Volksbegehren und –abstimmungen nur auf dem Papier? Von Prof. Dr. Roland Geitmann Während Volksbegehren und –entscheide in anderen Bundesländern die Landespolitik beleben, führt dieses Instrumentarium in Baden-Württemberg ein Schattendasein. Allzu hohe Hürden und unpraktikable Verfahrensregeln haben die Anwendung bisher verhindert. Laut Koalitionsvereinbarung vom April 2006 soll das Zustimmungsquorum für Volksabstimmungen von einem Drittel auf ein Viertel der Abstimmungsberechtigten gesenkt werden. Der folgende Beitrag untersucht, ob dies ausreicht oder nur eine Scheinreform wäre und welche Veränderungen darüber hinaus ratsam sind, um direktdemokratische Entscheidungen auf Landesebene zu ermöglichen. I. Dringlichkeit einer Reform 1. Dürftige Praxis Wer als Amts- oder Mandatsträger der Einschätzung zuneigt, ohne Bürger sei doch alles viel einfacher, wird auch das hier vorgestellte Thema schnell abtun, etwa mit der Bemerkung: „Neben Wahlen und unliebsamen Bürgerentscheiden haben uns Volksbegehren und –abstimmungen gerade noch gefehlt.“ Wenn das nicht ironisch, sondern ernsthaft festgestellt würde, träfe es den Sachverhalt präzis. Baden-Württemberg fehlt etwas: Belebende Impulse für die Landespolitik durch gelegentliche Volksbegehren und –entscheide. Im Vergleich zur Schweiz und zu vielen amerikanischen Bundesstaaten ist die Bundesrepublik ein direktdemokratisches Entwicklungsland. Innerhalb der BRD liegt Baden-Württemberg wiederum ganz hinten. Während sich die Szene, inspiriert durch den Ruf von 1989, „wir sind das Volk“, und vorangetrieben durch die neuen Bundesländer, in den 90er Jahren deutlich belebt hat1, ist davon in Baden-Württemberg wenig angekommen. Das im Jahr 1974 mit vorgeblich hohen Erwartungen in die baden-württembergische Landesverfassung eingefügte Instrumentarium der Volksgesetzgebung mittels Volksbegehrens und –abstimmung (Art. 59 f. LV) ist in 33 Jahren, also während einer ganzen Generation, kein einziges Mal angewendet worden. Zwar hat es einzelne Anläufe gegeben und zum Teil auch bemerkenswerte Auswirkungen, aber kein einziges Volksbegehren, geschweige denn eine Volksabstimmung. Der 1985 mit 110.000 Unterschriften eingereichte Antrag auf Zulassung eines Volksbegehrens wollte die Landesregierung gesetzlich 1 Mehr Demokratie (F. Rehmet): Volksbegehrensbericht 2006, www.mehrdemokratie.de/volksbegehrensbericht.html. 68613754 2 verpflichten, im Rahmen ihrer Kompetenzen die Stationierung von Massenvernichtungswaffen in Baden-Württemberg zu verhindern, und wurde vom Innenministerium aus verfassungsrechtlichen Gründen als unzulässig zurückgewiesen. Die inhaltlich fundierte Achberger Initiative „Volksbegehren zur Neufassung von Art. 59/60/64,3 der Verfassung des Landes Baden-Württemberg“ und die gleichzeitige Initiative zur Reform des § 21 Gemeindeordnung aus dem Jahr 1987 erreichten nicht die für den Zulassungsantrag erforderlichen 10.000 Unterschriften. In der Sache erfolgreich war dagegen die im Jahr 1995 vom Verband der Schausteller und Marktkaufleute initiierte Sammlung von 30.000 Unterschriften für einen Zulassungsantrag mit dem Ziel, den Pfingstmontag als Feiertag zu erhalten. Landesregierung und Landtag reagierten prompt und strichen stattdessen den Buß- und Bettag. Als angeblich zu direktdemokratisch und mit der Landesverfassung nicht vereinbar wies das Innenministerium im März 2000 einen Zulassungsantrag von Mehr Demokratie e.V. zurück, dessen Gesetzentwurf die Regeln über Bürgerbegehren und –entscheide auf kommunaler Ebene verbessern sollte2. Mittelbar wenn auch verspätet und abgeschwächt, hat dieser Vorstoß dennoch Erfolg gehabt: Die im Jahr 2005 vom Landtag beschlossene Reform des § 21 Gemeindeordnung übernahm Kernanliegen des Mehr-Demokratie-Entwurfs, insbesondere die Streichung des einengenden Positivkatalogs. Mit befördert wurde dies durch die ab 2003 einsetzenden Vorbereitungen für einen neuerlichen Anlauf für mehr direkte Demokratie in Gemeinden und Landkreisen3. Ein aus über 25 Organisationen bestehendes Bündnis für Mehr Demokratie in Baden-Württemberg sammelte nochmals Unterschriften für weitere Erleichterungen bei Bürgerbegehren und -entscheiden, sah aber angesichts der unüberwindlich hohen Volksbegehrenshürde von einer Einreichung des Antrags ab. So erfreulich es ist, dass schon Anläufe Wirkungen in der gewünschten Richtung erzeugen können, so unbefriedigend bleibt die Bilanz. Ein Instrumentarium, das als punktuelle Ergänzung des parlamentarischen Regierungssystems in besonderer Weise Demokratie für die Bürger erlebbar machen könnte, findet keine Anwendung. Von den im Volksbegehrensbericht1) insgesamt 53 in den deutschen Bundesländern bis Ende 2006 gezählten Volksbegehren und den 13 volksinitiierten Volksentscheiden war kein Vorgang in Baden-Württemberg. 2. Unpraktikable Regelung Die Gründe für diese Abstinenz können kaum darin vermutet werden, dass in Baden-Württemberg wegen durchgehend breiter Zustimmung für die Landespolitik oder politischen Desinteresses kein Bedarf bestehe. Mehr noch als die erwähnten Anläufe würden hier die ungezählten Anlässe interessieren, bei de2 3 Über den Inhalt des Gesetzentwurf berichtet R. Geitmann, VBlBW 1998, 441 ff. www.buergerentscheid-bw.de. 68613754 3 nen die Anwendung des direktdemokratischen Instruments erwogen, aber angesichts der Hürden alsbald verworfen wurde. Alles deutet darauf hin, dass deren Höhe wesentlicher Grund für die mangelnde Praxis ist. Dies bestätigt das von Frank Rehmet für Mehr Demokratie e.V. anhand internationaler Maßstäbe durchgeführte Zweite Volksentscheid-Ranking4. In Bezug auf ihre Anwendungsfreundlichkeit bekommt die badenwürttembergische Regelung über Volksbegehren und -abstimmung die Note „mangelhaft“ (5,3). Das Land liegt damit vor dem Saarland auf dem zweitletzten Platz. Das ist peinlich, zumal angesichts jahrzehntelanger, wenn auch bescheidener Praxis auf kommunaler Ebene und in unmittelbarer Nachbarschaft sowohl zur Schweiz als auch zu Bayern, das auf Landesebene, wenn auch nur mit Note 3,4, den ersten Platz einnimmt. Worin die Mängel im Einzelnen liegen und wie sie behoben werden könnten, soll unter II. untersucht werden. Zuvor ist noch ein Blick darauf aufschlussreich, ob solche Reformüberlegungen in der politischen Landschaft Baden-Württembergs Realisierungschancen haben. 3. Die Haltung der Parteien Parteien schauen darauf, ob ein Instrument geeignet ist, die eigenen Ziele zu erreichen. Deswegen wird ihre Einstellung zur direkten Demokratie stark davon geprägt, ob sie an der Regierung oder in der Opposition sind, und verändern sich entsprechend5. Seit dem Eisenacher Programm von 1869 gehört Volksgesetzgebung zum Forderungskatalog der Sozialdemokratie, wurde von ihr aber nicht immer unterstützt. Im Jahr 1919 waren Baden und Württemberg noch vor der Weimarer Reichsverfassung die ersten deutschen Länder, welche das Instrument der Volksgesetzgebung in ihren Verfassungen verankerten und dies mit günstigeren Regeln als heute. Auch nach dem 2. Weltkrieg findet sich dieses Instrument in den frühen Verfassungen von Baden und Württemberg-Hohenzollern – im Unterschied zu Württemberg-Baden. In der Verfassungsgebenden Versammlung für den Südweststaat von 1952 waren es indes die CDU und KPD, welche die Volksgesetzgebung in der Verfassung verankern wollten. Die Argumente, mit denen CDU-Abgeordnete wie der spätere Ministerpräsident Gebhard Müller ihr Anliegen vertraten und dafür von der KPD gelobt wurden, verdienen noch heute Zustimmung. Interessant ist auch, mit welch leichter Hand die ursprünglich mit 200.000 Unterschriften angegebene Volksbegehrenshürde in einem späteren Antrag der CDU auf ein Fünftel der Stimmberechtigten und damit auf das Sechsfache angehoben wurde, während die KPD umgekehrt von einem Zehntel auf 200.000 herunter ging. 4 5 www.mehr-demokratie.de/ranking.html. Zum Folgenden H.-J. Wiegand: Direktdemokratische Elemente in der deutschen Verfassungsgeschichte (2006); schon vorher W. Heidt in seiner eingehenden Gesetzesbegründung für die Achberger Initiative „Volksbegehren zur Neufassung von Art. 59/60/64,3 der Landesverfassung Baden-Württemberg“ (1987), www.volksgesetzgebung-jetzt.de. 68613754 4 Die damalige Koalition aus SPD, FDP, DVP und BHE hingegen blockte ab. Statt des Volksbegehrens über einen eigenen Gesetzentwurf befürwortete die spätere Regierungskoalition lediglich Volksabstimmungen zur Auflösung des Landtags und über ein im Landtag beschlossenes oder abgelehntes Gesetz auf Antrag eines Drittels bzw. der Hälfte des Landtags und mit Zustimmung der Landesregierung, wie es noch heute in den Art. 43, 60 und 64 der Landesverfassung steht. Die 68er-Bewegung erinnerte die SPD-Landtagsfraktion an ihre eigenen Grundlagen und veranlasste sie im Jahr 1972 zu einem Gesetzentwurf6 zwecks Einführung von Volksbegehren und –abstimmung. Ein deutlich zurückhaltenderer Gegenentwurf der regierenden CDU-Fraktion von 19737 verlangte statt des von der SPD für ein erfolgreiches Volksbegehren vorgeschlagenen Zehntels nunmehr ein Fünftel aller Wahlberechtigten, nahm außerdem das Staatshaushaltsgesetz von direkter Demokratie aus und sah ein Zustimmungsquorum für die Volksabstimmung vor. Verfassungsrecht wurde der restriktive CDU-Vorschlag mit der kleinen Abweichung, dass bei der Volksbegehrenshürde das Fünftel durch ein Sechstel ersetzt wurde. Zu Recht hatten Sprecher von SPD und FDP die viel zu hohen Hürden kritisiert, welche die Sache „unrealistisch“ und zu einem „papierenen Recht“ machten, stimmten aber letztendlich zu. Wenn die CDU ihr Instrument für „funktionstüchtig“ hielt, wie der Abgeordnete Volz versicherte, hat die Wirklichkeit sie mittlerweile eines Besseren belehrt. Gleichwohl lehnte die Regierungsmehrheit einen im Jahr 1998 eingebrachten und auch von der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen unterstützten Gesetzentwurf der SPDFraktion8 ab, der das Unterschriftenquorum beim Volksbegehren auf 10% senken und das Zustimmungsquorum bei Volksabstimmungen streichen wollte. In ihrem Wahlprogramm für 2006 – 2011 betont die CDU die Bedeutung von Partizipation und Engagement der Bürger. Die Landesregierung solle eine Kommission einsetzen, welche nach Auswertung der bayerischen Erfahrungen mit erweiterten Möglichkeiten der Beteiligung einen Vorschlag erarbeitet. Die FDP fordert in ihrem Programm für die Landtagswahl 2006 die Senkung der Volksbegehrenshürde von 16,7 auf 10% und des Zustimmungsquorums bei Volksabstimmungen von einem Drittel auf ein Viertel der Stimmberechtigten. Vollmundig versichert die Koalitionsvereinbarung beider Parteien vom April 2006 im Abschnitt „Volksabstimmungen und Volksbegehren auf Landesebene“ (S. 75): „Den Wunsch nach mehr direkter Volksbeteiligung an staatlichen Entscheidungsprozessen nehmen wir ernst.“ Der nächste Satz indes gibt Rätsel auf: „Für das Zustandekommen eines Volksbegehrens durch Änderung 6 7 8 Lt-Drs. 6/1115. Lt-Drs. 6/2521. Lt-Drs. 12/2870. 68613754 5 der Landesverfassung soll weiterhin ein Sechstel der Wahlberechtigten erforderlich sein.“ Die Wendung „durch Änderung der Landesverfassung“ gibt keinen Sinn. Wenn man das Wort „durch“ durch „zur“ ersetzt, würde der Satz bedeuten, dass es nur für verfassungsändernde Volksbegehren bei der hohen Hürde bleiben soll, bei einfachen Gesetzen dagegen eine Senkung möglich bleibt. Diese Offenheit wäre sehr zu begrüßen. Doch leider erweist sich diese Annahme als Fata Morgana. Laut Mitteilung des Staatsministeriums vom 15.08.2007 an den Verfasser ist die zitierte Wendung durch ein Redaktionsversehen in diesen Satz gerutscht und hätte wohl in den nächsten gehört, der lautet: „Dagegen soll ein zur Volksabstimmung gestelltes Gesetz künftig beschlossen sein, wenn es die Mehrheit der nötigen Stimmen findet und diese Mehrheit mindestens ein Viertel der Stimmberechtigten ausmacht.“ Das Staatsministerium bekräftigt, dass die Senkung des Zustimmungsquorums bei der Volksabstimmung die einzige vorgesehene Veränderung in diesem Zusammenhang sei. Wenn aber die Volksbegehrenshürde unüberwindbar hoch bleibt, wird die – an sich dringend gebotene – Senkung des Zustimmungsquorums keine praktische Auswirkung haben, weil es nach wie vor nicht zu einem Volksentscheid kommen wird. Dann wäre dies nur eine Scheinreform. Da sich eine Partei, die sich dauerhaft als Regierungspartei sieht, wenig Interesse an der Stärkung direkter Demokratie hat, ist es Aufgabe der Öffentlichkeit, politische Scheinhandlungen kritisch zu begleiten und das zu formulieren, was eigentlich notwendig wäre – in der Hoffnung, damit zumindest langfristig weitere Fortschritte zu befördern. 4. Gründe für mehr direkte Demokratie (auch) auf Landesebene Von den vielen gewichtigen Gründen, welche insbesondere die Politikwissenschaft in den letzten Jahren zu Gunsten einer Aktivierung direktdemokratischer Instrumente benannt hat9, sollen hier nur einige verfassungspolitische Aspekte aufgegriffen werden. Es geht nicht darum, das parlamentarische System zu ersetzen, sondern nur darum, es punktuell zu ergänzen. Hierin liegt eine wesentliche Chance, die vielzitierte „Politikverdrossenheit“ zu überwinden. Das verbreitete Gefühl, dass, soweit Politik überhaupt noch etwas ausrichten kann, die Führungseliten der jeweils regierenden Partei(en) allein das Sagen und die Bürger auch durch Wahlen keinen Einfluss haben, untergräbt die demokratische Kultur. Sachorientierte Willensbildungs- und Entscheidungsverfahren, an denen sich 9 T. Evers: Volkssouveränität und parlamentarisches System, in: Mehr direkte Demokratie wagen, hrsg. von H. Heußner/O. Jung (1999) S. 23 ff.; H. v. Arnim: Vom schönen Schein der Demokratie (2000); C. Welzel: Fluchtpunkt Humanentwicklung (2001); T. Schiller: Direkte Demokratie (2002); A. Groß: Das Design der Direkten Demokratie und deren Qualitäten, in: Direkte Demokratie, hrsg. von T. Schiller/V. Mittendorf (2002) S. 331 ff.; H.-J. Wiegand (s. Anm. 5). 68613754 6 alle beteiligen können, und dies auf allen politischen Ebenen, könnte dem heilsam entgegen wirken. Hans Herbert von Arnim kommt zu folgenden Feststellungen10: „- Die Möglichkeit der Volksgesetzgebung trägt allein durch ihre Existenz zu einer besseren Rückbindung an den Volkswillen und zu größerer Reformfähigkeit der Landespolitik bei. - Sie bildet keinen Fremdkörper im System der repräsentativen Demokratie, sondern verbessert im Gegenteil deren Funktionsfähigkeit, indem sie den politischen Wettbewerb intensiviert.“ Direktdemokratische Verfahren sind größtmögliche Lernprozesse, die alle Bürgerinnen und Bürger ansprechen und viele erstmals für Politik interessieren und dies dann oft auf Dauer. Insofern bilden sie auch für Parteien und Parlamente Nachwuchs aus. Sachbezogene Entscheidungsverfahren quer zu den verfestigten Formationen in Parteien und Verbänden mischen die Gesellschaft neu und können ihr dringend notwendige Entwicklungsimpulse geben. Das komplementäre Sichergänzen von repräsentativer und direkter Demokratie ist in den Fundamentalnormen des Grundgesetzes und der Landesverfassung angelegt, wo es in Art. 20 Abs. 2 GG bzw. 25 Abs. 1 Landesverfassung übereinstimmend heißt: Die Staatsgewalt „wird vom Volke in Wahlen und Abstimmungen … ausgeübt.“ Nachdem sich die bisherige Ausgestaltung der Abstimmungen als unpraktikabel erwiesen hat, ist die zitierte Grundnorm geradezu ein Auftrag zur Nachbesserung. Ein in der Verfassung vorgesehenes demokratisches Instrument, das die Bürger nicht wahrnehmen können, nicht erleben und deswegen auch nicht einmal kennen, hinterlässt eine empfindliche Lücke im Verfassungsleben, die es zu schließen gilt. Der staatsbürgerlich aufrechte Gang stellt sich nicht von selber ein, sondern muss geübt werden. Angesichts der begrenzten Gesetzgebungskompetenz der Landtage könnte man annehmen, dass es schlicht an geeigneten Themen fehlt. Doch die laut Volksbegehrensbericht 20061) seit 1949 immerhin 185 Volksinitiativen und – begehren und 38 Volkspetitionen in den Bundesländern zeigen, dass es daran nicht mangelt. Bildung und Kultur, Soziales und Demokratieentwicklung sind vorrangige Bereiche. Die Bayern führten im Jahr 1995 mittels Volksentscheids für die kommunale Ebene das Instrumentarium Bürgerbegehren und –entscheid ein und schafften drei Jahre später den Senat ab. Die Hamburger erkämpften sich im Jahr 1998 für die Stadtbezirksebene Bürgerbegehren und –entscheid. In Bremen übernahm die Bürgerschaft, das dortige Parlament, im September 2006 nach 10 Siehe vorige Anmerkung, S. 267. 68613754 7 einem erfolgreichen Volksbegehren für ein neues Wahlrecht den von den Bürgern formulierten Gesetzentwurf. Andere Initiativen hatten mittelbaren Erfolg, so in Bayern in Sachen Schulsystem, Rundfunkfreiheit und Abfallrecht, in Nordrhein-Westfalen, Saarland und Schleswig-Holstein Initiativen für die Direktwahl der Bürgermeister und in NRW und Thüringen Initiativen für die Erleichterung von Bürger- bzw. Volksentscheiden11. Über das Schulsystem oder Studiengebühren z.B. oder Elterngeld, Energieeinsparung, Rauchverbot und Bürgerrechte wären bei anwendungsfreundlichen Verfahrensregeln Initiativen künftig auch in Baden-Württemberg vorstellbar. 5. Anforderungen Der Bewertung der Verfahrensregelungen im Volksentscheid-Ranking von Mehr Demokratie12 liegen folgende Prinzipien zu Grunde: (1) „Gleichstellung von Volk und Parlament“ Diese Formulierung ist zwar irreführend, denn nach Art. 25 Abs. 1 Landesverfassung ist das Volk, von dem die Staatsgewalt ausgeht, der Souverän und seine Organe ihm eher untergeordnet. Andererseits wird Volksgesetzgebung aus praktischen Gründen quantitativ stets die Ausnahme bleiben. Da die Verfassung beide Wege der Gesetzgebung eröffnet, sind sie jedoch qualitativ gleichberechtigt. Aus dieser Gleichstellung der Wege zieht das Ranking die richtige Schlussfolgerung, dass dem Volk keine Tabuthemen wie Finanzen vorenthalten werden dürfen und Quoren und Fristen so gestaltet werden müssen, dass die Menschen eine realistische Chance haben, erfolgreiche Volksbegehren durchzuführen. (2) Ermöglichung des gesellschaftlichen Diskurses Für direktdemokratische Verfahren als größtmögliche Bildungsveranstaltung sollten die Einstiegshürden niedrig sein, freie Unterschriftensammlung ermöglicht werden, ausreichend Zeit und Information zur Verfügung stehen und keine Abstimmungsquoren gelten, die Boykottstrategien begünstigen. (3) Förderung des Dialogs zwischen Parlament und Bürgerschaft Hierfür sind günstig frühzeitige Befassung des Parlaments, um Möglichkeiten des Kompromisses auszuloten, sowie Anhörungsrechte für die Initiatoren und die Möglichkeit einer Konkurrenzvorlage seitens des Parlaments. (4) Fairness und Chancengleichheit 11 Überblicke über die Praxis geben O. Jung: Aktuelle Probleme der Direkten Demokratie in Deutschland, in ZRP 2000, 440 ff. sowie H.-J. Wiegand (s. Anm. 5) S. 401 ff.. 12 S. Anm. 4. Entsprechend auch die Empfehlungen von A. Groß (s. Anm. 9). 68613754 8 Hierzu gehören Gleichstellung beider Seiten bei der Information und Kostenerstattung. II. Ausgestaltung des Verfahrens Dem nach Art. 59 und 60 Landesverfassung zweistufigen Verfahren aus Volksbegehren und Volksabstimmung hat das Volksabstimmungsgesetz noch eine dritte vorangestellt: Antrag auf Zulassung des Volksbegehrens (§ 25 VAG). Diese Dreistufigkeit ist, wenngleich in unterschiedlicher Ausgestaltung, auch in anderen Bundesländern üblich und macht Sinn, wenn jeder Stufe ein klarer Zweck und Effekt zugeordnet ist und die Hürden dem angemessen sind. Das direktdemokratische Gesetzgebungsverfahren sollte nicht weniger gründlich und beteiligungs- und abwägungsreich sein als das parlamentarische. Nicht nur der Landtag, sondern auch der in Ministerien und Verbänden vorhandene Sachverstand sollte sich einbringen, jedenfalls soweit dies die Initiatoren wünschen. Um darauf reagieren zu können, sollte das Verfahren zumindest zu Beginn flexibel und der Trägerkreis nicht zu groß sein. Während das Volksbegehren die Funktion einer Relevanzprüfung hat, also durch Quantität feststellt, ob die Unterstützung breit genug ist, um den Aufwand einer Volksabstimmung zu rechtfertigen, müsste die davor liegende Stufe die formale Qualität der Vorlage sichern. Deshalb muss in dieser Phase Anpassung an Bedenken und bessere Erkenntnisse möglich sein. Die Sachentscheidung fällt bei vollständiger Durchführung des Verfahrens erst in der Volksabstimmung. Durch Zulassungsantrag und Volksbegehren bindet sich kein Unterzeichner in der Sache selbst, sondern spricht sich lediglich dafür aus, dass in der Angelegenheit eine Abstimmung stattfinden soll. Erst die Informations- und Diskussionsphase vor der Volksabstimmung ist der eigentliche Lernprozess, für den umfassende Information und ausreichend Zeit zur Verfügung stehen müssen und bis zu dem sich jede/r für neue Einsichten offen halten kann und sollte. 1. Initiative Der Antrag auf Zulassung eines Volksbegehrens bedarf nach § 25 Abs. 4 VAG der Unterschrift durch 10.000 Wahlberechtigte. Dies ist in der Praxis zwar keine unübersteigbare Hürde. Doch steht der Aufwand nicht im Verhältnis zum bescheidenen Effekt. Dieser besteht darin, dass das Innenministerium die Vorlage auf Einhaltung formaler und verfassungsrechtlicher Erfordernisse überprüft sowie Regierung und den Landtag sowohl über den Eingang des Antrags als auch über seine Zulässigkeitsentscheidung benachrichtigt. Für diese ministerielle Prüfung und Entscheidung 10.000 Unterschriften zu verlangen ist ein Unding. Noch schlimmer ist, dass die Initiatoren auf etwaige Bedenken des Ministeriums nicht reagieren und die Vorlage nicht verändern 68613754 9 können, sondern für eine abgeänderte Vorlage erneut 10.000 Unterschriften sammeln müssten. Das gilt selbst dann, wenn sich der Veränderungsbedarf lediglich auf die Begründung bezieht. So hat das Innenministerium in seiner Entscheidung vom 21.03.2000 über den Zulassungsantrag von Mehr Demokratie zwecks Verbesserung der Bürgerentscheidsregeln als Rechtsmangel u.a. beanstandet, dass die in der Begründung zitierte Fassung des § 21 GemO beim Unterschriftenquorum für das Volksbegehren durch die während der Sammlung vom Landtag beschlossene Novelle nicht mehr aktuell sei. Durch diese Vermischung von Qualitäts- und Relevanzprüfung schon auf der ersten Stufe wird eine einmal für die Unterschriftensammlung gewählte Fassung der Beschlussvorlage frühzeitig zementiert, statt sie anpassungsfähig zu halten. Ohne verbindliche Auskunft seitens des Innenministeriums sind die Initiatoren genötigt, mit erheblichem Aufwand (mindestens 1.000 Stunden) Unterschriften für eine Vorlage zu sammeln, deren optimale Fassung sich vielleicht erst im Kontakt mit dem Ministerium oder anderen Stellen ergeben kann. Aus dieser durch Gesetz programmierten Sackgasse gibt es rechtspolitisch zwei Auswege. Entweder reduziert man die Zahl der erforderlichen Unterschriften drastisch auf einen Umfang, bei dem die Initiatoren auf ministerielles Bedenken ohne größeren Aufwand mit einer abgewandelten Vorlage reagieren können. Oder man gibt den Initiatoren von vornherein ein Recht auf Auskunft und Beratung durch das Innenministerium und wertet die Initiative in der Weise auf, dass der Landtag nicht nur unterrichtet wird, sondern sich auch mit der Sache befassen muss. Auf jeden Fall muss vermieden werden, dass Tausende von Unterschriften für eine Vorlage gesammelt werden müssen, ohne zuvor eine inhaltliche Prüfung durch das Innenministerium erreichen zu können. a) Zulassungsantrag Bei der ersten Alternative könnte man nach wie vor von Zulassungsantrag sprechen, der aber nicht mehr 10.000 erfordert, sondern sich mit 30 bis 50 Unterschriften begnügt, nämlich der Personen und Organisationen, die auch weiterhin mit ihrem Namen für das Anliegen stehen. Im Unterschied zu den 10.000 beliebigen und anonym bleibenden Unterzeichnern, von denen nur wenige die Vorlage gründlich studiert und die anderen in dieser Anfangsphase ohne mediale Aufbereitung in der Regel überfordert sind, kann man von einem Initiatorenkreis aus 30 bis 50 Personen annehmen, dass diese sich eingehend damit befasst haben. Auch wird ein solcher Kreis dank E-Mail in der Lage sein, sich nach rechtlichen Bedenken des Innenministeriums über eine abgewandelte Vorlage zu verständigen. Neben verfassungsrechtlichen Einwänden sollte das Innenministerium auch gesetzestechnische Empfehlungen, z.B. zur besseren und vollständigeren Einpassung der gewünschten Regelung ins übrige Recht, ausspre- 68613754 10 chen können, welche die Initiatoren zur Optimierung ihres Entwurfs als Grundlage für das Volksbegehren übernehmen können. d) Volksinitiative Wenn man im Unterschied dazu schon in der ersten Stufe mehrere Tausende Unterschriften verlangt, muss dies auch einen entsprechend höheren Effekt haben, indem Landtag und Regierung nicht nur benachrichtigt werden, sondern sich damit befassen und die Initiatoren anhören. Das würde diese Stufe auf die Ebene der Verfassung heben und eine Änderung nicht nur des VAG, sondern auch des Art.59 LV erfordern. Eine solche frühe Befassung gibt dem Landtag Gelegenheit, das Anliegen zu prüfen und evtl. einen Kompromiss zu suchen, bevor sich die Fronten verhärten. Dieses Verfahrensmodell kennen auch die Bundesländer Brandenburg, Mecklenburg-Vorpommern, Rheinland-Pfalz, Sachsen und Schleswig-Holstein13. Im Widerspruch hierzu hat der Bayerische Verfassungsgerichtshof14 entschieden, dass eine solche schon auf der ersten Stufe (mit immerhin 25.000 Unterschriften) festgelegte Befassungspflicht des Landtags mit Anhörungsrecht der Initiatoren die Handlungs- und Funktionsfähigkeit des Landtages erheblich einschränke und gegen den Grundgedanken der Demokratie verstoße. Dieser Auffassung liegt eine bedenkliche Verabsolutierung und Abschottung des Parlaments zu Grunde, die dann auch noch zum unabänderlichen Verfassungsbestand (Art. 75 Abs. 1 Satz 2 Bayerische Landesverfassung, vgl. Art. 64 Abs. 1 Satz 2 LV BW) erhoben wird. Solches Abblocken von Demokratieentwicklung kann in gefährliche Erstarrung führen. Diese bayerische Rechtsprechung muss die gesetzgeberischen Entscheidungen in Baden-Württemberg nicht einengen, worauf auch der Bayerische Verfassungsgerichtshof hinweist, könnte aber ein Argument für die unter a) dargestellte Variante sein. Die Unterschriftensammlung sollte praktisch erleichtert werden. Derzeit muss gemäß § 25 Landesabstimmungsordnung die Unterschriftenliste den vollen Wortlaut des Gesetzentwurfs samt Begründung umfassen. Der in dieser Phase erst flüchtig damit vertraute Zeitgenosse wird also veranlasst, etwas zu unterschreiben, was er in seinen Einzelheiten nicht durchschauen kann. Und dann werden über 1.000 gleichlautende Exemplare dieser Textkonvolute (mit je 10 Unterschriften) zum Innenministerium getragen, statt die Gesetzestexte den Unterzeichnern zu überlassen, die sie für ihre weitere Meinungsbildung und Verbreitung gut gebrauchen könnten. Es wäre ehrlicher und angemessener, in dieser ersten Phase lediglich Ziel und wesentlichen Inhalt des Gesetzentwurfs unterschreiben zu lassen, was auf ein 13 Dazu D. Schaal: Das Verfahren zur Herbeiführung eines Volksentscheids als Filter am Beispiel eines DreiLänder-Vergleichs, in: Direkte Demokratie, hrsg. von T. Schiller/V. Mittendorf (2002) S. 153 ff. 14 Urteil vom 31.03.2000, BayVBl.2000, 397 ff./402; kritisch dazu das abweichende Votum S. 430 ff. sowie u.a. K. Schweiger, BayVBl.2002, 65/71 f. 68613754 11 bis zwei Seiten darstellbar und auch im parlamentarischen Gesetzgebungsverfahren ein wichtiges Verständigungsmittel ist. Dies gilt erst Recht, wenn, wie hier dringend empfohlen, bis zum Beginn des Volksbegehrens noch Änderungen am Entwurf ermöglicht werden. Auch wäre zu erwägen, bei dieser ersten Unterschriftensammlung alle interessierten Menschen in gleicher Weise mitwirken zu lassen und auf eine Überprüfung der Wahlberechtigung zu verzichten. Wenn im amerikanischen Bundesstaat Montana jede/r einzelne Bürger/in eine Beschlussvorlage für ein Volksbegehren erstellen kann, sollte es, wenn man in Deutschland schon Tausende von Unterschriften verlangt, nicht stören, wenn daran auch Jugendliche und Ausländer teilnehmen. Das Petitionsrecht steht ja auch ihnen zu und viel weiter reicht dieser erste Schritt nicht. Sie in dieser Phase einzubeziehen könnte Integrationsbemühungen fördern und würde sowohl den Initiatoren als vor allem auch den Gemeinden erheblichen Aufwand ersparen. Die Initiatoren haben genügend eigenes Interesse daran, das politische Gewicht ihrer Initiative nicht durch ein Übergewicht von Nichtwahlberechtigten untergraben zu lassen. Die Entscheidung darüber, ob die Volksinitiative die gesetzliche Voraussetzungen und verfassungsrechtlichen Grenzen einhält, ist, wie Ulrich Preuß15 schon vor Jahren dargelegt hat, richtigerweise nicht beim Innenministerium als einer Verwaltungsbehörde anzusiedeln, sondern bei der Landesregierung als Staatsorgan. Da die Volksinitiative ebenfalls eine zumindest organähnliche Stellung hat, wäre es bei negativem Ergebnis angemessen, dass nicht die Initiative ihr Recht beim Staatsgerichtshof einklagen muss, sondern die Landesregierung eine entsprechende Feststellung beim Staatsgerichtshof beantragen muss, wie es u.a. Bayern und Bremen geregelt haben. 2. Volksbegehren Für ein erfolgreiches Volksbegehren in Baden-Württemberg müssen sich gem. Art. 59 Abs. 2 LV und VAG ca. 1.2 Mio. Wahlberechtigte (ein Sechstel, also 16,7 %) innerhalb von 14 Tagen in amtlich ausliegende Listen eintragen, ohne vorher von Amts wegen persönlich benachrichtigt worden zu sein. Die Unangemessenheit dieser Hürde wird beim Vergleich mit der Schweiz deutlich. Dort bedarf es für diese Stufe („Volksinitiative“ genannt) der Unterschrift von 2,2 % der Wahlberechtigten und dies in 18 Monaten bei freier Unterschriftensammlung. Die übrigen Bundesländer bewegen sich in einem breiten Spektrum dazwischen. Vergleichsweise anwendungsfreundlich sind Brandenburg mit 4 % in 4 Monaten und Schleswig-Holstein mit 5 % in 6 Monaten. Unpraktikabler als in BadenWürttemberg sind nur Hessen und das Saarland mit 20 % in 14 Tagen. a) Art und Zeitraum der Unterschriftensammlung 15 DVBl. 1985, 710 ff. 68613754 12 Wer direktdemokratische Verfahren als groß angelegtes Lernprojekt schätzen gelernt hat, versteht das schöne Wort des Kenners der schweizerischen Demokratie Andreas Groß16, die freie Unterschriftensammlung sei „die Seele der direkten Demokratie“. In der Tat sind die hierbei geführten Gespräche in geistiger Sicht das zentrale Geschehen des Verfahrens, weil sich hierdurch Denkgewohnheiten verändern können und nicht, wie bei der Demoskopie, nur Stimmungen abgerufen werden. Auch wenn sich derartige Veränderungen nur in einem Teil der Gespräche ereignen und ihre Richtung völlig offen ist, könnte von solchen Denkfortschritten die Zukunft des Landes abhängen. Deshalb sollten Gelegenheiten dazu nicht dadurch verbaut werden, dass ausschließlich amtliche Eintragung ermöglicht wird. Am günstigsten ist es, wie in Mecklenburg und ähnlich in Thüringen beide Arten der Eintragung anzubieten. Je nach Neigung der Unterzeichner und Organisationsdichte der Initiative kann die amtliche Eintragung vorzugswürdig sein. Freie Unterschriftensammlung bei Volksbegehren haben nicht nur die Schweiz und viele Bundesstaaten der USA, sondern auch Bremen, Hamburg, MecklenburgVorpommern, Niedersachsen, Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen17. Ein deutliches öffentliches Interesse an einer zeitlichen Begrenzung der Sammlung besteht nur bei Eintragung in Amtsräumen, um die Gemeinden nicht über Gebühr zu belasten. Deswegen ist dieses Angebot in Mecklenburg-Vorpommern auf 2 Monate begrenzt, während für die freie Sammlung dort keine Frist gilt. Unnötiger Zeitdruck sollte vermieden werden. Weil die öffentliche Aufmerksamkeit mit der Zeit schwindet und das Sachanliegen evtl. dringend ist, haben die Initiatoren genügend eigenes Interesse daran, die Sammlung nach spätestens 18 Monaten abzuschließen. b) Unterschriftenzahl An der Höhe des Volksbegehrensquorums zeigt sich am deutlichsten, welchen Stellenwert die Politik direktdemokratischen Verfahren einräumen will. Hier entscheidet sich, ob es ein ganz seltenes Ausnahmeinstrument bleibt, das allenfalls vorhandene Großorganisationen wahrnehmen können und auch dies nur bei breiter Unzufriedenheit in der Bevölkerung oder ob auf diesem Wege Politikanstöße auch durch bislang unorganisierte Teile der Bevölkerung ermöglicht werden sollen, die aus eigenen Kräften bei Volksbegehren noch keine breite Mobilisierung zustande bringen. 16 17 S. Anm. 9, S. 336. Kritisch hierzu der Bayrische Verfassungsgerichtshof, BayVBl. 2000, 397/400 ff. und K. Schweiger, BayVBl. 2002, 65/71. 68613754 13 Der Landtag sollte wissen, dass nach den Maßstäben des eingangs zitierten Volksentscheid- Rankings4) die Note „sehr gut“ nur bei einem Volksbegehrensquorum bis 2,9 % vergeben wird, 10 % nur noch „ausreichend“ und 16,7 % „ungenügend“ sind. Auch Demokratie muss sich internationalem Vergleich stellen. Baden-Württemberg hätte nach seiner Struktur und Geschichte allen Grund, sich wieder an die Spitze der Entwicklung zu begeben. c) Weitere Verfahrensfragen Wie unpraktikabel das geltende Recht ist, zeigt sich auch an unscheinbaren Regeln wie der des § 28 VAG, wonach die 14 Tage des Volksbegehrens vier bis 6 Wochen nach der öffentlichen Bekanntmachung der Entscheidung über den Zulassungsantrag beginnen. In einem so kurzen Zeitraum kann keine Initiative die notwendigen organisatorischen Vorbereitungen für diese riesige Anstrengung treffen. Auch wenn sich diese Frage durch die vorgeschlagene deutliche Verlängerung der Eintragungsfrist entspannt, sollte jede unnötige Hektik vermieden werden. Auf jeden Fall muss die Initiative Gelegenheit erhalten, ihre Vorlage für das Volksbegehren noch zu verändern und an neue Erkenntnisse anzupassen. Dass die Initiative auch für amtliche Eintragung die Listen auf eigene Kosten drucken lassen und an Gemeinden versenden muss, ist nicht anwendungsfreundlich. Zumindest der Versand sollte samt den ohnehin fälligen Hinweisen durch das Innenministerium vorgenommen werden, weil die Gemeinden andernfalls leicht dem Irrtum erliegen, es handle sich um eine private Umfrage. 3. Volksabstimmung a) Zeitbedarf Wenn und solange die erste Stufe, also der Zulassungsantrag, keine Befassungspflicht des Landtags auslöst, diese sich also erst durch ein erfolgreiches Volksbegehren ergibt, sollte für Kompromisssuche Raum bleiben. Denn es könnte sein, dass ein Alternativentwurf des Landtags für die Initiatoren wertvoller ist als der unsichere Ausgang der auch für sie aufwendigen Volksabstimmung, insbesondere dann, wenn für diese ein Zustimmungsquorum gilt. Deshalb sollte, anders als es jetzt gem. § 60 Abs. 1 Satz 1 LV gilt, auf ein erfolgreiches Volksbegehren dann, wenn der Landtag die Vorlage nicht unverändert übernimmt, nicht automatisch die Volksabstimmung folgen, sondern nur, wenn die Initiatoren diese einem Alternativvorschlag des Landtags vorziehen. Wenn das politische Gespräch zwischen Initiative und Landtag schon Folge der ersten Stufe ist, würden beide Seiten die Suche nach einem Kompromiss vielleicht ernsthafter betreiben, wenn nach erfolgreichem Volksbegehren dieser Weg versperrt bliebe und die Volksabstimmung 68613754 14 nur noch dann entfiele, wenn der Landtag die Vorlage unverändert übernimmt. Doch mehr spricht für Flexibilität und dafür, es auch nach erfolgreichem Volksbegehren der Initiative zu überlassen, ob sie sich mit dem Alternativvorschlag des Landtags zufrieden gibt. Je nach Ausgestaltung der ersten Stufe und abhängig davon, ob der Landtag für die Abstimmung eine Gegenvorlage macht, ist der Zeitbedarf des Landtags unterschiedlich. Deshalb ist an dieser Stelle von einer gesetzlichen Frist für die Volksabstimmung eher abzuraten und dies auch deshalb, um die Volksabstimmung nach Möglichkeit mit einer landesweiten Wahl zusammenzulegen und damit die Beteiligung zu erhöhen. Damit die Landesregierung als Gegnerin in der Sache nicht gerade eine solche Zusammenlegung verhindert18, sollten die Initiatoren bei der Terminfestlegung entscheidenden Einfluss haben. Um eine gründliche öffentliche Diskussion der Vorlage(n) zu gewährleisten, wäre eher an eine zeitliche Untergrenze zwischen Bekanntmachung und Volksabstimmung zu denken. b) Information und Fairness Die eingehende und gleichberechtigte Information aller Stimmberechtigten, etwa durch eine Informationsbroschüre an alle Haushalte wie in Bayern, Schleswig-Holstein und Thüringen, ist bislang gesetzlich nicht sichergestellt19. Im Sinne der Fairness sollte zudem festgelegt werden, dass öffentliche Stellen, die zur Information der Stimmberechtigten zusätzliche finanzielle Mittel für Werbemaßnahmen zu den Inhalten eines Volksbegehrens aufwenden, den Vertrauensleuten des Volksbegehrens zur Werbung für ihre Position Mittel in derselben Höhe zur Verfügung stellen müssen20. Da die Initiative spätestens mit dem Volksbegehren eine organähnliche Stellung hat, ist eine zumindest teilweise Kostenerstattung für Aufwendungen sowohl für das erfolgreiche Volksbegehren als auch für die vor der Volksabstimmung nötige Öffentlichkeitsarbeit geboten, wie es in unterschiedlicher Ausgestaltung einige Bundesländer (Niedersachsen, Sachsen, Sachsen-Anhalt, Schleswig-Holstein und Thüringen) kennen. Sinnvoll ist auch, die Initiative zur Offenlegung ihrer Finanzen zu verpflichten21. c) Zustimmungsquorum Gem. Art. 60 Abs. 5 Satz 2 LV reicht die Mehrheit der Abstimmenden nicht, sondern ist eine Gesetzesvorlage durch Volksabstimmung nur beschlossen, wenn ein Drittel der Stimmberechtigten zustimmt. Bei 18 Zu Recht auf diese Gefahr hinweisend O. Jung, ZRP 2000, 440/442 Einen Regelungsvorschlag hierzu enthält § 19 des Entwurfs eines Bundesabstimmungsgesetzes von Mehr Demokratie e.V., www.mehr-demokratie.de. 20 So § 20 des in Anm. 19 genannten Entwurfs. 21 So § 23 des in Anm, 19 genannten Entwurfs. 19 68613754 15 Verfassungsänderung beträgt dieses Zustimmungsquorum sogar 50 % aller Stimmberechtigten. Diese Hürden sind nicht nur zu hoch, sondern auch grundsätzlich fragwürdig, so einleuchtend es zunächst erscheinen mag, sich eine breite Unterstützung zu wünschen. Gesetze gelten zwar für alle, berühren aber nicht alle Menschen in gleicher Weise. Die künftige Ordnung des Schulsystems muss ältere Menschen nicht mehr unbedingt interessieren. Deswegen ist es bei Sachentscheidungen legitim, sich der Stimme zu enthalten und die Entscheidung denen zu überlassen, die sich in der anstehenden Frage eine Meinung bilden konnten. Zu Wahlen, die alle in gleicher Weise betreffen, läge es viel näher als bei Abstimmungen, ein Beteiligungsquorum vorzusehen oder den Anteil der Nichtwähler durch Nichtbesetzen von Parlamentsitzen zu berücksichtigen. Da dort Derartiges nicht gilt, ist ein Zustimmungsquorum bei Volksabstimmungen umso weniger berechtigt, auch wenn es in Deutschland – im Unterschied zur Schweiz und amerikanischen Bundesstaaten – Tradition hat und verbreitet ist. In Bayern, Hessen und Sachsen gilt indes bei einfachen Gesetzen kein Zustimmungsquorum, in Rheinland-Pfalz nur ein Beteiligungsquorum von 25 %. In NRW beträgt das Zustimmungsquorum 15 %, in Hamburg 20 %. Ein Zustimmungsquorum kann die Gegner des Volksbegehrens zur Diskussionsverweigerung verleiten mit dem Ziel, die Aufmerksamkeit und damit die Beteiligung durch potentielle Befürworter gering zu halten. Dies untergräbt den Sinn des demokratischen Verfahrens. Ohne Zustimmungsquorum bleiben die Gegner motiviert, aktiv zu werden und für ihre Haltung zu werben. Das fördert die politische Diskussion. Bei Nichterreichen des Quorums werden die Enthaltungen quasi den Neinstimmen zugerechnet, was den Enthaltungen nicht gerecht wird, das Abstimmungsergebnis verfälscht und die Neinsager privilegiert. Für Verfassungsänderungen mag man mit Blick auf die Urteile des Staatsgerichtshofs Bremen vom 14.03.200022, des Bayrischen Verfassungsgerichtshofs vom 31.03.200023 und des Verfassungsgerichtshofs Thüringen vom 19.09.200124 an einem Zustimmungsquorum festhalten, das allerdings mit 50 % unüberwindbar hoch ist und wie in Bayern 25 % betragen könnte. Dass der Bayrische Verfassungsgerichtshof in seinem erwähnten Urteil die Kombination von fehlendem Zustimmungsquorum und Volksbegehrensquorum mit 5 % und gar noch freier Unterschriftensammlung für Bayern als den demokratischen Gedanken und damit der Ewigkeitsklausel des Art. 75 Abs. 1 Satz 2 22 BayVBl. 2000, 342 ff. BayVBl. 2000, 397 ff. - in krasser Kehrtwendung gegenüber seiner früheren Rechtsprechung, BayVGHE 2,101/217 f., kritisch dazu u.a. K. Schweiger, BayVBl. 2002, 65 ff. 24 Thür.VGH 4,01 23 68613754 16 Bayrische Landesverfassung widersprechend ansah, soll nicht verschwiegen werden, auch wenn die Begründung („Dignität des Verfahrens“) keineswegs überzeugt25. Dass jedes Gesetz „eigentlich“ die Zustimmung der Mehrheit aller Wahlberechtigten bedürfte, ist sowohl für Parlamentsgesetze als auch für Volksgesetzgebung ein irrealer gedanklicher Ausgangspunkt; denn um mitgezählt zu werden, muss man sich beteiligen. Die von der baden-württembergischen Regierungskoalition angekündigte Senkung des Zustimmungsquorums von einem Drittel auf ein Viertel ist also in der Richtung dringend notwendig, aber zu zaghaft und allein völlig unzureichend und praktisch unwirksam. d) Bindung Die Frage, ob und wie lange das Parlament an ein vom Volk beschlossenes Gesetz gebunden ist oder es ändern kann, wäre bei ausreichendem Respekt vor dem Souverän am besten dem politischen Fingerspitzengefühl zu überlassen, weil auf diese Weise viel differenzierter als mit einer starren Frist abgewogen werden könnte, ob eine wesentliche Veränderung der Verhältnisse eine Gesetzesänderung rechtfertigt. Respektloser Umgang des Parlaments mit Volksentscheiden in Schleswig-Holstein (Rechtschreibreform), Sachsen (Sachsen-Bank) und Hamburg (Verkauf der Krankenhäuser, Wahlrecht) geben jedoch Anlass, eine Bremse einzubauen. Eine Frist ist zu starr und wird leicht als Aufforderung zur leichtfertigen Änderung missverstanden. Besser, wenn auch unbestimmt, ist die von Otmar Jung26 vorgeschlagene clausula rebus sic stantibus, nach der eine Abänderung ohne Referendum nur dann zulässig ist, wenn sich die dem Volksentscheid zu Grunde liegende Sach- und Rechtslage wesentlich geändert hat. Erwägenswert ist auch die für Hamburg entwickelte Lösung27, bei Änderung eines durch Volksabstimmung beschlossenen Gesetzes zeitlich befristet ein Volksbegehren mit halbierter Unterschriftenzahl zu ermöglichen, das ein Inkrafttreten der Änderung ohne bestätigende Volksabstimmung verhindert. III. Anwendungsbereich 25 Ebenso wenig überzeugend die hierauf gestützten Ausführungen von K. Engelken, DÖV 2000, 881 ff. Darf das Parlament ein vom Volk beschlossenes Gesetz (ohne weiteres) kassieren? In: Demokratie und Selbstverwaltung in Europa, Festschrift für D. Schefold, hrsg. von A. Bovenschulte u.a. (2001) S. 145/167. 27 www.rettet-den-volksentscheid.de. 26 68613754 17 1. Themenausschlüsse Gem. Art. 60 Abs. 6 Landesverfassung findet über Abgabengesetze, Besoldungsgesetze und das Staatshaushaltsgesetz keine Volksabstimmung statt. Im Unterschied zu anderen Staaten entspricht dies zwar der durch die Weimarer Reichsverfassung begründeten und damit relativ kurzen deutschen Rechtstradition, ist aber eine Verkehrung des Demokratieprinzips. Was in der Schweiz zentraler Gegenstand zumeist sogar obligatorischer Abstimmungen ist und sich in vielfältiger Weise günstig ausgewirkt hat28 und in Bundesstaaten der USA häufiger Gegenstand ist29, wird dem Volk in Deutschland ausdrücklich vorenthalten. Was die Parlamente im 19. Jahrhundert stellvertretend für das Volk dem Monarchen abgetrotzt haben, wenden sie jetzt als Privileg um 180 Grad gegen das Volk. Merkwürdigerweise sehen einzelne Verfassungsgerichte in diesem Budgetvorbehalt zu Gunsten des Parlaments sogar unabänderbares Verfassungsrecht30. Wie weit wir damit gekommen sind, kann man am Schuldenstand der öffentlichen Hände ablesen. Unerträglich wird die Einengung direkter Demokratie erst recht, wenn der Ausschluss des Staatshaushaltes so verstanden wird, dass nicht nur das Haushaltsgesetz selbst, sondern alle in gewichtiger Weise finanzwirksamen Vorlagen bei Volksabstimmungen unzulässig seien31. 2. Andere Gegenstände der politischen Willensbildung Bislang wurde unterstellt, dass Gegenstand des Verfahrens ein ausgearbeiteter und mit Gründen versehener Gesetzentwurf ist, wie es Art. 59 Abs. 2 Satz 1 LV vorsieht. Doch nicht jede wichtige Entscheidung des Landtags ergeht in Gesetzesform, etwa bei Verkauf von Sammlungen oder Unternehmensanteilen oder bei der Beteiligung an großen Investitionen wie Stuttgart 21. Gerade solche Maßnahmen können höchst umstritten sein, weshalb nicht einzusehen ist, dass sie von Volksabstimmungen ausgeschlossen sein sollen oder nur in der Weise einbezogen könnten, dass diese Frage in Gesetzesform gekleidet wird. Auch hat sich in der Schweiz zunehmend der Bedarf entwickelt, durch das Volk lediglich einen Gesetzesauftrag beschließen zu lassen (Anregung), da ein ausgearbeiteter Gesetzentwurf Initiatoren aus der Bevölkerung angesichts notwendiger Anpassung an das vorhandene Recht oft überfordert oder eine nicht sachdienliche voreilige Verfestigung darstellt. In den Bundesländern 28 Dazu L. Feld/G. Kirchgässner: Direkte Demokratie in der Schweiz: Ergebnisse neuerer empirischer Untersuchungen, in: Direkte Demokratie, hrsg. von T. Schiller/V. Mittendorf (2002) S. 88 ff. 29 Dazu H. Heußner: Ein Jahrhundert Volksgesetzgebung in den USA, in: Mehr direkte Demokratie wagen, hrsg. von H. Heußner/O. Jung (1999) S. 101/110 ff. 30 So der StGH Bremen am 14.02.2000, BayVBl. 2000, 342 ff. und BayVfGH, Urteil vom 31.03.2000, BayVBl. 2000, 397 ff.; kritisch hierzu u.a. K. Schweiger, BayVBl. 2002, 65/69 ff.; O. Jung, NVwZ 2002, 41 ff. 31 So BayVGH, BayVBl 1977, 143; 1995, 173 ff., BVerfG für Schleswig-Holstein, NVwZ 2002, 67; StGH Bremen BayVBl. 2000, 342; VGH NRW NVwZ 1982, 188. Demgegenüber für eine enge und formale Auslegung des Ausnahmetatbestands zu Recht Sächs. VerfGH, Urt. v.19. Juli 2002, in: LKV 2003, S. 327 ff.. 68613754 18 Brandenburg und Schleswig-Holstein können auch „andere bestimmte Gegenstände der politischen Willensbildung“ Gegenstand der Initiative, des Volksbegehrens und der Volksabstimmung sein. Eine solche Ausweitung des Anwendungsbereichs würde das Instrumentarium zugänglicher machen und ist deshalb auch für Baden-Württemberg zu empfehlen. Hiergegen auf das Gewaltenteilungsprinzip gestützte Bedenken32 überzeugen nicht, weil das ungeteilte Volk der Souverän ist, über seinen Organen steht und auch auf die Exekutive Einfluss nehmen kann. Der Gesetzgebungsauftrag steht in der Bestimmtheit zwischen dem diffusen Wählervotum und der Abstimmung über ein ausgearbeitetes Gesetz und wäre von Regierung und Landtag zu erfüllen. IV. Besondere Verfahrensarten Wenn wir den Erfordernissen nachhaltiger Entwicklung gerecht werden wollen, kann auch die Landespolitik auf das Innovationspotenzial der Bevölkerung nicht verzichten. Deshalb liegt der Schwerpunkt dieses Plädoyers für mehr direkte Demokratie in Baden-Württemberg auf dem Instrumentarium, bei dem sowohl Anstoß als auch Inhalt der Vorlage „von unten“ kommen. Daneben gibt es weitere direktdemokratische Instrumente, die der Vollständigkeit halber zumindest erwähnt werden sollen. Ergänzend sei auf die nach Art. 43 Abs. 2 LV mögliche Auflösung des Landtags mittels Volksbegehrens und –abstimmung hingewiesen. 1. Obligatorische Referenden Wie in Bayern und Hessen geltendes Recht und im Mehr-DemokratieEntwurf19 auch für die Bundesebene gefordert, könnte es sinnvoll sein, für Änderungen der Landesverfassung zwingend eine Volksabstimmung vorzusehen, um die Verfassung stärker im Bewusstsein der Bevölkerung zu verankern, leichtfertige Veränderungen zu vermeiden und das Instrument der Volksabstimmung auf diese Weise den Menschen näher zu bringen. Misslich bleibt freilich, dass die geltende Verfassung von der Verfassungsgebenden Versammlung und nicht von der Bevölkerung beschlossen worden ist. 2. Fakultatives Referendum Auch hierbei wird der Gegenstand „von oben“ bestimmt. Wenn dann auch noch die Frage des „Ob“ von den Organen entschieden wird, kann es zu einem Manipulations- und Akklamationsinstrument verkommen, wie es auch autoritäre Regime gelegentlich anwenden. Solche Tendenzen abschwächend legt Art. 60 Abs. 2 Satz 4 LV ein solches Instrument in die gemeinsame Hand von Regierung und Landtag, wofür sich ein Bedarf allerdings bisher nicht gezeigt hat. 32 K. Schweiger, BayVBl 2002, 65/71 f. 68613754 19 In der Hand der Bevölkerung dagegen könnte das fakultative Referendum als Bremse gegenüber unliebsamen Gesetzen eine erhebliche Bedeutung gewinnen, wie die Praxis in der Schweiz zeigt. Wie auch im Entwurf von Mehr Demokratie für die Bundesebene wäre das Verfahren nur zweistufig. Zeitlich befristet könnte sich ein Volksbegehren mit der Hälfte der sonst erforderlichen Unterschriftenzahl begnügen, um ein im Landtag beschlossenes Gesetz zu verhindern. Um zu solcher Intervention Gelegenheit zu bieten, wäre wie im Mehr-Demokratie-Entwurf vorzusehen, dass Gesetze vom Ministerpräsidenten frühestens einen Monat nach dem Beschluss des Landtags ausgefertigt werden. V. Fazit Wenn der Landtag lediglich das Zustimmungsquorum bei Volksabstimmungen senkt, wird es wegen der unüberwindbar hohen Volksbegehrenshürde auch künftig nicht zu Volksabstimmungen kommen. Eine solche Verfassungsänderung wäre also eine Scheinreform und als solche zu kritisieren. Baden-Württemberg bliebe im Vergleich der Bundesländer in Bezug auf die Anwendungsfreundlichkeit seiner Regelung über Volksabstimmungen an vorletzter Stelle. Im Blick auf die mittelbaren politischen Wirkungen, die selbst auf der ersten Stufe scheiternde Initiativen haben können, solange das politische System halbwegs sensibel reagiert, ist auch eine unpraktikable Regelung geringfügig mehr als ein Nichts. Neben begrenztem Nutzen richtet sie aber auch Schaden an durch die Illusion, ein funktionstüchtiges Instrument zu bieten. Interessierte und engagierte Bürgerinnen und Bürger fühlen sich durch dieses uneingelöste Versprechen der Verfassung verhöhnt. Seit Jahrzehnten belegen Umfragen33 den Wunsch der überwältigenden Mehrheit, ergänzend zum repräsentativen System auf allen politischen Ebenen punktuell Sachfragen an sich ziehen und entscheiden zu können. Wahlen allein genügen nicht mehr dem gesellschaftlichen Reifegrad. Es ist dringend geboten, die demokratischen Spielregeln zu überprüfen. Wahlrecht und direktdemokratische Verfahrensregeln sollten davon betroffene Repräsentanten nicht unter sich ausmachen, sondern sollte der Souverän festlegen. Landesregierung und Landtag wären gut beraten, die überfällige Reform der direktdemokratischen Verfahrensregeln zum Thema einer eingehenden öffentlichen Diskussion zu machen um am Ende evtl. über mehrere alternative Entwürfe eine Volksabstimmung anzuberaumen. Was die Menschen dann beschließen, werden sie auch wahrnehmen, schätzen und schützen. 33 S. u.a. E. Noelle-Neumann/R. Köcher (Hrsg): Allensbacher Jahrbuch der Demoskopie 1998-2002, Bd. 11 (2002) S. 601. 68613754