FB Gk BGB I (Haberl/Schmid/Dr. Suyr), WS 15/16 FB 4 – Alles Gemüse – Lösung ALLES GEMÜSE: WILLENSERKLÄRUNG, ZUGANG, WIDERRUF LÖSUNG: Vorüberlegung: Aus der Fallfrage 1 geht nicht hervor, welcher Kaufpreis gemeint ist: 200,- € oder 250,- €. Das hängt davon ab, ob ein Kaufvertrag über 200,- € oder 250,- € zustande gekommen ist, oder überhaupt keiner. Sinnvollerweise geht man hier chronologisch vor und überprüft zuerst, ob das erste Angebot wirksam war und angenommen wurde. Erst wenn das zu verneinen ist, stellen sich weitere Fragen. A. Grundfall Anspruch aus § 433 II BGB G könnte gegen E einen Anspruch aus § 433 II BGB auf Bezahlung (und Abnahme der 500 Gemüsekonserven zu einem Preis) von 200,- € haben. Dies setzt einen wirksamen Kaufvertrag zwischen G und E voraus. Ein Kaufvertrag wird durch zwei übereinstimmende Willenserklärungen, Antrag (Angebot) (§ 145 BGB) und Annahme (vgl. § 147 BGB) geschlossen. a) Angebot aa) G könnte durch sein Schreiben vom 2.11. einen wirksamen Antrag formuliert haben. Das Schreiben des G enthält alle vertragswesentlichen Bestandteile (Kaufgegenstand, Kaufpreis) und erfüllt somit den Tatbestand einer Willenserklärung. bb) Die Willenserklärung muss ferner abgegeben und zugegangen sein, § 130 I S. 1 BGB. Eine Willenserklärung ist dann abgegeben, wenn sie willentlich in Richtung auf den Empfänger in Verkehr gebracht wird. Dies ist hier durch Weitergabe des an E adressierten Schreibens zur Post geschehen. cc) Das Angebot muss dem E auch zugegangen sein, § 130 I S. 1 BGB. Eine Willenserklärung geht zu dem Zeitpunkt zu, in dem sie in den Machtbereich des Empfängers gelangt. Das Schreiben wurde in den Briefkasten des E geworfen und ist daher in den Machtbereich des E gelangt. Spätestens mit der tatsächlichen Kenntnisnahme ist das Angebot des G dem E also zugegangen.1 dd) Fraglich ist allerdings, ob das Angebot damit gem. § 130 I S. 1 BGB wirksam geworden ist. Dies wäre nicht der Fall, wenn dem E vorher oder gleichzeitig ein Widerruf der Willenserklärung zugegangen wäre, § 130 I S. 2 BGB. (1) G hat sein Angebot durch den Telefonanruf am 3.11.2005 um 11.05 Uhr widerrufen. (2) Zu diesem Zeitpunkt lag das Schreiben des G bereits im Briefkasten des E. E wusste dies nur nicht, d.h., er hatte keine Kenntnis vom Angebot des G. Fraglich ist damit, ob es für den Zugang der Willenserklärung im Sinne von § 130 I S. 1 BGB auf die potentielle Möglichkeit 1 Hier muss noch nicht geklärt werden, wann genau der Zugang erfolgte. Seite 1 von 2 der Kenntnisnahme (hier wegen der Zugriffsmöglichkeit auf den Briefkasten) ankommt, oder auf die tatsächliche Kenntnisnahme. Gegen das Erfordernis einer tatsächlichen Kenntnisnahme spricht schon der Wortlaut der Vorschrift, der eben nur von „Zugang“ spricht, nicht von Kenntnisnahme, Wahrnehmung oder dergleichen. Hintergrund dieser Formulierung ist der gesetzgeberische Wille, das Risiko von Willenserklärungen unter Abwesenden, das sich durch die nicht- oder nicht rechtzeitige Kenntnisnahme ergibt, angemessen auf die Vertragspartner zu verteilen. Danach soll der Absender das Risiko der Übermittlung der Erklärung bis zu dem Zeitpunkt tragen, zu dem der Empfänger normalerweise Kenntnis nehmen kann. Das ist dann der Fall, wenn das Schreiben so in seinen Machtbereich gelangt, dass er unter normalen Umständen davon Kenntnis nehmen kann. Würde man dagegen auf die tatsächliche Kenntnisnahme abstellen, hätte der Empfänger es in der Hand, den Zugang durch schlichtes Nichtlesen zu vereiteln bzw. bei fristgebundenen Erklärungen selbst über die Einhaltung der Frist zu bestimmen. Vorliegend ist der Brief in den Briefkasten des E gelangt. Der Zugang ist in solchen Fällen zu dem Zeitpunkt anzunehmen, zu dem nach der Verkehrsanschauung mit der nächsten Leerung durch den Empfänger zu rechnen war. Im konkreten Fall wurde der Brief an die Geschäftsadresse des E gesandt. Bei Zustellungen an das Geschäftslokal ist es üblich, dass die während der Geschäftszeit eingehende Post sehr bald, wenn nicht sofort nach Zustellung durchgesehen wird. Deshalb ist in solchen Fällen der Zugangstatbestand schon durch Einwerfen des Briefs in den Briefkasten erfüllt. Anmerkung: Anders aber, wenn der Brief außerhalb der regelmäßigen Geschäftszeit eingeworfen wird. Dann ist üblicherweise erst zu Beginn der Geschäftszeit des nächsten Geschäftstages mit einer Leerung zu rechnen und erst zu diesem Zeitpunkt gilt der Brief als zugegangen. Das Angebot ist dem E deshalb unabhängig von seiner Kenntnis schon um 10.00 Uhr zugegangen. Es kommt auch nicht darauf an, dass E zu diesem Zeitpunkt gar nicht im Geschäft war. Denn die Anwesenheit des E zur üblichen Geschäftszeit ist das, was unter normalen Umständen zu erwarten ist. Wenn E außer Haus ist, so ist dieses Risiko dem Bereich des Empfängers, also dem E zuzurechnen; auf den Zeitpunkt des Zugangs kann dies keine Auswirkungen haben. Selbst wenn man aber der Meinung wäre, dass es erheblich ist, ob E zum Zeitpunkt der Einwurfs zuhause war, so würde sich am Ergebnis nichts ändern, denn E kam jedenfalls 5 Minuten vor dem Telefonanruf nach Hause. Auch nach dieser Ansicht wäre der Brief also vor dem Anruf zugegangen. Da G die Gebundenheit an den Antrag nicht ausgeschlossen hat (z.B. durch die Formulierung © Sandmann/Leisch 99 / Maack/Posselt-Wenzel 02 FB Gk BGB I (Haberl/Schmid/Dr. Suyr), WS 15/16 FB 4 – Alles Gemüse – Lösung „freibleibend“), § 145 BGB, ist das Angebot wirksam; der Widerruf war verspätet. b) Annahme Der Antrag wurde auch rechtzeitig angenommen. Zwar ist § 147 I S. 2 BGB nicht direkt anwendbar, da der Antrag nicht mittels Fernsprecher erfolgte, sondern durch Brief. Das Vertragsangebot war jedoch Gegenstand des Telefonats, so daß nach dem Rechtsgedanken der Norm auch in diesem Fall das Angebot nur sofort angenommen werden kann. Dies ist laut Sachverhalt der Fall; der Antrag ist daher nicht nach § 146 BGB erloschen. c) In der Aussage des G, nunmehr für 0,50 € pro Konservendose liefern zu wollen, liegt ein neuer Antrag des E. Diesen hat G aber nicht angenommen. Ergebnis: Da somit ein Kaufvertrag über die Lieferung von 500 Gemüsekonserven zum Preis von 200,- € zustande gekommen ist, besteht ein Anspruch des G auf Kaufpreiszahlung in besagter Höhe. B. Abwandlung Verzögerungen beim Transport des Briefes sind ein Risiko der Übermittlung und daher vom Erklärenden zu tragen. Das Angebot ist daher erst mit Einwurf in den Briefkasten um 11.20 Uhr zugegangen. Da der Widerruf den E schon vorher erreichte, § 130 I S. 1 BGB, ist das Angebot nicht wirksam geworden und konnte daher auch nicht durch die telefonische Erklärung des E angenommen werden. Das neue Angebot des G zum Abschluss eines Kaufvertrages über die Dosen zum Preis von 250,- € hat E nicht angenommen Ergebnis: G hat keinen Anspruch auf Kaufpreiszahlung, da überhaupt kein Vertrag zustande gekommen ist. Seite 2 von 2 © Sandmann/Leisch 99 / Maack/Posselt-Wenzel 02