Hubert Weinzierl, Präsident des Deutschen Naturschutzrings DNR-Mitgliederversammlung 27.11.2010 in Berlin Unwort des Jahres 2010: Laufzeitverlängerung Ein Versuch das erste Jahr der neuen Regierung – 2010 – historisch einzureihen muss zu dem traurigen Ergebnis führen, dass es ein Jahr der Rückschritte und Enttäuschungen war: Kaum schien das Desaster der Finanz- und Wirtschaftskrisen abzuflauen, fiel das Heer der Gierigen in das alte Fahrwasser der Unbelehrbarkeit und des „weiter so“ zurück. Das Signal kam aus dem Bundeskanzleramt: Zitat Merkel: “Wachstum zu schaffen ist das Ziel unserer Regierung... ...ohne Wachstum 2 keine Investition, ohne Wachstum keine Arbeitsplätze, ohne Wachstum keine Bildung...“ Wir alle, selbst die Gutmeinenden mussten erleben, wie eine Hoffnungsträgerin der Klimapolitik zur Atomkanzlerin zurück mutierte, wir mussten zusehen, wie schon vereinbarte Klimaziele und restliche KKW-Laufzeiten nicht unter Politikern, sondern mit ein paar großen Wirtschaftsführern verhandelt wurden. Und dieses Strickmuster gibt es weltweit: Wer redet noch von der größten Ölkatastrophe aller Zeiten im Golf von Mexiko oder von den Flutkatastrophen dieses Jahres Alle Warnungen treffen ein, aber jeder schaut weg. Unwort des Jahres – Laufzeitverlängerung, DNR-MV 27.11.10 in Berlin 3 Klimapolitik – Energiepolitik – Laufzeitverlängerung der Atomkraftwerke Besonders schmerzlich sind unsere Enttäuschungen bei der Klimapolitik. Der Schock von Kopenhagen sitzt noch immer tief und das zwei Grad Ziel das einst als kleinster gemeinsamer Nenner galt steht wieder zur Disposition, die „Charta für nachhaltiges Wirtschaften“, auf die wir unsere Hoffnung gebaut haben, ruht auf Eis, alle Ansätze einer ökologischen Wirtschafts- und Investitionspolitik oder die Rückholung umweltschädlicher Subventionen warten auf den Vollzug, aber die Erwärmung des Weltklimas geht ungebremst weiter. Deshalb ist in der Welt nach Kopenhagen eine Wiederbelebung der Klimapolitik, die von Europa und Deutschland ausgeht, erforderlich. Unwort des Jahres – Laufzeitverlängerung, DNR-MV 27.11.10 in Berlin 4 Von Gipfel zu Gipfel – bei denen übrigens auf nationaler Ebene die Umweltverbände ausgeschlossen waren – wurde das Gelände flacher, bis als krönender Abschluss einer rückwärtsgerichteten Klima-, Umwelt- und Nachhaltigkeitspolitik die von den Großkraftwerkern diktierte Laufzeitverlängerung statt des Atomausstieges beschlossen wurde. Dieser schwarze Donnerstag vom 28. Oktober 2010 wird in die Geschichte eingehen als ein Tag, an dem die Regierung auf Anweisung der EVU-Bosse mutwillig und ohne Not den Konsens mit der Gesellschaft gebrochen hat. Dies ist als eine Kampfansage zu werten, zumal diese mit so perfiden Aussagen verantwortlicher Politiker begleitet wurde, dass die Großdemonstrationen gegen die Atompolitik als Trennlinie zwischen Demokratie und Anarchie zu werten seien. Hier werden alte Gräben aufgerissen, hier werden Aber- Unwort des Jahres – Laufzeitverlängerung, DNR-MV 27.11.10 in Berlin 5 tausende von Polizisten gegen eine falsche Politik und zum Schaden der Demokratie gegen die Bürger eingesetzt. Zweifellos enthält das Energiekonzept der Bundesregierung eine Reihe positiver Ansätze, aber durch die Fokussierung auf die Atompolitik spaltet dieser Deal die Gesellschaft, vergiftet den inneren Frieden und blockiert die mühsam in Gang gekommene Erfolgsgeschichte der Erneuerbaren Energien. Umso wichtiger ist jetzt unser Widerstand, den wir mit vielen neuen Partnern und Konstellationen betreiben. Ich erinnere beispielsweise an gemeinsame Kampagnen mit Gewerkschaften, Verbraucherorganisationen und Umweltverbänden. Dabei handelt es sich längst um keine fachliche Diskussion mehr, sondern die Energiepolitik und voran die Atomkraft ist das gesellschaftspolitische Mega-Thema in diesen Tagen geworden. Unwort des Jahres – Laufzeitverlängerung, DNR-MV 27.11.10 in Berlin 6 Wir werden die alten Fragen stellen, deren Beantwortung seit Wackersdorf Mitte der 80iger Jahre des letzten Jahrhunderts noch unbeantwortet sind: Wie haltet ihr es gegenüber zukünftigen Generationen mit den nicht rückholbaren Entscheidungen? Das Anhörungsverfahren zu Wackersdorf zählt zu den deprimierendsten Erlebnissen meines Lebens, bei dem ich die hinreichend von Ethikern begründete Frage nach der moralischen Dimension der Atomenergie stellt und vom damaligen Umweltminister diese Antwort bekam, „dass Fragen der Ethik und der Moral im Atomgesetz nicht vorgesehen sind.“ Kein Wunder also, dass sich die Umweltbewegung noch mehr gefordert fühlt als in den Jahrzehnten des ersten Aufbruchs von 1970 bis 1990. Jetzt sind die Grenzen des Wachstums überschritten, jetzt muss die Glaubwürdigkeit des nachhaltigen Unwort des Jahres – Laufzeitverlängerung, DNR-MV 27.11.10 in Berlin 7 Denkens auf die Probe gestellt werden, jetzt beginnt das Neue Denken. Der neue Widerstand gegen Atompolitik und für eine Umkehr bringt das ganze Volk auf die Straße, gesellschaftlich und politisch grenzüberschreitend und – wie bei Stuttgart 21 – auch nicht nur gegen einen unsinnigen Standort, sondert dort werben Hunderttausende für einen anderen Weg. Wer dagegen das Argument der Mehrheitsentscheidungen ins Feld führt, muss wissen, dass eine lebendige Demokratie mit ihren Protesten auch das Recht darüber nachzudenken einfordern darf, ob frühere Entscheidungen noch in den Zeitgeist von heute passen. Vielleicht täten die Verantwortlichen gut daran, nicht erst auf ein politisches Votum bei der nächsten Wahl zu warten; zuviel Geld und zuviel Bürgersinn wäre damit verspielt. Es ist doch keine Schande, einen Irrtum zu revidieren. Unwort des Jahres – Laufzeitverlängerung, DNR-MV 27.11.10 in Berlin 8 Neues Denken Die Umweltbewegung erkennt in dieser Phase der gesellschaftspolitischen Auseinandersetzung die große Herausforderung, sich selbst neu zu positionieren. Wir haben uns vorgenommen die ökologische Frage als erste Priorität im Denken und Handeln unserer Gesellschaft zu verankern und den Umbau zu einer nachhaltigen Wirtschaft und Gesellschaft voranzutreiben. Mit seiner Leitbilddebatte versucht der DNR seit Jahresfrist, sich stärker in die gesellschaftspolitische Klärung, was Nachhaltigkeit wirklich bedeutet, einzumischen und wichtige, aber in der öffentlichen Debatte weitgehend tabuisierte Fragen ins Zentrum zu rücken. Wir haben dazu drei Schwerpunkte gesetzt, die eng miteinander verflochten sind. Unwort des Jahres – Laufzeitverlängerung, DNR-MV 27.11.10 in Berlin 9 - Naturverständnis: Die Natur nicht als Umwelt, sondern als natürliche Mitwelt zu verstehen, bedeutet die Externalisierung beenden und die Endlichkeit beachten. (Dieses Thema steht unter der Verantwortung von Prof. Hardy Vogtmann, Vizepräsident des DNR;) - Nachhaltigkeit: Das ist oftmals ein Plastikwort, obwohl es in der Entstehungsgeschichte eindeutig auf die Ökologie gerichtet war. Deshalb muss der Begriff gleichsam „zertifiziert“ werden. (Verantwortlich ist der Präsident des DNR;) - Wachstum: Die Grenzen des Wachstums werden deutlich, ökologisch, sozial und auch ökonomisch. Diese Herausforderung rückt immer stärker ins Zentrum der politischen Debatte. Der Deutsche Bundestag hat dazu eine EnqueteKommission eingerichtet. (Die Debatte wird beim DNR koordiniert von Michael Müller, Präsidiumsmitglied des DNR.) Unwort des Jahres – Laufzeitverlängerung, DNR-MV 27.11.10 in Berlin 10 Wir stehen am Beginn eines Jahrhunderts der Ökologie. Es fordert die Umwelt- und Naturschutzbewegung in besonderer Weise heraus, nicht nur auf Missstände und Fehlentwicklungen hinzuweisen, sondern stärker noch als bisher eigene Gestaltungsvorschläge zu machen und sie mit Nachdruck zu vertreten. Die Umwelt- und Naturschutzverbände müssen Tabubrecher und Vorreiter sein. Es geht nicht um einzelne Korrekturen, an den Grenzen des Wachstums ist eine grundlegende Erneuerung des Modells der europäischen Moderne notwendig. Wir erleben nämlich einen Epochenbruch, in dem „altes Denken“ in Sackgassen führt. Nachhaltigkeit, die große ökologische Leitidee, ist ein neues Denken und muss gegen harte Interessen und eingeschliffene Denkweisen durchgesetzt werden. Unwort des Jahres – Laufzeitverlängerung, DNR-MV 27.11.10 in Berlin 11 Nach einer intensiveren Beschäftigung mit den Grenzen des Wachstums in den siebziger Jahren (Club of Rome, Ende oder Wende?) gab es nach dem Ende der zweigeteilten Welt und mit der Globalisierung in den letzten zwei Jahrzehnten nur wenige Debatten über die Wachstumsgrenzen. Doch jetzt rückt das Thema durch das Erreichen innerer Grenzen (Versagen der Banken) und äußerer Grenzen (Klimawandel, Artenvernichtung, Rohstoffknappheit und nachholende Industrialisierung) ins Zentrum. Der Traum von der immer währenden Prosperität ist endgültig vorbei. Diese grundlegende Herausforderung beschreibt nicht nur große Gefahren, sie öffnet auch ein Gestaltungsfenster, das bisher nicht genutzt wird. Die grüne Revolution ist keine Frage des Anscheins, sondern der Taten. Wir dürfen nicht länger Unwort des Jahres – Laufzeitverlängerung, DNR-MV 27.11.10 in Berlin 12 hinnehmen, dass die Wahrheit vertuscht und verdrängt wird. Wir lassen uns nicht täuschen, wenn sich auch große Unternehmen und Fonds nur als nachhaltig ausgeben. Entscheidend ist, ob es zu wirklicher Reduktion des Naturverbrauchs und zu einem Umbau kommt. Viele wollen jedoch das neue Wachstum mitnehmen, ohne aber das bisherige aufzugeben. Ökologie ist jedoch keine Fortführung des Alten nur mit grünem Anstrich, sondern erfordert eine grundlegende Erneuerung. Das muss in unserem Land geschehen, dazu geben wir Anstöße. Die Debatte über Wachstum wird bereits in vielen Ländern geführt, bisher allerdings zu wenig. Das Thema ist unbequem, wird deshalb schnell verdrängt. So auch aktuell: Kaum steigen die Wachstumsraten wieder, lässt die kritische Debatte wieder nach. Deshalb werden die Umwelt- und Naturschutzverbände nicht nachlassen, vielmehr setzen wir dem rückwärtsgerichteUnwort des Jahres – Laufzeitverlängerung, DNR-MV 27.11.10 in Berlin 13 ten Ungeist der brüchig gewordenen Wachstumsgesellschaft ein zukunftsfähiges Konzept der Gesundung von Staatshaushalt und Naturhaushalt entgegen. Wir werben für Schöpfungsverantwortung und nachhaltigem Konsum mit dem Ziel eines verbürgten Nachhaltigkeitsbegriffes, der vom Missbrauch und Beliebigkeit befreit ist und zu zukunftsfähigen Lebensstilen hinführt, die in einen weltfamiliären Konsens eingebunden sind. Unwort des Jahres – Laufzeitverlängerung, DNR-MV 27.11.10 in Berlin 14 Biologische Vielfalt Die Biodiversitäts-Politik darf nach dem Nagoya-Gipfel als erfolgreich gewertet werden; insbesondere die deutschen NGO’s haben dort respektable Erfolge erzielt. Dieses Ergebnis ist nicht nur wegen der Beschlüsse selbst bedeutsam, sondern weil damit buchstäblich der Rio-Prozess vor der totalen Paralyse bewahrt werden konnte. Nachdem die Klimaverhandlungen völlig festgefahren sind und die Desertifikationskonvention immer mehr in die Bedeutungslosigkeit abgleitet, hätte es den Rio-Prozess insgesamt (und den Rio+20-Gipfel 2012) in Frage gestellt, wenn auch die dritte Rio-Konvention handlungsunfähig geworden wäre. Dank der guten Vorarbeit durch die deutsche CBD hat die japanische Präsidentschaft echte Erfolge erzielt. Wichtigster Unwort des Jahres – Laufzeitverlängerung, DNR-MV 27.11.10 in Berlin 15 Fortschritt ist zweifellos die Verabschiedung des ABSProtokolls. Länder und deren Bevölkerung mit großem Naturreichtum müssen zukünftig an den Gewinnen der Pharma-, Chemie- und Medizinfirmen aus der Nutzung natürlicher Ressourcen beteiligt werden. Durch die Umsetzung einer neuen internationalen Strategie mit 20 konkreten Unterzielen soll der weltweite Verlust an biologischer Vielfalt bis 2020 gestoppt werden. Erstmals seit Verabschiedung der CBD im Jahre 1992 gibt es bei den Finanzen einen konkreten Verfahrensvorschlag mit entsprechenden Instrumenten, die bis zur nächsten Konferenz 2012 in Indien die tatsächlich geleisteten Zahlungen für den Erhalt der biologischen Vielfalt und vor allem den Bedarf an zusätzlicher Unterstützung darlegen sollen. Darunter erfreulicherweise auch der für umweltschädliche Subventionen, der Unwort des Jahres – Laufzeitverlängerung, DNR-MV 27.11.10 in Berlin 16 für Zwecke des Erhalts der Biodiversität verwendet werden kann. Unwort des Jahres – Laufzeitverlängerung, DNR-MV 27.11.10 in Berlin 17 Biodiversitäts-Verlust in Deutschland 1970 hat der DNR im Auftrag der Bundesrepublik Deutschland das Europäische Naturschutzjahr ausgerichtet. Damals herrschte eine fulminante Aufbruchstimmung und wir haben über fünfhundert Veranstaltungen in Deutschland durchgeführt. Die Säle waren voll und die Herzen der Menschen schienen offen für den Naturschutz. Der Artenschutz war in aller Munde. 40 Jahre nach dem Europäischen Naturschutzjahr 1970 stand die BRD wieder einmal im Mittelpunkt von Biodiversitätskonferenzen und Biodiversitätsstrategien. Leider haben wir in diesem Bereich nur Enttäuschungen und immerwährende Verlust-Bilanzen zu vermelden. Niemand wagt mehr eine Prognose, wann oder ob überhaupt das Ziel Unwort des Jahres – Laufzeitverlängerung, DNR-MV 27.11.10 in Berlin 18 vom Stop des Artenschwundes erreicht wird. Der sich verstärkende Abwärtstrend macht uns schier hoffnungslos und traurig, zumal wir inzwischen über das dramatische Zusammenspiel von Klimaschutz und Artenschwund Bescheid wissen. Wir stehen vor einem Trümmerhaufen der Artenvielfalt. Zu Recht hat die Bundeskanzlerin bei der Eröffnung des Jahres der Biologischen Vielfalt 2010 den Artenschwund und den Klimawandel als die größten Herausforderungen unserer Zeit bezeichnet. Leider weist die Tagespolitik in die verkehrte Richtung, wofür ein „Wachstumsbeschleunigungsgesetz“ geradezu symbolhaft wirkt und das Jahr der Biodiversität ad absurdum geführt hat. Unwort des Jahres – Laufzeitverlängerung, DNR-MV 27.11.10 in Berlin 19 Vom Wert an sich Bei den Diskussionen um die Biodiversität hat die Inwertsetzung von Natur eine große Rolle gespielt (TEEB Studie). Mir scheint dabei eine Gefahr zu bestehen, dass der „Wert an sich“ von Tier- und Pflanzenarten zu kurz kommt. Diese neue Denkweise der Geldwertfindung für Arten macht misstrauisch und ist brüchig, weil die Dienstleistungen der Natur eben nicht allein in Euro ausgedrückt werden können. Das zynische Instrument der Ausgleichsmaßnahmen in Geld widerspricht zudem dem Geist des Naturschutzgesetzes, der jeder Art einen „Wert an sich“ einräumt. Seit der Naturphilosoph Wilhelm Heinrich Riehl 1856 ein „Recht der Wildnis“ forderte, wird in Deutschland über den Unwort des Jahres – Laufzeitverlängerung, DNR-MV 27.11.10 in Berlin 20 Eigenwert der Natur gestritten. Erst im Jahre 2002 gelang es, die drei bedeutungsvollen Worte, dass die Natur einen „Wert an sich“ besitzt, in der Novelle des Bundesnaturschutzgesetzes zu verankern – ein gewaltiger Fortschritt in der Rechtswissenschaft, aber auch in der Ethik. Endlich haben Menschenrechte und die Lebensrechte der Mitgeschöpfe den gleichen Rang. In jüngster Zeit haben sich auch die Wirtschaftswissenschaftler und die Finanzkundigen des Wertes von Tier- und Pflanzenarten angenommen und versucht, deren Geldwert zu erfinden, nachdem der Verlust von Artenvielfalt für die menschliche Ernährung, für Medizin oder vielerlei Rohstoffe und für das Geschäft mit der Natur gefährlich wird. Vom „Kapitalabbau“ im Naturhaushalt ist die Rede und dass die Menschheit Hunderte von Milliarden an Euro oder Dollar durch den „Biodiversitätsverlust“ verliere. Es ist ja gut, dass Unwort des Jahres – Laufzeitverlängerung, DNR-MV 27.11.10 in Berlin 21 diese Inwertsetzung der Arten endlich in das politische Tagesgeschäft Eingang gefunden hat. Mir scheint aber, dass wir mit dem Schwund der Artenfülle mehr verlieren als bloßes Geld. Und ich kann von keiner einzigen Pflanze, von keinem Schmetterling, keinem Vogel, keinem Baum und nicht von einer handvoll Erde oder einer Quelle sagen, für wie viel Geld ich sie entbehren möchte. Es ist mit dem Wert der Natur eben so wie mit dem Wert eines Schmuckstückes, das Du vielleicht als Erinnerung an Deine Mutter bei Dir trägst. Ein Juwelier mag Dir den Materialwert errechnen. Aber niemand kann sagen was es Dir wirklich wert ist. Unwort des Jahres – Laufzeitverlängerung, DNR-MV 27.11.10 in Berlin 22 60 Jahre Deutscher Naturschutzring 2010 war ein Jahr von Jubiläen, die für die Geschichte der Naturschutzbewegung auf nationaler und internationaler Ebene bedeutsam sind, weil sie eine vielfältige gesellschaftspolitische Wirkungsgeschichte ausgelöst haben: Vor 60 Jahren Gründung des Deutschen Naturschutzrings, vor 40 Jahren das erste Europäische Naturschutzjahr (1970), das erste Umweltministerium (in Bayern), der erste Nationalpark in Deutschland, das „Ökologische Manifest“, die „Gruppe Ökologie“, die Beschreibung der „Grenzen des Wachstums“ (Club of Rome). Im Anschluss dieser Umbruchstimmung regten sich weltweite Aktivitäten, so 1972 die erste globale Umweltkonferenz in Stockholm, 1992 Erdgipfel von Rio, 2002 NachhaltigkeitskonUnwort des Jahres – Laufzeitverlängerung, DNR-MV 27.11.10 in Berlin 23 ferenz in Johannesburg, zuletzt Klimagipfel in Kopenhagen 2009. Über eine Menschengeneration lang wurden, zuerst regional, dann global die Grenzen der herkömmlichen Natur und Kultur beschworen. Schon 1947, als unser Land noch daniederlag, aber die Lust des Wiederaufbaus keimte, rührten sich in der Naturschutzbewegung solche Stimmen: „Nicht Kultur und Zivilisation sind die Grundlagen unseres Daseins, sondern einzig die Natur ist die Wurzel von allem und jedem, selbst in diesen Zeiten der größten Not.“ Unwort des Jahres – Laufzeitverlängerung, DNR-MV 27.11.10 in Berlin 24 Und 1950 bei der Gründung des Deutschen Naturschutzringes hieß es: „...Wir sind keine Pessimisten. Wenn wir es wären, stünden wir nicht beim Naturschutz... ...Wenn die Menschen sich schon als Treuhänder betrachten in der Verwaltung dieser Erde, dann müssen sie auch die Folgerung daraus ziehen, dass ein Treuhänder zum Verbrecher wird, wenn er anvertrautes Gut egoistisch vergewaltigt, um schließlich eine Wüste zu hinterlassen.“ ... 30 Jahre nach der Gründung des DNR stellt Prof. Dr. Bernhard Grzimek fest: Unwort des Jahres – Laufzeitverlängerung, DNR-MV 27.11.10 in Berlin 25 „...Wir müssen wieder in Kreisläufen wirtschaften, also unsere Ausbeutungsmentalität total ändern und die Entwicklungshilfe in den Dienst der Ökologie stellen und damit neue Wertmaßstäbe für Wohlstand und Wachstum zur Geltung bringen. ...“ Bei der 50-Jahrfeier schließlich beschwört der damalige Präsident des DNR Prof. Dr. Wolfgang Engelhardt die Politik: „Die globale Klimaänderung, die Zerstörung der Wälder, besonders der tropischen Regenwälder, aber auch vieler borealer Wälder, der rasante Artentod – die allgemeine Globalisierung von Wirtschaft, Verkehr und Kommunikation erfordern dringend eine globale Umweltpolitik, die von einer nachUnwort des Jahres – Laufzeitverlängerung, DNR-MV 27.11.10 in Berlin 26 haltigen Entwicklung nicht nur redet, sondern sie so schnell wie irgend möglich verwirklicht.“ Leider sind die frühen Warnungen ungehört und ohne Konsequenzen für eine Zukunftspolitik geblieben, die seinerzeit noch korrigierbar gewesen wäre. Aber der Zeitgeist war ein anderer, was die Entwicklung einer gesellschaftspolitischen Gegenbewegung geradezu herausforderte und den Deutschen Naturschutzring und seine Einzelverbände stetig wachsen ließ, so dass heute über fünf Millionen Einzelmitglieder hinter dieser Idee stehen und die Demokratie mitgestalten können. Heute kommt Politik und Gesellschaft nicht mehr an der Ökologiebewegung, zu der neben dem DNR noch eine Reihe weiterer Gruppierungen zählen, mit denen wir kollegial zusammenarbeiten. Unwort des Jahres – Laufzeitverlängerung, DNR-MV 27.11.10 in Berlin 27 Die Einzigartigkeit des Dachverbandes DNR wird deshalb auch in der internationalen Szene gerühmt, weil es uns gelungen ist, trotz der Vielfalt der Blickwinkel unserer Mitglieder und trotz gelegentlicher inhaltlicher Differenzen, welche wir über die Jahrzehnte hinweg immer freundschaftlich ausgetragen haben, das gemeinsame verbindende Ziel des Naturschutzes und der Nachhaltigkeit im Auge behalten haben. Und wenngleich einige unserer Mitgliedsverbände groß genug wären, um ihre eigenständige Verkehrspolitik zu vertreten, haben sie erkannt, wie wichtig es ist, gerade die kleineren, spezialisierten Organisationen in unsere „Familie“ einzubinden, damit die Kräfte noch mehr gebündelt werden. Wir haben dazu beigetragen das bürgerschaftliche Engagement aufrechtzuerhalten, ohne das ein Staat gerade in Zeiten Unwort des Jahres – Laufzeitverlängerung, DNR-MV 27.11.10 in Berlin 28 des Umbruchs und des Wertewandels, wie wir sie in diesen Tagen erleben, nicht existieren könnte: So ist die Geschichte der Umweltbewegung auch die Geschichte des Ehrenamtes, welche unsere Demokratie trägt. Und darauf dürfen wir stolz sein und allen Ehrenamtlichen Dank sagen. Jetzt zu Beginn des zweiten Jahrzehnts im neuen Jahrhundert stehen erneut programmatische Herausforderungen vor uns, die wir im Rahmen der gerade laufenden Leitbilddebatte gemeinsam zu beantworten versuchen. Es gilt das Selbstverständnis der Umwelt- und Naturschutzbewegung zu klären: Was ist unser Verständnis von Natur und Mitwelt, wie finden wir Wege aus der Demokratie und Umwelt gefährdenden Wachstumsfalle und was bedeutet verbürgte, ehrliche Nachhaltigkeit anstelle der Beliebigkeit, mit der dieser Leitbegriff zukunftsfähiger Politik belastet ist. Unwort des Jahres – Laufzeitverlängerung, DNR-MV 27.11.10 in Berlin 29 Das neue Denken Nie zuvor in der Geschichte gab es so viele Umbrüche auf einmal in der Welt wie in unserer Zeit. Wir sind an einen Punkt gekommen, wo das Fenster für einen Paradigmenwechsel, also für den Ausstieg aus der Wachstumsgesellschaft und für einen Wertewandel immer enger wird. Wenn es uns gelingen soll die Heilsformel vom „Wachstum“ durch die Vision der „Nachhaltigkeit“ und die Bilder vom materiellen Reichtum durch Glück auszutauschen, bedarf es mehr als nur technischer Parameter. Anstatt das Wachstums-Ritual bei jeder Gelegenheit aufzuzeigen sollten wir endlich erkennen, dass sich das Wohlergehen eines Volkes nicht am Bruttosozialprodukt messen lässt, son- Unwort des Jahres – Laufzeitverlängerung, DNR-MV 27.11.10 in Berlin 30 dern dass wir auf die Suche nach den „Glücksprodukten“ gehen sollten. Auf diesem unbekannten Weg ist allenfalls gewiss, dass uns Technik und Naturwissenschaften allein nicht aus den Krisen führen können, sondern dass ein mystischer Aufbruch notwendig ist, denn wir sind an einem Punkt angelangt, der neues Fühlen und Denken erfordert: „Die Zukunft der Welt ist nicht materiell, sondern geistig“, meint der Physiker H. P. Dürr und schließt damit an die Erkenntnis von Max Planck an, der am Ende seines Lebens gemeint hat, er sei jetzt an einem Punkt angelangt, „wo sich Naturwissenschaft und Religion zärtlich berühren“. Wir sollten uns als Umweltbewegung nicht scheuen AußerRationales mit in unsere Überlegungen aufzunehmen, so Pro- Unwort des Jahres – Laufzeitverlängerung, DNR-MV 27.11.10 in Berlin 31 grammpunkte wie die Albert Schweitzer’sche „Ehrfurcht vor dem Leben“ sind in der Zukunftsdebatte genauso angebracht. Vielleicht machen solche Einsichten auch jene Rationalisten ein wenig nachdenklich, die gelegentlich unsere Emotionen belächeln. Bringen wir also auch die Seele mit an die Verhandlungstische, wenn es um die Schöpfung geht. Dabei müssen wir angesichts der sich überschlagenden Fülle von Ereignissen und Fakten der weltweiten Informationslawinen und des Medienterrors mittlerweile schon nach Jahresfrist erleben, dass heute nicht mehr stimmt, was gestern noch gültig war. Unsere Seelen verkraften diese Zeitverkürzungen nicht mehr. Es scheint als drehe sich die Erde schneller und als ziehe es uns den Boden unter den Füßen davon. Deshalb ist es so wichUnwort des Jahres – Laufzeitverlängerung, DNR-MV 27.11.10 in Berlin 32 tig ein festes Stück Erde unter den Füßen zu wissen, das ich Heimat nenne, das man lokal und kulturell mitgestalten kann. Wer es also ehrlich meint mit der Heimat, der sollte sich angesichts der weltweiten Nivellierung von Identität und Regionalität um redliche Heimaterhaltung bemühen und den Begriff nicht in Bierzelten missbrauchen. Denn mit der Vereinsamung in der Welt der Großstrukturen wächst das Bedürfnis und die Suche nach dem Überschaubaren. Die kleine Welt im Herzen tragen und die große Welt im Blick behalten – das ist die Herausforderung des neuen Denkens. Im Wissen um die weltfamiliären Zusammenhänge also die Umwelt vor der eigenen Haustüre, im eigenen Land bewahren und Unwort des Jahres – Laufzeitverlängerung, DNR-MV 27.11.10 in Berlin 33 die Heimat Erde als ein gemeinsames Lebewesen betrachten, aus dem wir nicht aussteigen können. Heimat hat mit Kultur, mit Werten, mit Natur und mit Glück zu tun. Wohlstandswachstum allein macht auf Dauer nicht glücklich. Nachhaltig glücklich sein bedeutet mehr als nachhaltig reich sein. Mehr Zeit haben oder mehr Gesundheit haben ist was anderes als mehr Geld besitzen. Diese neue Art von Naturschutz fordert weder Verzicht und Askese, noch die Pflicht zur Enkelverantwortung ein, sondern lebt im Jetzt: Ich will für mich und für die jetzt lebenden Menschen und Mitgeschöpfe den Zauber des Lebens und der Wildnis und die Lust an der Natur bewahren. Unwort des Jahres – Laufzeitverlängerung, DNR-MV 27.11.10 in Berlin 34 Die Suche nach Gleichgewicht ist angesagt anstatt Wachstum und die Erkenntnis, dass Verzichten können der Luxus von morgen ist. Meine Vision wäre die wirkliche Solidargemeinschaft von gleichgesinnten Menschen und zwischen Menschen und Mitgeschöpfen. Nicht das hehre Geschwätz von Pflicht und Verantwortung oder die Predigt über Askese und Verzicht macht uns glaubwürdig, sondern unsere Gespürigkeit im Umgang miteinander und mit allem Lebendigen. Ich gebe meine Hoffnung darauf nie auf, weil ich im Naturschutz Glück und Freude finde. Unwort des Jahres – Laufzeitverlängerung, DNR-MV 27.11.10 in Berlin 35 Könnte dies nicht eine zukunftsfähige Botschaft für den DNR an seinem 60. Geburtstag sein: Mehr Behutsamkeit und mehr Bescheidenheit in die Welt hineintragen. Unwort des Jahres – Laufzeitverlängerung, DNR-MV 27.11.10 in Berlin