NICHTSTÄNDIGER AUSSCHUSS FÜR HUMANGENETIK UND ANDERE NEUE TECHNOLOGIEN DER MODERNEN MEDIZIN ANHÖRUNG am 26. März 2001 Professor Alexandre MAURON Kurzer Lebenslauf Alex Mauron ist außerordentlicher Professor für Bioethik an der medizinischen Fakultät der Universität Genf. Dort unterrichtet er Medizinstudenten in Ethik. Er besitzt einen Doktortitel (Lausanne, 1978) in Molekularbiologie und verfügt über Forschungserfahrung in Molekulargenetik und Neurobiologie. Seit 1988 widmet sich Mauron dem Bereich der Bioethik. Dabei umfassen seine Forschungsinteressen die ethischen Aspekte der Humangenetik (Gentherapie, Diagnostik, soziale Implikationen von Gendaten), den ethischen Stellenwert des menschlichen Embryos, die biologischen Konzepte im Bereich der Ethik, den Bioethikunterricht sowie die klinische Ethik (Sinnlosigkeit, Fragen bezüglich des Lebensendes). Er ist Mitglied der zentralen Ethikkommission der Schweizer Akademie der Medizinwissenschaften, der Eidgenössischen Ethikkommission für die Gentechnik und mehrerer anderer Ethikkommissionen. Mauron hat zahlreiche Arbeiten über die ethischen Aspekte der Genetik und der Reproduktion sowie über die klinische Ethik veröffentlicht. Darüber hinaus war er an der Ausarbeitung von Ethikrichtlinien und anderen Grundsatzdokumenten über verschiedene Aspekte der Bioethik beteiligt. Außerdem schreibt er regelmäßig Beiträge über Bioethik in der französischsprachigen Schweizer Tageszeitung Le Temps. DV/434777DE.doc 1 Postnatale Gentests: Bioethische Auswirkungen für das Individuum und die Gesellschaft. Alex Mauron Sektion für bioethische Forschung und Lehre, Medizinische Fakultät der Universität Genf DV/434777DE.ppt DV/434777DE.doc (Externe Übers.) EU-Parlament, 03/2001 2 1 Slide 2 Ein Drehbuch fürs Nachmittagsfernsehen … (WJ Nowlan, On the Risk 1999, 15/2, 39-46. Derzeit ist ein Test für ein Gen mit dem Namen Apolipoprotein E4 verfügbar, das ein Individuum anfälliger für die Alzheimersche Krankheit und frühe Herzerkrankung macht. Angenommen, ein 30-jähriger Mann namens Bob beantragt eine Lebensversicherung, weil sein Agent behauptet, er bekomme als junger, gesunder Mann die besten Prämien. Leider zeigt der von der Versicherungsgesellschaft durchgeführte Gentest, dass Bob von seinen Eltern eines dieser problematischen E4-Gene geerbt hat. Solche schlechten Nachrichten erhalten 2 Prozent aller Kaukasier. Bob bekommt eine schlechtere Police, und er will wissen, warum. Er erfährt von seinem erhöhten Risiko für frühen Herztod. Bob wird außerdem mitgeteilt, dass er, falls er in dieser Hinsicht verschont bleibt, wahrscheinlich an Alzheimer erkranken wird… DV/434777DE.ppt DV/434777DE.doc (Externe Übers.) EU-Parlament, 03/2001 3 2 Slide 3 Bob akzeptiert zwar die zurückgestufte Police, merkt jedoch plötzlich, dass die Lebensversicherung noch das geringste seiner Probleme darstellt. Er weiss nicht, wie Betty, seine Verlobte, die Neuigkeiten aufnehmen wird. Betty wird ihn vielleicht gar nicht mehr heiraten wollen, wenn sie erfährt, dass er in Zukunft mit einem solchen Risiko leben muss. Ihre zukünftigen Kinder werden ebenso einem Risiko ausgesetzt sein. Bob entscheidet sich dafür, dieses Dilemma mit seinem Vater zu besprechen, der kürzlich ebenfalls eine Lebensversicherung beantragt hat, aber eine reguläre Police erhalten hat. DV/434777DE.ppt DV/434777DE.doc (Externe Übers.) EU-Parlament, 03/2001 4 3 Slide 4 Der Vater besteht darauf, dass ein Fehler passiert sein muss, da in seiner eigenen Familie keine der beiden Krankheiten aufgetreten ist. Bobs Vater will eine Kopie seines eigenen Tests und zur Überraschung aller, außer von Bobs Mutter, hat der Vater nicht ein einziges E4 Gen. Kurz danach lassen sich Bobs Eltern nach 35-jähriger Ehe scheiden. Wegen des vorweggenommenen Risikos verlässt Betty Bob. Der verzweifelte Bob setzt allem ein Ende. Bobs Versicherungsgesellschaft macht die zweijährige Selbstmordausnahme geltend. Die Mutter tritt bei 60 Minutes auf. DV/434777DE.ppt DV/434777DE.doc (Externe Übers.) EU-Parlament, 03/2001 5 4 Slide 5 3 Bereiche ethischer Bedenken Ethik der prädiktiven Tests bei Individuen und Familien Ethik der genetischen Untersuchung Aspekte der sozialen Ethik durch Gentests/Genuntersuchungen DV/434777DE.ppt DV/434777DE.doc (Externe Übers.) EU-Parlament, 03/2001 6 5 Slide 6 Autonomiebasierte Werte sind in der medizinischen Genetik essenziell Freiwillige und informierte Zustimmung Kein persönlicher/gesellschaftlicher Druck Förderung der Fähigkeit, eine autonome Entscheidung zu treffen Priorität der Rechte/Interessen des Einzelnen vor denen des Kollektivs DV/434777DE.ppt DV/434777DE.doc (Externe Übers.) EU-Parlament, 03/2001 7 6 Slide 7 Das Recht zu wissen/nicht zu wissen Das Recht zu wissen: das Recht auf Zugang zu genetischen Dienstleistungen und Informationen Das Recht, nicht zu wissen: Das Recht, von der Durchführung genetischer Tests und von der Mitteilung über die Ergebnisse Abstand zu nehmen DV/434777DE.ppt DV/434777DE.doc (Externe Übers.) EU-Parlament, 03/2001 8 7 Slide 8 Das Recht zu wissen/nicht zu wissen Freiwillige und informierte Zustimmung zur Weitergabe prädiktiver Informationen an institutionelle Dritte Die Zustimmung ist nicht informiert, wenn der Patient sich der Konsequenzen der Informationsweitergabe nicht bewusst ist Die Zustimmung ist nicht freiwillig, wenn eine asymetrische Machtverteilung zwischen Patient und Institution vorliegt (Arbeitgeber, Versicherer einer „essenziellen” Deckung) DV/434777DE.ppt DV/434777DE.doc (Externe Übers.) EU-Parlament, 03/2001 9 8 Slide 9 Einige philosophische Komplikationen... Das Aufkommen der molekularen Medizin und der Gentests ist eine Herausforderung für die derzeitigen Aufassungen von Gesundheit, Krankheit und Normalität. DV/434777DE.ppt DV/434777DE.doc (Externe Übers.) EU-Parlament, 03/2001 10 9 Slide 10 „Reaktive” Medizin -> informative Medizin Von der Medizin als Reaktion auf Krankheit/Unfall... …hin zur Medizin als rationaler, vorausschauender Umgang mit dem „Gesundheitskapital” eines Menschen. Der „neue” Patient soll komplexe Informationen aufnehmen, die nicht direkt mit seinen/ihren gegenwärtigen Symptomen und Erfahrungen zusammenhängen, und er soll darauf reagieren. Dazu gehören genetische Daten über die erbliche Veranlagung eines Einzelnen für eine Erkrankung. Kein direktes Feedback zwischen Krankheit und Behandlung. Genetik und Vererbung sind mit ambivalenten sozialen Vorstellungen besetzt (Unglücksfälle, erbliche Vorbelastung,…). DV/434777DE.ppt DV/434777DE.doc (Externe Übers.) EU-Parlament, 03/2001 11 10 Slide 11 „Das Gen ist zu einer kulturellen Ikone und zu einer biologischen Einheit geworden, deren Interpretation die vorherrschenden Ängste über menschliche Unterschiede und soziale Gefahren wiederspiegelt”. D. Nelkin DV/434777DE.ppt DV/434777DE.doc (Externe Übers.) EU-Parlament, 03/2001 12 11 Slide 12 Die Veränderung sozialer Rollen Arzt: vom Heiler zum Gesundheitsberater Patient: vom patiens zum verwirrten Mitentscheidungsträger Zwischen dem Gesunden und dem Kranken erscheint eine dritte Rolle: der „besorgte Gesunde”, der keine Symptome hat, aber durch die prädiktive Medizin bereits eine diagnostische Identität erhalten hat. DV/434777DE.ppt DV/434777DE.doc (Externe Übers.) EU-Parlament, 03/2001 13 12 Slide 13 Ethische Dilemmas prädiktiver Tests bei Einzelpersonen Prädiktion ohne Prävention: Ist sie gerechtfertigt? Prädiktion mit Prävention: Was ist das angemessene Maß einer präventiven Intervention (besonders in Bezug auf invasive und langfristige Präventivmaßnahmen?) In welchem Maße gibt es eine Pflicht zum vernünftigen Umgang mit dem „Gesundheitskapital” eines Menschen? Persönliche Verantwortlichkeit in Bezug auf die Gesundheit ist nützlich und wichtig, kann allerdings überwältigend und quasi-totalitär werden. DV/434777DE.ppt DV/434777DE.doc (Externe Übers.) EU-Parlament, 03/2001 14 13 Slide 14 Zurück zu den ethischen Aspekten: Vom Test zur Untersuchung Vom Individuum und der Familie -> Eine Bevölkerung von Menschen ohne a priori-Bedenken. Ethische Voraussetzungen: Es muss sich um eine schwere Krankheit handeln und ihre Entdeckung muss einen entscheidenen Unterschied für die betroffene Person darstellen (Prävention, präklinisches Management,…). Zweck: Die Ziele der öffentlichen Gesundheit sind legitim, sollten jedoch nicht auf Kosten einer schlechten Kosten/Nutzen-Rechnung verfolgt werden. Ausreichende gesetzliche Vorsichtsmaßnahmen (legislative oder andere). Pränataltests werfen zusätzliche Fragen auf und werden immer kontrovers sein (nicht alle kontroversen Dinge sind schlecht!). DV/434777DE.ppt DV/434777DE.doc (Externe Übers.) EU-Parlament, 03/2001 15 14 Slide 15 Spezielle ethische Aspekte der genetischen Untersuchung Möglicher gesellschaftlicher Druck auf den Untersuchten. Unbeteiligte werden plötzlich diskriminiert. Risiko einer Fehlinformation: Datenbanken, DNA-Banken können für andere Zwecke erneut konsultiert werden und kritische Informationen können lange Zeit nach der ursprünglichen Zustimmung zur Untersuchung bekannt werden. DV/434777DE.ppt DV/434777DE.doc (Externe Übers.) EU-Parlament, 03/2001 16 15 Slide 16 In einer Nussschale: Prädiktive Tests erlauben die Identifizierung genetischer Risikofaktoren vor dem Auftreten von Symptomen. Auf der Plus-Seite: innovative, individuelle Prävention: Präklinisches Management der Krankheit. Auf der Minus-Seite: genetische Information hat soziale Auswirkungen: Möglichkeit der diskriminierenden Anwendung. DV/434777DE.ppt DV/434777DE.doc (Externe Übers.) EU-Parlament, 03/2001 17 16 Slide 17 Was bedeutet genetische Diskriminierung ? „Jegliche Form der Diskriminierung einer Person aus Gründen seiner oder ihrer genetischen Abstammung ist verboten” Konvention über Menschenrechte und Biomedizin des Europarates, Art. 11. Der Begriff der genetischen Diskriminierung ist komplex. DV/434777DE.ppt DV/434777DE.doc (Externe Übers.) EU-Parlament, 03/2001 18 17 Slide 18 Genetische Diskriminierung Nicht jede differenzielle Behandlung stellt eine Diskriminierung dar. Genetische Diskriminierung ist insofern unfair, als sie Vorteile einschränkt, die nach Auffassung der Gesellschaft für jeden gelten sollen. Was Versicherungen betrifft, schafft eine differenzielle Haftung aufgrund des genetischen Risikos viele Missverständnisse, da es verschiedene Interpretationen von „Fairness” und „Gerechtigkeit” gibt. DV/434777DE.ppt DV/434777DE.doc (Externe Übers.) EU-Parlament, 03/2001 19 18 Slide 19 1. Der Standpunkt der Versicherungen Genetische Diskriminierung ist nur dann unfair, wenn sie nicht gerechtfertigt ist, z.B. aufgrund einer falschen Risikoeinstufung. „Versicherungstechnische Fairness” ist ein rein formales Prinzip: Es bedeutet einfach, dass jeder im Verhältnis zu dem von ihm dargestellten Risiko für das versicherte Kollektiv behandelt wird. „Diskriminierung”, im Sinne einer differenziellen Behandlung bildet den Kern der versicherungstechnischen Logik. DV/434777DE.ppt DV/434777DE.doc (Externe Übers.) EU-Parlament, 03/2001 20 19 Slide 20 2. Der Standpunkt der sozialen Gerechtigkeit Genetische Diskriminierung ist auch dann, und besonders dann, nicht gerecht, wenn sie versicherungstechnisch gerechtfertigt ist, z.B. auf der Basis einer korrekten Risikoeinstufung. Bei der sozialen Gerechtigkeit geht es um gleiche Rechte und ein gleiches soziales Anrecht, nicht um empirisch bestimmbare Unterschiede zwischen einzelnen Personen. Versicherungstechnische Fairness und soziale Gerechtigkeit sind zwei unterschiedliche Prinzipien. Jedes hat seinen angemessenen Anwendungsbereich, allerdings kann es zu Konflikten kommen. DV/434777DE.ppt DV/434777DE.doc (Externe Übers.) EU-Parlament, 03/2001 21 20 Slide 21 Versicherungstechnische Fairness gegen soziale Gerechtigkeit „Reine” Privatversicherung: Freier Markt, Symmetrie der Information und Verhandlungsmacht, vollständige Freiwilligkeit der Haftung „Reine” soziale Versicherung: Solidarität, keine individuelle Risikohaftung ABER: DV/434777DE.ppt DV/434777DE.doc Dazwischen gibt es eine Grauzone. (Externe Übers.) EU-Parlament, 03/2001 22 21 Slide 22 Die „Grauzone” Manche Versicherungsprodukte werden auf einem freien Markt rechtmäßig gehandelt, haben aber dennoch große gesellschaftliche Bedeutung, beispielsweise... …weil sie positive externe Effekte erzeugen (Beispiel: Lebensversicherungen als Hypotheken für Immobilien oder kleine Betriebe) …oder weil sie weit verbreitete Bedenken hinsichtlich der Chancengleichheit verkörpern (Beispiel: gleicher Zugang zu Krankenversicherung, Rentenplänen, etc.) DV/434777DE.ppt DV/434777DE.doc (Externe Übers.) EU-Parlament, 03/2001 23 22 Slide 23 deshalb... -> Genetische Diskriminierung kann sozial unerwünschte Auswirkungen selbst außerhalb der sozialen Versicherung im engsten Sinn haben -> die „Grauzone” sollte eine Sache der politischen Verhandlung aller Betroffenen sein. Es sei allerdings darauf hingewiesen, dass die Verbraucherbedenken nicht mit den Bedenken der Bürger übereinstimmen. DV/434777DE.ppt DV/434777DE.doc (Externe Übers.) EU-Parlament, 03/2001 24 23 Slide 24 Schlussfolgerungen (1) Angesichts der Weiterentwicklung der prädiktiven Tests/Untersuchungen, ist die fortgesetzte Bekräftigung autonomiebasierter Werte essenziell, sowohl für die Verteidigung der Rechte des Menschen im neuen gesundheitlichen Kontext der molekularen Medizin als auch für die öffentliche Akzeptanz dieser Technologie. DV/434777DE.ppt DV/434777DE.doc (Externe Übers.) EU-Parlament, 03/2001 25 24 Slide 25 Schlussfolgerungen (2) Viele Aspekte der sozialen Ethik in der Genetik drehen sich um die Frage der menschlichen Unterschiede und der differenziellen Behandlung von Personen und Kategorien von Menschen. Viele dieser Bedenken werden mit dem Begriff Diskriminierung umrissen. Was den Schutz durch Versicherungen und das Sozialwesen anbelangt, gibt es zwei Arten der unfairen genetischen Diskriminierung: 1- Die Differenzierung von Menschen aufgrund von unwichtigen Kriterien: eine Verletzung der versicherungstechnischen Fairness. 2- Die Differenzierung von Menschen aufgrund von Kriterien, die möglicherweise oder bestimmt wichtig sind, aber in Anbetracht der gleichen Rechte für alle Menschen ausgeschlossen werden sollten: eine Verletzung des Gerechtigkeitsgrundsatzes. DV/434777DE.ppt DV/434777DE.doc (Externe Übers.) EU-Parlament, 03/2001 26 25 Slide 26 Schlussfolgerungen (3) Beim Umgang unserer Gesellschaft mit genetischen Daten und differenziellen genetischen Risiken der Menschen handelt es sich um eine politische Angelegenheit. Letztendlich reflektieren diese Entscheidungen unsere kollektive Moral und die politische Wahl dahingehend, welche Auswirkungen der genetischen Lotterie wir durch angemessenene soziale Arrangements kompensiert haben möchten. DV/434777DE.ppt DV/434777DE.doc (Externe Übers.) EU-Parlament, 03/2001 27 26