HELD - Sven Böttcher

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DIETER WEDEL
SVEN BÖTTCHER
HELD
(Der Schattenmann)
IV.
FALSCHE FREUNDE
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Anneliese Held hatte sich nie beklagt. Nicht, weil sie besonders gut
im Erdulden gewesen wäre, sondern weil sie keinen Grund zur
Klage gesehen hatte. Sicher, es fehlte ihnen an Geld, die Möbel
waren nicht der allerletzte Schrei, eine Tiefkühltruhe hätte vieles
erleichtert, aber das Nötigste war immer da - sogar nach den
Maßstäben der Wohlstandsgesellschaft, in der sie lebten. Sicher, ihr
Mann arbeitete hart und viel, sie ebenso, aber das taten andere auch.
Es war so einfach, wie es klang: Sie hatten ein Dach über dem
Kopf, sie hatten zu essen und zu trinken, sie hatten beide Arbeit, sie
hatten zwei Autos, sie hatten eine wundervolle Tochter, sie hatten
einander und sie waren gesund. Wenn Anneliese Held die
Nachbarinnen über den Zaun jammern hörte, alles sei schon wieder
schlechter geworden und in diesem Jahr nicht mal ein zweiter
Urlaub drin, traute sie sich kaum, ihre eigene Zufriedenheit
zuzugeben. Es kam ihr fast albern vor, nicht mehr zu verlangen.
War ihr albern vorgekommen.
Aber der Mann, der ihr jetzt am Eßtisch gegenübersaß und
abwesend die Käse- und Wurstscheiben auf dem Brett in der
Tischmitte betrachtete, hatte nicht mehr viel mit Charly Held
gemein; ihrem Charly.
“Wie geht das”, sagte Bienchen und hielt die kleine bunte
Kamera hoch, die ihr Vater mitgebracht hatte. Da jener Löcher in
den Käse starrte, hob Anneliese die Kleine seufzend auf ihren
Schoß und erklärte ihr die wenigen Einstellungen.
“Hat Papa dir aber was Feines mitgebracht”, sagte sie so laut, daß
Papa aufwachen mußte.
“Danke, Papa”, sagte Bienchen und drückte ihren Zeigefinger
neugierig auf das Objektiv. “Du, krieg ich irgendwann auch so´n
tolles Fahrrad wie der Blödmann von gegenüber?”
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Held sah auf. Er warf seiner Tochter einen fragenden Blick zu
und ließ ihn dann zu seiner Frau schwenken.
“Der Sohn von dem Zahnarzt”, erklärte sie.
“So viel verdiene ich nicht”, sagte Held mürrisch und ließ sich
gegen die Stuhllehne zurücksinken.
Seine Tochter war alt genug für Träume, aber noch nicht zu alt
für Ehrlichkeit. “Hättest halt mehr lernen müssen”, sagte sie lässig.
“Warum hast du nicht?”
Held sah sie müde an. Sie lächelte, rutschte vom Schoß ihrer
Mutter, ging zu ihm, drückte ihm einen Kuß auf die Wange und lief
mit dem Fotoapparat aus dem Zimmer. Anneliese trank einen
Schluck Tee und sah ihren Mann nachdenklich an.
“Ist irgendwas?”
“Was soll sein?”
“Schlechte Laune?”
“Nein.” Er schüttelte den Kopf. “Nur müde.”
“Beim Essen warst du so... abwesend.”
“Ach ja?”
“Ja.”
Beide schwiegen. Held drehte seine Teetasse langsam auf dem
Holzbrett und drehte sie langsam wieder zurück. Er sah seine Frau
nicht an.
“Charly”, sagte sie, an ihre Tasse gewandt, “muß ich mir Sorgen
machen?”
“Weiß ich nicht”, sagte er achselzuckend.
“Weißt du nicht?”
Wieder zuckte er müde die Achseln und knibbelte am Henkel der
Tasse.
“Was ist los?” sagte sie.
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“Keine Ahnung. Ehrlich, ich weiß es nicht.”
Sie sah ihn an und hätte ihn plötzlich am liebsten geschüttelt. Ihn
aufgeweckt. Ihn wieder zu einem menschlichen Wesen gemacht. Da
allerdings Handgreiflichkeiten nicht zu ihrem ehelichen Repertoire
gehörten, ergriff sie seine Hand und sagte, “Manchmal glaube ich
einfach nicht, daß deine dauernden Überstunden wirklich immer
nur im Büro stattfinden.” Da auch das nichts bewirkte, fügte sie
hinzu, “Gibt es eine andere Frau?”
“Fällt dir nichts Originelleres ein?”
Jedes seiner Worte war ein müdes, gelangweiltes Abwinken.
Mehr nicht. Keine Emotionen, keine Empörung, nichts. Anneliese
platzte der Kragen.
“Ja oder nein? Was ist? Scheiße, Charly, warum sagst du
nichts?”
“Was ist das? Ein Verhör?”
“Ich hab dich nur gefragt, ob mit ner anderen rumbumst.”
“Na, toll”, sagte er, endlich etwas lauter. “Ob ich rumbumse.” Er
stand auf, vergrub die Hände in den Taschen und wanderte langsam
zur Terrassentür. “Man arbeitet wie blöde, Tag und Nacht, und
dann fragt einen die liebe Frau, ob man mit ner anderen rumbumst.”
“Okay.” Sie nickte und hob abwehrend die Hände. Die Geste
blieb aggressiv, aber das sah er nicht. “Entschuldige meine
Wortwahl, aber ...”
Er stand mit dem Rücken zu ihr und sah hinaus in den Garten,
der sich im Laufe der letzten Wochen in einen Unkrautdschungel
verwandelt hatte. Sie stand auf, ging zu ihm und legte ihm die Hand
auf die Schulter.
“Charly ... es war nicht böse gemeint. Aber ... wenn dir
irgendwas auf der Seele liegt, sag´s mir, bitte ...”
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“Na schön”, sagte er nickend. “Nehmen wir an - ja - ich hab mich
in eine andere verliebt.” Er sah sie nicht an.
Irgendwie klang es nicht echt. Es klang zumindest nicht so echt,
daß sie gleich Kenne ich sie? oder ähnlichen Unsinn hätte fragen
können.
“Ist das wahr?” sagte sie.
“Nein.” Er wandte sich wieder ihr zu und sah sie an wie ein
müder Boxer, der in der Ecke steht und keine Lust mehr hat. “Aber
manchmal hab ich das Gefühl, du willst, daß ich Ja sage.”
Sie schüttelte fassungslos den Kopf. “Was?” Was redete er da?
Sie suchte in seinem Blick nach irgend etwas Vertrautem, irgend
einem Zugang, aber sie fand nichts. Was war los? Was passierte?
Wer drehte durch? Er oder sie?
Wortlos schloß sie ihn in die Arme und drückte ihn an sich. Sie
spürte seine Arme auf ihrem Rücken. Das Gefühl war anders. Er
hielt sie nicht fest. Er hielt sich fest.
Charly Helds Wohlbefinden lag etlichen Menschen am Herzen,
Menschen, die alles andere als dumm oder gleichgültig waren, sich
aber dennoch nicht einmischten. Was zum einen daran lag, daß
jeder einzelne nur über bestimmte Informationen über das Leben
und die Situation des Freundes, Kollegen oder Partners verfügte,
zum anderen daran, daß man als halbwegs gut erzogener
Erwachsener
keinem
anderen
Erwachsenen
in
dessen
Lebensgestaltung quatschte, solange man nicht ausdrücklich von
ihm um guten Rat gebeten wurde. Niemand krallt sich die
vorübergehend Traurigen, wenn sie am Flaschenrand sitzen,
Trinken, vielleicht auch träumen murmeln und melancholisch in die
feuchte, Seligkeit versprechende Tiefe blicken, niemand schlägt
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dem achselzuckend alles probierenden Lebensstudenten die Line
unter der Nase weg, und niemand schüttelte Charly Held.
Es gab keine Konferenzschaltung der Freunde und Bekannten.
Es stand niemandem zu, sich einzumischen.
Anneliese Held wußte, daß etwas nicht stimmte, aber sie wußte
nicht, was. Sie durfte ihren Mann nicht fragen, womit er gerade
beschäftigt war, also konnte sie ihn nicht fragen, was ihn
beschäftigte. Sein Verhalten bereitete ihr Sorge, aber sie redete sich
ein, alles werde sich zum Guten wenden. Viel-leicht war das, was er
im Augenblick zu tun hatte, besonders schwierig.
King wußte, daß etwas nicht stimmte. Es gefiel ihm ganz und gar
nicht, daß sein Partner die blonde, durchgedrehte Schlampe bumste,
aber vielleicht gehörte auch das zum Job. Es gefiel ihm nicht, daß
Charly seine nette Frau betrog, aber letztlich ging ihn das nichts an.
Es gefiel ihm nicht, daß sein Partner für Herzog schuftete wie ein
Wahnsinniger, sich mit Bauleitern stritt, die angeblich für immer
weniger Arbeit immer mehr Geld sehen wollten, daß er von
Styropordämmungen für die Häuser am Alten Markt faselte, vom
Stromsparen und von Mieterhöhungen; daß er sich aufführte, als sei
er das, was er zu sein vorgab: der Geschäftsführer von Rütli
Properties. Aber vielleicht gehörte auch das zum Job. Vielleicht war
all das wirklich noch Teil des Planes - Jan Herzog für den Mord an
Otto Tötter in den Knast zu bringen. Vielleicht.
Jürgen Droegel wußte, daß etwas nicht stimmte, aber er wußte
nicht, was. Daß Gehlens Ex-Freundin häufiger eine Nacht in der
angemieteten Wohnung des verdeckten Ermittlers verbrachte, störte
ihn nicht sonderlich. Das gehörte zum Spiel. Der gute alte Charly
hatte sich verändert, natürlich, aber Droegel beruhigte sich damit,
daß der Einsatz Kraft und Nerven kostete, daß es problematisch
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war, eine neue Identität anzunehmen und trotzdem das Ziel im
Auge zu behalten, daß Held durch die neuen Aufgaben unter
gewaltigem Druck stand und nur aus diesem Grund aussah wie eine
wandelnde Yuppie-Leiche. Die Berichte des VE wurden nicht
besser, und was er weitergab, war dürftig - Rütli-Interna,
Belangloses, keine Hinweise. Gehlen machte keine Fehler, also
konnten sie keine Ergebnisse präsentieren, und dank der
übereifrigen Staatsanwaltschaft war die ganze Operation in Frage
gestellt. Vielleicht zehrte auch das an Charlys Substanz.
Kilian schließlich stand in jener Ecke, in die man ihn gedrängt
hatte, und verteidigte die Operation und seinen VE gegen die
Staatsanwälte und gegen die Rechnungsstelle. Er hatte kein gutes
Gefühl, aber er sah keinen zwingenden Grund, die Aktion
abzublasen. Ihnen allen, auch Hauptkommissar Held, war von
vornherein klargewesen, daß sie sich auf ein gefährliches Spiel
einließen. Und Held war ein guter Polizist. Ein guter Polizist, der
sich nicht von ausgerechnet jenem Mann würde einlullen lassen, der
seinen Partner auf dem Gewissen hatte.
Nie im Leben.
Gehlen saß vor Herzogs Schreibtisch, ließ den Cognac in seinem
Schwenker kreisen, hörte die Fernsehstimme von rechts an sein Ohr
dringen und wartete. Wie so oft. Er hatte gesagt, was zu sagen war,
hatte die Unterlagen von Maier auf den Tisch gelegt, die
zweifelsfrei beweisen, daß Kaltenbach Herzog nach Strich und
Faden betrog und sich nicht einmal sonderlich viel Mühe gab, das
zu kaschieren. Dann hatte er sich hingesetzt und seinen Boß
angesehen.
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Herzog sah fern. Was über den Schirm flackerte, schien ihn zwar
nicht sonderlich zu interessieren, aber immerhin mehr als Gehlens
Informationen. Möllbach und der Oberbürgermeister strahlten um
die Wette, Lokalpolitiker kämpf-ten verbissen grinsend um einen
Platz im Scheinwerferlicht, und Bodyguards hielten nervös nach
Frauen mit Glückwunschsträußen Ausschau. Ein unsichtbarer
Sprecher be-richtete von der Verleihung eines Ordens oder einer
Medaille an den verdienten Staatssekretär Dr. Hans Möllbach, und
einen Schnitt später sah man die strahlende Michelle Berger auf
eine Bühne schweben und hörte die ersten Takte eines
unsterblichen Schlagers, ehe der Sprecher wieder einfiel und das
schöne Stück mit Belanglosigkeiten aus Möllbachs Leben
zuquatschte. Herzog blickte starr auf den Bildschirm und zog sehr
ruhig an seiner Zigarre.
“Was macht man mit so einem Stück Scheiße?” sagte er in
Michelles Richtung und meinte Kaltenbach. Er schüttelte
nachdenklich den Kopf und sah Gehlen endlich an. “Das macht der
nicht allein.”
“Wohl kaum.”
“Viel zu feige. Der hat doch viel zu viel Schiß vor mir. Wer
steckt da noch mit drin?”
Gehlen zuckte die Achseln. “Gibt mehrere Möglichkeiten.
Vincente. Vielleicht Goldsteen, vielleicht beide. Beide sind sauer
auf dich. Beide meinen, du wirst alt.”
“Was wollen die?” sagte Herzog vorwurfsvoll und breitete
theatralisch die Arme aus. “Ich setze für diesen Scheißami alles in
Bewegung, damit er seine Drecksdrogen weiter teuer verkaufen
kann. Jetzt protestieren sogar schon Pastoren gegen die Fixerstuben
... Was denkt der sich?”
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“Du weißt doch”, sagte Gehlen vorsichtig, “daß das nicht reicht
... die beiden lassen sich nicht einfach ausbooten. Goldsteen allein,
das ginge vielleicht, aber daß du auch noch Leo Vincente die Tür
vor der Nase zuschlägst ...”
“Was soll ich denn machen ...?” Wieder hob Herzog empört die
Arme und wollte weiterwettern, aber diesmal nutzte Gehlen die
günstige Gelegenheit und unterbrach ihn.
“Laß ihn seine Spielgewinne am Alten Markt waschen.”
Herzog saß wie festgefroren da und sah Gehlen finster an.
“Was?”
“Laß ihn ...”
“Das sagst du?” Er schüttelte den Kopf. “Hab ich was mit dem
Mund oder hast du was mit den Ohren? Ich will diesen Scheiß nicht
mehr. Kapiert?”
“Jan, du ...”
“Nein. Schluß, aus. Fritz, ich kann es nicht mehr hören. Herzog
Investments wird ein solides Unternehmen. Ohne Dreck. Wenn
Louis den Laden übernimmt, ist er sauber.”
“Aber das kann man doch ...”
“Was meinst du?”, unterbrach Herzog ihn und ließ die Rechte
schräg und scharf durch den Rauch über dem Tisch fahren “Ich
werde alt? Ich hab sie nicht mehr alle?”
Ja, dachte Gehlen. In dieser Hinsicht, bei aller Liebe, bei allem
Respekt: Ja. Solche Dinge brach man nicht übers Knie. Solche
Dinge erledigte man vorsichtig. Man verärgerte seine Freunde
nicht, jedenfalls keine so mächtigen Freunde wie die Vincentes oder
Goldsteen. Und man vertraute nicht einfach irgend einem aus dem
Nichts aufgetauchten Ex-Stasimann einen Koffer Geld an, schickte
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ihn nach Zürich und versprach ihm Prozente. Herzogs Frage hing
unbeantwortet im Raum. Ich hab sie nicht mehr alle?
“Nein”, sagte Gehlen, als habe er noch nie etwas Abwegigeres
gehört. Er schüttelte energisch den Kopf. “Nein, Jan, das meine ich
nicht.”
Der verdeckte Ermittler handelte zunehmend auf eigene Faust,
wurde aber weiterhin auf allen Ebenen in Schutz genommen.
Hauptkommissarin Sames flickte den kurzzeitig geplatzten Kragen
des zornigen VE-Führers Droegel, indem sie ihn daran erinnerte,
daß Charly ein Spitzenmann mit gesundem Instinkt sei und
garantiert gute Gründe habe, sich über die Dienstanweisungen
hinwegzusetzen und ohne Absprache mit ihm, Droegel, eine Reise
anzutreten; immerhin koste der Flug nicht den Steuerzahler Geld,
sondern diesmal Herzog, also solle er sich beruhigen. Das tat
Droegel und rechtfertigte Helds Verhalten anschließend - mit
Renate Sames` Worten - seinem Vorgesetzten Kilian gegenüber.
Dessen Reaktion überraschte ihn. Droegel hatte mit einem
Donnerwetter gerechnet, aber Kilian beließ es bei einem deutlichen
Hinweis auf die Dienstordnung und erklärte dem VE-Führer
anschließend von sich aus, es sei wohl am besten, wenn die
Staatsanwaltschaft von der kleinen Eskapade des ihm unterstellten
Beamten nichts erfahre, das Ganze also unter ihnen bliebe.
Droegel hatte brav genickt und sich still gewundert.
Man lernte eben nie aus.
Genau das hatte auch Kilian am Vormittag gedacht, und hätte
Droegel gewußt, was am Vormittag passiert war, wäre seine
Verwunderung über Kilians Reaktion nur halb so groß gewesen.
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Herr
Doktor
Möllbach,
Staatssekretär
im
Hessischen
Innenministerium hatte Oberle, den Leiter der Frankfurter
Kriminalpolizei, und dessen OK-Dezernatsleiter Kilian zu einer
kurzen Unterredung nach Wiesbaden gebeten. Die beiden Herren
fanden keine Zeit, vor dem Termin miteinander zu sprechen, denn
sie trafen fast gleichzeitig ein und wurden von einer hektischen
Sekretärin
sofort
weitergescheucht.
ins
Büro
Möllbach
des
hatte
Herrn
kurz
von
Staatssekretärs
dem
Stapel
Schriftstücke aufgesehen, den er offenbar ausgerechnet jetzt,
unmittelbar vor einer Kabinettssitzung abzeichnen mußte, und die
Herren zum Platznehmen aufgefordert. Das hatten sie getan.
Möllbach nickte Kilian kurz zu und begrüßte Oberle wie einen
alten Freund. Er fragte den Kriminalen kurz nach dem derzeitigen
Golfhandicap, brachte seinen Respekt zum Ausdruck und seufzte
halb scherzhaft, bei ihm sei konditionell momentan keine
Verbesserung drin; man saß zuviel als Staatssekretär, man aß
zuviel, man trank zuviel.
Für weitere Höflichkeiten hatte er allerdings keine Zeit, wie er
mit einem kurzen Blick auf seine Armbanduhr bemerkte, die ihm
fast vom Handgelenk platzte.
“Na schön”, sagte er und lächelte die beiden an, “sparen wir uns
die langen Vorreden, meine Herren. Wir haben alle wenig Zeit.
Operation Bernstein.” Er setzte seine gütige Lehrermiene auf.
“Doch alles kalter Kaffee, gell?”
Kilian fiel fast die Kinnlade auf den Schlips, aber auch Oberle
war überrascht.
“Bitte ...” stotterte er. “Wer ... behauptet denn ...?”
Möllbach winkte jovial ab. “Ach, was mir da alles zu Ohren
kommt, lieber Gott: Haarsträubend, sag ich Ihnen. Geplante
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Grundstücksschiebereien am Alten Markt, angebliche Beteiligung
Schweizer Bankhäuser ... Ich bitte Sie. Stammt das alles aus dieser
einen Quelle, ja?”
Kilian kriegte endlich den Mund wieder zu und gleich wieder
auf, um Schlimmeres zu verhindern. “Wir”, sagte er, “sind nicht
verpflichtet, uns dazu zu äußern”, kam aber nicht ganz bis zum
Ende seines Satzes, da Möllbach ihn einfach unterbrach, ohne den
Blick von Oberle zu wenden.
“Ist der Ermittler noch aktiv?” fragte Möllbach.
“Kein Komm...” sagte Kilian.
“Ja”, sagte Oberle.
Kilian schenkte sich den Kommentar.
“Ermittler oder Ermittlerin?” Möllbachs onkelhaftes Lächeln gab
Kilian den Rest. Er wurde etwas lauter.
“Ich erhebe Einspruch, Herr Dr. Möllbach ...”
“Na, na.” Der Staatssekretär ließ seine dicke Hand beruhigend
durch die Luft vor seinem imposanten Bauch wippen. “Hier will
doch niemand Ihre Ermittlungen behindern, mein Bester.” Er stutzte
kurz und fuhr dann lächelnd fort. “Laßt Gerechtigkeit walten, auch
wenn die Welt einstürzt ... Aber: Ihre Operation Bernstein
verschlingt einen Haufen Geld. Dauernd
soll ich Mittel
nachbewilligen - dabei müssen wir, und das wissen Sie so gut wie
ich, meine Herren, sparen. Eisern. Es geht uns zwar nicht mehr so
schlecht wie im letzten Jahr, aber: Unsummen für die sogenannten
Erkenntnisse Ihres Ermittlers verschleudern, die erstens dürftig sind
und zweitens, und das ist der entscheidende Punkt, nicht im
Geringsten überprüfbar - das geht natürlich nicht.”
“Das uns vorliegende Beweismaterial rechtfertigt meiner
Meinung nach”, log Kilian, “durchaus die Kosten bei ...”
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“Bitte, Bester”, säuselte Möllbach, “können wir uns auf
Informationsmaterial einigen? Statt Beweismaterial? Nicht aus
Übereifer blind werden.”
“Solange mir niemand Salz in die Augen streut.”
“Versucht das jemand?”
“Bei allem Respekt - ich habe den Eindruck ...” Er bemerkte
Oberles fassungslosen Blick und verstummte. Möllbach hatte ihn
auch so verstanden.
Der dicke Mann sah ihn tadelnd an und schüttelte den Kopf.
Gütig. Immer noch irgendwie gütig. “Das”, sagte er, “ist absurd,
Herr Kilian, und das wissen Sie hoffentlich selbst ...”
Die Sekretärin öffnete die Tür, ohne anzuklopfen, und mahnte
ihren Chef mit einer höflich-ungeduldigen Geste zur Eile. Möllbach
nickte und begann, seine Papiere einzusammeln. Während seine
Besucher aufstanden, entschuldigte er sich mit väterlichem
Brummen für seine vielleicht etwas zu ruppige Art. Er ließ die
Herren vorausgehen.
“Niemand will Ihnen die Tour vermasseln, meine Herren, aber ...
die Kosten, die muß nachher natürlich ich vertreten.” Er öffnete die
Tür. Kilian ging zuerst ins Vorzimmer. Er hörte, wie Möllbach
Oberle im Hinausgehen fragte: “Ach, stimmt es, daß die
Staatsanwaltschaft augenblicklich gegen Beamte von Ihnen
ermittelt?”
“Nein”, sagte Oberle. “Einer meiner Beamten - nur einer - soll
Drogen an Informanten weitergegeben haben, aber noch besteht
kein hinreichender Tatverdacht. Noch ist nicht entschieden, ob ...”
“Na ja. Trotzdem, nicht wahr? Ein gefundenes Fressen für die
Medien, gell? Darum - bei allem, was Sie unternehmen:
Fingerspitzengefühl. Sind wir uns doch einig, gell?”
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Möllbach nickte Oberle anerkennend zu, Oberle nickte sinnlos
zurück. Kilian schenkte sich den ganzen Quatsch. Er verließ das
Büro grußlos.
Oberle holte ihn erst auf der Freitreppe vor dem Ministerium
wieder ein.
“Kilian!”
Kilian blieb stehen und drehte sich um. Er wartete, bis Oberle
neben ihm stand. “Ja?”
“Sagen Sie mal, was soll denn das, Mensch?”
“Was?”
“Ihr Verhalten dem Herrn Möll...”
“Was erwarten Sie? Daß ich mitgrinse? Wir versuchen seit
Jahren, an Herzog ranzukommen. Und jetzt, wo wir endlich an der
Quelle sitzen, bläst dieser Breitarsch sich auf ...”
“Kilian ...”
“... und nennt das alles kalten Kaffee. Ist doch nicht zu fassen.”
Zornig marschierte er weiter die Treppe hinunter.
“Kilian ... seien Sie kein Idiot. Einen Mann wie Möllbach macht
man sich nicht zum Feind ...”
“Sie hätten unsere Ermittlungsergebnisse auf keinen Fall
weiterleiten dürfen.”
Oberle schaffte es, im schnellen Gehen die Arme himmelwärts
zu schleudern, ohne zu stolpern. “Du lieber Gott! Ja, ich habe
einiges davon erwähnt, um die Erfolgsaussichten der Operation zu
unterstreichen ... aber das könnte doch genauso gut bei einem
Telefongespräch abgehört worden sein.”
“Nein. Nicht die Geschichte mit den Schweizer Kontakten.
Darüber spricht Herzog nämlich nicht am Telefon. Und er
verschickt die Namenslisten auch nicht mit der Post. Der Kreis der
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Leute, die Bescheid wissen, ist sehr, sehr überschaubar. Und noch,
noch gehört unser Mann nicht dazu. Und er wird nie dazugehören,
wenn
Sie
unsere
Ergebnisse
weiter
jedem
x-beliebigen
Interessenten unter die Nase halten.”
Sie hatten Oberles Limousine fast erreicht. Der Chauffeur riß die
Tür auf, während sein Chef noch immer hinter Kilian herhechelte.
“Jedem x-beliebigen ...? Jetzt machen Sie mal halblang, Kilian ...
was sollte ich denn tun? Was? Möllbach vertritt immerhin die
vorgesetzte Dienststelle, falls sie das vergessen haben ... Hören Sie
mir zu!? Herrgott noch mal, Kilian!”
Kilian blieb stehen und wandte sich Oberle zu. Er nickte und
musterte seinen Vorgesetzten. Oberle nickte ebenfalls, hielt das
Gespräch für beendet und machte Anstalten, in den Wagen zu
steigen. Kilian winkte ihn etwas näher zu sich heran. “Eins noch”,
sagte er.
“Was denn?”
“Unter vier Augen”, sagte Kilian mit einem Blick zum
Chauffeur.
Oberle schüttelte verärgert den Kopf, bevor er Kilian einige
Schritte weit folgte. “Was?”
“Bei Herzogs kleiner Party neulich”, sagte Kilian, “haben wir
natürlich die Einfahrt im Auge behalten. Und auf Video
aufgezeichnet, wer da alles vorfährt. Dann wollten wir die
Kennzeichen überprüfen.”
“Und?” sagte Oberle gereizt.
“Bei einem verweigert Flensburg die Auskunft. Ich protestiere
natürlich, und daraufhin teilt mir das BKA mit, es werde den Fall
übernehmen. Was machen wir also? Wir schicken die Bänder hin.
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Und was passiert? Die Dinger gehen auf dem Weg von Frankfurt
nach Wiesbaden verloren.”
“Wollen Sie damit etwa sagen ...”
Kilian nickte und kam sich im gleichen Augenblick sehr seltsam
vor. “Es ist eine Verschwörung”, hörte er sich sagen, aber es klang
plötzlich viel alberner, als es war.
“Jetzt machen Sie aber mal einen Punkt, Kilian! Wir sind hier
immer noch in Deutschland, Mensch, nicht in Italien oder irgend
einer Bananenrepublik. Ab und zu ist vielleicht auch bei uns was
nicht in Ordnung, aber früher oder später kommt doch alles ans
Licht. Es gibt zu viele Instanzen. So viele Leute können Sie gar
nicht schmieren.”
“Wer´s glaubt”, sagte Kilian. “Aber Sie können doch nicht ...”
“Ich glaube das”, erwiderte Oberle scharf. “Wenn ich das nicht
glauben würde, wäre ich schon lange nicht mehr Polizist. Und
vielleicht fragen Sie sich mal, weshalb Sie den Job eigentlich noch
machen - bei der Einstellung.”
Er wandte sich ab und marschierte zu seiner Limousine. Kilian
folgte ihm.
“Der Wagen”, sagte er laut, “dessen Nummer uns verwei-gert
wurde ... wir haben den Besitzer trotzdem rausgekriegt. Es wird Sie
nicht wundern, daß der Wagen Möllbach gehört.”
Ach, hören Sie doch auf, Gespenster zu sehen.
Auch jetzt, am nachmittag, nachdem Droegel wieder gegangen
war, hatte Kilian Oberles Worte noch im Ohr. Er hatte der
Limousine nachgesehen und sich seinen Teil gedacht. Er war ins
Präsidium zurückgefahren, hatte seine Sekretärin zu sich gebeten
und ihr sehr, sehr deutlich gesagt, Herr Oberle erhalte von jetzt an
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keine ungefilterten Informationen mehr über die Operation
Bernstein.
Anschließend hatte er sich gefragt, wem er eigentlich noch trauen
konnte. Und als er damit fertig war, fiel es ihm ausgesprochen
leicht, Droegels Informationen über Helds improvisierte Reise für
sich zu behalten.
“Du hast was gemacht?” Held stellte die Aktentasche auf den
Schreibtisch und blieb reglos stehen. King wich seinem
ungläubigen
Starren
aus
und
betrachtete
interessiert
den
Teppichboden im Büro. Er ärgerte sich über Barbara, die er oben in
der Küche mit Töpfen und Tellern hantieren hörte. Kaum hatte
Charly die Tür ins Schloß fallen lassen, mußte sie ihm den Scheiß
auf die Nase binden. Das hätte doch noch ein bißchen Zeit gehabt.
Wenigstens bis nach dem Abendessen.
“Ich sollte doch auf sie aufpassen. Hast du gesagt”, sagte King
kleinlaut.
“Aufpassen, ja, aber wer hat gesagt, daß du Gehlen verprügeln
sollst?”
“Ich hab ihn nicht verprügelt.”
“Ach? Barbara sagt, du hast.”
“Sie war mit Gehlen im Chez Michelle, Charly. Und sie hatte
wieder ziemlich einen sitzen, also hab ich gesagt, komm, wir gehen.
Und sie hat gesagt, sie bleibt und ich hätte ihr gar nichts
vorzuschreiben. Und dann hat sich dieses Arschloch eingemischt
und wollte mich rausschmeißen.”
“Moment mal.” Held ließ den Zeigefinger hin und her pendeln.
“Barbara sagt, du hättest genervt und dich wie ein Zehnjähriger
aufgeführt.”
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“Ach, Quatsch. Ich wollte sie mitnehmen, sie hat gesagt, sie ist
nicht dein Eigentum, und er hat den Arm um sie gelegt, und dann
ist Gonzo, der war nämlich auch da, irgendwie hingefallen.”
“Hingefallen?”
King sah erleichtert, daß sein Partner fast lächelte. “Hingefallen”,
nickte er energisch. “Wie, weiß ich auch nicht ... irgendwie.” Er
machte eine vage Geste in Richtung Teppich, “so halt. Und dann
hab ich Barbara mitgenommen, und Gehlen ist aufgestanden und
wollte mir eine klatschen, also hab ich ihm eine geklatscht. War
also Notwehr.”
“Und anschließend hast du das halbe Lokal zerlegt? War das
auch Notwehr? Haben die Tische und Stühle dich angesprungen?”
“Nein, aber Gonzo. Der hing auf einmal auf mir drauf und wollte
nicht wieder runter ...” King zuckte zerknirscht die Achseln. “Hör
mal, Charly, tut mir echt leid, das Ganze, aber was kann ich dafür,
wenn diese ... wenn Barbara ... glaubst du, mir macht das Spaß, mir
die Nase platthauen zu lassen?”
Er drehte sich um, als das Streitobjekt das Büro betrat. “Voilá,
ihr Workaholics”, sagte sie lächelnd und präsentierte das Tablett,
auf dem dampfende Schüsseln mit Spaghetti und Tomatensoße,
Teller, eine Flasche Wein und zwei Gläser standen. Sie hatte nie
behauptet, sie sei eine große Köchin. Nachdem sie das Tablett auf
dem Konferenztisch abgestellt hatte, gab sie Held einen Kuß und
wollte das Büro wieder verlassen.
Er sah sie erstaunt an.
“Ißt du nicht mit?”
“Nein.” Sie zwinkerte, wandte sich ab und nahm ihre Jacke vom
Sofa.
“Hab
ich
dir
doch
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erzählt.
Einer
von
unseren
Kosmetiklieferanten hat uns eingeladen - meine Kolleginnen und
mich.”
“Wohin?”
“Ins Michelle.” Sie blieb lächelnd vor ihm stehen. “Warum
kommst du nicht einfach mit?”
“Nein”, sagte er kopfschüttelnd, “heute abend nicht. Ich bin
ziemlich geschafft von der Reise. Sorry.”
Sie drückte ihm einen weiteren Kuß auf den Mund, sagte
übertrieben fröhlich “Schlaf gut” und verschwand winkend aus dem
Zimmer. Held sah ihr nach, bis die Wohnungstür ins Schloß
gefallen war. King setzte sich und schaufelte Nudeln auf seinen
Teller. Held setzte sich ebenfalls.
“Wird Zeit”, sagte er, “daß Ronnie festgenommen wird. Könnte
irgendwann ziemlich komisch aussehen, wenn ich dauernd müde
bin oder sonstwas vorhabe.”
“Brauchngrund”, sagte King kauend. “Tschuldige. Ohne Grund
können wir den nicht einlochen. Außerdem sind die Spaghetti hart.”
Held probierte und schüttelte den Kopf. “Al dente.”
“Die knacken.”
“Besser als glibbrige Nudeln.”
“Das Mädel”, sagte King und deutete dorthin, wo Barbara zuletzt
gestanden hatte, “kann nicht mal kochen.” Er bemerkte Helds Blick
und konzentrierte sich wieder auf die harten Nudeln. Es war nicht
der richtige Augenblick für ehrliche Worte.
Die beiden aßen schweigend, bis Telefon und Haustürklingel
sich praktisch im gleichen Augenblick entschlossen, Laut zu geben.
Während Held aufstand und den drahtlosen Hörer vom Schreibtisch
nahm, ging King zur Tür und öffnete.
Vor ihm stand Rita und grinste.
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Sie sah auf seine Brust.
King bemerkte die Serviette und zog sie sich mit einem Ruck aus
dem Kragen. Er wollte “Oh, Hallo” sagen und schaffte “Oh.”
“Hi, King”, sagte Rita und grinste wieder. “Jan Herzog schickt
mich. Er hat gehört, daß du mächtig Ärger hattest und meint ... ich
soll dich ein bißchen aufmuntern.”
King schluckte.
“Hat er mich nicht angekündigt?” sagte Rita kopfschüttelnd.
“Tsss. Typisch Jan. Sieht ihm echt ähnlich.” Sie verstummte und
legte den Kopf schräg. “Also, wie sieht´s aus? Wollen wir hier
festfrieren?”
King sagte noch mal “Oh”, und brachte anschließend ein
fehlerfrei gestottertes “Das ... das ... das ... ich” zustande. Er war
Rita sehr dankbar, daß sie die Zügel in die Hand nahm.
“Gehen wir vielleicht erstmal in ne nette kleine Bar? Uns Appetit
holen?”
Sie leckte sich die Lippen, und King fing an zu nicken wie ein
Preßlufthammerführer. Er hörte erst wieder auf, als Held aus dem
Büro stürmte, sich seine Jacke schnappte und auf die Tür zurannte.
“N Abend, Herr von Hellberg”, sagte Rita.
“N Abend, Rita”, sagte Held und war schon fast draußen. “King,
wo sind die Schlüssel?”
“Die was?”
“Schlüssel. Autoschlüssel.”
King kramte in seiner Tasche und versuchte sich zu erinnern, wie
man geradeausdachte. Wie machte man das? Wenn der Chef
plötzlich die Spaghetti stehen und liegen ließ und einem ein solches
Prachtweib alles Mögliche in Aussicht stellte. Er zog die Schlüssel
heraus und sagte, “Wohin ...?” aber ehe er den Satz wenigstens im
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Kopf zuende formulieren konnte, war Held schon außer Hörweite
und raste die Treppen hinunter.
Als King wieder Rita ansah, grinste sie.
“Vielleicht sollten wir hierbleiben.”
“Oh ...” sagte King und ließ sie endlich herein. “Ja. Essen steht
schon auf dem Tisch ... Wein auch ... Soll ich deine Jacke ... Wo
will der bloß hin?”
“Der kommt schon wieder”, sagte Rita sanft und schlüpfte aus
der Jacke. Sie hielt sie King hin. Sie trug nette Sachen drunter, aber
nicht viele.
“Oh. Ja”, sagte King nickend und nahm die Jacke. Ihm schossen
einige Dutzend Gedanken durch den Kopf, aber mit Held hatte von
diesem Augenblick an keiner mehr zu tun.
Anneliese Held tappte verschlafen durch die Dunkelheit auf die
Haustür zu, sah das besorgte, gehetzte Gesicht ihres Mannes durch
den Spion und öffnete.
“Was ist los?” fragte er beim Eintreten.
“Was?” Sie war müde. Sie brauchte Zeit, ihre Gedanken zu
ordnen. Wie spät war es? Wie lange hatte sie geschlafen? Sie trat
unsicher zurück, während er an ihr vorbei in den dunklen Flur trat.
Er roch nach Kälte, nach Nacht und nach Eile.
“Was ist los?” fragte er noch einmal. “Was ist passiert?”
“Bienchen”, sagte sie und wurde langsam klar. Weshalb kam er
erst jetzt? Vorhin hätte sie ihn gebraucht, vorhin, als der kleine
Kopf geglüht hatte und das Fieber immer näher an die 41 auf der
Skala herangeklettert war. Es erschien ihr dumm, daß er jetzt kam
und sich Sorgen machte, dumm und überflüssig. “Hatte Fieber”,
sagte sie.
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“Wie hoch?”
“Über vierzig. Jetzt achtunddreißig.”
“War der Arzt da?”
“Ich hab keinen erreicht.” Was sollte das? Es war überstanden.
Wieso spielte er sich so auf? Es war zu spät, auch ohne
Katastrophe. “Ich bin ins Krankenhaus gefahren.” Er schwieg. “Es
geht ihr wieder besser”, sagte sie müde.
Er schwieg weiter. Sie sah, wie die ursprüngliche Anspannung
von ihm abfiel und er im nächsten Augenblick hinter dünnen
Lippen mit den Zähnen zu mahlen begann.
“Und deswegen”, sagte er, “holst du mich mitten in der Nacht
aus dem Bett?” Sein Tonfall war wie kaltes Wasser in ihrem
Gesicht.
“Oh, Verzeihung”, sagte sie hart. “Deine Nachtruhe ist natürlich
wichtiger als das Leben deiner Tochter.”
“Was?”
“Ich habe”, fuhr sie im gleichen Tonfall fort, “um acht bei deiner
Dienststelle angerufen. Wie spät ist es jetzt?”
Von oben rief eine wacklige Stimme nach ihrem Papa. Helds
gereizter Blick wanderte in Richtung Treppe. Er ging hinauf, ohne
seine Frau anzusehen.
Sie ging ins Wohnzimmer und setzte sich in den stillen Raum.
Sie schaltete die kleine Lampe neben dem Tisch ein, nicht die
Deckenbeleuchtung, und fror. Sie hörte sein tiefes, ruhiges
Murmeln von oben, sah hinaus in die Dunkelheit, sah ihr
schemenhaftes Spiegelbild zwischen den Bäumen, die Haare im
Gesicht, die Augen leere Höhlen; ein stummes Gespenst. Sie
betrachtete es und empfand tiefes Mitleid.
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Als er ins Wohnzimmer kam, wischte sie sich mit den Händen
über die Wangen und blieb stumm. Er ging zum Tisch, ohne sie
anzusehen, nahm das Bild, das seine Tochter ihm gemalt hatte, und
betrachtete es.
“Warum weinst du?”
“Ich hab Angst, Charly.”
“Wovor?” Er sah noch immer das Bild an. Ein schiefes Haus, ein
paar Bäume mit langen Haaren, davor drei komische kleine
Figuren, die aussahen wie eine Familie.
“Du ... du bist so weit weg. So fremd ... Ich ... weiß gar nichts
mehr von dir.” Er nickte. “Ich möchte dich nicht verlieren.”
Endlich sah er sie an. “Warum sagst du so was?”
Sie zuckte die Achseln und schniefte.
“Es dauert nicht mehr lange”, sagte er.
“Ja.”
“Ja.”
“Könntest du nicht ... irgendwas am Schreibtisch? Wie andere
auch? Und abends nach Hause kommen?”
“Ich spreche mit Kilian.”
Sie nickte. Das hatte er schon oft gesagt, und sie hatte ihm schon
oft geglaubt. “Hab ich schon”, sagte sie leise.
“Was?”
“Ich hab mit seiner Frau gesprochen. Sie will mit ihm reden ...”
“Du hast mit seiner Frau gesprochen?” Er stützte sich mit beiden
Händen auf die Tischplatte und beugte sich ungläubig vor. “Du?
Sprichst mit der Frau meines Chefs über meine Arbeit, ohne mich
zu fragen?”
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Sie sah ihn an und fühlte neuen Zorn in sich aufsteigen. Na und?
Für wen tat sie das? Nur für sich? “Ja”, sagte sie und hielt seinem
Blick stand. “Ja, verdammt. Und?”
“Misch dich nicht in meine Angelegenheiten.”
“Deine Angelegenheiten? Sind das nicht vielleicht auch meine
Angelegenheiten? Du ...”
“Hey”, sagte er scharf, wich zurück und zeigte ihr seine
Handflächen. “Nicht schon wieder. Nicht heute, nicht hier, nicht
jetzt. Ich hab auch so schon genug Mist an den Hacken ...”
“Mist? Ja, toll, Charly. Alles Mist, das hier, deine Misttochter
und deine Mistfrau. Herrgott, hör auf mit dem Scheiß. Stört´s dich,
zu Hause zu sein? Bitte! Bleib weg! Laß es. Aber verschon mich
mit deinen Scheißsprüchen.”
Er seufzte, runzelte die Stirn und murmelte etwas, das sie nur
halb verstand. Die Hälfte war schon schlimm genug.
“Was hast du gesagt?” sagte sie wütend.
“Ob du so oft Scheiße sagen mußt. Wir sind hier doch nicht im
Fanblock, Herrgott ...”
“Wir sind hier doch nicht im Fanblock”, äffte sie ihn nach und
übertrieb seinen besonnenen Tonfall ins Groteske. “Bist du groß,
Charly. Bist du toll. Seit wann stört dich das? Zehn Jahre lang hat
dich das nicht gekratzt, und auf einmal darf ich nicht mehr Scheiße
sagen, wenn was Scheiße ist? Scheiße, Charly, Scheiße, Scheiße,
Scheiße!”
Der Kloß in ihrem Hals ließ sich nicht wegschreien. Worte
reichten nicht. Sie stützte sich mit den Ellenbogen auf den Tisch,
vergrub das Gesicht in den Händen und hörte sich schluchzen wie
aus weiter Ferne. Sie konnte nicht anders. Sie wollte nicht schwach
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sein, wollte lieber schreien und um sich schlagen und jemandem
wehtun, aber sie konnte nicht.
Endlich, eine Ewigkeit später, spürte sie seinen Arm auf ihrer
Schulter, ließ sich festhalten und schluchzte weiter, weinte den
Kloß kaputt. Hörte seine Stimme, die beruhigend klang, sein
Versprechen, er werde ein paar Tage freinehmen, gleich am
nächsten Wochenende, mit ihr wegfahren, hörte ihn von
irgendeinem Hotel reden, das ein gemeinsamer Freund irgendwann
erwähnt hatte, von Spaziergängen und gemütlichen Abenden zu
zweit. Sie weinte, hielt ihn fest und redete sich Hoffnung ein.
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