Beispiel zum Gutachtenstil Prof. Dr. Martin Maties FALL: A nimmt an einer Weinversteigerung teil. Während der Auktionator (V) die Gebote für eine Kiste „Chateau de la Chaize " entgegennimmt, entdeckt K einen Studienkollegen, der gerade durch die Eingangstür kommt und winkt diesem heftig zu. Um so größer ist sein Entsetzen, als ihm der Auktionator daraufhin den Zuschlag in Höhe von 2.000 € erteilt. Ist K zur Zahlung des Kaufpreises verpflichtet? LÖSUNG: (Dies ist keine Musterlösung hinsichtlich Formulierungen und Aufbau, sondern ein gut gangbarer Weg, der schlichtweg anerkannt wird). A. Anspruch des V gem. § 433 II BGB V könnte einen Anspruch auf Zahlung von 2.000 € gegen K gem. § 433 II BGB habe (Obersatz 1. Ebene). I. Kaufvertrag Dies setzt voraus, dass zwischen V und K ein Kaufvertrag geschlossen worden ist (Obersatz 2. Ebene und zugleich Definition 1. Ebene). Ein Vertrag besteht aus zwei korrespondierenden Willenserklärungen, Antrag und Annahme (Definition 2. Ebene). 1. Antrag i.S.d. § 145 BGB Dann müsste in dem Winken des K eine Willenserklärung liegen (Obersatz 3. Ebene). Eine Willenserklärung ist eine auf einen rechtlichen Erfolg gerichtete Willensentäußerung (Definition 3. Ebene). Sie hat somit einen äußeren und inneren Tatbestand, die vorliegen müssen (Obersatz 4. Ebene). a) Äußerer Tatbestand Der äußere Tatbestand einer Willenserklärung liegt (analog § 157 BGB1) vor, wenn sich das Verhalten des Erklärenden für einen objektiven Beobachter als die Äußerung eines Rechtsfolgewillens darstellt (Definition 4. Ebene). Das Heben der Hand in einer Versteigerung gilt als Abgabe eines höheren Gebotes. Ein objektiver Beobachter müsste das Handheben des K als Äußerung eines entsprechenden Rechtswillens auffassen. (Subsumtion 4. Ebene). Mithin liegt der äußere Tatbestand einer Willenserklärung vor (Ergebnis 4. Ebene). b) Innerer Tatbestand Der innere Tatbestand einer Willenserklärung wird traditionell in drei Bestandteile aufgegliedert: den Handlungswillen, das Erklärungsbewusstsein und den Geschäftswillen (auch Definition 4. Ebene). aa) Handlungswille K hat hier bewusst seinem Freund gewunken und wollte dies auch.2 bb) Erklärungsbewusstsein Problematisch3 ist, ob ein Erklärungsbewusstsein erforderlich ist, und sofern eines erforderlich ist, ob der K dieses aufwies (Obersatz 5. Ebene). Das Erklärungsbewusstsein ist das Bewusstsein, irgendetwas Rechtserhebliches zu erklären (Definition 5. Ebene). Vorliegend wollte der K aber nichts Rechtserhebliches erklären, sondern nur soziale Kontakte pflegen (Subsumtion 5. Ebene). Es fehlt somit das Erklärungsbewusstsein (Ergebnis 5. Ebene). Fraglich ist, welche Folge das Fehlen des Erklärungsbewusstseins hat (6. Ebene=Einleitung Meinungsstreit). Dies ist streitig. (1) Willenstheorie 1 Es liegt nur eine analoge Anwendung vor, da § 157 BGB davon ausgeht, dass bereits eine Willenserklärung vorliegt und nur deren inhaltlich Ausgestaltung aus der Sicht eines Dritten verstanden werden soll. Hier geht es aber nicht um die Frage, wie eine Willenserklärung zu verstehen ist, sondern darum, ob überhaupt eine Willenserklärung vorliegt. 2 Der der Handlungswille hier so evident vorliegt, kann man dies ausnahmsweise im Urteilsstil feststellen (Stichwort Schwerpunktsetzung). 3 Wörter wie „Fraglich ist“ oder „Problematisch ist“ markieren häufig Schwerpunkte einer Klausur. Gehen Sie damit sparsam um! 1 Beispiel zum Gutachtenstil Prof. Dr. Martin Maties Nach der sog. Willenstheorie ist das aktuelle Erklärungsbewusstsein notwendiger Bestandteil einer Willenserklärung. Hierfür wird angeführt, dass ansonsten (bei Fehlen) analog § 118 BGB Nichtigkeit anzunehmen sei (Argument, warum die Theorie vertreten wird). Vorliegend fehlte aber das Erklärungsbewusstsein. Mithin fehlte der innere Tatbestand der Willenserklärung (Ergebnis 4. Ebene und zugleich Subsumtion 3. Ebene) und damit eine Willenserklärung (Ergebnis 3. Ebene). [Anm.: Die Willenstheorie würde zugleich eine Haftung gem. § 122 BGB annehmen.] (2) Erklärungstheorie Die Erklärungstheorie geht hingegen von dem Gesichtspunkt des Vertrauensschutzes aus. Dem Erklärenden soll grundsätzlich sein Verhalten als Willenserklärung zugerechnet werden, wenn er bei Anwendung der erforderlichen Sorgfalt hätte erkennen können, dass sein Verhalten von einem objektiven Dritten als Willenserklärung verstanden werden wird. Nach der Erklärungstheorie ist folglich das aktuelle Erklärungsbewusstsein nicht erforderlich, vielmehr reicht ein potentielles Erklärungsbewusstsein. Dies fußt auf der Überlegung, dass der Erklärende hinreichend durch die Möglichkeit der Anfechtung analog § 119 I BGB geschützt würde. Demnach läge der innere Tatbestand der Willenserklärung (Ergebnis 4. Ebene und zugleich Subsumtion 3. Ebene) und damit eine Willenserklärung vor (Ergebnis 3. Ebene). (3) Streitentscheid Da beide Auffassungen zu unterschiedlichen Ergebnissen kommen, ist eine Streitentscheidung erforderlich4. Für die Erklärungstheorie spricht, dass sie dem Prinzip des Vertrauensschutzes Rechnung trägt, zugleich aber auch Ausnahmen bei fehlender Schutzwürdigkeit des Erklärungsempfängers zulässt. Denn es erscheint möglich, dass ein ohne Erklärungsbewusstsein zustande gekommenes Rechtsgeschäft für den Erklärenden günstig ist. Nach der Erklärungstheorie kann er das Geschäft für und gegen sich gelten lassen. Im Fall der Ungünstigkeit kann er anfechten. Nach der Willenstheorie steht ihm dieser Weg nicht offen. Mithin ist der Erklärungstheorie zu folgen. c) Geschäftswille Ein Geschäftswille ist für das Vorliegen einer Willenserklärung nicht erforderlich. Dies ergibt sich bereits aus der Existenz des § 119 BGB, der für die Fälle des fehlenden Geschäftswillens eine Willenserklärung voraussetzt, die dann angefochten werden kann5. d) Zwischenergebnis Es liegt folglich eine Willenserklärung, also ein Antrag vor (Ergebnis 3. Ebene). 2. Annahme Durch den Zuschlag hat der V den Antrag angenommen6. II. Zwischenergebnis Der Antrag und die Annahme decken sich hier inhaltlich (Subsumtion 2.Ebene). Somit liegt ein Kaufvertrag vor (Ergebnis 2. Ebene zugleich Subsumtion Ebene 1). B. Endergebnis Der V hat gegen K einen Anspruch auf Zahlung der 2000 € aus dem Kaufvertrag gem. § 433 II BGB. 4 Falls in einem Fall alle Auffassungen zu gleichen Ergebnissen kommen, muss man den Streit dahinstehen lassen!!! 5 Dies ist ebenfalls Urteilsstil, da unstreitig ein Geschäftswille nicht erforderlich ist und dies keiner weiteren Begründung bedarf als der Anführung des § 119 BGB. 6 Auch hier können und sollten Sie wieder den Urteilsstil verwenden, da die Annahme absolut unproblematisch ist. Es wäre verfehlt, bei diesem einfachen Fall im Gutachtenstil zu formulieren: „Diesen Antrag müsste V angenommen haben. Eine Annahme ist …. Hier hat der V….. Somit hat V den Antrag angenommen.“ 2