Queer & Feminismus Debatte

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ak - analyse & kritik - zeitung für linke Debatte und Praxis / Nr. 451 / 7.6.2001
Adieu, weibliches Kollektivsubjekt
Wofür Feministinnen die Identität "Frau" nicht mehr
brauchen.
Über Identitäten zu sprechen ist vielerorts immer noch oder neuerdings en vogue. Oft wird
dabei ein aufgeregter Ton angeschlagen: Manche halten die Dekonstruktion von Identitäten
für das ultimative Programm, das selig macht und keine Wünsche offen lässt. Andere reden
über Identitäten wie über bedrohte Tierarten. Tatsächlich besteht kein Grund zur Aufregung.
Denn dass jede Identitätspolitik früher oder später ihre eigenen Grundlagen in Fragen stellen
muss, ist sowieso unvermeidlich. Das ultimative Programm zur effektiven Bekämpfung aller
Herrschaftsverhältnisse ist aber weder Identitätspolitik noch ihre Dekonstruktion.
Identitätspolitik zu hinterfragen heißt nicht mehr und nicht weniger als das eigene
Politikverständnis zum Objekt von Herrschaftskritik zu machen. Was das bedeutet, wird im
folgenden an einem Fallbeispiel erläutert: der feministischen Identität "Frau".
Es ist eigentlich unmöglich, die Geschichte von Identitätspolitik in Vergangenheitsform und die
Kritik der Identitätspolitik im Präsens zu erzählen. Das klingt, als hätte die Kritik alle Formen von
Identitätspolitik aus der Welt geschafft und als wäre "die" Frauenbewegung mittlerweile erfolgreich
geläutert. Dem ist nicht so. Eher ist völlig unklar, auf wen oder was sich heute der Name
"Frauenbewegung" überhaupt bezieht. Auch ist es unzulässig verkürzt, von "Schwarzen" und
"Weißen" Frauen zu sprechen, denn es unterstellt, diese Bezeichnungen hätten einen festen und
eindeutigen Bezugspunkt. Auch den gibt es nicht. So können "vorher", "nachher", "schwarz" und
"weiß" nicht mehr sein als grobe Orientierungshilfen, die die Kritik an Identitätspolitik auf sehr
subjektive Weise erzählbar machen. Viele andere Erzählungen sind denkbar.
In dieser Erzählung sind Identitätspolitiken alle Politikansätze, die sich auf ein gegebenes Kollektiv
beziehen. Wobei die Betonung auf "gegeben" liegt: Nicht die gemeinsame Politik ist das
Verbindende, sondern umgekehrt entsteht die gemeinsame Politik aus einer bereits existierenden
Verbindung. Die kann ganz unterschiedlich begründet sein, historisch-politisch, psychologisch,
esoterisch oder biologisch. Im Fall der feministischen Identität "Frau" gilt: Wie unterschiedlich,
widersprüchlich und heterogen feministische Identitätspolitiken auch waren und sind, sie alle gehen
davon aus, dass es etwas gibt, was Frauen prinzipiell von Männern unterscheidet. Der kleine
Unterschied wird in feministischer Identitätspolitik groß gebeamt.
So ist ein mögliches Ziel feministischer Identitätspolitik, das wiederzuerobern, was im Patriarchat
"entfremdet" oder "unterworfen" ist - der Kampf um das, was Frauen "in echt" ausmacht. Was ja
nicht dasselbe ist wie die gesellschaftliche Realität von Frauen. Feministischer Identitätspolitik geht
es gerade darum, diese Realität von Frauen so zu verändern, dass ein nicht-entfremdetes Frausein
frei entfaltet werden kann. Wenn es aber eine "eigentliche" Weiblichkeit gibt, die von der
gesellschaftlich definierten Weiblichkeit abweicht, dann muss das um der Klarheit willen auch
begrifflich unterschieden werden. Deshalb wurde für Feministinnen die Unterscheidung zwischen
dem biologischen und dem sozialen Geschlecht wichtig. Sie sollte Wunsch und Wirklichkeit,
Wesen und Utopie von Frauen auseinander halten helfen. Englischsprachige Feministinnen hatten
es in dieser Hinsicht von Anfang an leichter, unterscheidet man im Englischen doch sowieso
zwischen sex, dem biologischen Geschlecht und gender, dem sozialen Geschlecht. Jedenfalls kann
mit diesen Begriffen der Ort, an dem die Unterdrückung stattfindet, präzise bestimmt werden als
gender, als soziales Geschlecht. Das eigentliche Geschlecht, sex, bleibt entsprechend verschont von
politischen Forderungen und feministischen Utopien - es bleibt Natur.
Feministische Identitätspolitik zielte, anders formuliert, vor allem darauf ab, das soziale Geschlecht
Frau von seinen patriarchalen Fesseln zu befreien, um es zur Wahrheit des natürlichen Geschlechtes
zurückzuführen. Feministische Identitätspolitikerinnen kritisierten zwar die spezifische, patriarchale
Bestimmung des sozialen Geschlechts. Die Unterscheidung zwischen sex und gender stellten sie
aber nicht in Frage. Und das hieß auch, dass die naturgegebene Existenz zweier (und nur zweier)
grundsätzlich verschiedener Geschlechter fraglos akzeptiert wurde.
Feministische Identitätspolitik ging davon aus, dass es ein alle Frauen verbindendes Band gibt, und
zwar unabhängig davon, in welcher Klasse, in welchem Land und zu welcher Zeit Frauen geboren
werden. Stärker esoterisch eingefärbte Strömungen begaben sich zum Beispiel auf die Suche nach
der eigentlichen Weiblichkeit, von der angenommen wurde, dass sie das Gegenteil traditioneller
Charakterzuschreibungen verkörperte: weiblich sein sollte heißen, wild zu sein, unbeherrschbar,
körperlich, lustbetont, stark und widerspenstig. Autonome linke feministische Strömungen
definierten in Abgrenzung dazu als gemeinsame Grundlage für die Identität "Frau" weniger einen
idealtypischen "Wesenskern" der Frau, als vielmehr die kollektive Erfahrung von patriarchaler
Unterdrückung. Sie beschäftigten sich folglich mit sexueller Gewalt, ökonomischer Ausbeutung,
repressiver weiblicher Sozialisation und struktureller Benachteiligung von Frauen. Diese Form von
Identitätspolitik brachte in der Vergangenheit viele bis dahin ungehörte Erfahrungen in- und
außerhalb der Linken ans Tageslicht; so etwa die Thematisierung alltäglicher sexualisierter Gewalt.
Sie eröffnete für Frauen einen Raum, untereinander, aber auch öffentlich über ihre Erfahrungen zu
sprechen. Deswegen war sie wichtig. Gleichwohl ist sie an zentralen Punkten problematisch
geworden.
Widerspruch dem Hauptwiderspruch
So unterschiedlich die einzelnen Strömungen waren, eines verband sie auf jeden Fall bis ungefähr
Ende der 80er Jahre: die Annahme einer universalen Unterdrückungsstruktur, die materiell und
ideologisch Leben, Arbeit, Reproduktionsarbeit und Körper von allen Frauen weltweit unterwirft
und ausbeutet. Eben das Patriarchat. Aber irgendwann geriet das Statut vom universellen Patriarchat
ins Wanken. Wobei das innerhalb der Frauenbewegung kein Selbstgänger war, sondern das
Ergebnis zäher, harter und - für diejenigen, die die Kritik vorgebracht hatten -, auch frustrierender
Kämpfe.
Die Kritik an einem Patriarchatsbegriff, der auf der Annahme eines universalen feministischen
Kollektivs basiert, wurde von Schwarzen Frauen in den USA und in der Bundesrepublik von
Migrantinnen und Schwarzen deutschen Frauen artikuliert. Sie wies nach, dass die Unterstellung
"das Patriarchat ist universal" oder, positiv gewendet, "Frauen weltweit sind Schwestern" nichts
anderes war als der Reflex eines Emanzipationsbegriffes, der von und für weiße, europäische
Mittelklasse-Frauen gedacht war. Den Anspruch, für alle Frauen dieser Welt sprechen zu können,
konfrontierten Schwarze Frauen mit dem faktischen Ausschluss von Frauen. Dabei beschränkten sie
sich nicht darauf, die Ausschlussmechanismen der bürgerlichen, patriarchalen Gesellschaft zu
kritisieren.
Sie skandalisierten gerade die üblicherweise unsichtbar arbeitenden Verfahren der Ausgrenzung
innerhalb der Frauenbewegung und anderen sozialen, linken Bewegungen. Denn die Ausblendung
von konkreten Erfahrungen von Frauen, die von der weißen, europäischen Mittelschichtsnorm
abweichen, war vielerorts unhinterfragte Basis auch feministischer Theorie und Praxis. Diese
Ausblendung und die These vom universellen Patriarchat gehörten zusammen, stützten und
bedingten einander. Damit wurde die Frage nach den Unterschieden zwischen rassistischer und
sexistischer Unterdrückung zweitrangig. Frauen galten nicht wenigen weißen Feministinnen als
"Neger der Welt" und damit erschöpfte sich ihr Beitrag zum Thema Rassismus.
Die rassistische Verteilung von Ressourcen und Macht unter Frauen zu thematisieren, stand nicht
auf der Tagesordnung. Welche Frauen die Möglichkeit haben, an akademischen und/oder
politischen Diskursproduktionen teilzuhaben, wurde nicht systematisch hinterfragt und so, ob
gewollt oder ungewollt, stabilisierte feministische Identitätspolitik rassistische und
Klassen-Hierarchien. Konsequenterweise wurden Schwarze Frauen in einer solchen Logik dann
häufig entweder als pädagogische Objekte konstruiert nach dem Motto "weiße Akademikerinnen
wissen, was (schwarze) Frauen wünschen", womit sich der bürgerliche weiße Feminismus
wiederum als Maßstab etablierte. Oder umgekehrt wurden Schwarze Frauen zu Expertinnen für
Rassismus erklärt, womit sich Weiße Frauen ihrer Zuständigkeit und Verantwortung entledigten.
Fallstricke der Identitätspolitik
Dem Mythos der "großen feministischen Familie" entgegneten Schwarze Feministinnen, dass es
eben kein universelles Subjekt Frau gibt, sondern vielfältige unterschiedliche Positionen von
Frauen, die aus der Überschneidung von Geschlecht, "Rasse" und Klasse entstehen. Macht werde
eben nicht nur von Männern über Frauen ausgeübt, sondern auch von Weißen über Schwarze.
Unterdrückung entstehe nicht aus einem grundlegenden Hauptwiderspruch, sondern aus der
Verflechtung verschiedener ineinander greifender Unterdrückungsstrukturen. Und diese Kritik ist
konsequent feministisch. Denn der Feminismus und die Neue Frauenbewegung waren gerade auch
als Reaktion auf eine Linke angetreten, die immer wieder die Produktionsverhältnisse als
Hauptwiderspruch und das Proletariat als revolutionäres Subjekt konstruiert hatte. Eine Linke, die
davon ausging, dass sich die Frage der Ungleichheit der Geschlechter nach der Revolution schon
von selbst erledigen würde. Insofern war es historisch nur folgerichtig, dass der Feminismus von
innen heraus genau da in Frage gestellt werden musste, wo er seinerseits einen Hauptwiderspruch
konstruierte.
Die Diskussion um Rassismus ist sicherlich das bekannteste Beispiel für die innerfeministische
Kritik an Identitätspolitik. Etwas weniger populär sind die folgenden zwei Fälle: erstens die
Diskussion um den Mythos vom "Faschismus als höchste Form des Patriarchats", in dem dann
Frauen logischerweise vor allem Opfer gewesen sein sollen - inklusive KZ-Aufseherinnen und
SS-Ehefrauen.
Die sogenannte Debatte um Mittäterschaft - wobei der Begriff auch bereits problematisch ist, da er
eine originäre Täterschaft von Frauen ausschließt - stellte diesen Mythos von "der Frau" als Opfer
des NS und als allgemeines Opfer des Patriarchats in Frage. Zugleich wurde, auf die Gegenwart
bezogen, die Frage nach der Beteiligung von Frauen an Verhältnissen materieller und auch
sexueller Gewalt und Ausbeutung gestellt. Die Rolle von Frauen/Müttern im Zusammenhang mit
sexueller Gewalt in der Familie wurde hinterfragt, die Debatte um "Täterschutz", auch in der
Linken, begann. Hier wurde gleichzeitig versucht, die Mittäterinnenschaft von Frauen zwar abstrakt
zu denken, allerdings ohne die gemeinsame Identität als Opfer aufzugeben, nach folgendem Muster:
Frauen werden durch Sozialisation von sich selbst so entfremdet, dass sie darauf getrimmt werden,
sich schützend vor gewalttätige Männer zu stellen; andererseits sagen Frauen, sobald es um sexuelle
Gewalt geht, immer die Wahrheit. Diese widersprüchliche Identitätskonstruktion in praktische
Politik umzusetzen, erwies sich häufig als sehr schwierig; und nicht wenige linke Männer nutzten
diese "konzeptionelle Schwäche" der autonomen Frauenbewegung in äußerst unangenehmer Weise,
um sich mit Nachdruck entweder als "Opfer des Feminismus" oder als "gute Männer" zu
konstruieren. Verhandelt wurde weniger die Frage der Gewalt als vielmehr die Frage des
Geschlechts, und genau das machte es so schwierig, effektive Strategien gegen Gewalt zu
entwickeln.
Unvermeidliche Provokationen
Zweiter Fall: Im Zusammenhang mit vorgeburtlicher Diagnostik und künstlicher Befruchtung
wurde der für die Neue Frauenbewegung so grundlegende Begriff der individuellen
Selbstbestimmung mehr als heikel. Auf einmal stellte sich heraus, dass die scheinbar
selbstverständliche Forderung nach dem Recht auf Kontrolle über den eigenen Körper eugenische
Phantasmen von Auslese nähren. Denn die Pränataldiagnostik verspricht ja die Möglichkeit der
vorgeburtlichen Selektion "abweichender", also behinderter Föten. Weil damit plötzlich auch die
Reproduktion maßgeschneiderten Nachwuchses um jeden Preis gemeint sein konnte, bekam das
trotzige "mein Bauch gehört mir" einen ganz anderen Ton: nicht mehr Kampfparole gegen
patriarchalen Staat und Gebärzwang, sondern beruhigende Antwort auf ein angebliches moralisches
Dilemma. Behinderte Feministinnen stellten die Frage, inwieweit ein Selbstbestimmungsbegriff als
feministische Kampfparole taugt, der die Verantwortung für das Existenzrecht behinderter
Menschen zurückweist.
Die Antwort blieb aus. Das konkrete Entscheidungs-Problem lösen die meisten betroffenen Frauen
inzwischen privat oder mit Hilfe staatlich oder kirchlich geförderter, auch "feministischer"
Beratungsstellen. Die einen nehmen Pränataldiagnostik in Anspruch, die anderen nicht - politisiert
wird dieses Thema kaum noch. Dieser Rückzug ins Private schließt in gewisser Weise logisch an
Identitätspolitik an. Wenn die Möglichkeit eugenischer Selektion, je nachdem, als Herausforderung,
Gefährdung oder Schutz weiblicher Identität verhandelt wird und nicht als Herrschaftsstrategie, die
ganz bestimmte Konstruktionen von Weiblichkeit erst auf den Markt wirft, dann kann kaum ein
politischer Umgang mit diesem Thema entwickelt werden.
Für die Frage nach feministischer Identitätspolitik bedeuteten diese unterschiedlichen
Verwerfungen vor allem eins: Verunsicherung. Und in Phasen politischer Verunsicherung wird
Theorie wichtiger. So traf es sich gut und keinesfalls zufällig, dass Anfang der 90er Judith Butlers
"Gender Trouble" auf deutsch ("Das Unbehagen der Geschlechter") erschien. Einige fühlten sich
allerdings durch Butlers Thesen regelrecht provoziert, manche sogar bis heute. Dabei war Butlers
theoretische Intervention vor allem klärend und deshalb notwendig. Denn Butler,
US-amerikanische, lesbische Philosophin und akademische Kultfigur der 90er, geht davon aus, dass
nicht nur gender Produkt gesellschaftlicher Machtverhältnisse ist. Das hatten Feministinnen schon
lange vor ihr gedacht, etwa Simone de Beauvoir - wir werden nicht als Frauen geboren, wir werden
dazu gemacht. Butler denkt, dass die Differenz zwischen sex und gender selbst Produkt eben dieser
Herrschaftsverhältnisse ist. Für sie gehört es zu den effektivsten Strategien "patriarchaler" Macht,
dass sie nicht nur in den Köpfen, sondern bis in jeden Winkel der Erfahrung, der Empfindungen,
Ängste, Sehnsüchte und Vorstellungen die Fiktion verankern konnte, dass Menschen in zwei und
nur in zwei Geschlechtern zu denken sind und dass diese zwei Geschlechter in ganz bestimmter
Weise aufeinander bezogen sind: nämlich gegensätzlich oder ergänzend, auf jeden Fall aber
hierarchisch.
Das Adjektiv "patriarchal" muss man aus dieser Sicht deshalb in Anführungsstriche setzen, weil
Patriarchat für Herrschaft von Männern über Frauen steht. Butler behauptet aber, dass eine viel
grundlegendere Herrschaftsstruktur dafür verantwortlich ist, dass Männer als Männer und Frauen
als Frauen überhaupt erst denkbar werden. Dafür sei eine ständige Aussonderung des
"Abweichenden" erforderlich. So sei Heterosexualität kein Naturphänomen, sondern eine rigide
Norm, die auch unserer Vorstellung von der Natürlichkeit zweier Geschlechter zugrundeliegt. Für
die Durchsetzung dieser heterosexuellen Norm sei beispielsweise die Verwerfung von
Homosexualität Voraussetzung; z.B. indem sie als krank oder pervers konstruiert wird. Dass das
Geschlecht sozial konstruiert ist, heißt für Butler nicht, dass Menschen ihr Geschlecht wählen und
wechseln können wie Jacke oder Hose. Aber es wird eben nicht als Effekt von Natur, sondern als
Effekt von Herrschaft gedacht.
Notwendig, aber nicht hinreichend
Kritik von Identitätspolitik ist aus dieser Sicht Herrschaftskritik. Denn die "Verwerfungslogik" ist
nicht nur für die heterosexuelle, sondern für jede Identitätsbildung Bedingung. Und jede als
unumstößlich behauptete Identität bildet sich demnach vor einem unsichtbaren Schatten ab, der für
die Identität bedrohlich wird, sobald er sein Schattendasein verlässt. Die schwarze, die behinderte,
die lesbische, die bisexuelle, die transsexuelle, die nicht-westliche Frau, aber auch die weiße
Mittelschichtsfrau, die vom Kapitalismus, vom Klassensystem, vom institutionalisierten Rassismus
usw. profitiert - und viele mehr bevölkerten und bevölkern den Schatten der universalen
feministischen Identität "Frau". Deshalb ist Kritik an Identitätspolitik vor allem eine Kritik an
Ausschließungsverfahren und zwar gerade an solchen, die nicht auf den ersten Blick offensichtlich
sind. Kritik an Identitätspolitik bedeutet den Abschied von der Idee, es gäbe ein einziges
Unterdrückungssystem, das alle anderen dominiert und Kritik an Identitätspolitik bedeutet, sich zu
weigern, gesellschaftliche Positionierungen, egal welcher Art, als irgendwie "natürlich" zu denken.
Es bedeutet, den Grund für gemeinsames politisches Handeln nicht primär in der Vergangenheit,
dem gegebenen, "natürlichen" Band zu suchen, das die einzelnen verbindet, sondern in der Zukunft,
in den gemeinsamen politischen Zielen. Aber umgekehrt ist Kritik an Identitätspolitik alleine noch
kein Programm. Sie ist kein Garant für besonders progressive Politik. Und auch das ist logisch.
Denn Kritik von Identitätspolitik ist Kritik an totalisierenden Denk- und Praxisformen. Deswegen
kann sie umgekehrt nicht dazuführen, prinzipiell jede Form von Identitätspolitik für unmöglich zu
erklären. Bestimmte historische Situationen erfordern gerade das Sprechen über Identität als
Bedingung für politische Artikulation. Doch dieses Sprechen sollte offen bleiben dafür, von innen
heraus in Frage gestellt zu werden. Es sollte sein eigenes Verschwinden als klares Ziel vor Augen
haben. Identitätspolitik wäre dann nie mehr als der bewusst einkalkulierte, vorübergehende Effekt
strategischer Entscheidungen, die unter absolutem Verzicht auf absolute Wahrheiten gefällt werden.
Alle hier behandelten Probleme hatte und hat die gemischte Linke selbstverständlich auch.
Während die Debatte in der Frauenbewegung schließlich auch intensiv geführt wurde, konnten sich
ihr viele männliche Linke bis heute erfolgreich entziehen. Und das ist ein Grund, auf feministische
Organisierung nicht zu verzichten, ebenso wie die Erkenntnis, dass Männer für die Abschaffung
materieller Ungleichheit entlang der Geschlechtergrenze in der Regel wenig Einsatz an den Tag
legen. Oder, wie Judith Butler sagt, der Feminismus braucht die Frauen, aber er muss nicht wissen,
wer sie sind.
Stefanie Gräfe
ak - analyse & kritik - zeitung für linke Debatte und Praxis / Nr. 531 / 19.9.2008
Neoliberaler Feminismus und konservative
Weiblichkeit
Über die neuen Erbinnen der Frauenbewegung
Der Begriff des Feminismus war in Deutschland in den letzten 15 Jahren zunehmend zum
Schimpfwort geworden. Im Zuge der Debatten um eine neue Familienpolitik hat sich diese
diskursive Großwetterlage verändert. Der Ruf nach einem "neuen" Feminismus erschallt aus der
gesellschaftlichen Mitte. Damit verändert sich auch seine Bedeutung: Mit der zweiten
Frauenbewegung war seit den 1970er Jahren eine Verknüpfung des westdeutschen Feminismus mit
der politischen Linken hegemonial geworden. Zurzeit reetabliert sich ein liberaler Feminismus, der
sich als "neuer" gegen dieses Verständnis von Feminismus abgrenzt. Eine linke Hegemonie
innerhalb des deutschen Feminismus rückt in weite Ferne.
Die von Renate Schmidt angestoßene und von Ursula von der Leyen fortgeführte Wende in der
deutschen Familienpolitik wird weithin als Bruch mit den bisherigen Geschlechterleitbildern
wahrgenommen. Die Kämpfe um neue Geschlechterleitbilder und Ernährermodelle beschränken
sich nicht auf Diskussionen um die konkret verabschiedeten und geplanten Maßnahmen, sondern
finden ebenso im Bereich der populären politischen Literatur statt. Dort wird vor allem um die
Vorstellungen von Männlichkeit und Weiblichkeit sowie damit einhergehende Modelle
gesellschaftlicher Arbeitsteilung gestritten.
Die diskursiven und institutionellen Brüche in der deutschen Familienpolitik haben ein gewaltiges
Echo in der öffentlichen Diskussion. Fast wöchentlich erscheinen Publikationen, die jeweils einen
neuen Vorschlag für die Neuverteilung der Arbeit zwischen den Geschlechtern präsentieren. Dabei
haben sich zwei Hauptgruppen herausgebildet: (1) Die erste Gruppierung thematisiert als Antwort
auf die neue Familienpolitik die Doppelbelastung von Frauen aus konservativer Perspektive.
Gründungsmanifest ist der Bestseller der ehemaligen Fernsehmoderatorin Eva Herman, Das
Eva-Prinzip. (2) Die Protagonistinnen der neuen F-Klasse (nach dem gleichnamigen Buch von Thea
Dorn) unterstützen im Wesentlichen die Familienpolitik von von der Leyen und sehen mit der
Kanzlerschaft von Angela Merkel ein Signal für einen neuen Feminismus, der sich gegen
Tendenzen zu einem geschlechterpolitischen Rollback zur Wehr setzen muss. Sie reagieren
zugleich auf die von der Gruppierung um Eva Herman vorgebrachten Positionen. Im Folgenden
sollen die Positionen dieser beiden Gruppierungen kurz vorgestellt und die damit einhergehende
Positionsverteilung beschrieben werden.
Eva Herman sieht die Feministinnen als kinderlose und tendenziell homosexuelle Verführerinnen
der Mehrheit der Frauen, die sie ins Unglück und zum Verlust ihrer Weiblichkeit führen. Dies
geschehe durch eine Angleichung an die Männer und die Teilnahme am Erwerbsleben. Dieselbe
Entwicklung sei verantwortlich dafür, dass immer weniger Frauen Kinder bekommen. Herman
kritisiert den Zwang zur Erwerbsarbeit (für Frauen); die "natürliche" Weiblichkeit werde dem
Streben nach Gewinn geopfert. Als Ausweg aus der Doppelbelastung propagiert sie eine Rückkehr
zu den traditionellen Geschlechterrollen, die sie religiös - "wir wurden vom Schöpfer mit
unterschiedlichen Aufträgen in diese Welt geschickt" (2005, 46) - und biologistisch begründet: "Die
Weigerung, ein Leben als Hausmann zu führen, ist nicht etwa ein Zeichen für mangelnde
Vaterliebe, sondern sie entspricht einfach dem natürlichen Rollenverhalten." (82)
Eva-Prinzip versus neue F-Klasse
Hermans "Gegenentwurf zur Ich-Gesellschaft" (55) kombiniert eine romantische Kritik des
Kapitalismus mit einem Differenzdenken, in dem Frauen für Familie und menschliche Werte
zuständig sind. Werden Frauen in den Beruf integriert und dadurch "vermännlicht", so müssten
notwendigerweise auch die menschlichen Werte verschwinden. Durch die Gleichsetzung von
Ökonomie und Konkurrenzdenken erübrigt sich dann auch die Frage, wie ökonomische
Verhältnisse demokratisiert und "vermenschlicht" werden könnten.
Herman teilt mit Christa Müller den Befund, dass das Ansehen der Hausfrauentätigkeit
systematisch entwertet wurde und wieder aufgewertet werden müsse. Müller ist familienpolitische
Sprecherin der Linkspartei im Saarland, kooperiert aber ebenso wie Herman mit dem
rechtskonservativen Familiennetzwerk. Konsequenterweise ist ihr Buch "Dein Kind will dich"
(2007) im St. Ulrich Verlag des Augsburger Bischofs Walter Mixa erschienen. Ihrem Anspruch
nach vertritt Müller aber linke Positionen.
Sie wendet sich gegen die öffentliche Betreuung von unter dreijährigen Kindern. Zum anderen
wendet sie jedoch ein, dass die höhere Erwerbsquote von Frauen für die Senkung der
durchschnittlich gezahlten Löhne instrumentalisiert wird und dass die bestehende Arbeitsteilung bei
nicht entlohnter Arbeit Frauen ausbeutet. Müller begrüßt die von der Frauenbewegung in den
1980er Jahren geforderte Einführung des Sechs-Stunden-Tags, die eine gleiche Beteiligung von
Männern und Frauen an allen Arbeiten ermöglichen kann. Da der Sechs-Stunden-Tag jedoch nicht
durchgesetzt werden konnte, sind die Frauen in den Gebärstreik getreten: "Der Gebärstreik in
Deutschland ist ein Anzeichen dafür, dass Frauen immer weniger bereit sind, unentgeltlich
Fürsorge- und Erziehungsarbeit zu leisten." (140)
Müller steht anders als Herman dem Feminismus nicht feindlich gegenüber, sieht es aber als "Fehler
der Frauenbewegung, die Befreiung der Frau vor allem durch die Gleichstellung im Erwerbsleben
herstellen zu wollen." (136) Sie plädiert einerseits für die Gleichstellung der Frauen innerhalb der
Erwerbsarbeit, aber zugleich für eine Gleichstellung von Erwerbsarbeit und "Arbeit der Frauen in
den Privathaushalten" (ebd.). Daraus resultiert ihre Forderung danach, Hausarbeit durch ein
"Erziehungsgehalt" (178) wie Erwerbsarbeit zu entlohnen und sozial abzusichern. Müllers Anliegen
ist es, das "Wohl der Kinder" und "die Familie" angesichts von längeren Arbeitszeiten und
unsicheren Arbeitsverhältnissen zu retten.
Die durch von der Leyen vertretene Strategie wird Müllers Meinung nach nicht aufgehen, da sie die
Doppelbelastung verstärkt. "Dass Frauen in einem Vollzeitberuf ihr eigenes Geld aus Gründen der
Existenzsicherung verdienen müssen oder aus Gründen der Unabhängigkeit verdienen wollen und
darüber hinaus als Mutter ganz überwiegend die unbezahlte Haus- und Erziehungsarbeit leisten und
erstens zuwenig Zeit für ihre Kinder haben und zweitens kaum noch über Freizeit und
Erholungszeit verfügen: für diesen Lebensentwurf kann man sich doch nicht allen Ernstes
einsetzen." (125) Ihrer Ansicht nach werden sich die Frauen dagegen wehren: "Der Gebärstreik
wird sich fortsetzen." (180)
Die in vielen Aspekten divergenten Ansätze von Herman und Müller teilen das Anliegen, die
bestehende oder drohende Doppelbelastung von Frauen durch mehr Zeit für Kindererziehung im
häuslichen Rahmen abwenden zu wollen. Mit einem konservativen Fokus auf Familie als
Selbstzweck wird die Verknüpfung der etablierten Gleichstellungspolitik mit Klassenherrschaft
thematisiert, die sich darin auswirkt, dass Freizeit immer knapper wird und die kommerzielle und
die nicht entlohnte Pflegearbeit für Kinder und SeniorInnen unter immer prekäreren Bedingungen
verrichtet wird. Mit dieser Positionierung stellen sich Herman und Müller tendenziell gegen den
überfälligen Ausbau der Kinderbetreuung und eine gerechtere Aufteilung der Geschlechterrollen, da
sie die im Familienernährermodell vorgesehene größere Absicherung, was Wohlstand und Freizeit
angeht, der Flexibilisierung der mit diesem Kompromiss verbundenen Geschlechterhierarchie
vorziehen.
Als Verteidigerinnen der neuen Familienpolitik treten die Krimiautorin Thea Dorn und die
Unternehmensberaterin und FDP-Politikerin Silvana Koch-Mehrin auf. Beide richten sich gegen die
geschlechtsspezifischen Hierarchien in allen Bereichen der Gesellschaft, vor allem in der
Erwerbsarbeit. Sie haben als erfolgreiche Frauen die berühmte "gläserne Decke" selber kennen
gelernt und plädieren für einen Aufbruch starker Frauen.
Dorn betont, dass der Geschlechterkampf keineswegs vorbei ist und dass nach den Kämpfen um
rechtliche Gleichstellung eine neue Form des Feminismus geschaffen werden muss. "Ein neuer
Begriff muss gefunden werden für Frauen, die neue Wege zwischen Feminismus und Karriere
gehen [...] Warum nicht zugeben, dass es in diesem Buch nicht um Frauensolidarität um jeden Preis
geht, sondern um eine bestimmte Klasse von Frauen, die sich allerdings nicht durch ihre
privilegierte Herkunft definiert, sondern einzig und allein durch das individuell von ihr Erreichte
und Gelebte?" (37)
Dorn richtet sich gegen die "öffentlichen Gebäraufrufe" (311) wie gegen die Vorstellung, dass sich
Kindererziehung und Berufskarriere nicht vereinbaren lassen. Der Kampf um Emanzipation wird
bei ihr individuell geführt und stellt keine Forderungen an Politik und Gesellschaft. Es geht um die
Emanzipation und Gleichstellung der Frauen und Männer, die sie sich "leisten" können - im
durchaus doppelten Sinn des Wortes. Die strukturellen Zwänge sollen durch eine kollektive
Willensanstrengung durchbrochen werden, da es nach Dorn dumme und böswillige Personen
beiderlei Geschlechts sind, die diese Zwänge aufrechterhalten - und nicht Strukturen, die politisch
verändert werden können.
Betreutes Wohnen für männliche Erwachsene
Silvana Koch-Mehrin, Unternehmensberaterin und FDP-Abgeordnete im Europaparlament, plädiert
für einen neuen "Feminismus mit den Männern" (16), der sich gegen die "Retro-Sehnsucht" und die
"Rückbesinnung auf die guten alten Zeiten" wendet, "als Muttern noch fürs traute Heim und Vater
für das nötige Kleingeld sorgte." (12) Sie arbeitet heraus, wie rückständig die Geschlechterbilder in
Deutschland im europäischen Vergleich sind und lastet dies den "politischen Strukturen" und der
"deutschen Muttertümelei" (19) an. Die Unterstützung des männlichen Ernährermodells durch das
Ehegattensplitting findet sie grotesk und die Hausfrauenehe ist für sie "eine gediegene Form des
betreuten Wohnens für männliche Erwachsene" (23). Für genauso absurd hält sie den Vorschlag,
Hausarbeit staatlich zu entlohnen, da die Arbeitsteilung im Haushalt von jedem Paar eigenständig
verabredet werden könne. Koch-Mehrin führt die verschiedenen Hindernisse für eine
gleichberechtigte Partizipation von Frauen an: den segregierten Arbeitsmarkt, die
geschlechtsspezifische Berufswahl, die Lohndifferenz zwischen Frauen und Männern sowie die
Rituale und Verhaltensweisen von Männerbünden. Um dagegen anzugehen, erklärt sie die
Volkswirtschaft zur Verbündeten im feministischen Kampf: "Denn die Ökonomie ist eine
Schwester! [...] Es ist nicht nur für die Beziehung, sondern in der Tat für die ganze Volkswirtschaft
besser, wenn qualifiziertere Frauen Karriere machen und weniger qualifizierte Männer zu Hause
anpacken." (161) Koch-Mehrin fordert dementsprechend "eine weibliche Kaderschmiede" (193),
mehr Frauennetzwerke und Frauenquoten in der Politik.
Geschlechterpolitisch gehen ihre Forderungen weit über die konkreten Projekte des
Familienministeriums hinaus. Dennoch fällt auf, dass die bessere Integration von Frauen in
Erwerbsarbeit im Zentrum steht. Die Arbeitsteilung im Haushalt bleibt weitgehend ein "privates"
Thema, das der politischen Regulierung entzogen bleibt und die Geschlechterdifferenzen auf dem
Arbeitsmarkt werden nicht im Zusammenhang mit dem dominanten Arbeitszeitmodell gesehen.
Die hier vorgestellten vier Autorinnen ordne ich im Folgenden zwei Richtungen zu: Herman und
Müller bilden das Lager der konservativen RomantikerInnen und Dorn und Koch-Mehrin ordne ich
dem liberalen Feminismus zu, den auch von der Leyen vertritt. Die konservativen RomantikerInnen
zeichnen sich dadurch aus, dass sie die Doppelbelastung von Frauen und die Ausdehnung der in
Familien geleisteten Erwerbsarbeit im Namen einer von diesen Zwängen relativ abgeschotteten
Familienwelt kritisch betrachten. Der liberale Feminismus wendet sich gegen
geschlechterhierarchische Strukturen und den nostalgischen Blick zurück auf die Hausfrauenehe.
Die Emanzipation soll in neuer Form weitergeführt werden, beschränkt sich jedoch wie die
herrschende Familienpolitik auf Maßnahmen, in deren vollen Genuss nur die relativ Privilegierten
kommen würden.
Mit der Herausbildung dieser zwei (die Diskussion um Familienpolitik dominierenden) Richtungen
ergibt sich die Situation, dass Gleichstellung mit Neoliberalismus und Elitenorientierung, tradierte
Geschlechterhierarchien dagegen mit einem Widerstand gegen die zunehmenden Marktzwänge
artikuliert sind. Bezeichnenderweise ist es dem "alten", linken und herrschaftskritischen
Feminismus nicht gelungen, innerhalb dieser Debatte massenwirksam Position zu beziehen. (1)
Dessen Bastionen wurden in zweifacher Weise geschleift: Die liberalen Feministinnen haben
erfolgreich die Position des Feminismus und die damit verbundene Forderung nach Gleichstellung
besetzt, die konservativen RomantikerInnen die Klage über die Doppelbelastung von Frauen und
die zunehmenden Marktzwänge. Damit ist die Kritik der Herrschaftsstrukturen, die in den
gesellschaftlichen Arbeitsteilungen zur Geltung kommen, auf zwei Positionen innerhalb des
etablierten Herrschaftsgefüges aufgespalten. Ein linker Feminismus steht vor der doppelten
Aufgabe einer Verteidigung der begrenzten Fortschritte, die mit der neuen Familienpolitik
verbunden sind, gegen die konservativen RomantikerInnen sowie einer offensiven Kritik des
klassenselektiven Charakters des liberalen Feminismus und der neuen Familienpolitik.
Die neue Familienpolitik ist in die klassenpolititische Strategie der aktivierenden
Arbeitsmarktpolitik und den damit verbundenen Abschied vom bundesdeutschen Korporatismus
eingebettet. Die mit dieser Mischung aus Zwängen und Anreizen verbundene ökonomische
Strategie hat die politische Funktion, Konsensbasen in der Bevölkerung auszubauen. Über die
gezielte materielle Förderung bestimmter Gruppen hinaus hat die neue Familienpolitik die
Wirkung, dass Anliegen von erwerbstätigen Frauen und ein modernisiertes Geschlechterbild
symbolisch durch die Regierungspolitik vertreten werden. Familienministerin von der Leyen spricht
dementsprechend im Namen aller Frauen und ihrem Anspruch auf eigenständige Erwerbstätigkeit
und verbindet diese Anrufung mit dem Idealbild des heterosexuellen Paares, das Kinder aufzieht
(von der Leyen/von Welser 2007). Die hegemoniale Familienpolitik tritt symbolisch als
Schutzmacht aller Frauen auf, verwirklicht aber faktisch einen "Feminismus der
Besserverdienenden".
Getrennte Kritiken zusammenführen
An der aktuellen Artikulation von Gleichstellungspolitik und Klassenherrschaft wird deutlich, dass
jedes politische Projekt, auch das des Feminismus und der Gleichstellungspolitik, umkämpft ist: Es
wird sowohl von den Herrschenden wie von den Subalternen reklamiert. Und es gibt keine
notwendige Verbindung zwischen den neuen sozialen Bewegungen der 1970er Jahre (Feminismus,
Ökologie, Antikolonialismus) und linken, progressiven Bewegungen. Im Deutschland des 21.
Jahrhunderts zeichnet sich ab, dass das in den 1990er Jahren erneuerte, aber bereits in Bezug auf
Einfluss und Massenbasis geschwächte Projekt des Feminismus innerhalb weniger Jahre durch
neoliberale Kräfte innerhalb und außerhalb der Regierung hegemonial artikuliert wurde. Eine
herrschaftskritische, mit dem Feminismus einstmals verbundene linke Position ist damit so weit
marginalisiert, dass Gleichstellungspolitik als neoliberales Projekt der Flexibilisierung der
Familien- und Erwerbsarbeitsstrukturen identifiziert wird. Diese Tendenz wird dadurch verstärkt,
dass die öffentlich wahrnehmbare Kritik der sozialen Selektivität der neuen Familienpolitik durch
antifeministische und/oder am Familienernährermodell orientierte Akteure vertreten wird.
Nicos Poulantzas hat in seiner Analyse der neuen sozialen Bewegungen die These vertreten, dass
diese Bewegungen universalistische, d.h. hegemoniale Perspektiven entwickeln müssen, wenn sie
der Gefahr entgehen wollen, als partikularistische Ein-Punkt-Bewegungen in die neu entstehende
Staatsform nach der Krise des Wohlfahrtsstaates integriert zu werden (1979a, 135; 1980a, 61).
Knapp 30 Jahre später ist dieser Prozess im Fall der Frauenbewegung abgeschlossen, da - auch
aufgrund mangelnder Bündnispartner und einem Niedergang der sozialen Bewegungen in
Westeuropa - eine hegemoniale Artikulation mit anderen progressiven Bewegungen nicht möglich
und/oder von einer oder von beiden Seiten nicht gewollt war. An die Stelle einer Bündelung
verschiedener Anliegen, einer in den 1970er und 1980er Jahren diskutierten "transversalen" Politik
ist die Professionalisierung und Filterung der je einzelnen Anliegen sozialer Bewegungen in den
NGOs getreten. Die Ausarbeitung alternativer hegemonialer Ansprüche in den oppositionellen
Bewegungen kann ein Gegenmittel gegen die korporatistische Tendenz sein, soziale Bewegungen in
das System zu integrieren.
In der aktuellen Situation, in der es nur sehr schwache und relativ fragmentierte linke soziale
Bewegungen in Deutschland gibt und daher die Rekonstruktion eines gegenhegemonialen Blocks
zu den langfristigen politischen Aufgaben gehört, stellt sich für einen linken Feminismus die
Aufgabe (sofern er nicht als Teil des neoliberalen Machtblocks wahrgenommen werden will und
weitergehende politische Ansprüche hat), sich als politisches Projekt gegen den liberalen
Feminismus zu konstituieren, indem die in der aktuellen Konstellation getrennten Kritiken der
beiden wichtigsten Modi von gesellschaftlicher Arbeitsteilung neu zusammen geführt werden. Das
durch den liberalen Feminismus und die konservativen RomantikerInnen besetzte Terrain kann nur
durch eine Kritik zurückerobert werden, die gleichermaßen geschlechtsspezifische und
klassenbezogene Hierarchien thematisiert.
Jörg Nowak
Anmerkungen:
1) Im aktuellen Buch der von den herrschenden Gruppen kooptierten Alice Schwarzer ist in etwa
soviel Kritik am neoliberalen Charakter der neuen Familienpolitik zu finden wie in dem von
Silvana Koch-Mehrin. Schwarzer erwähnt zwar ähnlich wie Müller, dass eine 30-Stunden-Woche
die einzige Lösung für Eltern sei (2007, 92), insgesamt bleibt dies jedoch ein Randthema.
In der Print-Ausgabe der analyse & kritik ist eine gekürzte und leicht überarbeitete Fassung dieses
Artikel erschienen.
Literatur
Dietrich, Anette: Weiße Weiblichkeiten. Konstruktionen von "Rasse" und Geschlecht im deutschen
Kolonialismus, Bielefeld 2007
Dorn, Thea: Die neue F-Klasse. Wie die Zukunft von Frauen gemacht wird, München-Zürich 2006
Herman, Eva: Das Eva-Prinzip. Für eine neue Weiblichkeit, unter Mitarbeit von Christine Eichel,
München 2006
Koch-Mehrin, Silvana: Schwestern. Streitschrift für einen neuen Feminismus, Düsseldorf 2007
Müller, Christa: Dein Kind will dich. Echte Wahlfreiheit durch Erziehungsgehalt, Augsburg 2007
Poulantzas, Nicos: ",Es geht darum, mit der stalinistischen Tradition zu brechen!'", in: Prokla 37,
1979, 9. Jg, H. 4, 127-140
ders.: "Marxismus zwischen Sozialdemokratie und ,realem Sozialismus'", in: J. Bischoff, J. Kreimer
(Hg.): Annäherungen an den Sozialismus, Hamburg 1980, 55-74
Schwarzer, Alice: Die Antwort, Köln 2007
Von der Leyen, Ursula/ Von Welser, Maria: Wir müssen unser Land für die Frauen verändern,
München 2007
ak - analyse & kritik - zeitung für linke Debatte und Praxis / Nr. 558 / 18.2.2011
Queer, flexibel, erfolgreich
Haben dekonstruktive Ansätze den Feminismus entwaffnet?
Der Feminismus - verpoppt, verflacht, verwässert? Die dekonstruktiven Gender Studies klagen zu
Unrecht über die Transformation des Feminismus in ein popkompatibles Lifestyle-Projekt, meint
Tove Soiland. Denn sie haben die Frage nach der Position der Frau in der kapitalistischen
Ausbeutung selbst durch die Kritik an rigiden Geschlechternormen ersetzt und damit ökonomische
Verhältnisse in kulturelle Zuschreibungen umgedeutet. Die dabei propagierten queeren
Lebensweisen entsprächen perfekt den Bedürfnissen des flexiblen Kapitalismus.
Dass sich die Verwendung von Begriffen nicht reglementieren lässt, wissen wir spätestens seit den
Lektionen der Dekonstruktion. Ein Begriff, der das gewissermaßen am eigenen Leibe erfahren
muss, ist sinnigerweise der Feminismus selbst. Er taucht heute an vielen verschiedenen Orten auf,
an zu vielen, wie manche meinen. Feminismus ist sexy, macht das Leben schöner, will sich dem in
der Pharmaindustrie tätigen Globalplayer ebenso andienen wie der selbstbewussten Karrierefrau. Er
hat Bravo in Missy Magazine verwandelt und dient Ladies Drive, dem "weltweit ersten
Frauenmagazin für Business and Cars", als ultimativer Kick. Und nicht zuletzt ist er für die
Wohlfahrtsstaatsreformer zur Leitdisziplin ersten Ranges aufgestiegen: Frauen auf den
Arbeitsmarkt! Was also will eine altgestandene Feministin mehr?
Gender Studies beklagen Postfeminismus - warum?
Beim neuen oder "Postfeminismus" handle es sich, so lassen die Gender Studies verlauten,
mindestens um eine Verflachung oder Verwässerung der ursprünglichen Anliegen, wenn nicht gar
um ihre Entwendung. Zwar würden durchaus einzelne Elemente des Feminismus aufgenommen,
doch nur, um den Feminismus als solidarisches Projekt umso nachhaltiger abzuwickeln. Mit
Erstaunen nimmt man zur Kenntnis, wer hier nun plötzlich den Feminismus verteidigt. Erstaunlich
ist das deshalb, weil bis vor kurzem, sagen wir bis vor ca. fünf Jahren, Feminismus an den
universitären Gender Studies das Buhwort schlechthin war. Eine Gedächtnislücke? Ein
Missverständnis? Um welchen Feminismus handelt es sich?
Nehmen wir ein viel beachtetes Buch zur Hand: Angela McRobbies "Top Girls", das im letzten Jahr
auf deutsch übersetzt wurde. Ohne McRobbies empirische Leistungen auch nur im Geringsten
schmälern zu wollen, verblüfft das Buch durch eine eindrückliche theoretische Ungereimtheit. Es
durchstöbert akribisch die mannigfaltigen postfeministischen Phänomene, die sich in
Regierungsprogrammen und in der Popkultur finden. Seine theoretische Bezugsgröße bleibt dabei
ganz arglos: Judith Butler. Kein Wort dazu, dass ihre frühen Schriften als die ersten theoretischen
Manifeste des Postfeminismus galten.
Zwar wird an zwei Stellen die theoretische Selbstabschaffung des Feminismus an den Universitäten
erwähnt, doch es folgt keine Reflexion darüber, was diese beiden Dinge miteinander zu tun haben
könnten oder ob nicht möglicherweise das Eine dem Andern Vorschub leistete. Stattdessen stoßen
wir auf die etwas gewagte These, die symbolische Ordnung fühle sich von Judith Butlers Schriften
herausgefordert und integriere Teile ihrer Heterosexualitätskritik, um sie so zu entschärfen.
Mit dieser Deutung reagiert McRobbie auf den für jeden queerfeministischen Standpunkt
schwierigen Umstand, dass sich Judith Butlers These von der heterosexuellen Matrix als unserem
Unterdrücker Nummer eins angesichts der weit reichenden Liberalisierung sexueller
Verhaltenweisen heute kaum mehr aufrechterhalten lässt. Die Argumentation wirkt hilflos, und sie
ist symptomatisch. Denn sie verweist auf eine große theoretische Leerstelle in der ganzen
gegenwärtigen Debatte und führt ins Zentrum einer brisanten Frage, die bereits eine Rezensentin in
dieser Zeitung aufgeworfen hat. Die Frage nämlich, "wie es dazu kam, dass sich
herrschaftskonforme geschlechterpolitische Stimmen heute in verschiedenster Weise als Erben der
Frauenbewegung darstellen können" (ak 553).
Blickt man auf die Theoriegeschichte des hier implizit als einzig möglich gesetzten Feminismus,
dessen Hauptgegenstand die Kritik an der heterosexuellen Matrix und dessen wichtigstes Anliegen
die Überwindung der Zweigeschlechtlichkeit ist, so wird man vielleicht eine Antwort auf genau
diese Frage finden. Die Elemente, die hier als postfeministisch gebrandmarkt werden, entstammen
im Wesentlichen ebendieser Theorie. Die Unterscheidung in einen guten theoretischen
Postfeminismus und einen schlechten popkulturellen ist damit kaum haltbar.
Werfen wir also einen Blick zurück. Das hier zur Diskussion stehende Verständnis des Feminismus
ist im Rahmen der Cultural Studies in den USA entstanden, die sich seit den 1980er Jahren - in
Absetzung von ihren eigenen Wurzeln - zunehmend in Distanz zu den gesellschaftstheoretischen
Ansätzen des Marxismus brachten. Nicht die Analyse kapitalistischer Ausbeutungsverhältnisse und
die spezifische Position von Frauen darin standen nun im Zentrum der Aufmerksamkeit, sondern
die Befragung dieser Kategorien selbst. Leitend hierfür war eine Vorstellung von
Herrschaftsverhältnissen, die die in ihnen wirksame Macht vor allem als Disziplinierung verstand oder, noch grundlegender: als Mechanismen, die bestimmte Subjektpositionen hervorbringt. Diese
seien selbst noch in ihrer Physis als Effekt bestimmter normativer Anforderungen zu begreifen.
Was so entstand, kann man mit Rosemary Hennessy als cultural materialism, als einen kulturellen
Materialismus bezeichnen, der den historischen Materialismus des Marxismus ersetzte.
In diesem Kontext waren es denn auch vor allem die Themen der sexuellen Unterdrückung, die in
eine besondere Konkurrenz zum Marxismus traten; insbesondere die Vergeschlechtlichung von
Subjektpositionen wurde als ein solch machtgeleiteter Prozess der Materialisierung aufgefasst. In
der Folge wurden nicht nur Fragen der sexual politics, also der sexuellen Verhaltensweisen,
Begehrensformen und Geschlechtsidentitäten, in der Tendenz wichtiger als Fragen der Ausbeutung.
Sexuelle Verhältnisse wurden nun zunehmend nicht mehr in ihrer Wechselwirkung mit den
Produktionsverhältnissen gesehen. Stattdessen fand eine Art Umschrift statt, die auch ökonomische
Verhältnisse als Identitätszuweisungen umdeutete. Das geschlechtsspezfische Rollenverhalten,
nicht die ökonomischen Verhältnisse, war nun plötzlich für die Ausbeutung verantwortlich. Dass
Feminismus heute vor allem dies meint: sexual politics, und damit allzu selbstverständlich als
Identitätspolitik erscheint, hat darin seinen Grund.
Kulturelle Wende in der feministischen Theoriebildung
Diese Verknüpfung von Feminismus mit sexual politics, um nicht zu sagen: die einseitige
Verpflichtung des Feminismus auf dieses Projekt ließ erst die Frage des Subjekts des Feminismus und damit das solidarische Projekt - prekär werden. Dass die Dekonstruktion des feministischen
Subjekts wichtiger wurde als die Artikulation einer nach wie vor bestehenden kollektiven
Betroffenheitslage, ist nur im Kontext dieser spezifischen theoretischen Entwicklung an den
Universitäten zu verstehen. Es war die explizite Frontstellung gegenüber dem Marxismus und
seiner Analysen der Produktionsverhältnisse, die jene Betonung der Differenzen - plurale
Identitätsformen und das Recht auf ihre Anerkennung - in den Mittelpunkt stellte. Die Analyse der
Kapitalverhältnisse, die diese Lebensformen vielleicht erst ermöglichten, wurde darüber in den
Hintergrund gedrängt. Dies beförderte jene Haltung, die wir nun als popkulturellen Lifestyle vor
uns haben: eine etwas merkwürdig anmutende Feier sexueller Freiheiten, die sich auf das dem
liberalen Gedankengut eigentümliche Recht auf Andersheit zu berufen scheint, das sich - infolge
der strikten Abstinenz hinsichtlich kollektiver Forderungen - gleichwohl nicht um die materiellen
Bedingungen kümmert, unter denen diese Andersheit verwirklicht werden kann.
Queere Lebensweise passt perfekt zum Postfordismus
Kommen wir auf die Frage zurück: Wie kam es dazu, dass sich Teile des Feminismus, etwa die
gegen rigide Geschlechternormen gerichteten Strömungen, in die nach der Fordismuskrise
begonnene Erneuerung des Kapitalismus so problemlos eingliedern ließen? Die Antwort ist: Weil
sich die Analyse der Subjektivierungsweisen explizit davon löste, diese auf die
Produktionsverhältnisse - und damit auf mögliche historische Veränderungen in ihnen rückzubeziehen. Im Rahmen dieser theoretischen Prämissen kann nämlich nicht mehr gefragt
werden, ob das Instabilwerden von Identitäten, das in diesem Kontext als Errungenschaft der sexual
politics und damit als Effekt politischer Kämpfe verstanden wird, nicht ganz einfach auf die
veränderten Bedürfnisse des postfordistischen Akkumulationsregimes zurückzuführen ist.
Nicht der Umstand, dass Subjektivierungsweisen thematisiert und politisiert werden, ist das
Problem. Aber dass sich die theoretischen Konzepte, mit denen dies geschieht, explizit von der
Analyse der Produktionsverhältnisse fern hielten - und damit deren postfordistischen Wandel nicht
verstehen -, erklärt die postfeministische Passfähigkeit.
Es kann sein, dass die heterosexuelle Norm dem sich herausbildenden Kapitalismus extrem
behilflich war. Das Geschlechterregime des Postfordismus verlangt aber kaum mehr nach
normierten Geschlechtsidentitäten, sondern fordert gerade deren Flexibilisierung ein. So betrachtet
wäre die Popularität queerer Lebensweisen und deren Verankerung an den Universitäten selbst das
Phänomen, das soziologisch zu untersuchen und zeitgeschichtlich zu verorten wäre. Überspitzt
könnte man sagen: Die Vorstellung von der Dekonstruierbarkeit geschlechtlicher Positionen und
damit von der Verhandelbarkeit des eigenen geschlechtlichen Seins ist selbst zu einer
Subjektivierungsweise geworden, die, weit davon entfernt, subversiv zu sein, sich bestens in die
Erfordernisse spätkapitalistischer Produktion einpasst, ja dieser am ehesten entspricht.
Dies macht auch deutlich, warum es hier nicht einfach um die Synthese zweier Ansätze, sagen wir
der Dekonstruktion und des historischen Materialismus, gehen kann. Festzustellen, dass diese
Ansätze inkompatibel sind, ist deshalb nicht Dogmatismus. Man müsste vielmehr fragen, ob die
stillschweigende Umdeutung ökonomischer Verhältnisse in kulturelle Zuschreibungen nicht
ihrerseits dogmatisch ist. In gewisser Weise beansprucht sie, alles in sich integriert zu haben, weil
sie, vermeintlich, immer schon eine Stufe tiefer ansetzt. Damit aber macht sie einen
Fundierungsanspruch geltend.
Eine merkwürdige theoretische Schlaufe, in die sich da das dekonstruktive Projekt verwickelt hat,
ist es doch einmal ausgezogen, die Ausschlüsse der andern zu skandalisieren. Hegemonial ist dieses
Projekt jedenfalls, denn neben ihm scheint nichts anderes mehr Platz zu haben. Außer eben die
wilden und so betrachtet auch neckischen Blüten der postfeministischen Popkultur.
Tove Soiland
Tove Soiland ist Lehrbeauftragte an verschiedenen Universitäten und dankt den Studierenden des
Seminars Postfeminismus an der Universität Hannover für die zahlreichen Diskussionen.
ak - analyse & kritik - zeitung für linke Debatte und Praxis / Nr. 559 / 18.3.2011
Die Sehnsucht nach
dem feministischen Hauptwiderspruch
Eine Antwort auf Tove Soiland
"Dekonstruktive Ansätze haben den Feminismus entwaffnet." Statt die Stellung der Frauen in der
kapitalistischen Ausbeutung zu kritisieren, hätten sich die Gender Studies auf die Kritik
geschlechtlicher Identitäten zurückgezogen, schrieb Tove Soiland in ak 558. Die queeren Konzepte
passten perfekt zu den Markterfordernissen im flexiblen Postfordismus. Dieser These widerspricht
Tim Stüttgen. Queere Lebensweisen seien nicht besonders erfolgreich, sondern besonders prekär.
Und die Geschichte des Feminismus zeige: Anstatt vermeintliche Vereinheitlichungen anzustreben,
sollten antisexistische Kämpfe aus einer Position vielfältiger Gender-Identitäten sprechen.
Ich muss zugeben, ich habe Tove Soilands Artikel "Queer, flexibel, erfolgreich" in der letzten
Ausgabe von ak mit einer Mischung aus Faszination und Enttäuschung gelesen. Grundsätzlich ist es
sicher sinnvoll, die jüngeren Entwicklungen der Gender und Queer Studies mit
marxistisch-feministischen Grundfragen zu konfrontieren. Das fade Ergebnis dieser an sich
spannenden Konfrontation besteht darin, dass queere Politiken den Feminismus zersetzt hätten und
ein neoliberales Erfolgprojekt seien. Diese Brandmarkung ist jedoch ebenso langweilig wie
kurzsichtig.
Soilands Kritik an queeren Konzepten ist altbacken
Es gibt eine etwas zynische Anekdote zu einem Text des marxistischen Kulturkritikers Frederic
Jameson. Um zwischen einer gehaltvollen und kritischen Moderne und einer angeblichen
affirmativen und warenförmig geblendeten Postmoderne zu unterscheiden, betrachtet Jameson zwei
Gemälde. Das erste Bild ist von Vincent Van Gogh, es zeigt zwei geschundene Arbeiterstiefel, die
sofort auf den Zusammenhang von Kapitalismus, Arbeit und Alltag verweisen. Diesem Bild stellt
James - als dialektisches Negativ und Zeugnis postmoderner Verblendung - eines von Andy Warhol
gegenüber, das neonfarbene High Heels abbildet. Jamesons Urteil: Andy Warhols Bild sei
oberflächlich und sensationsheischend wie die angeblich apolitische Postmoderne. Es dauerte nicht
lange, bis queere Theoretikerinnen darauf hinwiesen, dass Warhols Bild die High Heels einer
transsexuellen Sexarbeiterin abbildete.
Ich würde diese Anekdote von der transsexuellen Sexarbeiterin gerne im Hinterkopf behalten, wenn
ich Soilands Argumentation betrachte.
Tove Soiland meint, die performative Wende der Gender Studies habe die materiellen Grundlagen
des Feminismus untergraben. Durch Akademisierung und popkulturellen Hype habe sie die
Subjekte feministischer Kämpfe in eine Vielzahl sozialer Positionen aufgesplittert; die
feministische Kollektivität ist versaut. Schuld an dieser Fragmentierung sei die Dekonstruktion. Sie
habe die Geschlechtskategorien und das System der Zweigeschlechtlichkeit dermaßen
dekonstruiert, dass die gemeinsame Basis für feministische Kämpfe verschwunden sei. Alles, was
übrig bleibe, seien selbstbezogene Individualismen: Popfeminismus und queerer Maskenball.
Diese Diagnose ist falsch. Sicher kann die Vulgärnormalisierung der Theorien von Judith Butler,
die in deutschsprachigen Kontexten zu beobachten ist, auch an ihre Grenzen kommen. Eine Theorie
von Macht auf soziale Positionen und Geschlechter-Performanzen zu begrenzen, führt nicht immer
weit genug. Ich gebe auch gerne zu, dass der akademische Alltag Disziplinen mit politischem
Anspruch auf die Dauer selten gut tut. Doch die Dekonstruktion mit der Begründung zu
verabschieden, dass sie die Formierung der Frauen zum kollektiven Subjekt verhindere, ist ungefähr
so sinnvoll wie zu behaupten, dass die Dekonstruktion des Warenfetischs die Arbeiterklasse
zerstöre. Ideologie- und diskurskritische Ansätze sollten eigentlich ohne Probleme mit
kapitalismuskritischen und marxistischen Ansätzen Hand in Hand gehen.
Wenn wir noch einmal an die transsexuelle Sexarbeiterin in Andy Warhols Kunstwerk denken,
dann ist eines eindeutig: Die Transgender-Person gehört trotz glamouröser Farben und Oberflächen
- ihrer High Heels oder anderer Teile ihres Körpers - nicht zu den GewinnerInnen des derzeitigen
Systems. Weder geht es der Transgender-Person um einen Maskenball, wie es Soiland nahe legt,
noch performt sie ihren Gender mit dem Ziel, subversiv zu wirken.
Queere Lebensentwürfe sind prekär, nicht erfolgreich
Der erste Teil von Soilands These, dass Befreiungskämpfe von 1968 für andere Lebens- und
Arbeitswelten im Laufe der Zeit zu Bausteinen im Programm des Neoliberalismus wurden oder gar
sein Erscheinungsbild prägten, ist noch nachvollziehbar. Dass jedoch gerade minoritäre und
vormals ausgegrenzte Subjekte heute als angeblich flexible Markt-Gewinner auf der Bühne stehen,
ist falsch. Transgender-Frauen, um bei dem Beispiel zu bleiben, sind nämlich nicht nur sehr häufig
arbeitslos und in größeren Gruppen einzig in der Sex-Industrie anzutreffen. Sie sind offensichtlich
prekär - sowohl in ihrer Geschlechterposition als auch in ihren Arbeitsverhältnissen.
Diese Prekarität wegen einer Handvoll dekonstruktiver Phrasen zu einem neoliberalen Projekt zu
erklären, ist vielleicht das brutalste Manöver Tove Soilands. Hier setzt sie gesellschaftliche Kämpfe
mit den Folgen ihres Scheiterns gleich und erklärt darüber hinaus gleich noch VerliererInnen der
gesellschaftlichen Ordnung zu ihren GewinnerInnen. Ebenso gut könnte man aus
Gangster-Rap-Videos schließen, dass alle MigrantInnen schnelle Autos fahren und goldene Ketten
tragen.
Etienne Balibar hat einmal beschrieben, wie im Spätkapitalismus das widersprüchliche Gezerre um
Identität doppelt gewaltvoll gestaltet wird. Einerseits fordert der Markt immer mehr Flexibilität.
Andererseits verlangen der Staat und seine Institutionen von seinen BürgerInnen identitäre
Vereindeutigung. Neue Formen der Überwachung der BürgerInnen als Konsum- wie als
Staats-Subjekte entstehen synchron zu angeblich neuen Freiräumen der Handlungsfähigkeit. Wenn
die entgrenzenden Kräfte des Neoliberalismus alte Geschlechterregime in Teilen wegspülen, kann
das den meist unter Repression - nicht unter Erfolg - leidenden und lebenden Queers nur recht sein.
Trotzdem ist es unwahr, den Neoliberalismus als endlose Welle polysexuellen Glücks zu
beschreiben, von dem gerade Queers am meisten profitieren würden.
Feminismus braucht Vielheit, keine falsche Einheit
Leider wiederholt Tove Soiland mit ihren Thesen eine alte, ressentimentgeladene
Argumentationsstruktur, die gerade die dogmatischeren Teile der Linke anfangs gegen
feministische Positionen vorbrachten: Es ist die so altbekannte wie altbackene Aufteilung der Welt
in Haupt- und Nebenwidersprüche, die sich in dem Artikel findet. Für Soiland scheint eine fast
existenzialistisch gesetzte "Frage der Frauen" näher an der Realität zu liegen als queer-feministische
Bündnispolitiken, die auf der Dekonstruktion der gegenwärtigen Zustände aufbauen und das Ziel
verfolgen, aus einer Vielheit, nicht einer reduktiven Einheit von Positionen zu sprechen. Doch
wieso sollten sich nur Frauen um die Abschaffung gesellschaftlicher Sexismen kümmern müssen?
Gerade die Vielheit der Stimmen teilt der Feminismus mit dem Queerismus. Den Feminismus als
eindeutig marxistisch und in Übereinstimmung mit der Kategorie einer weiblichen Arbeiterklasse
zu erinnern, ist historisch falsch und wird seiner eigenen Mannigfaltigkeit nicht gerecht.
Tim Stüttgen
ak - analyse & kritik - zeitung für linke Debatte und Praxis / Nr. 560 / 15.4.2011
Die Care-Seite der Medaille
Queer-feministische Perspektiven auf Kämpfe um
Reproduktion
Welchen Feminismus brauchen wir? Die Debatte um das Verhältnis queerer und feministischer
Kämpfe begann mit Tove Soilands Kritik an dekonstruktiven Ansätzen. Tim Stüttgen widersprach.
(siehe Kasten) Im dritten Beitrag schlagen die Autorinnen nun vor, das "entweder Queer oder
Feminismus" in ein Sowohl-als-auch und Weder-noch zu verwandeln. Sie meinen: Linke
Feministinnen sollten sich in die Kämpfe um die Organisation der Pflege- und Sorge-Arbeit
einschalten - und zwar mit queer-feministischer Brille auf der Nase.
Queer versus Feminismus? Die emanzipatorisch-feministische Bewegung befindet sich in der Krise,
und das nicht erst seit gestern. Neoliberale Logiken haben feministische Forderungen in eine
individualisierte "Chancengleichheit für alle" verwandelt, kritisiert Tove Soiland. Die
Emanzipationsziele der Frauenbewegung sind kapitalistisch instrumentalisiert worden. Doch bei der
Verteidigung materialistischer feministischer Ansätze gegen ihre neoliberale Umformulierung stellt
Tove Soiland ausgerechnet "Queer" als eine Gefahr für feministische Kämpfe dar. Das ist historisch
falsch, bewegungspolitisch rückschrittlich und irreführend. Wenn wir "Queer" also in den
Mittelpunkt einer Diskussion um Feminismus, neoliberale Verwertungsmechanismen und
Transformationsprozesse stellen, müssen auch die Entstehungszusammenhänge queerer
Bewegungen ins Blickfeld rücken.
Die Entstehung der Queer-Bewegung in den 1980ern
Volker Woltersdorff hat im Jahr 2003 in der Zeitschrift Utopie
kreativ die Entstehung der Queerbewegung im Kontext vielfältiger politischer Ansprüche und
theoretischer Denkansätze beschrieben. Als sich die Bewegung in den 1980er Jahren in den USA
formierte, war sie höchst widersprüchlich und eine gesellschaftliche Randerscheinung - und sie ist
es heute noch. "Queer" war Ausdruck bewegungspolitischer Krisen, neuer Allianzen und der
Radikalisierung von Teilen der Schwulen-, Lesben-, Trans- und Frauenbewegung.
Die fortschreitende Institutionalisierung der Frauen-, Lesben- und Schwulenbewegung hatte eine
Politik zur Folge, die vor allem auf Anerkennung durch den Mainstream zielte. Diese verbreitete
Orientierung wurde von Teilen der Bewegung in Frage gestellt. Auch die homogenisierte
Darstellung nicht-heterosexueller Lebensformen, die stillschweigend ihre weißen, mittelständischen
und männlichen Vertreter zur Norm machte, rief Widerspruch hervor. Parallel entwickelten sich in
organisierten feministischen Zusammenhängen heftige Auseinandersetzungen um Pornografie,
Bisexualität, Promiskuität, Penetration, Sadomasochismus, Transphobie und normierte
Verhaltenscodices. Viele Frauen, Lesben und Schwule, schreibt Volker Woltersdorff, sahen sich in
den Bewegungen nicht mehr repräsentiert.
Ein weiterer zentraler Grund für die Entstehung von Queer waren die sozialen Folgen der
Aids-Epidemie: Das Stereotyp von der angeblichen Verbindung von Homosexualität und Krankheit
wurde in den 1980ern wiederbelebt, Lesben und Schwule waren mit massiven homophoben
Vorurteilen konfrontiert. Schwarze, Schwule, Prostituierte und Junkies wurden auf Grund ihres
Lebensstils zu sogenannte Risikogruppen erklärt - und damit selbst für ihre Erkrankung
verantwortlich gemacht.
Queer ist eine Form der Bündnispolitik der Randständigen und AußenseiterInnen mit dem Wunsch,
auf gesellschaftliche Normierungprozesse und Identitätspolitiken hinzuweisen. Als Instrumente der
Politik bevorzugt Queer schrilles Auftreten und theatralische Performances wie Kiss-ins an
öffentlichen Orten. Und auch heute gilt es, die emanzipativen Elemente einer Pluralisierung von
Lebensformen (subversiv) zu nutzen. Wenn wir uns also neue Orte und Orientierungen
feministischer Kämpfe erstreiten, dann mit der queeren Methode im Gepäck, "Frauen" nicht als
homogene Gruppe zu verstehen, die heteronormative Matrix als gesellschaftlich konstruiert zu
reflektieren sowie immer wieder temporäre Bündnisse für politische Projekte zu suchen. Schauen
wir uns die aktuellen Kämpfe und Debatten um Reproduktionsarbeit und geschlechtsspezifische
Arbeitsteilung an, dann mit einer queer-feministischen Brille, die die unterschiedlichen und
komplexen Lebensbedingungen von Frauen in Reproduktionsverhältnissen in den Blick nimmt.
Noch bis zum 25. April ist im Berliner Kunsthaus Bethanien die Ausstellung "Beyond
Re/Production. Mothering" von Felicita Reuschling zu sehen. Die Ausstellung thematisiert das
schwierige Verhältnis von Berufstätigkeit und Familie und zeigt deutlich, dass von einer
Gleichstellung der Geschlechter auch im Postfordismus kaum die Rede sein kann. Reawyn Connell
beschreibt das Zusammenspiel von Gender-Bewusstsein und neoliberaler Verwertung im Katalog
zur Ausstellung: "Der Neoliberalismus weist eine Genderdynamik auf: die Fähigkeit,
Geschlechterordnung zu konstruieren und zu rekonstruieren." Die scheinbare Ausdifferenzierung
von Männlichkeits- und Weiblichkeitsbildern schafft neue Wege für Frauen auf dem Arbeitsmarkt,
zieht aber zugleich die trügerische Annahme nach sich, die geschlechtsspezifische Arbeitsteilung
sei aufgehoben.
Im Bereich der Pflege-, Sorge- und Hausarbeit wird klar, dass Frauen auch im Postfordismus
automatisch mit dem Arbeitsfeld der Mutter und Hausfrau in Verbindung gebracht werden. Dies
geschieht klassenbedingt in unterschiedlicher Weise. Während Frauen aus den privilegierten
Klassen sich für Haushalt und Kindererziehung eine ArbeitsmigrantIn einstellen, müssen Frauen
aus den subalternen Klassen die eigene Arbeitskraft unter prekären Bedingungen vermarkten und
gleichzeitig komplexe Reproduktionsanforderungen bewältigen. Die Situation von Angehörigen der
mittleren Klassen ist ambivalenter, ein Balanceakt zwischen Reproduktionsanforderungen und
Beschäftigungsverhältnissen.
Glaubt man postoperaistischen TheoretikerInnen, so befinden wir uns im Zeitalter
post-geschlechtlicher Arbeitsteilung. "Affektive Arbeit" dominiere den neoliberalen Kapitalismus.
Ehemals war sie "Frauenarbeit", nun sei sie die neue Form der Lohnarbeit schlechthin. Sie trage
zwar noch vermeintlich weibliche Züge in sich, sei jedoch theoretisch als modernisierte
Fabrikarbeit zu begreifen. Probleme der aktuellen Prekarisierung und Vermarktlichung von
Reproduktionsarbeit lassen sich auf diese Weise nicht in den Blick nehmen.
Bilder über die Widersprüche der Sorge-Arbeit
Wie Silvia Federici im Rahmen der Ausstellung "Beyond Re/Production" zutreffend feststellt,
verschleiert eine solche Betrachtung die Tatsache, dass zwischen den Metropolen und der
Peripherie eine hierarchische Arbeitsteilung besteht und dass sich diese Arbeitsteilung mittlerweile
auch auf die Reproduktionsarbeit erstreckt. Warum sind es immer öfter Care-ArbeiterInnen aus
Osteuropa, Lateinamerika, dem globalen Süden, die hier unsere Reproduktionsarbeiten unter
schlechten Bedingungen verrichten?
Diese international ungleiche Verteilung und Prekarisierung von Versorgearbeit tritt derzeit immer
deutlicher als "Care-Krise" hervor. Der neoliberale Kapitalismus stößt mit seinem Flexibilisierungsund Vermarktlichungsdrang bei dieser Form der Arbeit an Grenzen. Vor allem die emotionalen
Anteile dieser Arbeit lassen sich nur bedingt rationalisieren: Ein pflegebedürftiger Mensch muss um
eine bestimmte Uhrzeit essen und braucht dabei auch soziale Zuwendung. Durch die vermehrte
Erwerbstätigkeit von Frauen, die Pluralisierung von Familienformen und den demographischen
Wandel ist eine Lücke bei der Erledigung von Reproduktionsaufgaben aufgetreten. Diese Lücke
wird durch prekäre und migrantische Arbeit überbrückt.
In diesem Widerspruch bewegt sich auch die Queer-Bewegung. Doch bedeutet der Umstand, dass
sowohl die Frauen- als auch die Queer-Bewegung diesen neoliberalen Dynamiken unterworfen ist,
nicht, dass ihre Anliegen falsch sind. Wir denken, dass eine queer-feministische Kritikperspektive
dann emanzipatorisch intervenieren kann, wenn sie das verbindet, was Queer und Feminismus aus
einer linken Bewegungsperspektive ausmacht: wenn sie analysiert, wie bei Reproduktionsarbeit auf
Grund zugeschriebenen Geschlechtsidentitäten unbezahlte oder schlecht bezahlte Arbeit verrichtet
werden muss; und wenn sie Versorgungsarbeit als intersektionale Schnittstelle der Ungleichheit in
den Blick nimmt, wie es einige aktuelle feministische Diskurse tun.
Nein zur neoliberalen Ordnung der Reproduktion
Wir möchten die Frage aufwerfen, ob nicht Debatten um Gerechtigkeit der Verteilung,
Anerkennung und Teilhabe von, durch und an Versorgungsarbeit Gewinn bringend für eine
queer-feministische sozialrevolutionäre Perspektive sein könnte. Ausgangspunkt einer solchen
Debatte könnte ein fragender Prozess sein, der sowohl die auf der Vorderbühne agierenden Subjekte
als auch die Hinterbühne der Institutionen und Kapitalverhältnisse betrachtet: Wer verrichtet wie
welche Reproduktionsarbeiten, und welche Kategorien oder Ungleichheiten werden darin
reproduziert? Wem wird dabei wie Anerkennung zu- und abgesprochen? Welche Möglichkeiten der
Teilhabe können sich eröffnen und für wen?
Wo könnte eine linke Bewegung ansetzen? Wir schlagen vor, auf dem Feld der
Reproduktionsverhältnisse soziale Kämpfe (z. B. die internationalen MigrantInnenstreiks) von
partikularistischen (z. B. wenn ver.di einen Mindestlohn für Pflegedienste verhandelt) zu
unterscheiden und vor allem in erstere zu intervenieren. Trotzdem sollten partikularistische Kämpfe
nicht völlig aus dem Blick geraten, da auch aus ihnen soziale Kämpfe um alternative
Reproduktionsweisen entstehen können. Wichtig ist ein kollektives, öffentliches Nein zur
neoliberal-kapitalistischen Ordnung der Reproduktion. Hierbei können queere Bündnispolitiken und
durch sie eröffnete Vielfältigkeiten eine wichtige Inspirationsquelle sein, sind doch das Anzweifeln
heteronormativer Herrschaft, die Verunsicherung von Geschlechter-, Macht-, und
Herrschaftsverhältnissen und das Streben nach Souveränität über das eigene Leben ihnen zentrale
Anliegen.
In Anlehnung an Silvia Federici sehen wir es als wichtig an, Reproduktionsverhältnisse weltweit zu
entprivatisieren und zu kollektivieren. Dabei ist zentral, auf welche Ressourcen ein solches Projekt
zurückgreift. Wir stellen uns keine "kommunistischen Inseln im kapitalistischen Gesamtwahnsinn"
vor (wie es etwa Konzepte des community gardening und andere tun), sondern neue
Reproduktionsräume, die sich aktiv die Ressourcen des Staates und des Marktes zurück erobern.
Wie es an diesem Punkt weitergehen könnte, hat Silvia Frederici offen gelassen. Damit hat sie den
Raum für eine spannende Diskussion um die sozialrevolutionäre Vergesellschaftung von
Versorgungsarbeit geschaffen. Eine solche könnte z. B. mit dem Aufbau von
stadtteilübergreifenden sozialen Reproduktionszentren, vergleichbar den selbstorganisierten
communities of care, beginnen.
Lea Steinert, Kristin Ideler
ak - analyse & kritik - zeitung für linke Debatte und Praxis / Nr. 561 / 20.5.2011
Die Befreiung einiger auf Kosten vieler
Queer-Feminismus kommt ohne Kritik an Rassismus und
Postkolonialismus nicht aus
Die Debatte um Feminismus und Dekonstruktivismus läuft weiter. Begonnen hatte diese in ak 558
mit einer Kritik dekonstruktivistischer Ansätze durch Tove Soiland, weitere Beiträge folgten. (siehe
Kasten) Feministische Gesellschaftskritik braucht jedoch auch queere, postkoloniale und
rassismuskritische Blickwinkel, meint Nadine Lantzsch. Sie räumt mit dem Missverständnis auf,
bei der Dekonstruktion von Kategorien gehe es um deren Abschaffung.
Hat sich Feminismus mit der Etablierung postmodernen Denkens sein gesellschaftskritisches
Moment genommen? Tragen Queer Theory und das Streben nach Dekonstruktion von Geschlecht
zur Dethematisierung patriarchaler Gewaltverhältnisse innerhalb neoliberal-kapitalistischer
Gesellschaften bei? Tove Soiland beantwortet diese Fragen in ak 558 positiv. Sie fordert die
Rückbesinnung auf radikale Ökonomiekritik samt Wiedereinführung des Kollektivsubjektes "Frau".
Dabei bedient sich Soiland in ihrer Argumentation gegen Queer nicht nur einer dominanten
Geschichtsschreibung über Feminismus. Sie unterliegt wie viele vor ihr dem Fehlschluss, bei der
Dekonstruktion von Kategorien ginge es in der Konsequenz um deren Abschaffung. Soiland
entzieht so dekonstruktivistischen Ansätzen die Legitimationsgrundlage für Kritik an
sozioökonomischen Verhältnissen. Gleichzeitig stilisiert sie das Kollektivsubjekt "Frau" zum Drehund Angelpunkt feministischer Gesellschaftskritik.
Schafft Geschlecht mehr Ungleichheit als Herkunft?
Was Tim Stüttgen in ak 559 als "Sehnsucht nach dem feministischen Hauptwiderspruch" benennt,
ist der Versuch Soilands, marxistische Theoriestränge (erneut) in den Fokus feministischen
Interesses zu rücken. Das ist legitim, da das Geschlechterverhältnis stets in Bezug zu ökonomischen
Verhältnissen gesetzt werden muss: Die aktuelle neoliberale Ausformung kapitalistischer
Akkumulationslogik konstituiert nicht nur prekäre und flexibilisierte Subjekte, sondern
vergeschlechtlicht diese zugleich. Die gegenwärtigen Produktionsverhältnisse affirmieren also nicht
nur Geschlecht auf unterschiedliche Weise, sie schreiben zudem ein hierarchisch gegliedertes
Geschlechterverhältnisses fort. Somit muss Geschlecht eine zentrale Analysekategorie
feministischer Gesellschafts- und Ökonomiekritik bleiben.
Doch es gibt berechtigte Einwände gegen dieses Vorgehen. Und die lassen sich nicht einfach mit
der Begründung wegwischen, es handele sich vorrangig um eine gesellschaftstheoretische
Perspektive:
1. Eine Analyse kapitalistischer Ausbeutungsverhältnisse, die sich auf ein binäres Verständnis von
Geschlecht einigt, missachtet die Prekarisierung und Zurichtung von Nicht-Frauen und allen, die
sich nicht innerhalb der zweigeschlechtlichen Ordnung verorten können oder wollen. Damit wird
das Gewalt- und Ausschlusspotenzial einer heteronormativen Zwangslogik reproduziert.
2. Steht Geschlecht als hauptsächlich gesellschaftsstrukturierend im Mittelpunkt, aktualisiert dies
die Hierarchisierung von Differenzkategorien und Herrschaftsverhältnissen zugunsten weißer
Subjekte. Ist Sexismus "schwerwiegender" als Rassismus? Schafft Geschlecht mehr Ungleichheit
als beispielsweise Hautfarbe oder Herkunft? Ein "Ja" als Antwort auf diese Fragen würde bedeuten,
die jahrzehntelangen Kämpfe von Women of Color, MigrantInnen und Flüchtlingen sowie deren
Bedeutung für feministische Theoriebildung und Entwicklungen innerhalb der Gender Studies
auszublenden. Mit einem solch verkürzten Blick können sozialökonomische Phänomene wie
ethnische Unterschichtung und Prekarisierung von rassifizierten Gruppen nicht erklärt, geschweige
denn überhaupt sichtbar gemacht werden.
3. Werden die Produktionsverhältnisse als Hauptnarrativ in der Vergesellschaftung von Individuen
angesehen und dabei nicht geopolitisch kontextualisiert, reproduziert dies ein eurozentristisches
Denken: Kapitalistische Ausbeutungsformen werden ohne rassistische und postkoloniale
Konstituenten und Kontinuitäten universalisierend für alle Individuen gleich gewaltförmig gesetzt.
Ein neoliberaler Kapitalismus agiert stets global. Er kann sich auf ein postkoloniales Machtgefälle
zwischen Metropole und Peripherie "verlassen" und daraus schöpfen. Daher ist es dringend
notwendig ist, Ökonomiekritik mit Rassismuskritik und Erkenntnissen aus den Postcolonial Studies
zu verbinden.
Die skizzierten Einwände machen vor allem eines deutlich: Feministische Gesellschaftskritik darf
sich nicht darauf beschränken, allgemein gültige Aussagen zu produzieren und daraus politische
Forderungen abzuleiten. Feministische Gesellschaftskritik braucht queere, postkoloniale und
rassismuskritische Blickwinkel und muss sich von der Zielsetzung lösen, einzig die Emanzipation
von "Frauen" aus unterdrückerischen Strukturen zu wollen.
Dekonstruktivismus, der als Denkrichtung und Herangehensweise in Queer-, Rassismus- und
postkoloniale Theorie eingeflossen ist, kann hierbei behilflich sein. Denn es geht bei
Dekonstruktivismus wie gesagt nicht um die Abschaffung begrifflicher Grundlagen. Vielmehr geht
es um die Untersuchung, wie sich Wissen und Macht zueinander verhalten und wie Subjekte in
dieses Geflecht eingebunden sind. Wie werden Ausschlüsse produziert, was bleibt in der
Formulierung von Gesellschaftskritik ungesagt und intransparent? Dekonstruktivismus ermöglicht
eine kritische Relektüre des bereits Gedachten und Gesagten und macht so in der Konsequenz die
Widersprüchlichkeit, die Heterogenität und Komplexität gesellschaftlicher Phänomene sichtbar.
Für queere Politiken bedeutet dies ferner, Heterosexualität und die Norm der
Zweigeschlechtlichkeit als Zwang und Herrschaftsprinzip zu entlarven sowie gewaltförmige
gesellschaftliche Normalisierungen entlang von sexuellen Identitäten und Körpern zu kritisieren.
Diese Kritik ist immer im jeweiligen ökonomischen wie politischen Kontext zu betrachten, in dem
sie geäußert wird. Es muss also hinterfragt werden, warum es vorwiegend weiße homosexuelle
Frauen und Männer aus der Mittelschicht sind, die ihr Recht auf Eheschließung einfordern.
Genauso, wie es nachdenklich stimmen muss, wenn diese sich mit konservativen Kräften die Hände
reichen im Kampf gegen Homophobie, die wiederum nicht mehr als gesamtgesellschaftliches
Problem kritisiert, sondern als "kulturelle" Eigenschaft den rassifizierten Anderen zugeschrieben
wird - dieselben konservativen Kräfte, die sich gegen Affirmative Action Programme in der
Privatwirtschaft aussprechen und vehement die Privatautonomie und Liberalisierung der Märkte
verteidigen.
Die kritische Reflexion aller Machtmechanismen
Nicht nur queere AktivistInnen intervenieren dort, wo die Forderung nach Gleichberechtigung sich
in eine Privilegienvergabe für Einzelne zu verwandeln droht. Vor allem People of Color und
MigrantInnen äußern immer wieder Kritik an der Unsichtbarmachung oder Aneignung ihrer
Perspektiven durch weiße FeministInnen. Bereits vor 40 Jahren hat der feministische
Universalgedanke, alle Frauen aus der Herrschaft des Patriarchats zu befreien oder eine
fundamentale Angleichung an das männliche Ideal einzufordern, zu Entsolidarisierung und
Spaltung geführt.
Obwohl seitdem postkoloniale und rassismuskritische Perspektiven einbezogen werden, bleiben
Machtmechanismen fernab von Sexismus und vielfältige soziale Positionierungen, die eine Person
auf sich vereinen kann, häufig unterreflektiert. Die Belange von People of Color, MigrantInnen und
Flüchtlingen werden als Partikularprobleme der feministischen Bewegung deklariert, als solche, die
besser unter dem Label Antirassismus zu führen seien, Probleme, die der Feminismus nicht
auch noch bearbeiten könne. Oder sie werden dafür instrumentalisiert, vermeintlich westliche
Errungenschaften hervorzuheben.
Aktuelles Beispiel: die Burka-Debatte. Hier müsste nach dekonstruktiver Devise eigentlich
zunächst geklärt werden, wer sich anmaßt, für wen zu sprechen, und was mit der "Befreiung der
muslimischen Frau" eigentlich gemeint ist und bezweckt wird. Tatsächlich aber koalieren
reaktionäre und feministische VertreterInnen, entwerfen Schreckensszenarien über den
"gefährlichen" Islam und rechtfertigen damit eine rassistische Integrations- und Flüchtlingspolitik in
Europa - eine Politik, die selektiv Menschenrechte zugesteht oder aberkennt und MigrantInnen nach
ihrer ökonomischen Verwertbarkeit einteilt.
Nicht zuletzt müssen sich die KritikerInnen postmoderner Feminismen fragen lassen, ob sie nicht
die eine oder andere feministische Forderung aus den Augen verloren haben, die lange vor der
Einführung dekonstruktivistischen Denkens aufgestellt wurde: Wir erinnern uns an die Vorschläge
zur Aufwertung von Weiblichkeit im Bereich der (zum Teil unbezahlten) Reproduktionsarbeit
(Stichwort: Ethik der Fürsorge). Diese erschwerten oder verunmöglichten gar eine umfassende
Ökonomiekritik: Die Geschlechterdifferenz und ihre ökonomische Verwobenheit wurden als
gegeben hingenommen. Es wurde sogar versucht, diese positiv zu besetzen. Hier gerieten
strukturelle Verhältnisse aus dem Fokus feministischer Kritik, obwohl gesellschaftstheoretische
Überlegungen bereits zur Analyse zur Verfügung standen.
Die essenzialisierenden Sichtweisen auf Geschlecht führten zu einer identitären feministischen
Praxis. Sie konnte sich nicht vom kritisierten patriarchalen Vorgang der Aufspaltung und Erklärung
von Welt und Sein in dichotome und ausschließliche/ausschließende Entitäten lösen. Das Kritisierte
wurde reproduziert. Darüber hinaus wurde ausgeblendet, dass auch Frauen an Gewalt und
Herrschaft beteiligt sind.
Es spricht also viel dagegen, Gruppen für widerständige Politiken und Kritik an sozialen
Ungleichheiten zu vereinheitlichen. Dekonstruktivistische Perspektiven im feministischen Denken
und Handeln einzunehmen heißt, die Gleichzeitigkeit, Verwobenheit und Überlagerung von
Unterdrückungs- und Dominanzverhältnissen mitzudenken und kritisch gegen sich selbst zu
wenden, um diese konsequent zu kritisieren.
Das Ziel: Destabilisierung der unterdrückenden Strukturen
Wenn das Ziel feministischen Denkens und Handelns die Selbstbestimmung und Emanzipation von
Individuen und die Destabilisierung von unterdrückenden Strukturen und Dominanzen ist, muss
Feminismus immer ein Ort sein, wo selbstreflektierend und selbstkritisch nach Ausschlüssen und
Unsichtbarem gefragt wird. Denn Wissensproduktion und die Erarbeitung von widerständigen
Politiken sind stets auch Spiegelbild gesellschaftlicher Verhältnisse.
Eine von globalen Machtverhältnissen losgelöste feministische Ökonomiekritik, die
Zweigeschlechtlichkeit und Geschlecht als soziale Kategorie unkritisch wie priorisierend zum
Gegenstand der Analyse macht, reifiziert und reproduziert hegemoniale Wissensvorräte und
Herrschaftsformen. Wer die Produktionsverhältnisse nicht an ihre historischen
Ermöglichungsbedingungen rückkoppelt und mit anderen Unterdrückungsmechanismen verknüpft,
will die Befreiung einiger auf Kosten der Unfreiheit vieler. Feministische Gesellschaftskritik muss
Rassismus- und postkoloniale Kritik sowie neuere Erkenntnisse feministischer, Gender- und
Queertheorie anerkennen und einbeziehen. Schon allein deshalb, weil sich ein neoliberaler
Kapitalismus herrschaftlicher Ideologien und Prinzipien bedient, um sich unter ihrem Deckmantel
einzurichten.
Nadine Lantzsch
Queer vs. Feminismus? Die Debatte bisher:
In ak 558 kritisierte Tove Soiland, die dekonstruktivistischen Ansätze hätten sich auf die Kritik
geschlechtlicher Identitäten zurückgezogen, statt die Stellung der Frau in der kapitalistischen
Ausbeutung zu analysieren. Mit ihren flexiblen Identitätskonzepten passten queere Praktiken
perfekt in den neoliberalen Kapitalismus.
Tim Stüttgen widersprach in ak 559. Queere Lebensweisen seien nicht erfolgreich, sondern prekär.
Feministische Kämpfe sollten nicht nach falscher Einheit streben, sondern die vielfältigen
Gender-Identitäten zum Ausgangspunkt nehmen.
In ak 560 forderten Lea Steinert und Kristin Ideler, sich den Auseinandersetzungen um
Reproduktions- und Sorge-Arbeit zuzuwenden - und zwar mit queer-feministischen Methoden im
Gepäck.
Feministische Gesellschaftskritik braucht queere, postkoloniale und rassismuskritische Blickwinkel,
meint nun Nadine Lantzsch. Dekonstrukivismus kann dabei durchaus helfen, die Komplexivität
gesellschaftlicher Probleme sichtbar zu machen.
ak - analyse & kritik - zeitung für linke Debatte und Praxis / Nr. 562 / 17.6.2011
Raus aus dem Elfenbeinturm!
Der Feminismus muss neu über politische Utopien diskutieren
Die Frauenbewegung der 1970er Jahre hat nicht nur die Geschlechterverhältnisse kritisiert, sondern
ein umfassendes Emanzipationsprojekt verfolgt. Doch parallel zum Aufstieg neoliberaler Konzepte
ging die kapitalismuskritische feministische Vision verloren. Wenn Feminismus mehr sein soll als
eine Stichwortsammlung für moderne Unternehmensführung oder eine Nische an den Universitäten,
ist eine neue Diskussion über feministische Utopien nötig. Dabei geht es auch um die Frage, wie
unterschiedliche Identitätskonzepte in ein aktuelles feministisches Projekt einfließen können. Mit
dem Text setzen wir die Debatte über das Verhältnis von feministischen und dekonstruktiven
Ansätzen fort.
Feminismus ist politische Theorie und soziale Bewegung. Feminismus ist kein in Stein gemeißelter
Begriff, sondern ein Ensemble von Diskussionen, kritischen Erkenntnissen und emanzipatorischen
Kämpfen. Historisch hat er unterschiedliche theoretische Konzepte und Ansätze politischen
Handelns hervorgebracht. Auch im 21. Jahrhundert sind mit "Feminismus" unterschiedliche
Erwartungen verbunden. Diese variieren abhängig vom eigenen (theoretischen, praktischen oder
geographischen) Standort: Im Laufe der Geschichte wurde Feminismus mal als Kampfbegriff, mal
als Diffamierung und mal als Modebezeichnung verwendet.
Die verlorene feministische Kritik am Kapitalismus
Gisela Notz hat in einem Text über die zweite Frauenbewegung der 1970er Jahre in den westlichen
Industrieländern geschrieben, dass diese den Anspruch verfolgte, die "kapitalistisch-patriarchalisch
geprägte Wirtschaft, Kultur und Gesellschaft, die alle Menschen beschädigt und die patriarchalen
Geschlechterverhältnisse" zu überwinden. Was damals existierte und heute fehlt, ist ein breit
angelegtes Emanzipationsprojekt. Ein Blick zurück ist deshalb essenziell, um eine
Zukunftsperspektive zu eröffnen, die sich den aktuellen Herausforderungen des Kapitalismus stellt.
Nancy Fraser hat in ihrem Aufsatz "Feminismus, Kapitalismus und die List der Geschichte" eine
detaillierte historische Analyse der zweiten Frauenbewegung unternommen. (1) Sie versteht
Feminismus als einen historischen Prozess, der in gesellschaftliche Gesamtverhältnisse eingebettet
ist und somit nicht isoliert betrachtet werden kann. Die Ausbreitung der mit der zweiten
Frauenbewegung verbundenen kulturellen Ideen sei Teil eines Prozesses gewesen, der die
Organisation des Kapitalismus der Nachkriegszeit insgesamt verändert hat. Die Kritik, die die
feministische Bewegung formulierte, zeichnete sich dadurch aus, dass sie ökonomische, kulturelle
und politische Dimensionen verknüpfte. In den folgenden Jahrzehnten seien diese drei Dimensionen
jedoch nicht mehr in einen Zusammenhang gestellt worden; sie hätten sich auch von einer radikalen
Kritik am Kapitalismus gelöst. Diese Fragmentierung der feministischen Kritik erlaubte die
selektive Einverleibung und Umformulierung einzelner Elemente. Ist diese Aneignung auf eine
"Wahlverwandtschaft zwischen Neoliberalismus und Feminismus" zurückzuführen, oder ist es eher
dem Zufall geschuldet, dass die zweite Frauenbewegung und der Neoliberalismus gleichzeitig in
Erscheinung traten?
Auf diese Frage antwortet Frigga Haug in ihrem Aufsatz "Feministische Initiative zurückgewinnen
- eine Diskussion mit Nancy Fraser" mit dem Hinweis auf die Produktionsverhältnisse. (2) Die
Forderungen der zweiten Frauenbewegung hätten im Zeitgeist gelegen. Das fordistische Modell der
Produktion befand sich bereits in der Krise, als die Frauenbewegung auf den Plan trat. Die Krise
des Fordismus habe, so Haug, paradoxerweise auch den linken Feminismus begraben. Mit Blick auf
den marxistischen Theoretiker Antonio Gramsci beschreibt Frigga Haug diesen Prozess als "passive
Revolution". Die politische Obrigkeit habe politische Forderungen von "unten" aufgenommen und
in einem anderen Kontext umgesetzt.
Der Neoliberalismus veränderte das Feld, auf dem sich feministische Forderungen bewegten, indem
er die Lebensverhältnisse und -bedingungen der Menschen transformierte. Allerdings wirken nicht
nur wirtschaftliche Prozesse auf die Gesellschaft ein, sondern auch sozial und politisch handelnde
Akteure. Die dekonstruktivistische Kritik hat die Bedeutung der Akteure feministischer Politik ins
Blickfeld gerückt. Insbesondere der feministische Postkolonialismus, die Queer-Theory und die
Intersektionalitätsforschung hinterfragen das kollektive Subjekt "Frau", das für die
Frauenbewegung der 1970er zentral war. Alle drei Perspektiven betrachten Geschlecht nicht als
etwas wesensmäßig Vorgegebenes und wehren essentialistische Subjekt-Konstruktionen ab. Der
Queer-Theory beispielsweise thematisiert die Art und Weise, wie "Normalität" konstruiert wird,
und Mechanismen und Prozesse gesellschaftlicher Normierungen.
Welche Ausschlüsse produziert Politik für Frauen?
Für die zweite Frauenbewegung bedeutet diese Kritik, dass sie ihre eigenen
Normalitätskonstruktionen hinterfragen muss: Reproduziert der Feminismus in Theorie und Praxis
selbst normierende Geschlechtskonstruktionen, beispielsweise in Maßnahmen wie Gender
Mainstreaming, die sich auf die Subjektkonstruktion "Frau" beziehen?
Die Forderung nach einer Frauenquote oder Frauen fördernden Maßnahmen in männlich
dominierten Berufszweigen sind vor dem Hintergrund aktueller Zahlen einleuchtend: Laut
Mikrozensus von 2009 liegt in Krankenpflegeberufen der Frauenanteil bei 91,3 Prozent, in Metallund Anlageberufen aber nur bei 1,6 Prozent. Allerdings sind solche Forderungen höchst
widersprüchlich, wenn sie zugleich von ManagerInnen als Bausteine zur Unternehmensphilosophie
entwendet werden, etwa indem die "emotionale Intelligenz" von Frauen als Ressource zur
Steigerung der Produktivität gefeiert wird. Oder wenn Unternehmen wie Daimler
Diversity-Konzepte implementieren, um Frauen in Führungspositionen zu fördern. Das klingt gut,
allerdings zielen diese Maßnahmen auf Profitsteigerung durch "Vielfalt" und "Flexibilität". Eine
Frauenförderung dieser Art dient vor allem dem Unternehmensinteresse.
Doch auch die dekonstruktivistische Kritik, die die Vorstellung eines einheitlichen Subjekts
verwirft, stellt den Feminismus vor Schwierigkeiten. Zum Beispiel, wenn es um die
Lohn-Ungleichheit zwischen den Geschlechtern geht. Die strategische Formulierung eines Subjekts
ist notwendig, damit Frauen ihren eigenen Standpunkt geltend machen und für gerechte Entlohnung
kämpfen können. Doch dadurch werden andere Personen ausgegrenzt, nämlich jene, die sich nicht
als "Frau" wahrnehmen, oder jene, die nicht arbeiten (wollen). Wie dieser Widerspruch aufgelöst
werden kann, ist offen.
Seien wir realistisch und versuchen wir das Unmögliche! - und besinnen uns auf die feministischen
Ideale zurück. Die Rückbesinnung kann Folgendes bedeuten: die Analyse der Tiefenstrukturen der
Gesellschaft, wie Nancy Fraser sie fordert; die Forderung nach der Rückeroberung der
feministischen Initiative in Anlehnung an den Vorschlag von Frigga Haug; und das Entwerfen
feministischer Utopien sowie die Verknüpfung der Demokratie- und Ökologiefrage. Einen solchen
Vorschlag hat kürzlich Barbara Holland-Cunz in ihrem Aufsatz "Krisen und Utopien: Eine
Rückbesinnung auf den Feminismus als visionäres Projekt" formuliert.
Elemente einer neuen feministischen Utopie
Diese drei Ideale der feministischen Diskussion bieten genügend Stoff, um eigene Gedanken über
das Utopische zu entwickeln. Nancy Fraser stellt die Forderungen nach Umverteilung,
Anerkennung und Repräsentation in den Mittelpunkt und verlangt, dass diese Forderungen
aufeinander bezogen werden müssen. Mit ihnen sind die Sphären der Ökonomie, der
gesellschaftspolitischen Kultur und der Demokratie und Organisation des Staates angesprochen.
Frigga Haug findet in dem Programm Frasers in abgeschwächter Form ihren eigenen Ansatz der
"Vier-in-einem-Perspektive" wieder. Darin geht es Haug um Gerechtigkeit bei der Verteilung von
Erwerbsarbeit, Familienarbeit, Gemeinwesen und Entwicklungschancen. Mit dieser Perspektive
verfolgt Haug den Anspruch, Prämissen für eine eingreifende feministische Politik und zugleich
eine Utopie zu entwerfen. Verbesserungen im Diesseits seien nicht ausreichend, um das Patriarchat
und den Kapitalismus zu überwinden. Erfrischend an dieser Perspektive ist, dass hier ein Anfang
für eine langfristige und nachhaltige Debatte über feministische Utopien gemacht sein könnte.
Diese notwendigen Diskussionen sollten indes nicht dazu verleiten zu vergessen, wo "wir" selbst
stehen. Für die feministische Debatte betrifft das vor allem den Rückzug an die Hochschulen, in den
Berufsfeminismus. Dieser in der Bundesrepublik zunehmend akademisch gewordene Feminismus
hat sich mehr und mehr von alltäglichen Problemen vieler Frauen entfernt. Er muss sich fragen
lassen, wer von seinen Ideen und Erkenntnissen überhaupt noch angesprochen wird, will er nicht zu
einem Projekt von und für Privilegierte werden. Um den Feminismus aus dem Elfenbeinturm
Hochschule herauszuholen und die feministischen Diskussionen wieder zu beleben, sind
Auseinandersetzungen über utopische Ideen jenseits des Kapitalismus nötig.
Die feministische Debatte braucht Räume, in denen das Streiten und Ringen um unterschiedliche
Positionierungen frei von Homogenisierungen möglich ist. Was ihr derzeit fehlt, ist der Mut sich
wieder politisch zu justieren, ist eine Provokation. Wir brauchen politische Strömungen, die über
eine gerechte Gesellschaft streiten, in der die Emanzipation aller Menschen möglich wird. Denn
noch immer gilt der von dem Frühsozialisten Charles Fourier formulierte Satz: Der Grad der
Befreiung der Frau ist gleichzeitig der Prüfstein einer Gesellschaft und der Maßstab für die
menschliche Entwicklung.
Katharina Volk
Anmerkungen:
1) Der Aufsatz ist auf deutsch erschienen in den Blättern für deutsche und internationale Politik Nr.
8/2009.
2) Der Text von Frigga Haug erschien in der Zeitschrift Das Argument Nr. 3/2009.
3) 2008 lag der Anteil weiblicher Führungskräfte bei Daimler bei 8 Prozent.
ak - analyse & kritik - zeitung für linke Debatte und Praxis / Nr. 563 / 19.8.2011
Reden wie der Mainstream
Für eine feministische Kritik an queerer Politik
Frauen werden von Männern unterdrückt und ausgebeutet. In der Queer-Szene gelte eine solche
Aussage als unpassend, meint Detlef Georgia Schulze. Der queere Wunsch nach Repräsentation
habe die Kritik an gesellschaftlichen Herrschaftsverhältnissen ersetzt. Daran ändere auch eine
queerfeministische Ökonomiekritik nichts, die sich der seichten Forderungen nach Gerechtigkeit
und Gleichheit bediene. Ein Beitrag zur Debatte über das Verhältnis von feministischer und
dekonstruktiver Politik. (Siehe Kasten)
Tove Soiland hatte mit ihrem Text in ak 558 ihren nachfolgenden KritikerInnen eine gute Vorlage
geliefert, um sie als fade und altbacken (Tim Stüttgen in ak 559) abzukanzeln. Aber so richtig ist
den KritikerInnen diese Vorlage gar nicht aufgefallen. Tove Soiland kritisierte die Abwendung der
Cultural Studies von ihren marxistischen Ursprüngen und schrieb unmittelbar daran anschließend:
Nicht die Analyse kapitalistischer Ausbeutungsverhältnisse und die spezifische Position von Frauen
darin standen nun im Zentrum der Aufmerksamkeit, sondern die Befragung dieser Kategorien
selbst. Vom Herrschafts- und Ausbeutungsverhältnis zwischen Männern und Frauen war also auch
bei Tove Soiland nicht die Rede, sondern von kapitalistischen Ausbeutungsverhältnissen. Und mehr
noch, die These von der heterosexuellen Matrix (Judith Butler) lasse sich kaum mehr
aufrechterhalten; auch Geschlechternormen seien flexibilisiert worden.
Queer ist aufregend und bunt, aber nicht feministisch
Die Überschrift des Artikels lautete zwar Haben dekonstruktive Ansätze den Feminismus
entwaffnet? An den zitierten Stellen entsteht aber der Eindruck, dass Tove Soilands Antwort gar
nicht Ja ist (so haben es aber die nachfolgenden KritikerInnen verstanden), sondern als habe der
Neoliberalismus mit seiner Flexibilisierung der Geschlechternormen den Feminismus tatsächlich
überflüssig gemacht und als sei das Problem nicht die Entwaffnung des Feminismus, sondern
vielmehr die Entwaffnung des Marxismus. In genderpolitikonline schrieb sie allerdings 2009, dass
trotz weitreichendem sozialem Wandel in den Geschlechterleitbildern spätkapitalistischer
Gesellschaften das einzig Stabile ihre nach wie vor bestehende Hierarchisierung ist.
Angesichts eines gegenwärtig zu beobachtenden Trends zurück zur marxistischen These vom
Klassenwiderspruch als Hauptwiderspruch, wie er sich zum Beispiel in einer Broschüre linker
Gruppen zum 8. März 2011 zeigt (1), scheint es mir aber zentral zu sein, die in der Tat notwendige
feministische Kritik daran, was Queer in der Bundesrepublik bedeutet, scharf von jedem
Klassenreduktionismus abzugrenzen.
Da sich Queer vor allem um sex, gender und sexuality dreht, scheint mir das vorrangige Problem zu
sein, dass Queer nicht feministisch ist. Denn nichts gilt heute in der queer-feministischen Szene als
unpassender, als zu sagen, dass Frauen von Männern beherrscht und ausgebeutet werden. Dagegen
wird kein Anlass ausgelassen, um die Lage von Trans-Wesen, die angeblich von Massen
separatistischer Feministinnen ausgegrenzt und schikaniert werden, zu beklagen.
Damit ist eine bemerkenswerte Bedeutungsverschiebung von Queer eingetreten: Ging es anfangs
auch um lesbische Sichtbarkeit in bzw. gegenüber einer heterosexuell dominierten
Frauenbewegung, so wurde Queer bald zu einem Euphemismus, der das politisch aufgeladene Wort
Lesbe (und entsprechend Schwuler) vermeidet. Wer sagt, er/sie gehe zu einer queer-Party, outet
sich nicht als nicht-heterosexuell, sondern macht sich auf zu einem Event, das als schrill oder
aufregend oder kunterbunt gilt.
Angesichts dieser Entwicklung hilft es auch nichts, sich auf die Ursprünge von Queer in den USA
zu berufen, wie dies Lea Steinert und Kristin Ideler in ak 560 taten. Ja, die gab es wohl. Aber diese
funktionierten auf der Grundlage der englisch-amerikanischen Wortgeschichte von Queer, die
diesseits des Atlantiks nur SpezialistInnen bekannt ist. Queer ist genauso ein angeeignetes und
umgedeutetes Schimpfwort wie schwul als Begriff der Politisierung männlich-homosexueller
Identitäten, Nigger im Rap oder Kanake in der Sprache von Teilen der hiesigen
MigrantInnen-Kinder und -Enkel. So konnte queer aber in Deutschland nicht funktionieren. Wer
kennt hier schon die englisch-amerikanische Wortgeschichte?
Auch die ursprüngliche amerikanische Radikalität von Queer muss sich kritisch befragen lassen.
Lea Steinert und Kristin Ideler schreiben: Auch die homogenisierte Darstellung
nicht-heterosexueller Lebensformen, die stillschweigend ihre weißen, mittelständischen und
männlichen Vertreter zur Norm machte, rief Widerspruch hervor. Parallel entwickelten sich in
organisierten feministischen Zusammenhängen heftige Auseinandersetzungen um Pornografie,
Bisexualität, Promiskuität, Penetration, Sadomasochismus, Transphobie und normierte
Verhaltenscodices.
Der zweite Satz ist nicht mehr als eine Reihe von teils positiv, teils negativ bewerteten
Schlagwörtern; wobei die beiden Autorinnen die Argumente für ihre Wertungen schuldig bleiben.
So bleibt denn als Kernargument für die queere Radikalität: die Ablehnung normierter
Verhaltenscodices, ohne jede weitere Bestimmung, was damit gemeint ist. Die Aussagekraft dieser
Definition löst sich angesichts ihrer Allgemeinheit in Luft auf. Denn auch die Sätze Vergewaltige
nicht oder Drücke dich nicht um deinen Anteil an der Hausarbeit sind Verhaltensnormen. Aber sind
es Normen, gegen die sich die queere Kritik richtet?
Von politischem Bewusstsein ist nicht viel übrig
Von politischem Bewusstsein ist nichts übrig geblieben als philosophische Phrasen über
Gerechtigkeit der Verteilung, Anerkennung und Teilhabe (Steinert/Ideler). Queer redet heute
genauso, wie es Queer einmal dem schwul-lesbischen Mainstream vorwarf.
Wenn es dagegen mal eine radikale Botschaft von Queer gab, dann hat sie in etwa so geklungen:
Nein, wir wollen kein Stück von eurem Kuchen abhaben. Wir pfeifen auf eure Anerkennung, denn
wir bekämpfen Heterosexismus und Patriarchat dafür könnt ihr uns nicht anerkennen. Und gerecht
ist, wie Karl Marx, ein Queer avant la lettre, sagte, das, was den jeweils herrschenden Standards
von Gerechtigkeit entspricht. Es ist das, was wir umstürzen wollen, nicht das, was wir fordern.
Heutige queere Praxis in der Bundesrepublik ersetzt die frühe queere Kritik an der Forderung nach
Anerkennung durch die Forderung nach eben dieser Anerkennung. Sie ersetzt, mit Cornelia Klinger
gesprochen, De-Konstruktion durch Multikulturalismus. Letzterem geht es in erster Linie um den
Anspruch auf Hörbarkeit und Sichtbarkeit, also darum, eine adäquate Repräsentation der
Marginalisierten bzw. die Anerkennung ihrer eigenen Identität einzuklagen. Demgegenüber
formuliert der Dekonstruktivismus prinzipielle Zweifel an der Einlösbarkeit ebendieser Ansprüche,
wie Cornelia Klinger bereits 1995 schrieb. Und weiter: Aus einer feministischen Perspektive wird
nicht nur beargwöhnt, dass Identitäten festgeschrieben werden, sondern darüber hinaus, welche
Identitäten damit zu Ehren kommen. Denn aus einer feministischen Perspektive sind keineswegs
alle Kulturen gleichwertig und ihre Gleichrangigkeit gleich anerkennenswert. (2)
Auch Kritik an (sexueller) Unterdrückung ist nicht dasselbe wie Foucaults Kritik der
Repressionshypothese, sondern erinnert eher an Schriften aus dem Hause Wilhelm Reich/Herbert
Marcuse. Reich und Marcuse meinten, die herrschenden Verhältnisse bedeuteten sexuelle
Unterdrückung (was Foucault spöttisch Repressionshypothese nannte), sie unterdrückten Sex, es
gäbe ein Sex-Tabu. Foucault zeigte demgegenüber, dass die Artikulation bestimmter Praktiken als
Sexualität und damit die Herausbildung sexueller Identitäten (z.B. heterosexuell, homosexuell)
gerade ein Produkt der von ihm kritisierten modernen Verhältnisse ist.
Nadine Lantzsch schreibt in ak 561: Es geht bei Dekonstruktivismus nicht um die Abschaffung
begrifflicher Grundlagen. Recht hat sie! Nadine Lantzsch spricht halbwegs deutlich aus, dass wir es
nicht mit der Einschränkung von Individuen bei der freien Entfaltung ihrer sexuellen usw.
Persönlichkeit zu tun haben, sondern mit Herrschafts- und Ausbeutungsverhältnissen zwischen
gesellschaftlichen Gruppen. Sie schreibt: Die gegenwärtigen Produktionsverhältnisse affirmieren
also nicht nur Geschlecht auf unterschiedliche Weise, sie schreiben zudem ein hierarchisch
gegliedertes Geschlechterverhältnis fort. Somit muss Geschlecht eine zentrale Analysekategorie
feministischer Gesellschafts- und Ökonomiekritik bleiben. Und: Er (der neoliberale Kapitalismus)
kann sich auf ein postkoloniales Machtgefälle zwischen Metropole und Peripherie verlassen und
daraus schöpfen.
Wunsch nach Anerkennung ersetzt politische Kritik
Aber auch Nadine Lantzsch macht sich die lose Rede über Menschenrechte, Ungleichheit und
Ökonomiekritik zu eigen. Es geht aber nicht um Menschenrechte, denn die kapitalistische
Produktionsweise, die freie und gleiche Rechtssubjekte und WarenbesitzerInnen, die freiwillig
Verträge abschließen, voraussetzt, ist ein wahrer Garten Eden der Menschenrechte, wie Karl Marx
sagte.
Und es geht auch nicht um Gleichheit und Ungleichheit. Auch Äpfel und Birnen sind ungleich und
trotzdem besteht zwischen ihnen kein gesellschaftliches Herrschafts- und Ausbeutungsverhältnis.
Des weiteren: Eine herrschende und ausbeutende Klasse, ein herrschendes und ausbeutendes
Geschlecht und eine herrschende und ausbeutende Rasse können dem jeweiligen beherrschten und
ausgebeuteten Gegenstück nicht gleich werden; die Differenz zwischen ihnen konstituiert diese
gesellschaftlichen Gruppen. Es gilt daher nicht deren illusorische Gleichheit, Gleichberechtigung
oder Gleichstellung, sondern deren Überwindung zu fordern und zu erkämpfen. Dazu gehört aber
zu allererst, deren gegenwärtiges Fortbestehen zur Kenntnis zu nehmen und uns nicht der Begriffe,
die es ermöglichen, dieses Fortbestehen zu denken, zu berauben.
Genau dies tut leider auch die lose Rede über Ökonomiekritik. Karl Marx schrieb eine Kritik der
Politischen Ökonomie; er kritisierte damit eine wenn auch in sich differenzierte bestimmte
ökonomische Doktrin, die Politische Ökonomie, und eröffnete damit zugleich die Möglichkeit, sein
Untersuchungsobjekt, die kapitalistische Produktionsweise zu analysieren. Damit stellte er Wissen
bereit, das notwendig ist, um sie effektiv zu bekämpfen.
Ökonomiekritik scheint dagegen keine spezifische ökonomische Schule zu kritisieren, sondern eher
faktische ökonomische Phänomene. Aber wieso, weshalb, warum wir diese kritisieren sollen, weiß
Ökonomiekritik nicht zu sagen. Vielmehr warnt Ökonomiekritik überhaupt, anderes zu sagen als
heiße Luft: Wir wollten weder begrifflich noch analytisch vorlegen / ist ganz stark offen / in den
Raum werfen und einladen / Fragen sind beliebte Formulierungen ihrer VertreterInnen. (3)
Wer derart fragend auf der Stelle tritt und keine These wagt, nimmt in der Tat Abschied Abschied
vom Marxismus und vom Feminismus.
Detlef Georgia Schulze
Anmerkungen:
1) Die Broschüre Zusammen kämpfen gegen Patriarchat, Ausbeutung und Unterdrückung erschien
anlässlich des hundertsten Jubiläums des Frauentags und kann von der Webseite
8maerz.blogsport.de heruntergeladen werden.
2) Cornelia Klinger, Über neuere Tendenzen in der Theorie der Geschlechterdifferenz, in: Deutsche
Zeitschrift für Philosophie 5/1995, 801-813.
3) http://maedchenblog.blogsport.de.
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