Rede zur Lage der Umweltbewegung

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Hubert Weinzierl, Präsident des Deutschen Naturschutzrings
DNR-Mitgliederversammlung
27.11.2010 in Berlin
Unwort des Jahres 2010: Laufzeitverlängerung
Ein Versuch das erste Jahr der neuen Regierung – 2010 – historisch einzureihen muss zu dem traurigen Ergebnis führen,
dass es ein Jahr der Rückschritte und Enttäuschungen war:
Kaum schien das Desaster der Finanz- und Wirtschaftskrisen
abzuflauen, fiel das Heer der Gierigen in das alte Fahrwasser
der Unbelehrbarkeit und des „weiter so“ zurück. Das Signal
kam aus dem Bundeskanzleramt: Zitat Merkel: “Wachstum zu
schaffen ist das Ziel unserer Regierung... ...ohne Wachstum
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keine Investition, ohne Wachstum keine Arbeitsplätze, ohne
Wachstum keine Bildung...“
Wir alle, selbst die Gutmeinenden mussten erleben, wie eine
Hoffnungsträgerin der Klimapolitik zur Atomkanzlerin zurück
mutierte, wir mussten zusehen, wie schon vereinbarte Klimaziele und restliche KKW-Laufzeiten nicht unter Politikern,
sondern mit ein paar großen Wirtschaftsführern verhandelt
wurden. Und dieses Strickmuster gibt es weltweit: Wer redet
noch von der größten Ölkatastrophe aller Zeiten im Golf von
Mexiko oder von den Flutkatastrophen dieses Jahres Alle
Warnungen treffen ein, aber jeder schaut weg.
Unwort des Jahres – Laufzeitverlängerung, DNR-MV 27.11.10 in Berlin
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Klimapolitik – Energiepolitik – Laufzeitverlängerung der
Atomkraftwerke
Besonders schmerzlich sind unsere Enttäuschungen bei der
Klimapolitik. Der Schock von Kopenhagen sitzt noch immer
tief und das zwei Grad Ziel das einst als kleinster gemeinsamer Nenner galt steht wieder zur Disposition, die „Charta für
nachhaltiges Wirtschaften“, auf die wir unsere Hoffnung gebaut haben, ruht auf Eis, alle Ansätze einer ökologischen
Wirtschafts- und Investitionspolitik oder die Rückholung umweltschädlicher Subventionen warten auf den Vollzug, aber
die Erwärmung des Weltklimas geht ungebremst weiter.
Deshalb ist in der Welt nach Kopenhagen eine Wiederbelebung der Klimapolitik, die von Europa und Deutschland ausgeht, erforderlich.
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Von Gipfel zu Gipfel – bei denen übrigens auf nationaler Ebene die Umweltverbände ausgeschlossen waren – wurde das
Gelände flacher, bis als krönender Abschluss einer rückwärtsgerichteten Klima-, Umwelt- und Nachhaltigkeitspolitik die
von den Großkraftwerkern diktierte Laufzeitverlängerung statt
des Atomausstieges beschlossen wurde. Dieser schwarze
Donnerstag vom 28. Oktober 2010 wird in die Geschichte eingehen als ein Tag, an dem die Regierung auf Anweisung der
EVU-Bosse mutwillig und ohne Not den Konsens mit der Gesellschaft gebrochen hat.
Dies ist als eine Kampfansage zu werten, zumal diese mit so
perfiden Aussagen verantwortlicher Politiker begleitet wurde,
dass die Großdemonstrationen gegen die Atompolitik als
Trennlinie zwischen Demokratie und Anarchie zu werten seien. Hier werden alte Gräben aufgerissen, hier werden Aber-
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tausende von Polizisten gegen eine falsche Politik und zum
Schaden der Demokratie gegen die Bürger eingesetzt.
Zweifellos enthält das Energiekonzept der Bundesregierung
eine Reihe positiver Ansätze, aber durch die Fokussierung auf
die Atompolitik spaltet dieser Deal die Gesellschaft, vergiftet
den inneren Frieden und blockiert die mühsam in Gang gekommene Erfolgsgeschichte der Erneuerbaren Energien.
Umso wichtiger ist jetzt unser Widerstand, den wir mit vielen
neuen Partnern und Konstellationen betreiben. Ich erinnere
beispielsweise an gemeinsame Kampagnen mit Gewerkschaften, Verbraucherorganisationen und Umweltverbänden. Dabei
handelt es sich längst um keine fachliche Diskussion mehr,
sondern die Energiepolitik und voran die Atomkraft ist das gesellschaftspolitische Mega-Thema in diesen Tagen geworden.
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Wir werden die alten Fragen stellen, deren Beantwortung seit
Wackersdorf Mitte der 80iger Jahre des letzten Jahrhunderts
noch unbeantwortet sind: Wie haltet ihr es gegenüber zukünftigen Generationen mit den nicht rückholbaren Entscheidungen?
Das Anhörungsverfahren zu Wackersdorf zählt zu den deprimierendsten Erlebnissen meines Lebens, bei dem ich die hinreichend von Ethikern begründete Frage nach der moralischen
Dimension der Atomenergie stellt und vom damaligen Umweltminister diese Antwort bekam, „dass Fragen der Ethik und
der Moral im Atomgesetz nicht vorgesehen sind.“
Kein Wunder also, dass sich die Umweltbewegung noch mehr
gefordert fühlt als in den Jahrzehnten des ersten Aufbruchs
von 1970 bis 1990. Jetzt sind die Grenzen des Wachstums
überschritten, jetzt muss die Glaubwürdigkeit des nachhaltigen
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Denkens auf die Probe gestellt werden, jetzt beginnt das Neue
Denken.
Der neue Widerstand gegen Atompolitik und für eine Umkehr
bringt das ganze Volk auf die Straße, gesellschaftlich und politisch grenzüberschreitend und – wie bei Stuttgart 21 – auch
nicht nur gegen einen unsinnigen Standort, sondert dort werben Hunderttausende für einen anderen Weg. Wer dagegen
das Argument der Mehrheitsentscheidungen ins Feld führt,
muss wissen, dass eine lebendige Demokratie mit ihren Protesten auch das Recht darüber nachzudenken einfordern darf,
ob frühere Entscheidungen noch in den Zeitgeist von heute
passen. Vielleicht täten die Verantwortlichen gut daran, nicht
erst auf ein politisches Votum bei der nächsten Wahl zu warten; zuviel Geld und zuviel Bürgersinn wäre damit verspielt.
Es ist doch keine Schande, einen Irrtum zu revidieren.
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Neues Denken
Die Umweltbewegung erkennt in dieser Phase der gesellschaftspolitischen Auseinandersetzung die große Herausforderung, sich selbst neu zu positionieren. Wir haben uns vorgenommen die ökologische Frage als erste Priorität im Denken
und Handeln unserer Gesellschaft zu verankern und den Umbau zu einer nachhaltigen Wirtschaft und Gesellschaft voranzutreiben.
Mit seiner Leitbilddebatte versucht der DNR seit Jahresfrist,
sich stärker in die gesellschaftspolitische Klärung, was Nachhaltigkeit wirklich bedeutet, einzumischen und wichtige, aber
in der öffentlichen Debatte weitgehend tabuisierte Fragen ins
Zentrum zu rücken. Wir haben dazu drei Schwerpunkte gesetzt, die eng miteinander verflochten sind.
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-
Naturverständnis: Die Natur nicht als Umwelt,
sondern als natürliche Mitwelt zu verstehen, bedeutet die Externalisierung beenden und die Endlichkeit beachten. (Dieses
Thema steht unter der Verantwortung von Prof. Hardy Vogtmann, Vizepräsident des DNR;)
-
Nachhaltigkeit: Das ist oftmals ein Plastikwort,
obwohl es in der Entstehungsgeschichte eindeutig auf die
Ökologie gerichtet war. Deshalb muss der Begriff gleichsam
„zertifiziert“ werden. (Verantwortlich ist der Präsident des
DNR;)
-
Wachstum: Die Grenzen des Wachstums werden
deutlich, ökologisch, sozial und auch ökonomisch. Diese Herausforderung rückt immer stärker ins Zentrum der politischen
Debatte. Der Deutsche Bundestag hat dazu eine EnqueteKommission eingerichtet. (Die Debatte wird beim DNR koordiniert von Michael Müller, Präsidiumsmitglied des DNR.)
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Wir stehen am Beginn eines Jahrhunderts der Ökologie. Es
fordert die Umwelt- und Naturschutzbewegung in besonderer
Weise heraus, nicht nur auf Missstände und Fehlentwicklungen hinzuweisen, sondern stärker noch als bisher eigene Gestaltungsvorschläge zu machen und sie mit Nachdruck zu vertreten. Die Umwelt- und Naturschutzverbände müssen
Tabubrecher und Vorreiter sein.
Es geht nicht um einzelne Korrekturen, an den Grenzen des
Wachstums ist eine grundlegende Erneuerung des Modells der
europäischen Moderne notwendig. Wir erleben nämlich einen
Epochenbruch, in dem „altes Denken“ in Sackgassen führt.
Nachhaltigkeit, die große ökologische Leitidee, ist ein neues
Denken und muss gegen harte Interessen und eingeschliffene
Denkweisen durchgesetzt werden.
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Nach einer intensiveren Beschäftigung mit den Grenzen des
Wachstums in den siebziger Jahren (Club of Rome, Ende oder
Wende?) gab es nach dem Ende der zweigeteilten Welt und
mit der Globalisierung in den letzten zwei Jahrzehnten nur
wenige Debatten über die Wachstumsgrenzen. Doch jetzt
rückt das Thema durch das Erreichen innerer Grenzen (Versagen der Banken) und äußerer Grenzen (Klimawandel, Artenvernichtung, Rohstoffknappheit und nachholende Industrialisierung) ins Zentrum. Der Traum von der immer währenden
Prosperität ist endgültig vorbei.
Diese grundlegende Herausforderung beschreibt nicht nur
große Gefahren, sie öffnet auch ein Gestaltungsfenster, das
bisher nicht genutzt wird. Die grüne Revolution ist keine Frage des Anscheins, sondern der Taten. Wir dürfen nicht länger
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hinnehmen, dass die Wahrheit vertuscht und verdrängt wird.
Wir lassen uns nicht täuschen, wenn sich auch große Unternehmen und Fonds nur als nachhaltig ausgeben. Entscheidend
ist, ob es zu wirklicher Reduktion des Naturverbrauchs und zu
einem Umbau kommt. Viele wollen jedoch das neue Wachstum mitnehmen, ohne aber das bisherige aufzugeben. Ökologie ist jedoch keine Fortführung des Alten nur mit grünem
Anstrich, sondern erfordert eine grundlegende Erneuerung.
Das muss in unserem Land geschehen, dazu geben wir Anstöße. Die Debatte über Wachstum wird bereits in vielen Ländern
geführt, bisher allerdings zu wenig. Das Thema ist unbequem,
wird deshalb schnell verdrängt. So auch aktuell: Kaum steigen
die Wachstumsraten wieder, lässt die kritische Debatte wieder
nach. Deshalb werden die Umwelt- und Naturschutzverbände
nicht nachlassen, vielmehr setzen wir dem rückwärtsgerichteUnwort des Jahres – Laufzeitverlängerung, DNR-MV 27.11.10 in Berlin
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ten Ungeist der brüchig gewordenen Wachstumsgesellschaft
ein zukunftsfähiges Konzept der Gesundung von Staatshaushalt und Naturhaushalt entgegen. Wir werben für Schöpfungsverantwortung und nachhaltigem Konsum mit dem Ziel eines
verbürgten Nachhaltigkeitsbegriffes, der vom Missbrauch und
Beliebigkeit befreit ist und zu zukunftsfähigen Lebensstilen
hinführt, die in einen weltfamiliären Konsens eingebunden
sind.
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Biologische Vielfalt
Die Biodiversitäts-Politik darf nach dem Nagoya-Gipfel als
erfolgreich gewertet werden; insbesondere die deutschen
NGO’s haben dort respektable Erfolge erzielt.
Dieses Ergebnis ist nicht nur wegen der Beschlüsse selbst bedeutsam, sondern weil damit buchstäblich der Rio-Prozess vor
der totalen Paralyse bewahrt werden konnte. Nachdem die
Klimaverhandlungen völlig festgefahren sind und die Desertifikationskonvention immer mehr in die Bedeutungslosigkeit
abgleitet, hätte es den Rio-Prozess insgesamt (und den
Rio+20-Gipfel 2012) in Frage gestellt, wenn auch die dritte
Rio-Konvention handlungsunfähig geworden wäre.
Dank der guten Vorarbeit durch die deutsche CBD hat die japanische Präsidentschaft echte Erfolge erzielt. Wichtigster
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Fortschritt ist zweifellos die Verabschiedung des ABSProtokolls. Länder und deren Bevölkerung mit großem Naturreichtum müssen zukünftig an den Gewinnen der Pharma-,
Chemie- und Medizinfirmen aus der Nutzung natürlicher Ressourcen beteiligt werden. Durch die Umsetzung einer neuen
internationalen Strategie mit 20 konkreten Unterzielen soll der
weltweite Verlust an biologischer Vielfalt bis 2020 gestoppt
werden.
Erstmals seit Verabschiedung der CBD im Jahre 1992 gibt es
bei den Finanzen einen konkreten Verfahrensvorschlag mit
entsprechenden Instrumenten, die bis zur nächsten Konferenz
2012 in Indien die tatsächlich geleisteten Zahlungen für den
Erhalt der biologischen Vielfalt und vor allem den Bedarf an
zusätzlicher Unterstützung darlegen sollen. Darunter erfreulicherweise auch der für umweltschädliche Subventionen, der
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für Zwecke des Erhalts der Biodiversität verwendet werden
kann.
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Biodiversitäts-Verlust in Deutschland
1970 hat der DNR im Auftrag der Bundesrepublik Deutschland das Europäische Naturschutzjahr ausgerichtet. Damals
herrschte eine fulminante Aufbruchstimmung und wir haben
über fünfhundert Veranstaltungen in Deutschland durchgeführt. Die Säle waren voll und die Herzen der Menschen
schienen offen für den Naturschutz. Der Artenschutz war in
aller Munde.
40 Jahre nach dem Europäischen Naturschutzjahr 1970 stand
die BRD wieder einmal im Mittelpunkt von Biodiversitätskonferenzen und Biodiversitätsstrategien.
Leider haben wir in diesem Bereich nur Enttäuschungen und
immerwährende Verlust-Bilanzen zu vermelden. Niemand
wagt mehr eine Prognose, wann oder ob überhaupt das Ziel
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vom Stop des Artenschwundes erreicht wird. Der sich verstärkende Abwärtstrend macht uns schier hoffnungslos und traurig, zumal wir inzwischen über das dramatische Zusammenspiel von Klimaschutz und Artenschwund Bescheid wissen.
Wir stehen vor einem Trümmerhaufen der Artenvielfalt.
Zu Recht hat die Bundeskanzlerin bei der Eröffnung des Jahres der Biologischen Vielfalt 2010 den Artenschwund und den
Klimawandel als die größten Herausforderungen unserer Zeit
bezeichnet. Leider weist die Tagespolitik in die verkehrte
Richtung, wofür ein „Wachstumsbeschleunigungsgesetz“ geradezu symbolhaft wirkt und das Jahr der Biodiversität ad absurdum geführt hat.
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Vom Wert an sich
Bei den Diskussionen um die Biodiversität hat die Inwertsetzung von Natur eine große Rolle gespielt (TEEB Studie). Mir
scheint dabei eine Gefahr zu bestehen, dass der „Wert an sich“
von Tier- und Pflanzenarten zu kurz kommt.
Diese neue Denkweise der Geldwertfindung für Arten macht
misstrauisch und ist brüchig, weil die Dienstleistungen der Natur eben nicht allein in Euro ausgedrückt werden können.
Das zynische Instrument der Ausgleichsmaßnahmen in Geld
widerspricht zudem dem Geist des Naturschutzgesetzes, der
jeder Art einen „Wert an sich“ einräumt.
Seit der Naturphilosoph Wilhelm Heinrich Riehl 1856 ein
„Recht der Wildnis“ forderte, wird in Deutschland über den
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Eigenwert der Natur gestritten. Erst im Jahre 2002 gelang es,
die drei bedeutungsvollen Worte, dass die Natur einen „Wert
an sich“ besitzt, in der Novelle des Bundesnaturschutzgesetzes
zu verankern – ein gewaltiger Fortschritt in der Rechtswissenschaft, aber auch in der Ethik. Endlich haben Menschenrechte
und die Lebensrechte der Mitgeschöpfe den gleichen Rang.
In jüngster Zeit haben sich auch die Wirtschaftswissenschaftler und die Finanzkundigen des Wertes von Tier- und Pflanzenarten angenommen und versucht, deren Geldwert zu erfinden, nachdem der Verlust von Artenvielfalt für die menschliche Ernährung, für Medizin oder vielerlei Rohstoffe und für
das Geschäft mit der Natur gefährlich wird.
Vom „Kapitalabbau“ im Naturhaushalt ist die Rede und dass
die Menschheit Hunderte von Milliarden an Euro oder Dollar
durch den „Biodiversitätsverlust“ verliere. Es ist ja gut, dass
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diese Inwertsetzung der Arten endlich in das politische Tagesgeschäft Eingang gefunden hat.
Mir scheint aber, dass wir mit dem Schwund der Artenfülle
mehr verlieren als bloßes Geld.
Und ich kann von keiner einzigen Pflanze, von keinem
Schmetterling, keinem Vogel, keinem Baum und nicht von einer handvoll Erde oder einer Quelle sagen, für wie viel Geld
ich sie entbehren möchte.
Es ist mit dem Wert der Natur eben so wie mit dem Wert eines
Schmuckstückes, das Du vielleicht als Erinnerung an Deine
Mutter bei Dir trägst. Ein Juwelier mag Dir den Materialwert
errechnen. Aber niemand kann sagen was es Dir wirklich wert
ist.
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60 Jahre Deutscher Naturschutzring
2010 war ein Jahr von Jubiläen, die für die Geschichte der Naturschutzbewegung auf nationaler und internationaler Ebene
bedeutsam sind, weil sie eine vielfältige gesellschaftspolitische Wirkungsgeschichte ausgelöst haben:
Vor 60 Jahren Gründung des Deutschen Naturschutzrings, vor
40 Jahren das erste Europäische Naturschutzjahr (1970), das
erste Umweltministerium (in Bayern), der erste Nationalpark
in Deutschland, das „Ökologische Manifest“, die „Gruppe
Ökologie“, die Beschreibung der „Grenzen des Wachstums“
(Club of Rome).
Im Anschluss dieser Umbruchstimmung regten sich weltweite
Aktivitäten, so 1972 die erste globale Umweltkonferenz in
Stockholm, 1992 Erdgipfel von Rio, 2002 NachhaltigkeitskonUnwort des Jahres – Laufzeitverlängerung, DNR-MV 27.11.10 in Berlin
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ferenz in Johannesburg, zuletzt Klimagipfel in Kopenhagen
2009.
Über eine Menschengeneration lang wurden, zuerst regional,
dann global die Grenzen der herkömmlichen Natur und Kultur
beschworen.
Schon 1947, als unser Land noch daniederlag, aber die Lust
des Wiederaufbaus keimte, rührten sich in der Naturschutzbewegung solche Stimmen:
„Nicht Kultur und Zivilisation sind die
Grundlagen unseres Daseins, sondern einzig
die Natur ist die Wurzel von allem und jedem, selbst in diesen Zeiten der größten
Not.“
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Und 1950 bei der Gründung des Deutschen Naturschutzringes
hieß es:
„...Wir sind keine Pessimisten. Wenn wir es
wären, stünden wir nicht beim Naturschutz...
...Wenn die Menschen sich schon als Treuhänder betrachten in der Verwaltung dieser
Erde, dann müssen sie auch die Folgerung
daraus ziehen, dass ein Treuhänder zum
Verbrecher wird, wenn er anvertrautes Gut
egoistisch vergewaltigt, um schließlich eine
Wüste zu hinterlassen.“ ...
30 Jahre nach der Gründung des DNR stellt Prof. Dr. Bernhard Grzimek fest:
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„...Wir müssen wieder in Kreisläufen wirtschaften, also unsere Ausbeutungsmentalität
total ändern und die Entwicklungshilfe in
den Dienst der Ökologie stellen und damit
neue Wertmaßstäbe für Wohlstand und
Wachstum zur Geltung bringen. ...“
Bei der 50-Jahrfeier schließlich beschwört der damalige Präsident des DNR Prof. Dr. Wolfgang Engelhardt die Politik:
„Die globale Klimaänderung, die Zerstörung
der Wälder, besonders der tropischen Regenwälder, aber auch vieler borealer Wälder, der rasante Artentod – die allgemeine
Globalisierung von Wirtschaft, Verkehr und
Kommunikation erfordern dringend eine
globale Umweltpolitik, die von einer nachUnwort des Jahres – Laufzeitverlängerung, DNR-MV 27.11.10 in Berlin
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haltigen Entwicklung nicht nur redet, sondern sie so schnell wie irgend möglich verwirklicht.“
Leider sind die frühen Warnungen ungehört und ohne Konsequenzen für eine Zukunftspolitik geblieben, die seinerzeit
noch korrigierbar gewesen wäre. Aber der Zeitgeist war ein
anderer, was die Entwicklung einer gesellschaftspolitischen
Gegenbewegung geradezu herausforderte und den Deutschen
Naturschutzring und seine Einzelverbände stetig wachsen ließ,
so dass heute über fünf Millionen Einzelmitglieder hinter dieser Idee stehen und die Demokratie mitgestalten können.
Heute kommt Politik und Gesellschaft nicht mehr an der Ökologiebewegung, zu der neben dem DNR noch eine Reihe weiterer Gruppierungen zählen, mit denen wir kollegial zusammenarbeiten.
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Die Einzigartigkeit des Dachverbandes DNR wird deshalb
auch in der internationalen Szene gerühmt, weil es uns gelungen ist, trotz der Vielfalt der Blickwinkel unserer Mitglieder
und trotz gelegentlicher inhaltlicher Differenzen, welche wir
über die Jahrzehnte hinweg immer freundschaftlich ausgetragen haben, das gemeinsame verbindende Ziel des Naturschutzes und der Nachhaltigkeit im Auge behalten haben.
Und wenngleich einige unserer Mitgliedsverbände groß genug
wären, um ihre eigenständige Verkehrspolitik zu vertreten,
haben sie erkannt, wie wichtig es ist, gerade die kleineren,
spezialisierten Organisationen in unsere „Familie“ einzubinden, damit die Kräfte noch mehr gebündelt werden.
Wir haben dazu beigetragen das bürgerschaftliche Engagement aufrechtzuerhalten, ohne das ein Staat gerade in Zeiten
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des Umbruchs und des Wertewandels, wie wir sie in diesen
Tagen erleben, nicht existieren könnte:
So ist die Geschichte der Umweltbewegung auch die Geschichte des Ehrenamtes, welche unsere Demokratie trägt.
Und darauf dürfen wir stolz sein und allen Ehrenamtlichen
Dank sagen.
Jetzt zu Beginn des zweiten Jahrzehnts im neuen Jahrhundert
stehen erneut programmatische Herausforderungen vor uns,
die wir im Rahmen der gerade laufenden Leitbilddebatte gemeinsam zu beantworten versuchen. Es gilt das Selbstverständnis der Umwelt- und Naturschutzbewegung zu klären:
Was ist unser Verständnis von Natur und Mitwelt, wie finden
wir Wege aus der Demokratie und Umwelt gefährdenden
Wachstumsfalle und was bedeutet verbürgte, ehrliche Nachhaltigkeit anstelle der Beliebigkeit, mit der dieser Leitbegriff
zukunftsfähiger Politik belastet ist.
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Das neue Denken
Nie zuvor in der Geschichte gab es so viele Umbrüche auf
einmal in der Welt wie in unserer Zeit. Wir sind an einen
Punkt gekommen, wo das Fenster für einen Paradigmenwechsel, also für den Ausstieg aus der Wachstumsgesellschaft und
für einen Wertewandel immer enger wird.
Wenn es uns gelingen soll die Heilsformel vom „Wachstum“
durch die Vision der „Nachhaltigkeit“ und die Bilder vom materiellen Reichtum durch Glück auszutauschen, bedarf es mehr
als nur technischer Parameter.
Anstatt das Wachstums-Ritual bei jeder Gelegenheit aufzuzeigen sollten wir endlich erkennen, dass sich das Wohlergehen
eines Volkes nicht am Bruttosozialprodukt messen lässt, son-
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dern dass wir auf die Suche nach den „Glücksprodukten“ gehen sollten.
Auf diesem unbekannten Weg ist allenfalls gewiss, dass uns
Technik und Naturwissenschaften allein nicht aus den Krisen
führen können, sondern dass ein mystischer Aufbruch notwendig ist, denn wir sind an einem Punkt angelangt, der neues
Fühlen und Denken erfordert: „Die Zukunft der Welt ist nicht
materiell, sondern geistig“, meint der Physiker H. P. Dürr und
schließt damit an die Erkenntnis von Max Planck an, der am
Ende seines Lebens gemeint hat, er sei jetzt an einem Punkt
angelangt, „wo sich Naturwissenschaft und Religion zärtlich
berühren“.
Wir sollten uns als Umweltbewegung nicht scheuen AußerRationales mit in unsere Überlegungen aufzunehmen, so Pro-
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grammpunkte wie die Albert Schweitzer’sche „Ehrfurcht vor
dem Leben“ sind in der Zukunftsdebatte genauso angebracht.
Vielleicht machen solche Einsichten auch jene Rationalisten
ein wenig nachdenklich, die gelegentlich unsere Emotionen
belächeln. Bringen wir also auch die Seele mit an die Verhandlungstische, wenn es um die Schöpfung geht.
Dabei müssen wir angesichts der sich überschlagenden Fülle
von Ereignissen und Fakten der weltweiten Informationslawinen und des Medienterrors mittlerweile schon nach Jahresfrist
erleben, dass heute nicht mehr stimmt, was gestern noch gültig
war.
Unsere Seelen verkraften diese Zeitverkürzungen nicht mehr.
Es scheint als drehe sich die Erde schneller und als ziehe es
uns den Boden unter den Füßen davon. Deshalb ist es so wichUnwort des Jahres – Laufzeitverlängerung, DNR-MV 27.11.10 in Berlin
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tig ein festes Stück Erde unter den Füßen zu wissen, das ich
Heimat nenne, das man lokal und kulturell mitgestalten kann.
Wer es also ehrlich meint mit der Heimat, der sollte sich angesichts der weltweiten Nivellierung von Identität und Regionalität um redliche Heimaterhaltung bemühen und den Begriff
nicht in Bierzelten missbrauchen.
Denn mit der Vereinsamung in der Welt der Großstrukturen
wächst das Bedürfnis und die Suche nach dem Überschaubaren.
Die kleine Welt im Herzen tragen und die große Welt im Blick
behalten – das ist die Herausforderung des neuen Denkens. Im
Wissen um die weltfamiliären Zusammenhänge also die Umwelt vor der eigenen Haustüre, im eigenen Land bewahren und
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die Heimat Erde als ein gemeinsames Lebewesen betrachten,
aus dem wir nicht aussteigen können.
Heimat hat mit Kultur, mit Werten, mit Natur und mit Glück
zu tun. Wohlstandswachstum allein macht auf Dauer nicht
glücklich. Nachhaltig glücklich sein bedeutet mehr als nachhaltig reich sein. Mehr Zeit haben oder mehr Gesundheit haben ist was anderes als mehr Geld besitzen.
Diese neue Art von Naturschutz fordert weder Verzicht und
Askese, noch die Pflicht zur Enkelverantwortung ein, sondern
lebt im Jetzt: Ich will für mich und für die jetzt lebenden Menschen und Mitgeschöpfe den Zauber des Lebens und der
Wildnis und die Lust an der Natur bewahren.
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Die Suche nach Gleichgewicht ist angesagt anstatt Wachstum
und die Erkenntnis, dass Verzichten können der Luxus von
morgen ist.
Meine Vision wäre die wirkliche Solidargemeinschaft von
gleichgesinnten Menschen und zwischen Menschen und Mitgeschöpfen.
Nicht das hehre Geschwätz von Pflicht und Verantwortung
oder die Predigt über Askese und Verzicht macht uns glaubwürdig, sondern unsere Gespürigkeit im Umgang miteinander
und mit allem Lebendigen.
Ich gebe meine Hoffnung darauf nie auf, weil ich im Naturschutz Glück und Freude finde.
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Könnte dies nicht eine zukunftsfähige Botschaft für den DNR
an seinem 60. Geburtstag sein: Mehr Behutsamkeit und mehr
Bescheidenheit in die Welt hineintragen.
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