Lehr - Evangelische Akademie Tutzing

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Evangelische Akademie Tutzing
Heilsbronn ,18./19, Februar 2005
Würde und Wert des Alters
Leben in einer Zeit des langen Lebens
- eine Herausforderung für den Einzelnen und die Gesellschaft
Prof. Dr. Dr. h.c. Ursula Lehr
DZFA Universität Heidelberg
Wir leben in einer Zeit des langen Lebens. Zu keiner Zeit zuvor haben so viele
Menschen ein so hohes Lebensalter erreicht. Und zu keiner Zeit zuvor haben so viele
alte und sogar hochaltrige Menschen so wenig jungen Menschen gegenüber
gestanden. Sehen wir darin nicht ein Problem, sondern eine Chance! Sowohl die
zunehmende Langlebigkeit als auch das damit einhergehende Altern unserer
Gesellschaft, mitbedingt durch den Rückgang der Geburtenzahlen, verpflichtet jeden
Einzelnen von uns, aber auch die Gesellschaft, alles zu tun, um möglichst gesund
und kompetent als zu werden.
Wir alle werden älter: von Tag zu Tag, von Woche zu Woche, von Monat zu Monat,
von Jahr zu Jahr. Dass wir älter werden, - daran können wir nichts ändern. Aber wie
wir älter werden, das haben wir zum Teil selbst in der Hand. Es kommt nämlich nicht
nur darauf an, wie alt wir werden, sondern wie wir alt werden. Es gilt, nicht nur dem
Leben Jahre zu geben, sondern den Jahren Leben zu geben. Es gilt, - sowohl für
den Einzelnen als auch für die Gesellschaft - aufgeschlossen zu sein für den Wert
des Alters, neben etwaigen Belastungen auch die positiven Seiten des Älterwerdens
wahrzunehmen und diese zu nutzen.
1) Herausforderungen an den Einzelnen:
Freuen wir uns über die zunehmende Langlebigkeit – doch versuchen wir alles,
damit aus den gewonnenen Jahren erfüllte Jahre werden! Setzen wir uns für ein
PRO- AGING ein, ein für ein Älterwerden bei möglichst großem körperlichen und
seelisch-geistigen Wohlbefinden. Wir wollen ja gar nicht „ewig jung“ bleiben, wie
es der Slogan „forever young“ verspricht. Wir wollen gesund alt werden! Wir
Senioren wenden uns auch gegen ein heutzutage übliche „Anti-AgingKampagne“, denn „anti –aging“ setzt voraus, dass Altern etwas Schlimmes ist,
gegen das man angehen muss, das man fürchten muss. Wir sind nicht gegen das
Altern, das wir ohnehin nicht verhindern können und wollen, wir sind aber für ein
möglichst gesundes und kompetentes Älterwerden!
„Ich möchte noch mal 20 sein...“ – so ein alter Schlager, ein Wunsch, den sicher
die meisten der heutigen Seniorinnen und Senioren nicht teilen. Wenn heute alte
Menschen zurück denken an die Zeit, als sie 20 waren:.......Kriegszeit,
Nachkriegszeit, Hunger und Kälte, schlechte Wohnverhältnisse.. und danach:
Familiengründung, Kinder (die sicher viel Freude gemacht haben, aber auch manche
Sorgen! Wie hat man gebangt, als sie krank waren, wie hat man mit ihnen bei
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Prüfungen gezittert), was gab es in Ihrem ganz persönlichen Leben für Höhen und
Tiefen, für Freuden und Sorgen, für angenehme Erlebnisse und Erfahrungen – und
für Enttäuschungen. Das alles hat die alten Menschen geprägt und zu dem
gemacht, was Sie heute sind.
„Leben ist Lernen“, ist Verhaltensänderung aufgrund von Erfahrungen! Und ein
langes Leben bringt viel Erfahrungen mit sich, trägt zur Reife bei, zur
Gelassenheit, vielleicht auch zu einer gewissen Abgeklärtheit und Weisheit bei.
Im Alter können Menschen toleranter sein – sich selbst gegenüber, aber auch
den anderen gegenüber. - Ein jeder, Jung und Alt, sollte sich mit seiner
Vergangenheit, mit seinem bisherigen Leben und Älterwerden aussöhnen, sollten
bei einem Rückblick nicht nur nach möglicherweise Misslungenem fragen, sondern
sich an dem Gelungenen freuen! Wenn wir rückblickend unser eigenes Leben
betrachten, sehen wir heute manches anders als damals, als es geschah. - Unsere
biografischen Studien bei über 60jährigen an den Universitäten Bonn und Heidelberg
zeigen: manche Begebenheit, über die man vor Jahren fast verzweifelt wäre, die
damals als großes Unglück erschien, einen vielleicht sogar beinahe aus der Bahn
geworfen hätte, die einen damals sehr, sehr traurig stimmte – sieht man heute mit
Abstand vielleicht in einem anderen Licht und sagt sich: “wer weiß, wozu das gut
war!“ Güte, Abgeklärtheit und Gefasstheit sind Anzeichen für das Maß des
Offenbleibens für neue Entwicklungen, auch noch im höheren Alter. „und sei es
auch nur jener (Entwicklung), welche weniger dieses oder jenes erreichen will,
sondern sich einfach tragen lässt, von irgendeiner Erinnerung vielleicht, von einem
Glanz, der früher das Leben erhellte und lebenswert gemacht hatte, von dem
„Wissen“ um einen Tag, eine Stunde, die besonders gut geraten schien.“ (THOMAE,
1966, S. 111). –
Doch diese Rückbesinnung auf die Vergangenheit sollte nicht auf Kosten des
Erlebens der Gegenwart gehen und erst recht nicht den Blick in die Zukunft
versperren, auch nicht bei Hochaltrigen! Seien wir dankbar für schöne Erlebnisse,
integrieren wir sie in unser Sein - und seien wir nicht undankbar für manche
unangenehme Erfahrungen und Schicksalsschläge, die uns auch zu dem gemacht
haben, was wir heute sind.
Aufgaben, Herausforderungen, Probleme, Konflikte, manchmal auch Krisen,
begleiten uns während des ganzen Lebens und gehören nun einmal zum
Älterwerden dazu. Freuen wir uns, dass wir sie gemeistert und überstanden
haben! Kürzlich fiel mir hierzu ein Spruch von Ingeborg Albrecht in die Hand, der das
treffend beschreibt:
Schönes habe ich erlebt Goldfarben der Teppich
des Lebens durchwebt.
Auch dunkle Fäden
sind manchmal dabei.
Doch, wollt ich sie entfernen,
der Teppich riss` entzwei
(Ingeborg ALBRECHT:Weit spannt sich der Lebensbogen; Puchheim; Idea Vlg., 2001)
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Zur Würde und Wert des Alters gehört ein JA- Sagen zu unserer Vergangenheit, zu
unserem Älterwerden – und ein JA- Sagen zu unserer Zukunft! Sehen wir im
Älterwerden eine Chance!
Erich ROTHACKER, der Bonner Philosoph, hat schon in den 30er Jahren in
seiner Abhandlung über „Altern und Reifen“ gezeigt, dass zwar körperliche
Fähigkeiten nachlassen, geistige Fähigkeiten hingegen oft wachsen und reifen:
diese Reifungskurve geht in die Höhe, steigt an, während die körperliche Alterskurve
oft sinkt, körperliche Probleme oft zunehmen.
Ähnlich hat man das Älterwerden mit einer Bergbesteigung verglichen: je
höher wir hinaufkommen, um so mehr lassen unsere körperlichen Kräfte nach,
aber um so schöner und lohnender ist die Aussicht! - Stöhnen wir nicht nur
über das mühselige Erklimmen, sondern halten wir inne, freuen wir uns über
die weite Sicht am Berggipfel und genießen den Tag! Carpe diem!
Hans Thomae, der Begründer der Deutschen Alternsforschung, spricht – auf
interindividuelle Unterschiede in der Entwicklung anspielend - von „Variationen
der Lebenshöhe“, die man bei diesen und jenen Persönlichkeiten finden kann. Er
stellt hier Vorgänge der „Verinnerlichung“ jenen der „Veräußerlichung“
gegenüber. „Wenn der Schwerpunkt der Seele im Außen, im eigenen Leib, in der
Kleidung, der Wohnung, dem Besitz, den materiellen Gütern liegt“, sprechen wir von
„Veräußerlichung“: „Eine veräußerlichte Seele lebt so, als ob ihr ganzes Heil allein
von dem Haben bestimmter äußerer Güter und von dem Fernsein bestimmter
äußerer Übel abhinge“ (1966, S.101). Angst vor Verlust äußerer Güter (auch vor
Verlust der „Schönheit“) ruft eine ständig wachsende Unbefriedigtheit und Angst vor
dem Alter hervor. Hier wird man Altern nicht als Wert, als Chance erlebt werden
können, hier dürfte eine Pro-Aging Einstellung, ein JA-Sagen zum Älterwerden, sehr
schwer fallen. – Verinnerlichung hingegen würde bedeuten, sich auf seine
Wesensmitte zu besinnen, das zu verfolgen, was einem persönlich wesentlich
erscheint, seinem eigenen Wesen entspricht. „Veräußerlicht“ würde man auch eine
Formierung der Persönlichkeit nennen, welche die Erfahrungen und Erlebnisse nur
mehr anfügt, sie aber nicht mehr zu integrieren vermag – Verinnerlichung wäre,
neues Erfahrungsgut aufzunehmen, neue Erlebnisse zu verarbeiten. - Rainer Maria
RILKE äußerte sich im „Malte Laurids Brigge“ : „Ich lerne sehen. Ich weiß nicht,
woran es liegt, es geht alles tiefer in mich ein und bleibt nicht an der Stelle stehen,
wo es sonst immer zu Ende war. Ich habe ein Inneres, von dem ich nicht wusste.
Alles geht jetzt dort hin.“ Beschrieben wird hier ein Anfang neuer seelischer
Entwicklung, der auch noch im hohen Alter möglich ist.
Kommen wir zurück zu unserem Bergsteiger: Wie erlebt er den Gipfel? Ist er
aufgeschlossen, kann er die neuen Eindrücke verarbeiten, verinnerlichen,
kommt es bei ihm zu einem vertieften Erleben („ich lerne sehen“) - oder zählen
für ihn nur Äußerlichkeiten, die erreichten 2.100 Meter, die Mühen, der
Muskelkater, die Blasen an den Füßen?
Der eine erlebt im Alter nur Verengungen und Reduzierungen des eigenen
Lebensraumes; sein Blick ist stärker auf körperliche Probleme, das Aussehen, die
Falten, und materielle Güter gerichtet: er sieht nur Verluste; – bei ihm mag im
wahrsten Sinne des Wortes eine Anti-Aging - Einstellung dominieren; er hat Angst
vor dem Altern; er mag das Alter ablehnen; ihm ist der Weg versperrt, die
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positiven Seiten des Älterwerdens wahrzunehmen. Der andere mag bei einer
vergleichbaren körperlichen und materiell/finanziellen Situation im Alter eine
Daseinserweiterung erleben, „ich lerne sehen...“, ich erfahre Neues oder sehe
Altes unter eine anderen Blickwinkel und integriere es, verinnerliche es. Dieser
Ältere erlebt auch Gewinne des Alters.
2) Herausforderungen an die Gesellschaft
Doch eine positive Einstellung zum Alter, ein Pro- Aging wird natürlich auch
erheblich beeinflusst durch die Gesellschaft, in der wir leben, - vom Ansehen, der
Stellung, der Wertschätzung , welche die Gesellschaft dem alten Menschen
entgegenbringt, - von einer Entwicklung einer „Alterskultur“, von der wir in
Deutschland noch weit entfernt sind.
Wenn Kultur u.a. auch bedeutet, die Wege zur Entwicklung der natürlichen
Fähigkeiten bereitzustellen, d.h., auch den Menschen, der die Lebensmitte
überschritten hat, „zu fördern, seine Fähigkeiten, Interessen und Bedürfnisse in
gleicher Weise zu beachten und zu nutzen wie jene der jüngeren Menschen“
(KRUSE, 2000), dann ist es heute um unsere Alterskultur weniger gut bestellt.
Unzählige Beispiele der Altersdiskriminierung zeugen davon.
Das Bild des alten Menschen, das in historischen Zeiten vorwiegend ein durchaus
positives war und heute noch bei manchen „Naturvölkern“ vorherrscht, in denen
der Ältere eine Seltenheit ist und als Ratgeber betrachtet wird, in denen gerade den
Alten richterliche, lehrende und heilende Funktionen zugesprochen werden,
(ROSENMAYR, 2001) hat sich bei uns erheblich verändert. Alter bedeutet seit der
Mitte des letzten Jahrhunderts Funktionsverlust ( TARTLER, 1961). Der „Wert“
des alten Menschen wird infrage gestellt. Der alte Mensch als Ratgeber ist heute
zum Ratsuchenden abgestempelt worden, wovon man sich in jeder Buchhandlung
mit meterlanger Ratgeberliteratur überzeugen kann.
Negativ akzentuierte Altersbilder findet man im Alltag, im Schullesebuch, - in der
Werbung, in der der alte Mensch als Treppenlift- Benutzer, als Kukident Verbraucher, der für seine Gelenke Vitamin E notwendig hat, oder als inkontinenter
WC-Sucher dargestellt wird, selbst neuerdings bei äußerlich annehmbarer
Erscheinung. Der Großvater, der der Enkelin etwas „für`s Sparbuch` schenkt wird
belehrt, dass ein Sparbuch heutzutage altmodisch sei und man heute
Investmentfonds oder Aktien vorzieht. – (Hätte man hier doch auf den Rat des Alten
gehört!). –
Aber ein negatives Altersbild wird zudem auch sehr deutlich, wenn z.B. ein
schlechtes Spiel eines Fußballspielers oder Misserfolge eines Leistungssportlers
kommentiert werden mit den Worten : „sieht der aber heute alt aus!“ . Alt wird
hier mit Versagen, mit Wertverlust, gleichgesetzt. - Zu einer mehr positiven
Einstellung zum Alter trägt aber gewiss auch nicht bei, wenn Beratungsgremien in
der Politik, aber auch in der Wirtschaft, in denen Endfünfziger tätig sind, in den
Medien mit „Grufties-Riege“ bezeichnet werden – und ein „Generationswechsel“
immer nur positiv hervorgehoben wird. Den „alten Bellheim“, das Gegenbeispiel,
findet man in den Medien selten. Wir brauchen heute ein Zusammenstehen und
Zusammengehen aller Generationen!
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Kürzlich hat sich eine Klasse des 4. Schuljahres, 10 jährige, Gedanken über das
Alter gemacht. Das gemalte und beschriebene Bild war vielseitig, aber doch negativ
getönt: alt, krank, schwächlich, einsam, uninteressiert. – Befragt, ob diese
Beschreibung für die eigenen Großeltern zutreffe, erhielt man durchweg eine strikte
Zurückweisung: Nein, die eigenen Großeltern (die allesamt jenseits der 70
waren), “die sind doch noch nicht alt“.
Hier wird deutlich: Altern wird zwar vorwiegend negativ, durch Abbau, Hilfs- und
Pflegebedürftigkeit gekennzeichnet gesehen, - aber der über 65-, 70 und 80
jährige und ältere ist oft „noch nicht alt“ – im Erleben der Kinder, - im Gegensatz
zur Einstellung in unserer Gesellschaft, die den Menschen mit der
„Altersgrenze“, d.h. mit dem Zeitpunkt der Verrentung oder Pensionierung zu den
Senioren „abschiebt“ und als mehr oder minder „wertlos“ für den Betrieb
betrachtet. Und dies geschieht für viele Menschen heute vor dem Erreichen des
60.Lebensjahres, zu einer Zeit, zu der sie noch mehr als ein Viertel ihres Lebens vor
sich haben.
Hier muss ich Frank SCHIRRMACHER recht geben, dessen Buch
„Methusalemkomplott“ Anfang des Jahres Aufsehen erregte, der gefordert hat: Wir
müssen unsere Lebensläufe anders konzipieren, sie an die viel längere
Lebenserwartung anpassen....und nicht, wie bisher, gleichsam mit der Pferdekutsche
des 19. Jahrhunderts im 21. Jahrhundert herumfahren...Wir brauchen eine
Kalenderreform unseres Lebens! – Indem wir das Altern umdefinieren, helfen wir
unseren Kindern mehr als dadurch, dass wir ständig um die verpassten Geburten
von 1984 weinen. Die hat es nicht gegeben. Und die, die damals nicht geboren
worden sind,...werden auch nicht Kinder auf die Welt bringen.
II. Unsere alternde Welt
Lassen Sie mich nun unter 5 Aspekten einige weitere Fakten zur „alternden
Welt“ deutlich machen, den demografischen Wandel etwas analysieren , und
die sich daraus ergebenden Herausforderungen für jeden Einzelnen und die
Gesellschaft aufzeigen.
1.Die Erhöhung der durchschnittlichen Lebenserwartung,
die vor 100 Jahren nur 45 Jahre betrug, während heute ein neugeborener Junge mit
fast 75 Jahren, ein neugeborenes Mädchen mit fast 82 Jahren rechnen kann. Aber,
der heute bereits 60jährige (ein Alter, in dem für die meisten der „Ruhestand“
beginnt) hat im Durchschnitt noch weitere 25 Jahre vor sich, also mehr als ein Viertel
seines Lebens! Sind wir darauf vorbereitet?
Doch, wir haben nicht nur eine Verlängerung der Lebenszeit im Alter, wir haben auch
eine Verlängerung der Jugendzeit! Unsere Großväter und Großmütter sind viel
früher ins Berufsleben eingetreten, haben viel früher eine Familie gegründet und
„ihren Mann“ bzw. „ihre Frau“ gestanden, Verantwortung übernommen. Heute zählt
die Jugendzeit bis 35 (so die Altersgrenze in allen Parteien, bei der Jungen Union,
den jungen Liberalen und den Jungsozialisten), ab 45 aber zählt man schon zu den
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„älteren Arbeitnehmern“, ab 50 ist man zu alt für jeden neuen Job und ab 55 greift
die „Seniorenwirtschaft“ nach einem; Seniorenmessen sprechen die 55+er an. 35
Jahre jung, 10-15 Jahre erwachsen und dann 35 Jahre alt? Vom Bafög in die Rente?
Das kann doch nicht der Sinn unseres Lebens sein!
Umberto ECO stellte kürzlich fest: der größte Fortschritt – über die Jahrhunderte
hinweg – wurde nicht etwa auf dem Gebiet der Technik, des Computers, der SMS
erreicht, sondern auf dem Gebiet des Lebens! Der Computer wurde schon von der
Rechenmaschine Pascals angekündigt, der mit 39 Jahren starb (1623-1663) - und
das war schon ein schönes Alter! Alexander der Große (356-323 v. Chr.) und Catull
starben schon mit 33, Mozart (1756-1791) mit knapp 36, Chopin (1810-1849) mit 39,
Spinoza (1632-1677) mit 45, der Hl. Thomas v. Aquin (1225-1274) mit 49,
Shakespeare (1564-1616) und Fichte (1762-1814) mit 52, Cartesio (Descartes)
(1596-1650) mit 54, Beethoven mit 56 (1770-1827), Hegel (1770-1831), uralt, mit 61..
„Wir glauben immer noch, uns in einer Epoche zu befinden, in der die Technik
jeden Tag Riesenfortschritte macht, wir fragen uns, wohin uns die
Globalisierung bringen wird, aber selten denken wir darüber nach, dass die
größte Entwicklung der Menschheit, und darüber hinaus die schnellste, die
Erhöhung des Durchschnittsalters ist.“ (Umberto Eco, 2004). Natürlich hat
Umberto Eco recht, doch wir sollten nicht übersehen, dass in einem nicht
unerheblichen Maße die Entwicklung der Technik zur Langlebigkeit beiträgt, - man
denke beispielsweise nur an die Entwicklung des Kühlschranks und die
Medizintechnik oder die der Informationstechnik.
2. Die graying world, die alternde Gesellschaft.
Vor 100 Jahren waren 5% der Bevölkerung 60 Jahre und älter. Heute sind es 25% In etwa 25 Jahren werden 35-38% der Bevölkerung über 60 sein - und nur 16-17%
unter 20 Jahren.
Doch nicht nur die über 60jährigen nehmen zu, sondern auch die über 80, 90 und
über 100jährigen! 1965 lebten in Deutschland 265 Hundertjährige, heute sind es
etwa 10.000, für 2025 rechnet man mit über 44.000 und 2050 sogar mit über
114.000 Menschen mit dreistelligem Geburtstag. Ein Drittel dieser Centenarians
können noch alleine den Alltag meistern; ein 2. Drittel ist hilfs- und pflegebedürftig,
kann aber noch außer Haus gehen, und ein 3. Drittel ist schwer pflegebedürftig und
wünscht den Tod herbei.
Unsere, aber auch internationale Untersuchungen belegen: Je älter wir werden, um
so weniger sagt die Anzahl der Lebensjahre etwas aus über Fähigkeiten,
Fertigkeiten, Interessen, über Verhaltens- und Erlebnisweisen. Gleichaltrige
zeigen oft größere Unterschiede als Menschen, deren Altersunterschied 20,30 Jahre
beträgt.
Altern ist stets das Ergebnis eines lebenslangen Prozesses mit ureigensten
Erfahrungen, mit ganz individuellen Formen der Auseinandersetzung mit Problemund Belastungssituationen. Unsere geistige Aufgeschlossenheit, unsere Ausbildung,
unser Interesse, aber auch unsere sportliche Betätigung, unsere körperliche Aktivität
in jüngeren Jahren beeinflusst Alterszustand und Alternsprozess als 70-, 80,90jährige und ältere. Machen wir uns klar: „Es kann nun einmal ein Mensch nicht
wie Goethe altern, der nicht wie Goethe gelebt hat!“
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Das Alter hat viele Gesichter. Da ist der hochkompetente, weise, belesene 85- oder
90jährige, der seine morgendliche Gymnastik macht, täglich kritisch die Zeitung liest
und die Nachrichten verfolgt, der informiert und orientiert ist, der Reisen unternimmt
und mit Neugier der Welt begegnet, - und da ist andererseits der vielleicht sogar 10
Jahre Jüngere, der von Krankheiten geplagt wird, der sich über nichts mehr freuen
kann, den weder Zeitungen noch Nachrichten interessieren, der nur ungern das
Haus verlässt, der sich zurückzieht, der Altern erleidet.
Von den Amerikanern haben wir die Bezeichnung „the young old“ und „the old old“
übernommen und haben uns angewöhnt, einen Menschen bis 80, 85 zu den „jungen
Alten“ zu rechnen und ab 85 zu den „alten Alten“. Das ist aber falsch! Manch einer
ist mit 60 schon ein alter Alter, - manch einer mit 90 noch ein junger Alter. Doch – wie bereits gesagt - bei der Diskussion des demografischen Wandels, des
Alterns unserer Gesellschaft, muss man bedenken, dass neben der zunehmenden
Langlebigkeit auch die abnehmenden Geburtenzahlen ausschlaggebend sind.
Selbst so kinderfreundliche Länder wie Spanien und Italien mit durchschnittlich nur
1,22 bzw. 1,25 Kindern pro Frau konstatieren ein Sinken der Geburtenrate.
Deutschland mit 1,34 Kindern hat nach Spanien, Italien und Griechenland (1,30) und
Österreich (1.32) die fünft-niedrigste Geburtenrate von allen Ländern der EU
(Durchschnitt: 1,53) und es ist nicht anzunehmen, dass es hier – trotz
familienpolitischer Leistungen – zu Veränderungen kommen wird. Damit man mich
nicht falsch versteht: familienpolitische Leistungen sind notwendig und sollten
sogar noch verbessert werden – aber sie sind kein Instrument einer
Bevölkerungspolitik. Ein JA zum Kind erreicht man bei der jungen Generation eher
durch eine Gewährleistung der Kinderbetreuung, durch bessere Möglichkeiten der
Vereinbarkeit von Beruf und Familie. –
Fest steht: Wir haben nicht zu viele Alte, sondern zu wenig Junge. Wir sollten
deshalb nicht von einer „Überalterung“ unserer Gesellschaft reden, sondern von
einer „Unterjüngung“! Und wir sollten alles tun, damit jungen Menschen das JA
zum Kind erleichtert wird!
3. Das veränderte Verhältnis zwischen den Generationen –
Zunächst einmal unter quantitativen Aspekten: Kamen vor 100 Jahren auf einen
über 75jährigen noch 79 jüngere Personen, so sind es heute nur noch 12,4. Und
man hat berechnet, dass im Jahre 2040 ein über-75jähriger nur noch 6,2 und im
Jahre 2050 sogar nur noch 5,5 Personen gegenüberstehen wird, die jünger als
75 Jahre sind. Mit 75 ist man noch längst nicht pflegebedürftig, aber die eine
oder andere kleine Einschränkung – sei es in der Mobilität, der Sensorik, der
Sensibilität, Einschränkungen aufgrund rheumatisch bedingter Erkrankungen –
ist dann schon gegeben.
Wenn wir diese Entwicklung vor Augen haben, dann sind auch die Gesellschaft, die
Kommune, die Städte, das Land - aber auch die Wirtschaft und Industrie gefordert.
Dann haben wir einmal z.B. Konzepte der Stadtentwicklung zu überdenken - von
der Verkehrsführung bis hin zu Sportstätten und Freizeitmöglichkeiten auch für
Ältere; Warmbadetage in Schwimmbädern werden immer notwendiger. - Wir müssen
uns weit mehr Gedanken über die Erreichbarkeit von Einkaufsmöglichkeiten.
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Arztpraxen, von Volkshochschulen, Schwimmbädern und Sportstätten machen.
Dabei gilt: manch ein Älterer ist durchaus noch fähig, sicher Auto zu fahren –
auch wenn ihm das Zu- Fuß- Gehen größere Schwierigkeiten bereitet. Hier spielt
sowohl der Öffentliche Nahverkehr als auch die Parkplatzfrage eine ganz große
Rolle; Parkhäuser ohne mühsames Treppensteigen sind sowohl für Ältere als
auch für Kinderwägen notwendig! – Manch einer geht nicht in die Innenstädte
einkaufen, weil dieses Problem nicht gelöst ist. Und wie viele Arztpraxen haben wir
in Fußgängerzonen, ohne Parkraum? –
Wir haben aber auch über den entsprechenden Ausbau von Beschäftigungs- und
Weiterbildungsmöglichkeiten nachzudenken (und hier Ältere in die
Programmgestaltung mit einzubeziehen).- Wohnungsplanung
(Wohnungsausstattung) und Wohnumfeld sollte auf die veränderte
Bevölkerungsstruktur und deren Bedürfnisse Rücksicht nehmen. (Warum müssen
Parkbänke so niedrig sein, dass man ein Älterer nicht mehr hoch kommt; warum
können z.B. WCs nicht von vorneherein die normale Sitzhöhe, warum können nicht
Badewannen von vorne herein einen Zusatzgriff haben? Und warum achtet man bei
den Armaturen nur aufs Design und nicht auf leichtere Handhabung?)
Weit mehr als bisher üblich haben sich Wirtschaft und Industrie auf das
älterwerdende und strukturveränderte Land einzustellen; das reicht von der
notwendigen größeren Auswahl von 1-Personen-Rationen im Supermarkt bis hin zu
einem kreativen Ausbau von Dienstleistungsangeboten, zu denen dann auch die
Bedienung an der Tankstelle oder ein verstärkter Hol- und Bring-Dienst gehört.
Das schließt aber auch sonstige vielseitige Veränderungen mit ein, die man unter
dem Begriff der „Ökogerontologie“ und der „Gerontotechnik“ zusammenfasst
(einfacher bedienende Fahrkartenautomaten, Lichtschalter, Armaturen,
Telefontasten, Schraubverschlüsse bei Putzmitteln und Medikamenten, einfacher zu
bedienende Videogeräte usw.) – Und: was ließe sich an unseren Autos alles
benutzerfreundlicher gestalten! – Geronto- Ökologie, - altersgerechte
Umweltgestaltung, ist ein relativ junger Forschungszweig. Wer dabei nur an
barrierefreie Behördeneingänge denkt, denkt viel zu kurz. - Schauen Sie sich zum
Beispiel in Gemäldeausstellungen einmal die Informationen zu den einzelnen
Bildern an: ¨Minitafeln“, an die man ganz nahe herangehen muss, um etwas
entziffern zu können. – Das gilt übrigens auch bei den Platzreservierungen in der
Bundesbahn. Von kleiner, unleserlicher Beschriftung sind Senioren in erster Linie
betroffen, wenngleich Sehbehinderungen ja bekanntlich auch bei Jüngeren
vorkommen sollen.
Auch die pharmazeutische Industrie ist gefordert! Da gibt es Minipillen, die man
noch halbieren oder gar vierteln muss! Da gibt es Flaschenverschlüsse (übrigens
auch bei Putzmitteln), die man zusammendrücken und hochschrauben muss – sie
sind nicht nur „kindersicher“, sondern auch „altensicher“! Von den Beipackzetteln
ganz zu schweigen: graues Papier, graue Minischrift, die sich kaum entziffern lässt
und strotzend von Fremdworten, die man bei bestem Willen nicht verstehen kann. –
Und wie stark muss sich die Tourismusbranche umstellen! Die Omnibusse, die
Hotels, die Restaurants: Halbpension mit einem 4-Gänge-Menue erst nach 20.00 Uhr
ist nicht das Richtige für viele Senioren, die im normalen Alltag mit einer Scheibe Brot
um ½ 7 Uhr abends zufrieden sind. Senioren, oft Alleinreisende, wollen oft etwas für
die Gesundheit tun – und wollen Anregung zu vielfältigen Aktivitäten sportlicher und
auch geistiger bzw. kultureller Art.
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Doch nicht nur das quantitative Verhältnis der Altersgruppen in unserem Land hat
sich verändert, sondern auch unter qualitativen Aspekten ist der demografische
Wandel und das Verhältnis zwischen den Generationen zu diskutieren.
Hier sei zunächst der Rückgang der 3- und 2-Generationen-Haushalte und der
Anstieg der Ein-Generationen bzw. Ein-Personen-Haushalte erwähnt. Nur 1,1%
von allen rund 36 Millionen Haushalten in der Bundesrepublik sind 3-GenerationenHaushalte. Etwa 37% aller Haushalte in Deutschland sind heute 1-PersonenHaushalte (im Jahr 1900 waren es nicht einmal 7%!). Um 1900 waren 45 % aller
Haushalte 5- und mehr -Personen- Haushalte; heute sind es noch 4,4%! – Diese
zunehmende Singularisierung und Individualisierung sollte keineswegs mit
Einsamkeit gleichgesetzt werden. Sie hat aber Konsequenzen sowohl in bezug auf
die Kinderbetreuung als auch auf etwaige notwendig werdende Hilfs- und
Pflegeleistungen im Alter. (Wer schraubt der an sich noch recht rüstigen
alleinlebenden 78jährigen die neue Glühbirne in die Deckenbeleuchtung ein? Soll sie
etwa auf die Leiter steigen, - herunterfallen und mit Oberschenkelhalsbruch
pflegebedürftig werden?) Hier muss in Zukunft das –durchaus vorhandenebürgerschaftliche Engagement, die Nachbarschaftshilfe, besser organisiert werden.
Neben dem Rückgang der Mehrgenerationenhaushalte haben wir jedoch gleichzeitig
einen Trend zur 4 (bzw.5)-Generationen- Familie, die allerdings nicht unter dem
gleichen Dach leben. – Rund 20% der über 60jährigen haben Urenkel; aber ebenso
viele haben noch einen lebenden Elternteil. Die Großeltern- Generation sind die
„sandwich- generation“, die oft sowohl für Kinder- und Kindeskinder aufkommen
als auch noch für die alten Eltern sorgen. Die viel gepriesene Familienpflege sieht
heute oft so aus, dass die Großmutter die Urgroßmutter pflegt. – Hier wird der
„Wert“ der Alten besonders deutlich!
Alle Untersuchungen und Surveys zeigen, dass gerade der heutigen
Rentnergeneration das Wohl ihrer Kinder und Kindeskinder am Herzen liegt, - für die
sie im privaten Rahmen schon heute sehr viel tun, - sei es durch finanzielle
Unterstützung, durch Sachleistungen, durch Betreuungsleistungen und oft auch
noch durch Pflege ihrer eigenen alten Eltern. Eine umfassende Studie von Martin
KOHLI festgestellt, dass Seniorinnen und Senioren „in den Bereichen Ehrenamt,
Pflege und Kinderbetreuung im Jahr ungefähr 3,5 Milliarden Stunden
überwiegend unentgeltlich tätig sind. Nimmt man einen durchschnittlichen in
diesen Branchen üblichen Nettostundenlohn von 11,80 € an, lässt sich der Wert der
geleisteten Arbeit auf etwa 41,3 Milliarden € beziffern, was 21% der 1996
geleisteten Zahlungen der gesetzlichen Altersvorsorge entspricht.“
Im familiären Bereich sind die Alten eher die Gebenden als die Nehmenden. 23%
der Seniorinnen und Senioren unterstützen ihre Kinder materiell, während nur 2%
etwas von ihren Kindern erhalten. Der Alterssurvey lässt deutlich werden: „1996
belief sich der durchschnittliche Transferbetrag für die über 60jährigen Geber auf
etwa 3650 €, was hochgerechnet auf die deutsche Bevölkerung der über 60jährigen
17,2 Milliarden € oder rund 9% der in diesem Jahr geleisteten Zahlungen der
gesetzlichen Altersversorgungssysteme ausmacht. (Erbschaften sind hierbei
nicht berücksichtigt).
Im familiären Bereich ist die Solidarität zwischen den Generationen, die
gegenseitige Hilfe, beachtlich!
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5. Altern muss nicht Hinfälligkeit und Pflegebedürftigkeit bedeuten.
Sicher dürfen wir unsere Augen vor dem Problem der Pflegebedürftigkeit nicht
verschließen. Altern ist keine Krankheit, - aber je älter wir werden, um so größer
ist die Chance, die eine oder andere Krankheit zu bekommen.
Doch das Ausmaß der Pflegebedürftigkeit alter Menschen wird oft überschätzt.
Pflegebedürftigkeit fällt eigentlich erst in der Gruppe der über 85jährigen ins Gewicht
und betrifft dort heute knapp 30% der Bevölkerung. Das heißt aber, dass noch rund
70 von 100 Hochbetagten in der Lage sind, allein kompetent ihren Alltag zu
meistern. –
Das Kuratorium Deutsche Altershilfe (2003) hat die Leistungsempfänger der
Pflegeversicherung im Jahr 2000/1 (insgesamt 1,26 Millionen ambulant und
578.000 stationär) nach Altersgruppen aufgeschlüsselt. Danach entfallen auf die
unter- 20jährigen 4,9%, die 20-55jährigen 10,6%, die 55-60jährigen 2,4%, die 6065jährigen 4,6%, die 65-70jährigen 5,9%, die 70-75jährigen 8,7%. In der Gruppe der
75-80jährigen sind es dann 13,3%, der 80-85jährigen 15,8%, der 85-90jährigen
18,3% und der über 90jährigen 15,7%.(KDA: 2003: Kleine Datensammlung
Altenhilfe, S.75).
Bei Hochschätzungen im Hinblick auf den Anteil der Pflegebedürftigen von morgen,
wenn ja weit mehr über 85jährige in unserer Gesellschaft leben werden, sollte man
vorsichtig sein: schon die Älteren von heute sind in einem höheren Alter viel
gesünder und kompetenter als es unsere Eltern und Großeltern im gleichen
Alter waren – sofern sie dieses überhaupt erreicht hatten. Und dieser durch
Forschungen nachgewiesene Trend (SVANBORG, MANTON, Genfer Interfakultäres
Zentrum für Gerontologie) wird sich fortsetzen.
Doch, auch wenn wir den Anteil der Pflegebedürftigen von morgen und übermorgen
nicht überschätzen sollten, müssen wir feststellen: die Thematik der
Pflegebedürftigkeit in einer alternden Gesellschaft wird weiterhin eine
Herausforderung bleiben. Werden heute noch rund 70% der Pflegebedürftigen
in der Familie gepflegt, so müssen wir und dennoch deutlich sagen:
Familienpflege hat ihre Grenzen:
- angesichts des immer höheren Alters der Pflegebedürftigen und damit auch
der pflegenden Angehörigen. Hier bedeutet Pflege oft Überforderung, die im
Extremfall zur Altenmisshandlung führen kann.
- angesichts der geringeren Kinderzahl, so dass sich kaum mehrere Geschwister
die Pflege teilen können;
- angesichts des fehlenden Töchterpotenzials, der zunehmenden Berufstätigkeit
der Frau;
- angesichts der heutzutage geforderten Mobilität, der unterschiedlichen
Wohnorte von Eltern und erwachsenen Kindern;
- und schließlich angesichts der steigenden Scheidungsrate. Ob man auch
den nicht angetrauten Partner entsprechend pflegen wird, wissen wir nicht; aber die
Ex-Schwiegermutter wird man wohl kaum pflegen.
Das Fazit: Wir brauchen einen Ausbau der ambulanten Pflege und werden auch
in Zukunft auf institutionelle Einrichtungen nicht verzichten können - und wir
brauchen außerdem eine Qualitätssicherung der Pflege. Und wir brauchen eine
Verstärkung der palliativen Medizin und des Hospizgedankens: In Würde altern
und in Würde sterben können!
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Doch zunächst einmal gilt es, Pflegebedürftigkeit möglichst zu vermeiden,
Selbständigkeit und Unabhängigkeit zu erhalten, – und das ist eine
Herausforderung für jeden Einzelnen und die Gesellschaft.
Freilich, das haben wir nicht allein in der Hand. Krankheit, Hinfälligkeit kann
„Schicksal“ sein, gegen das wir uns nicht wehren können. Hier spielen auch
genetische Faktoren und situative Gegebenheiten unserer bisherigen
Lebensgeschichte eine Rolle. Dies haben wir zu akzeptieren, doch gleichzeitig dass
in unseren Kräften stehende zu unternehmen, das Bestmögliche aus der Situation zu
machen.
III. Langlebigkeit verpflichtet –
zu einem möglichst „gesunden“ und „kompetenten“ Altwerden.
Doch gesundes Altwerden – was ist das eigentlich?
1. Gesundheit ist nicht nur das Fehlen von Krankheit (bei dem Fortschritt der
Medizin und der Medizintechnik, bei den immer neuen und gründlicheren
Diagnosemöglichkeiten, gilt heute bei manchen Vertretern der Medizin die
Feststellung: „gesund ist schlecht diagnostiziert“, denn nahezu jeder hat irgendwo
irgendwelche kleinere oder größere Probleme).
2. Gesundheit ist sodann – der WHO-Definition entsprechend – „körperliches,
seelisch-geistiges und sozialen Wohlbefinden“. Es kommt also nicht nur darauf
an, ob man laut Arzturteil und Laborbefund gesund ist, sondern auch, ob man sich
gesund fühlt. Der sogenannte „subjektive Gesundheitszustand“ ist, wie unsere,
aber auch internationale Untersuchungen zeigen, ganz entscheidend für eine
Lebensqualität im Alter.
3. Nach dem Geriater HUBER, Felix Platter Spital, Basel, schließt „Gesundheit“
aber auch die Fähigkeit mit ein, mit etwaigen Belastungen, mit
Einschränkungen, mit Behinderungen (im körperlichen, aber auch im geistigseelischen und sozialen Bereich) sich auseinander zu setzen, adäquat damit
umzugehen und dennoch ein zufriedenstellendes Leben zu führen.
Eine Interventionsgerontologie, definiert als das Insgesamt aller Maßnahmen,
die ein hohes Lebensalter bei psycho-physischem Wohlbefinden ermöglichen,
basiert auf 4 Säulen (vgl. BALTES, 1973; LEHR, 1979):
1. Der Optimierung der Entwicklung: schon in früher Kindheit und Jugend kommt
es darauf an, Potenziale zu entwickeln, zu optimieren. Das beginnt bei der
richtigen Ernährung, bei der Entwicklung körperlicher Fähigkeiten, der Mobilität,
der Entwicklung sportlicher Fähigkeiten (schwimmen, Radfahren etc), der
Entwicklung von Hobbys, und nicht zuletzt bei der Entwicklung geistiger
Fähigkeiten und geistiger Interessen. Eine gute Schulbildung trägt erheblich zur
Verhinderung eines etwaigen Altersabbaus bei. Wichtig ist auch die Entwicklung
der Fähigkeiten, sich mit Problem- und Belastungssituationen erfolgreich
auseinander zu setzen.
2. Der Prävention: - ein Prozess, der sich durch das gesamte Leben hinzieht. Die
Notwendigkeit einer umfassenden Prävention (die schon beim Schulsport
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beginnt, aber bis hin zu körperlichen Aktivitäten, Gymnastik, Walken, Schwimmen
im hohen Alter reichen sollte) muss weit stärker als bisher erkannt werden und
entsprechende Förderung erfahren. Nach einer kritischen Analyse der Literatur
über den Zusammenhang von sportlicher Betätigung, Gesundheit und Anpassung
an das Alter kommt MEUSEL (1996) zu dem Schluss, dass bei einer in dieser
Hinsicht inaktiven Lebensweise das Leistungsniveau in allen motorischen
Fähigkeiten zurückgeht. "Schon geringe Bewegungsaktivität im Alltag, Beruf
und Sport wirkt sich - besonders bei sonst bewegungsarmer Lebensweise positiv im Sinne einer Verzögerung der Rückbildungsprozesse aus. Auch im
höheren Alter können durch gezieltes Training noch Anpassungsprozesse in
Gang gesetzt werden, die degenerativen Veränderungen entgegenwirken. Jede
der motorischen Fähigkeiten – wie Ausdauer, Kraft, Schnelligkeit,
Gelenkigkeit, Gleichgewicht und Koordination - hat ihre spezifische
Bedeutung für die Erhaltung der allgemeinen körperlichen Leistungsfähigkeit im
Alter und für die Bewahrung oder Verbesserung einzelner Merkmale der
Gesundheit (Herz- Kreislauf- System). (MEUSEL, 1996, S.119). - Und weiter
heißt es bei MEUSEL: "Was bisher als Alternsprozess verstanden wurde, ist
in hohem Maße Auswirkung mangelnden Trainings. Deshalb kann sportliche
Betätigung und Bewegungsaktivität überhaupt helfen, die Leistungsfähigkeit in
allen motorischen Fähigkeiten bis ins hohe Alter zu erhalten.“ Viele
Untersuchungen haben gezeigt: „Lebenslange Aktivität auf einem breiteren
Betätigungsspektrum ist die wirkungsvollste Maßnahme gegen vorzeitiges
Altern."(MEUSEL, 1996, S.119). – Aber wir brauchen auch geistige
Aktivität. Auch unsere Forschungen belegen: Geistig aktivere Menschen,
Personen mit einem höheren IQ, einem breiteren Interessenradius, einem
weitreichenderen Zukunftsbezug erreichen – wie auch die bekannten
internationalen Längsschnittstudien übereinstimmend feststellen – ein höheres
Lebensalter bei psychophysischem Wohlbefinden als jene, die weniger
Interessen haben, geistig weniger aktiv sind. . Eine größere Aktivität und
Aufgeschlossenheit sorgt für geistige Anregungen und Stimulation und trainieren
dadurch ihre geistigen Fähigkeiten zusehends und steigern sie somit, während
bei geistig mehr passiven Menschen eine geringere Suche nach Anregungen und
neuen Interessen feststellbar wurde , so dass die noch vorhandenen geistigen
Kräfte im Laufe der Zeit mehr und mehr verkümmerten. Damit bestätigte sich die
Inaktivitätstheorie in der Medizin oder die „dis-use-Hypothese“ in der
Psychologie, die besagen: Funktionen, die nicht gebraucht werden,
verkümmern. Der Volksmund sagt schlicht: „Was rastet, das rostet“. – Und
dies gilt auch in bezug auf die geistige Aktivität, auf die Lernfähigkeit, auf das
Training unserer grauen Zellen. Auch sie brauchen Herausforderung,
Anregung, - sei es durch das Lesen anspruchsvoller Bücher, durch anregende
Diskussionen, durch den Besuch von Kursen, - durch Denktraining,
„Gehirnjogging“. Lebenslanges Lernen, „life-long learning“ ist gerade in unserer
schnelllebigen Zeit zur Existenznotwendigkeit geworden!
3. Die dritte Säule ist die Rehabilitation: Die Wiedergewinnung der Fähigkeiten
und der Kompetenz nach Krankheiten, nach Störungen, nach kritischen
Lebensereignissen, welche zu einem Nachlassen, einem Abbau und Verlust an
körperlichen aber auch an psychischen und sozialen Fähigkeiten und Fertigkeiten
geführt haben, ist weit häufiger möglich als allgemein angenommen wird. Wir
müssen alles tun, um Abbauprozesse im Alter zu verhindern, einzuhalten oder
umzukehren. Jeder kleinste Schritt, der nach einer Erkrankung etwas mehr
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Selbständigkeit und Unabhängigkeit bringt, erleichtert das Leben des
Betroffenen, aber auch das seiner Familie und seiner Umgebung. – Nicht
umsonst steht im Pflegegesetz ausdrücklich: „Rehabilitation vor Pflege“ , doch
leider wird aus den verschiedensten Gründen – auch aufgrund eines falschen
Altersbildes mancher Ärzte - nicht danach gehandelt und gegebene Möglichkeiten
werden oft nicht ausgeschöpft.
4. Die vierte Säule einer Interventionsgerontologie ist schließlich das
Management von irreversiblen Einschränkungen, das Zurechtkommen mit
Behinderungen. Der Beinamputierte, der fortan an den Rollstuhl gebunden ist,
der Halbseitengelähmte, der im Haushalt und Alltag mit vielen Problemen
konfrontiert wird, braucht praktische Anleitung und Begleitung in der
Auseinandersetzung mit seiner neuen Lebenssituation. Dies ist ein sicher nicht
immer leichtes Aufgabengebiet für Pflegende, von denen hier auch
psychologische Fähigkeiten des Verständnisses, der Ermutigung und des
Zuspruchs abverlangt werden.
Der einzelne sollte gesundheitsbewusster leben – aber die Gesellschaft, die
Kommunen, sollten Möglichkeiten dazu bereitstellen, die zu körperlicher,
geistiger und sozialer Aktivität motivieren. Die Notwendigkeit lebenslangen einer
umfassenden Prävention sollte weit stärker als bisher erkannt werden und eine
entsprechende Förderung erfahren. –
Darüber hinaus hat aber Wohlbefinden im Alter etwas mit dem Gefühl, „gebraucht
zu werden“. mit einem „feeling of being needed“ zu tun. Hier ist eine Korrektur
des Altersbildes in unserer Gesellschaft vonnöten. Können wir es uns leisten, ältere
Menschen auszugliedern, ihnen nur aufgrund ihres Lebensalters mit Skepsis zu
begegnen, ihnen die Teilnahme in beruflichen und gesellschaftlichen Bereichen zu
versperren? Es gilt, das Bild vom „alten Menschen“ zu korrigieren. Ältere sind
nicht per se eine Problemgruppe; sie werden oft erst dazu gemacht. Es gilt, auch
älteren Menschen eine Aufgabe in unserer Gesellschaft zu geben, sie nicht
auszugliedern. Eine Altenpolitik in den 60er Jahren ging nur von der Frage aus:
„Was kann die Gesellschaft für Senioren/innen tun?“. Heute muss man auch
fragen: „Was können Seniorinnen und Senioren für die Gesellschaft tun?“
Und sie tun sehr vieles! Hier haben wir viele Beispiele eines geradezu
bewundernswerten Einsatzes der Senioren im Rahmen des bürgerschaftlichen
Engagements, im Rahmen der Hilfe für den Nächsten, - oft über den schon
erwähnten Beitrag im familiären Bereich hinausgehend.
Schlusswort:
Meine Ausführungen möchte ich schließen mit einem Wort an Senioren und
Seniorinnen von heute, von morgen und von übermorgen.
Hans THOMAE hat die Ergebnisse und Erkenntnisse unserer allerersten
Alternsuntersuchungen vor 45 Jahren ((Hans THOMAE, 1959: Zur Entwicklungs- und
Sozialpsychologie des alternden Menschen, S.385-396 in: Der öffentliche
Gesundheitsdienst, 20)
wie folgt zusammengefasst:
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“Altern in dem positiven Sinne des Reifens gelingt dort, wo die
mannigfachen Enttäuschungen und Versagungen, welche das Leben
dem Menschen in seinem Alltag bringt, weder zu einer Häufung von
Ressentiments, von Aversionen oder von Resignation führen, sondern
wo aus dem Innewerden der vielen Begrenzungen eigenen Vermögens
die Kunst zum Auskosten der gegebenen Möglichkeiten erwächst“.
Sehen wir nicht nur Grenzen, sondern sehen wir auch die noch verbliebenen
Möglichkeiten – und nutzen wir diese: Erkennen wir den Wert des Alters!
Fragen wir selbst bei den uns anvertrauten schwer hilfsbedürftigen Menschen nicht
nur nach den Begrenzungen, nach dem, was sie nicht mehr können, - sondern seien
wir sensibel für das, was sie noch können – und fördern dies, rufen es ab!
Auch eine (etwas andere) Sicht über den „Wert des Alters“ finden wir bei
Schipperges, (H.SCHIPPERGES: Altern- eine wachsende Herausforderung für uns
alle. S.274-279 in : Zeitschrift für Rheumatologie 51, 1992) der feststellt:
„Welches Glück, alt zu werden! Man erhält eine Klarheit, deren Jugend einfach nicht
fähig ist. Man behält eine Heiterkeit, die höher ist als alle Leidenschaft. Man geht auf
Distanz und gewinnt Toleranz. Und selbst die Nachteile bringen Gewinn und
gewähren Genuss: Schwerhörigkeit schützt vor dem lästigen Lärm, Kurzsichtigkeit
vor der Aufdringlichkeit des optischen Zirkus. Vergesslichkeit räumt den Schutt der
alten Illusionen hinweg. Den Dingen wird ihre materielle Schärfe und Schwere
genommen. Altern ist wie ein großer Urlaub nach diesem Stress, der Leben hieß –
Stress des Herzens wie des Geistes“
Und bei Romano GUARDINI (Die Lebensalter; Würzburg 1957) heißt es:
„Auch das Alter ist Leben...Wohl bedeutet es die Annäherung an den Tod; aber auch
der Tod ist ja noch Leben. Er ist nicht nur ein Aufhören und Zunichtewerden, sondern
trägt einen Sinn in sich. Denken wir an die Doppelbedeutung, die das Wort „Enden“
hat, und die in der Verbindung mit dem Eigenschaftswort „voll“ zutage tritt. „Vollenden“ heißt wohl, zu Ende bringen, aber so, dass sich darin das erfüllt, worum es
geht. So ist der Tod nicht das Nullwerden, sondern der Endwert des Lebens – etwas,
das unsere Zeit vergessen hat. Die Alten haben von der „ars moriendi“ gesprochen,
von der Kunst des Sterbens, und damit sagen wollen, es gäbe ein falsches und ein
richtiges Sterben: das bloße Ausrinnen und Zu-Grunde-Gehen - aber auch das
Fertig- und Voll-Werden, die letzte Verwirklichung der Daseinsgestalt.“
„Die letzte Verwirklichung der Daseinsgestalt“: auch darin liegen Würde und
Wert des Alters.
LITERATUR:
siehe: LEHR,U. (2003) Psychologie des Alterns; 10. überarbeitete Auflage (1.A.1972),
Heidelberg / Wiesbaden: Quelle & Meyer
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