RiBVerwG Helmut Petz Wintersemester 2009/10 Vorlesung UMWELT- UND PLANUNGSRECHT A. GRUNDLAGEN DES UMWELTRECHTS I. EINFÜHRUNG 1. Probleme des Umweltschutzes "Schicksalsfrage der Menschheit" (Breuer, 1981) Bestandsaufnahme: früher: Beeinträchtigung einzelner Umweltmedien; heute: nachhaltige Beeinträchtigung sämtlicher Umweltmedien früher: singuläre Störfälle; heute: Globalisierung der Umweltbeeinträchtigung (z.B. Ozonschicht; Klimawandel); Akteure und Wirkungen überschreiben nationalstaatlichen Aktionsraum komplexe Wirkungsgefüge; bewirken einerseits bis zu einem gewissen Grad Kompensation von Umweltbeeinträchtigungen; aber drohender und kaum kalkulierbarer "point of no return" Wirkungen ganz überwiegend anthropogen Moderner Umweltschutz: Übergang von punktueller Schadensabwehr zu Umweltpflege und -vorsorge wesentlicher Impuls: Umweltprogramm der Bundesregierung 1971; Def. Umweltpolitik:= Gesamtheit aller Maßnahmen, die notwendig sind, um dem Menschen eine Umwelt zu sichern, die er für seine Gesundheit und ein menschenwürdiges Dasein braucht 2 um Boden, Luft und Wasser, Pflanzen- und Tierwelt vor nachteiligen Wirkungen menschlicher Eingriffe zu schützen und um Schäden oder Nachteile aus menschlichen Eingriffen zu beseitigen punktuelle Erfolge (z.B. Schwefeldioxid, Ozon) werden aber durch vermehrte Inanspruchnahme von Umweltgütern (Steigerung von Produktion und Verkehr) häufig wieder zunichte gemacht; deshalb Globalisierung des Umweltschutzes, z.B. bei CO2-Ausstoß und Klimaschutz (als Reaktion auf Globalisierung der beeinträchtigenden Akteure und Wirkungen) Wahrnehmung des Umweltschutzes als Querschnittsaufgabe (berührt nahezu alle Lebensbereiche) 2. Begriff und Struktur des Umweltrechts im Rechtsstaat verwirklicht sich staatlicher Umweltschutz im Recht; a) Umweltgesetzgebung entsprechend der Querschnittsaufgabe Umweltschutz sind unweltrechtliche Regelungen grundsätzlich über die gesamte Rechtsordnung verteilt: primär öffentliches Umweltrecht Umweltordnungsrecht: Recht der Abwehr von Gefahren und der Vorsorge gegen Risiken im Umweltbereich (historische Genese des Umweltrechts; überwiegt auch jetzt noch bei Weitem) Umweltplanungsrecht: Bewältigung komplexer Umweltprobleme (z.B. Luftreinhaltepläne, § 47 BImSchG; Lärmminderungsplanung, §§ 47a ff. BImSchG) aber auch Umweltprivatrecht (z.B. §§ 906, 1004 BGB, Umwelthaftungsrecht) und Umweltstrafrecht (z.B. §§ 324 bis 330 d StGB) 3 Einteilung des öffentlichen Umweltrechts: Umweltrecht i.e.S.: allgemeines Umweltrecht: Umweltverfahrensrecht (vgl. hierzu den allgemeinen Teil des – gescheiterten – UGB) und sonstige allgemeine Regelungen (z.B. UIG, UVPG, UStatG) besonderes Umweltrecht: umweltspezifisches materielles Recht; dient ausschließlich oder hauptsächlich dem Schutz der Umweltmedien (z.B. Naturschutzrecht, Immissionsschutzrecht, Atomrecht, Bodenschutzrecht, Gewässerschutzrecht, Abfallrecht, Gentechnikrecht) Umweltrecht i.w.S.: problembezogene Querschnittsregelungen; über die gesamte Rechtsordnung verteilt; insbesondere in Gesetzen, die zwar nicht in erster Linie dem Umweltschutz dienen, aber in hohem Maße umweltrelevant sind (z.B. § 1a, § 2 Abs. 4 BauGB, § 9 ROG) II. VERFASSUNGSRECHTLICHE GRUNDLAGEN 2. Überblick vor Schaffung der Staatszielbestimmung Umweltschutz: keine unmittelbaren Umweltschutzpostulate im GG; auch aus dem Rechtsstaatsprinzip (einschließlich der Grundrechte), dem Demokratieprinzip und dem Sozialstaatsprinzip lassen sich keine ummittelbaren Umweltschutzpostulate ableiten; insbesondere das Rechtsstaats- und das Demokratieprinzip errichten formelle und materielle Rechtfertigungsschranken für staatliches Handeln Freiheitssicherung: öffentlich-rechtliche Beschränkungen der Handlungsfreiheit des Bürgers formell (Vorbehalt des Gesetzes; Kompetenzen) und materiell (Grundrechte) rechtfertigungsbedürftig Binnenausgleich in der freien Gesellschaft durch Gewährleistung eines Handlungsrahmens (gesetzliche Schädigungsverbote, z.B. im Strafrecht und nach §§ 823 ff., 1004 BGB) 4 Probleme: Umweltgefährdungen nicht in erster Linie durch den Staat, sondern durch Private (z.B. CO2-Ausstoß durch industrielle Produktion und Verkehr) Freiheitssicherung auch im Bereich der Umweltbelastung und des Umweltverbrauchs Umweltgüter (Luft, Wasser, Boden, Rohstoffe etc.) nur teilweise privat zugeordnet; Binnenausgleich in der freien Gesellschaft funktioniert deshalb im bei der Umweltbeeinträchtigung und beim Umweltverbrauch nur sehr eingeschränkt grundsätzlich unbeschränkter privater Zugriff auf die Umweltgüter "verantwortlicher (d.h. in unserem Zusammenhang: auch umweltschonender) Freiheitsgebrauch" als unmittelbares verfassungsrechtliches Postulat ist unserem Verfassungsverständnis grundsätzlich fremd 3. Grundrechte "materieller Dreh- und Angelpunkt des freiheitlichen Rechtsstaats" a) Eingriffsabwehr ("Status negativus") aa) Abwehr von Umweltbelastungen durch den Bürger Umweltbelastung unmittelbar durch den Staat (Straßen- und Flughafenbau; umweltbelastende öffentliche Einrichtungen wie Müllverbrennungsanlagen etc.) Probleme: nur subjektiver Individualrechtsschutz: kein Abwehrrecht ohne Rechtsbeeinträchtigung Relevanzschwelle: unzumutbare individuelle Betroffenheit (z.B. durch Lärmbeeinträchtigungen) muss nachgewiesen werden 5 private Unweltbelastung auf der Grundlage staatlicher Genehmigungen Probleme: Zurechenbarkeit: o im Atomrecht anerkannt (Mühlheim-Kährlich, BVerfGE 53, 30 <59>) o desgleichen bei rechtswidrigen Genehmigungen (rechtswidrige Genehmigung kann durch Bürger, die hierdurch in subjektiven Rechten betroffen sind, abgewehrt werden) o i.Ü. schwierig ("Stellvertreter-Gefechte"<siehe objektiv-rechtliche Funktion der Grundrechte>) auch hier nur subjektiver Individualrechtsschutz auch hier Relevanzschwelle Umweltbelastungen ohne staatliche Mitwirkung Probleme: keine unmittelbare Drittwirkung der Grundrechte; kann deshalb nur abgewehrt werden, wenn Fehlverhalten des Staates (z.B. indem er eine verfassungsrechtlich gebotene präventive Prüfung in einem Genehmigungsverfahren nicht gesetzlich angeordnet hat <siehe objektivrechtliche Funktion der Grundrechte>) auch hier nur subjektiver Individualrechtsschutz auch hier Relevanzschwelle b) Objektiv-rechtliche Funktion der Grundrechte Grundrechte sind nicht nur subjektive Abwehrrechte, sondern auch objektivrechtliche Wertentscheidungen der Verfassung; begründen auch staatliche Schutzpflichten und einen Anspruch des Bürgers auf Grundrechtsschutz durch Verfahren (vgl. z.B. Pieroth/Schlink, Grundrechte Staatsrecht II, Rn 76) 6 aa) Staatliche Schutzpflichten Probleme: Verletzung, "wenn staatliche Organe gänzlich untätig geblieben oder die getroffenen Maßnahmen evident unzureichend sind" (BVerfGE 79, 174 <201 f.>); weiter fachlich-politischer Bewertungs- und Handlungsspielraum des Staates nur wenige reale Konstellationen im Umweltbereich, in der sich die objektiven Schutzpflichten des Staates zu einem subjektiven Anspruch auf staatliches Handeln verdichten (z.B. Mobilfunk) bb) Grundrechtsschutz durch Verfahren Probleme: Beteiligungsrechte reichen nicht weiter als materielle Rechtsposition "Aufladung" einfachrechtlich geschaffener Beteiligungsrechte zu Mitwirkungspflichten mit Präklusionswirkung 4. Rechtsstaatsprinzip Probleme: Vorbehalt des Gesetzes: Verpflichtung des Gesetzgebers, alles Wesentliche selbst zu regeln, verhindert rasche Reaktion auf akute Umweltprobleme Kompetenzen: im Bereich des Umweltrechts zersplittert (durch Föderalismusreform I etwas abgemildert) Vertrauensschutz: Rückwirkungsverbot etc. insgesamt katechontische Wirkungen des freiheitssichernden Instrumentariums 5. Demokratieprinzip <siehe Vorbehalt des Gesetzes> 7 Zusammenfassung der Probleme: Abwehr staatlicher Umweltbeeinträchtigungen: nicht Problemschwerpunkt im Bereich der Umweltbeeinträchtigungen Einforderung umweltschützender Aktivitäten des Staates o staatliche Schutzpflichten verschaffen dem Bürger in der Regel keine subjektive Rechtsposition zur Einforderung umweltschützender Aktivitäten des Staates o umgekehrt erprobtes und effizientes freiheitssicherndes Instrumentarium (Status negativus der Grundrechte) zur Abwehr umweltschützender, aber freiheitsbeeinträchtigender Aktivitäten des Staates kein verfassungsunmittelbares Korrektiv im Sinne eines "verantwortlichen Freiheitsgebrauchs" im Bereich des Umweltschutzes 6. Staatszielbestimmung Umweltschutz, Art. 20a GG durch Gesetz vom 27.10.1994 (BGBl. I S. 3146) in das GG aufgenommen; in Kraft getreten am 15.11.1994 Rechtsnatur: objektiv-rechtliche Staatszielbestimmung kein subjektiv-öffentliches Recht des Bürgers kein absoluter Vorrang des Umweltschutzes Schutzgut: natürliche Lebensgrundlagen (deshalb ist die Bezeichnung "Staatsziel Umweltschutz", die sich mittlerweile eingebürgert hat, nicht ganz präzise) und Tierwelt auch menschlich gestaltete Umwelt ("Kulturlandschaft") anthropozentrische Konzeption (allerdings nicht im Sinne einer schlichten humanen Nutzenkalkulation) Konzeption der Nachhaltigkeit ("… auch in Verantwortung für die künftigen Generationen …") 8 Relevanz: Verfassungsauftrag dient der Rechtfertigung umweltschützender Aktivitäten des Gesetzgebers (insbesondere auch im Bereich vorbehaltslos gewährleisteter Grundrechte) Leitlinie für Verwaltung (insbesondere bei der Ermessensbetätigung) und Rechtsprechung (insbesondere bei der Auslegung unbestimmter Rechtsbegriffe) 7. Föderale Kompetenzordnung a) Umweltgesetzgebung früher: uneinheitliche Kompetenzgrundlagen für den Bereich des Umweltrechts (insbesondere Rahmengesetzgebungskompetenz des Bundes im Naturschutz- und Wasserrecht; im Übrigen Gesetzgebungskompetenzen sowohl des Bundes als auch der Länder für einzelne Umweltrechtsbereiche); deshalb erhebliche Schwierigkeiten bei der Gesetzgebung hinsichtlich einzelner Materien (Bodenschutzgesetz; einheitliches Umweltverwaltungsverfahren etc.) als auch bei der Schaffung eines einheitlichen UGB; überdies Erforderlichkeitsklausel des Art. 72 Abs. 2 GG nach der Rspr. des BVerfG (E 106, 62/135 ff., 144 – AltenpflegeG; E 111, 226/253 ff. – Juniorprofessur) sehr hohe Hürde für Bundesgesetzgeber Föderalismusreform I: zwar nicht Einführung eines einheitlichen Kompetenztitels "Recht der Umwelt"; aber jedenfalls deutliche Konzentration der Kompetenzen beim Bund (alle Kernkompetenzen im Bereich des Umweltschutzes in der Gesetzgebungszuständigkeit des Bundes, zumeist als konkurrierende Kompetenz); Erforderlichkeitsklausel im Umweltrecht ganz überwiegend nicht mehr anwendbar, Art. 72 Abs. 2 GG Abweichungsgesetzgebung der Länder im Bereich der bisherigen Rahmengesetzgebungskompetenz ("kompetitiver Föderalismus") 9 Überblick über die Gesetzgebungskompetenzen im Bereich des Umweltrechts: ausschließliche Gesetzgebungskompetenz des Bundes: im wesentlichen nur Atomrecht, Art. 73 Abs. 1 Nr. 14 GG konkurrierende Gesetzgebungskompetenz des Bundes: wichtigste Materien: Art. 74 Abs. 1 Nr. 11 GG: Recht der Wirtschaft (z.B. EnEG) Art. 74 Abs. 1 Nr. 18 GG: Bodenrecht (BauGB) Art. 74 Abs. 1 Nr. 20 GG: Lebensmittel- und Tierschutzrecht Art. 74 Abs. 1 Nr. 21GG: Wasserstraßen Art. 74 Abs. 1 Nr. 22 GG: Straßenverkehr Art. 74 Abs. 1 Nr. 23 GG: Schienenbahnen Art. 74 Abs. 1 Nr. 24 GG: Abfallbeseitigung, Luftverschmutzung und Lärmbekämpfung (insbesondere BImSchG) Art. 74 Abs. 1 Nr. 29 GG: Naturschutz und Landschaftspflege (BNatSchG) Art. 74 Abs. 1 Nr. 31 GG: Raumordnung (ROG) Art. 74 Abs. 1 Nr. 32 GG: Wasserhaushalt (WHG) 3 Varianten: Kernkompetenz des Bundes: konkurrierende Gesetzgebungskompetenz ohne Erforderlichkeitsschranke und ohne Abweichungskompetenz der Länder (z.B. Art. 74 Abs. 1 Nr. 18, 24 GG) Erforderlichkeitskompetenz des Bundes: konkurrierende Gesetzgebungskompetenz mit Erforderlichkeitsschranke (z.B. Art. 74 Abs. 1 Nr. 11, 20, 22 GG) Abweichungskompetenz: konkurrierende Gesetzgebung des Bundes ohne Erforderlichkeitsschranke, aber mit begrenzter Abweichungskompetenz der Länder (z.B. Art. 74 Abs. 1 Nr. 29 GG: abweichende Rege- 10 lungen über den Naturschutz ohne die allgemeinen Grundsätze des Naturschutzes; z.B. Art. 74 Abs. 1 Nr. 32 GG: abweichende Regelungen über den Wasserhaushalt ohne stoff- oder anlagenbezogene Regelungen; Abgrenzungsprobleme ( strittig ist z.B., ob die naturschutzrechtliche Eingriffsregelung noch zu Grundsätzen des Naturschutzrechts gehört) konkurrierende Gesetzgebung des Bundes ohne Erforderlichkeitsschranke, aber mit unbegrenzter Abweichungskompetenz der Länder (z.B. Art. 74 Abs. 1 Nr. 31 GG) ausschließliche Gesetzgebungskompetenz der Länder: nur noch bei verhaltensbezogenem Lärm (siehe Art. 74 Abs. 1 Nr. 24 GG), im Fischereirecht sowie im - subsidiär anzuwendenden - Polizei- und Sicherheitsrecht Übergangsvorschrift Art. 125b GG (insb. Abs. 1 Satz 2); Zweck: ungestörte Erarbeitung UGB b) Umweltverwaltung Vollzugszuständigkeit der Länder in nahezu sämtlichen Bereichen des Umweltrechts: Vollzug der Landesgesetz und nicht gesetzesakzessorischer Verwaltungsvollzug, Art. 30 GG: z.B. BayImSchG Vollzug der Bundesgesetze als eigene Angelegenheiten (Landeseigenverwaltung, Art. 83, 84 GG); Bund kann Behördeneinrichtung und Verwaltungsverfahren regeln oder selbst Verwaltungsvorschriften erlassen, Art. 84 Abs. 1 und 2 GG; Regelung bedarf aber nicht mehr der Zustimmung des Bundesrats; dafür Abweichungskompetenz der Länder; Umweltverfahrensrecht fällt unter Art. 84 Abs. 1 Satz 5 und 6 GG und ist deshalb abweichungsfest Vollzug der Bundesgesetze im Auftrag des Bundes (Bundesauftragsverwaltung, Art. 85 GG): z.B. Kernenergieverwaltung, Art. 87c GG Bundeseigene Verwaltung: im wesentlichen nur Verwaltung der Bundeswasserstraßen, Art. 87 Abs. 1 Satz 1, Art. 89 GG