Jean-Baptiste Lully – Armide

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Repertorium zur Vorlesung
Musikgeschichte von der frühen Neuzeit
bis zur Aufklärung
Oper und Oratorium
von
ca. 1600 bis 1800
Tragédie lyrique
„Quinault hat ein drittes
Genre von Bühnenstück
erfunden, er hat wirklich
Opern geschrieben.“
Jean Jacques Rousseau,
Brief über die ital. und franz. Oper, 1750
Rousseau über die Oper
Die Gesetze der Oper „müssen
außer den allgemeinen Regeln des
Theaters andere enthalten, die allein
für diese Art Bühnenstück gelten;
denn da die Musik ihm Einzigartigkeit
und Außergewöhnlichkeit verleiht,
muss sich das Textbuch ihr
anpassen und mit ihr
korrespondieren.“
Rousseau über die Oper
„Man muss zugeben, dass die Texte der
italienischen Oper viel weniger taugen
als die der unseren, und zwar sogar
deshalb, weil sie besser und
vernünftiger sind.“
„Menschen – und besonders Helden –
sprechen nicht in Versen, auch
rechtfertigen sie keineswegs durch
große Worte die Dummheiten, die die
Liebe sie begehen lässt.“
Rousseau über die Oper
In der Oper „kann man sich nicht
vorstellen, dass zwei Personen, wenn
sie singen, sich auf natürliche Weise
unterhalten und dergestalt eine oft sehr
ernste Unterhaltung führen.
Das gilt umso mehr, je ernster und
ungewöhnlicher der Gegenstand ist.
... Genau da liegt die Schwäche der
italienischen Oper.“
Rousseau über die Oper
„Ihre Stoffe [der ital. Oper] mögen
gut gewählt sein, taugen jedoch
nicht für die Oper, weil sie der
Geschichte bedeutende Ereignisse
entlehnt haben, statt sich an das
Wunderbare zu halten, was
Legenden und Sagen bieten.“
Rousseau über die Oper
Vielmehr sollte man die Zuschauer in
ein Zauberreich entführen und sie mit
Überraschungswirkungen und
Wunderdingen täuschen,
„weil sie inmitten außergewöhnlicher
Erscheinungen weniger überrascht sein
werden, wenn gesungen wird, wo man
eigentlich spricht, und getanzt, wo man
zu gehen pflegt.“
Rousseau über die Oper
- Die Oper ist kein vertontes
Sprechtheater, sondern eine Gattung
eigener Art
- Ob ein – oder sogar derselbe – Text
deklamiert oder gesungen wird, ist ein
kategorialer Unterschied
- Nicht jedes Sujet taugt daher zur Oper
- So klingt ein ernsthafter Diskurs
zwischen Staatsmann und Militär über
Krieg und Frieden in gesungener Form
albern
Rousseau über die Oper
- Die Musik erhebt den gesungenen Text
über die Sphäre des Alltagsdiskurses
- Daher können auch das Alltägliche
oder ernsthafte Angelegenheiten nicht
in der Oper verhandelt werden
- Der Fehler der Italiener liegt darin, dass
sie tatsächlich Tragödien komponieren
- Besser eignet sich hingegen das
„Wunderbare“, an das sich Quinault
hält.
Philippe Quinault,
Jean-Baptiste
Lully und Jean
Jacques Rousseau
Philippe Quinault
- geb. 3. Juni 1635 in Paris
- gest. 26. November 1688 ebd.
- Erster Erfolg mit 18 Jahren und der
Komödie Les Rivales.
- 1660 Heirat mit einer reichen Witwe
- dichtete 16 Opern, 4 Komödien,
7 Tragikkomödien, 4 Tragödien
- Intensive Zusammenarbeit mit JeanBaptiste Lully bis zu dessen Tod
- 29. Fauteuil der Académie française
Jean-Baptiste Lully
- geb. 28. November 1632 in Florenz als
Giovanni Battista Lulli
- gest. 22. März 1687 in Paris
- 1646 kam der komödiantisch begabte
Lully durch den Chevalier de Guise
Roger de Lorraine nach Paris
- Dienstknabe im Palais des Tuileries
- Ausbildung zum Ballettänzer
- Protégée von Louis XIV.
Jean-Baptiste Lully
- 1657 Durchbruch als Komponist mit
Amour malade
- Bedeutend als Ballett-Komponist, Louis
XIV. trat mehrfach als Tänzer in der
Rolle des Apollo auf
- 1660/61 düpiert Lully Francesco Cavalli
anlässlich der Hochzeit Louis XIV.
- Durch geschicktes Intrigieren
Monopolist der Tragédie lyrique von
1672-1685
Jean-Baptiste Lully
- Zusammenarbeit mit Molière
- 1685 fällt Lully auf Betreiben von Mme.
Maintenon aufgrund seiner
Homosexualität in Ungnade
- 1686 Uraufführung der Armide
- 1687 Te Deum zur Genesung des
Königs
- Lully trifft mit dem Taktstock seinen Fuß
- Er verweigert die Amputation seines
Zehs und stirbt an einer Infektion
Tragédie lyrique
Merkmale
- Prolog und 5 Akte
- Libretto sollte vorbildliches,
tugendhaftes Verhalten darstellen
- reiche musikalische Formenvielfalt:
Rezitativ / Monolog
Air / Vaudeville
Ensemble / Chor
Ritournelles, Symphonies
Préludes etc.
Tragédie lyrique
- Die Rezitative sind penibel durch
wechselnde Taktarten geordnet
- Nicht umsonst waren den hommes de
lettre die italienischen Rezitative suspekt
- Divertissements mit Ballett (aus dem
Comédie-ballett) und Chor
- Die Divertissements (Ballett etc.) sollten
organisch aus der Handlung erwachsen
- Sänger/Schauspieler, Musik, Ballett und
Bühnenbild bilden eine Einheit
Tragédie lyrique
„Die Tragédie lyrique ist
kompositionstechnisch und in ihrem
ästhetischen Anspruch mit der
Komposition einer Symphonie in der
Beethovenzeit zu vergleichen.“
Herbert Schneider, in MGG2
Tragédie lyrique
Weitere typische Merkmale
- Französische Ouverture mit ihren
markanten punktierten Rhythmen
- und der Folge langsam-schnelllangsam (umgekehrt in Italien)
- Fünfstimmiger Orchestersatz
- Fünfstimmiger Chorsatz
- Die nicht notierten notes inégales
Jean-Baptiste Lully – Armide
Nicolas Poussin
(1594-1665),
Renaud et
Armide, 1629
Jean-Baptiste Lully – Armide
Libretto: Phillippe Quinault
Uraufführung: 15. Februar 1686
Paris, Accadémie Royale de Musique
Prolog und fünf Akte
Jean-Baptiste Lully – Armide
La Gloire / Der Ruhm (Prologue)
La Sagesse / Die Weisheit (Prologue)
Armide – Zauberin, Nicht von Hidraot
Phénice & Sidonie – Vertraute Armides
Hidraot – Zauberer, König von Damaskus
Renaud, Ubalde, Artemidore – christliche Ritter
Le Chevalier Danois – der dänische Ritter
Lucinde & Melisse – Geliebte Ubalds und des
Dänen
La Haine – Un Amant Fortune – Une Bergere
heroique – Une Naiade
Jean-Baptiste Lully – Armide
Prolog - Weisheit & Ruhm besingen d. Schwachheit d. Liebe
I Armides Sieg über das christl. Heer wird gefeiert. Nur
Renaud blieb unbesiegt
II Renaud geht Armide in die Falle. Anstatt ihn zu töten,
verliebt sie sich und entführt ihn
III Armide weiß, dass Renaud sie nur aufgrund ihrer
Zauberei liebt. Sie befiehlt dem Hass, ihre Liebe aus
ihrem Herzen zu reißen, schreckt jedoch im letzten
Moment davor zurück.
IV Ubald & Dänenritter suchen Renaud
V Renaud in der Obhut der Lüste wird von den Rittern
befreit. Armide entflieht besiegt.
Jean-Baptiste Lully – Armide
Hörbeispiel
Prologue
La Gloire, la Sagesse
et leurs Suites
Jean-Baptiste Lully – Armide
Beispiel: II. Akt, Szenen 3-5
Unmittelbare Vorgeschichte
Armide und ihr Onkel Hidraot locken
Renaud an einen zauberhaften Ort,
damit Armide Renaud töten kann
Szene 3
Renaud ist von der Flusslandschaft
bezaubert, besingt ihre Schönheit und
schläft ein.
Jean-Baptiste Lully – Armide
Szene 4
Als Nymphen und SchäferInnen
verkleidete Dämonen entsteigen dem
Fluss und verzaubern Renaud: In der
Liebe liegt das wahre Glück der Jugend
Szene 5
Armide erscheint mit einem Speer, um
Renaud zu töten, verliebt sich jedoch in
ihn. Dämonen tragen beide mit sich
fort.
Jean-Baptiste Lully – Armide
- Das Prélude unterstreicht die
zauberhafte Szene am Fluss
- Renaud singt seine „Air“ in das Prélude
„hinein“, er ist also schon vollkommen
vom Zauber umfangen
- Der schlafende Renaud gibt den Anlass
zum Auftritt der verkleideten Dämonen
- Ihr Auftritt bietet eine Gelegenheit zu
prachtvoller Bühnendarstellung
Jean-Baptiste Lully – Armide
- Raum für schauspielerische Effekte
bieten vor allem die ausführlichen
Instrumentalteile
- Zugleich bereitet der Auftritt der
Dämonen inhaltlich das Thema „Liebe“
vor
- Armides Auftritt beginnt mit einem
dramatischen Prélude
- Dann folgen Récitatif und Air
Jean-Baptiste Lully – Armide
Pastorale Merkmale des Prélude
- Dreiertakt = 6/8 -> Pastorale
- Weitgehend Sekundschritte, kaum
Sprünge
- Vielfach Führung zweier Stimmen in
Sexten oder Terzen
- Durchlaufender Puls ohne wirkliche
Haltepunkte
- g-Moll
- Violinen mit Dämpfer, Oberst. + Flöten
Jean-Baptiste Lully – Armide
- Die Textvertonung ist durchweg
syllabisch
- Der Rhythmus weitgehend dem
französischen Sprachrhythmus
angepasst
- Bisweilen auch den Textinhalt
unterstreichend: T. 26 „Ce Fleuve
coule“; T. 48 „Non“; T. 54ff „Un son
harmonieux“ etc.
- Jeder Vers ist individuell vertont
Jean-Baptiste Lully – Armide
- In der aufgrund des dämonischen
Hintergrunds eigentlich pervertierten
Schäferszene verwendet Lully
dieselben Mittel wie in Szene 3
- Vielleicht weist das g-Moll auf die
Perversion der Schäferszene hin, die
eher in F-Dur stehen müsste
Jean-Baptiste Lully – Armide
- Armides Auftritt wird mit einem
ouvertürenartigen Prélude eröffnet
- Die scharfen Punktierungen evozieren
Dramatik und Gefahr
- Die Streicher spielen nun ohne Dämpfer
- Auch das Récitatif der T. 20ff orientiert
sich sehr genau an Rhythmus und
bisweilen am Sprachfall des Französ.
(z.B. „ce superbe Vainqueur“)
Jean-Baptiste Lully – Armide
- Lully erreicht dies durch kleinräumigen
Wechsel der Taktarten von 3 zu C / 2
- Dramatik erreicht Lully durch die
Erhöhung der Deklamationsgeschwindigkeit (16tel) und durch Punktierungen
- Die verzweifelten Rufe der T. 32ff sind
sinnfällig als einzeln stehende Partikel
komponiert
- Die Air der Armide ist in einfacher
Strophenform komponiert
Jean-Baptiste Lully – Armide
Die Szenen der Tragédie lyrique sind
als weitgehend zusammenhängende
bzw. musikalisch und dramaturgisch
durchgestaltete Großabschnitte
geschaffen.
Die Vokalvertonung steht im Dienste
der Sprache, ist dieser untergeordnet
Die instrumentalen Elemente sind
deutlich erhöht und dienen der
Vorbereitung bzw. Unterstreichung des
Bühnengeschehens.
Jean-Baptiste Lully – Armide
Gegenüber der Opera seria ist das
musikdramaturgische Konzept der
Tragédie lyrique merklich organischer
und komplexer gestaltet.
Es bezieht genuin auch das Bühnenbild
in die musikdramatische Konzeption mit
ein.
Jean-Baptiste Lully – Armide
In den Vokalteilen ist die Französische
Sprache buchstäblich tonangebend.
Gegenüber den Arien der Opera seria
ist das musikalische Element deutlich
zurückgedrängt und der Sprache völlig
untergeordnet.
Insofern ist hier wirklich von „Tragédie
en musique“ und nicht von Oper zu
sprechen.
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