzelfalls in persönlicher Abhängigkeit ausgeübt wird (Nr. 2.2.3 AufenthG-VwV). Dass in
dem der Erwerbstätigkeit zugrunde liegenden Vertrag der Begriff „Angestellter“ verwendet
wird, ist dann unerheblich, wenn aufgrund des Gesellschaftsvertrages und des mit dem
Betreffenden abgeschlossenen Anstellungsvertrages dieser alleinvertretungsberechtigt und
von den Beschränkungen des § 181 BGB befreiter Geschäftsführer ist. Im Hinblick auf eine
derart beherrschende Stellung im Betrieb und den Einfluss auf die Geschäftsführung kann
unter diesen Voraussetzungen nicht von einer abhängigen, unselbstständigen Beschäftigung
ausgegangen werden.151
Soweit in der Rechtsprechung für die Aufnahme einer selbstständigen Erwerbstätigkeit die
Beherrschung der deutschen Sprache gefordert wird,152 ist dem entgegen zu halten, dass im
Unionsrecht jede Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit (Art. 18 Abs. 1
AEUV)153 und aufgrund der Sprache (Art. 21 Abs. 1 GRCh in Verb. mit Art. 6 Abs. 3 EUV)
verboten ist. Im Übrigen sind Unternehmen überwiegend im internationalen Handel tätig und
kommt es daher insbesondere auf die Beherrschung der englischen Sprache an. Es ist allein
Sache der Unternehmen und nicht der prüfenden Ausländerbehörde, zu entscheiden, welche
Sprachkenntnisse sie für selbständige Tätigkeiten voraussetzen.154
2. Durchsetzung der Ausreisepflicht
Visumvorschriften sperren nicht den Zugang von Unionsbürgern zum Hoheitsgebiet der
Mitgliedstaaten.
Allerdings
bedürfen
drittstaatsangehörige
Familienangehörige
des
Unionsbürgers eines Visums nach Maßgabe des EG-VisaVO (vgl. § 2 Abs. 4 Satz 1
151
VGH BW, InfAuslR 1993, 336 (338).
VG Köln, NVwZ-Beil. 2003, 108 (109); VG Berlin, InfAuslR 2003, 217 (219).
153
EuGH, U. v. 23. 5. 1996 – Rs. C-237/94 Rdn. 17 – Flynn.
154
Berühmtes Bespiel: Der Ko-Vorsitzende Anshu Jain der Deutschen Bank beherrschte zur Zeit seiner
Bestellung kein Deutsch und hielt seine Antrittsrede vor der Aktionärsversammlung in Englisch.
152
41
FreizügG/EU). Dabei sind ihnen allerdings zur Erlangung der erforderlichen Sichtvermerke
alle Erleichterungen zu gewähren. Das Visum ist entsprechend dem bestehenden
Rechtsanspruch unverzüglich und nach Möglichkeit an den Einreisestellen in das nationale
Hoheitsgebiet zu erteilen.155 Dementsprechend darf der Zugang zum Hoheitsgebiet nicht von
der vorherigen Durchführung des Visumverfahrens abhängig gemacht werden.156 Der Verstoß
gegen Einreisevorschriften ist mangels gesetzlicher Vorschriften weder strafbar noch
ordnungswidrig.157 Es ist ferner unzulässig, die Einreise allein unter Hinweis auf eine
vorhandene Eintragung im SIS zu verweigern. Vielmehr sind die Mitgliedstaaten verpflichtet,
unionsrechtlich begünstigte Personen nur dann zur Einreiseverweigerung auszuschreiben,
wenn eine tatsächliche und hinreichend schwere Gefährdung vorliegt, die ein Grundinteresse
der Gesellschaft berührt.158 Unter diesen Umständen stellt die Aufnahme eines mit einem
Unionsbürger verheirateten Drittstaatsangehörigen in das SIS zwar ein Indiz für das Vorliegen
eines Grundes dar, der es rechtfertigt, ihm die Einreise in den Schengenraum zu verweigern.
Dieses Indiz muss jedoch durch Informationen erhärtet werden, anhand deren der das SIS
konsultierende Mitgliedstaat vor einer Einreiseverweigerung feststellen kann, dass die
unionsrechtlichen
Voraussetzungen
für
die
Einreiseverweigerung
vorliegen.
Beim
Grenzübertritt sind entsprechend Nr. 2.2.1 des SIRENE-Handbuchs die erforderlichen
Informationen innerhalb einer Frist von maximal zwölf Stunden zu liefern.159
Ist der Unionsbürger nicht in der Lage, nachzuweisen, dass die Voraussetzungen des
Freizügigkeitsrechts erfüllt sind, kann seine Abschiebung angeordnet werden.160 Die
Abschiebung eines Unionsbürgers oder seines drittstaatsangehörigen Familienangehörigen
setzt jedoch eine behördliche Feststellung über das Nichtbestehen des Freizügigkeitsrechts
voraus. dies auch dann, wenn dieses Recht von vornherein nicht bestanden hat. Die
Nichterfüllung der Bedingungen und Beschränkungen des Freizügigkeitsrechts führt
unmittelbar zum Nichtbestehen des aus Art. 21 AEUV folgenden Aufenthaltsrechts. Legt der
Betroffene gegen die Feststellung nach § 2 Abs. 4 FreizügG/EU Widerspruch und Klage ein,
EuGH, InfAuslR 2002, 417 (420 ff.) – MRAX.; Welte, ZAR 2009, 61 (62); s. im Einzelnen hierzu Marx,
Aufenthalts-, Asyl- und Flüchtlingsrecht in der anwaltlichen Praxis, 4. Aufl., 2011, S. 390 ff..
156
EuGH, InfAuslR 2005, 229 (230) = EZAR 14 Nr. 2 – Kommission gegen Spanien; Winkelmann, InfAuslR
2009, 45 (46); Welte, ZAR 2009, 61 (62).
157
Winkelmann, InfAuslR 2009, 45 (46).
158
EuGH, EZAR 14 Nr. 4 – Kommission gegen Spanien.
159
EuGH, EZAR 14 Nr. 4 – Kommission gegen Spanien.
160
EuGH, InfAuslR 2005, 126 (130) – Oulane, für Dienstleistungsfreiheit.
155
42
haben diese aufschiebende Wirkung (Art. 15 Abs. 1 in Verb. mit Art. Art. 31 Abs. 2 RL
2004/38/EG). § 84 Abs. 1 AufenthG ist deshalb nicht anwendbar (§ 11 Abs. 2 FreizügG/EU).
Es bedarf daher nicht der Einholung einer Stillhaltezusage. Vielmehr ist der Aufenthalt
während des Eilrechtsschutzverfahrens kraft Unionsrechts gestattet. Ihm ist keine Duldung,
sondern eine entsprechende Bescheinigung sui generis auszustellen.161 Nach erfolglosem
Eilrechtsschutzverfahren darf die Abschiebung jedoch durchgesetzt werden. Da die
Abschiebung die Anwendung des AufenthG zur Voraussetzung hat, muss zunächst die nach
§ 11
Abs. 2
FreizügG/EU
erforderliche
Feststellung
des
Nichtbestehens
des
Freizügigkeitsrechts (§ 5 Abs. 4 FreizügG/EU eindeutig und rechtsförmig getroffen
werden.162
Das Einreiseverbot des § 7 Abs. 2 FreizügG/EU findet keine Anwendung, da dieses allein an
die Verlustfeststellung nach § 6 FreizügG/EU anknüpft. Die Abschiebung als solche
begründet also kein Einreiseverbot. Dies wäre auch mit Unionsrecht unvereinbar, weil nur aus
Gründen der öffentlichen Ordnung oder Sicherheit ein Einreiseverbot verhängt werden kann
(Art. 32 Abs. 1 RL 2004/38/EG), bei der Feststellung nach § 5 Abs. 4 FreizügG/EU geht es
jedoch nicht um eine Beschränkung der Grundfreiheit, sondern um die Feststellung, dass
diese im konkreten Einzelfall nicht besteht.
161
162
VG Sigmaringen, ZAR 2007, 108; VG Bremen, AuAS 2013, 230.
OVG Hamburg, NVwZ-RR 2008, 728 (729).
43
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